22.01.2013 Aufrufe

2012 1. 2. 3. 5. 7. 9. 8. Wissenswerte Änderungen im neuen ... - Iurratio

2012 1. 2. 3. 5. 7. 9. 8. Wissenswerte Änderungen im neuen ... - Iurratio

2012 1. 2. 3. 5. 7. 9. 8. Wissenswerte Änderungen im neuen ... - Iurratio

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

ISSN 1867-660X<br />

Die Zeitschrift für stud. iur. und junge Juristen<br />

Titelthema<br />

Die gesellschaft srechtliche Beratung und<br />

Prozessführung in einer Großkanzlei<br />

Sabine Otte<br />

Gesellschaft srecht <strong>im</strong> Großen und Kleinen<br />

Stefan Galla<br />

Lehre & Referendariat<br />

Art. 12 Abs. 1 GG – eine Einführung:<br />

Die Berufsfreiheit und das Rauchverbot in Shisha-Bars<br />

Monika Polzin<br />

Rechtskraft und Kosten bei Aufrechnung <strong>im</strong> Zivilprozess<br />

Merle Erpenbeck & S<strong>im</strong>on Kempny<br />

Wirtschaft sstrafrecht in Deutschland- eine Einführung<br />

Marc Selker & Christian Döpke<br />

Praxis & Karriere<br />

Women‘s Law Forum<br />

Susanne Bettendorf & Vivien Eckhoff<br />

Interview mit Prof. Dr. Kai-Oliver Knops<br />

Dirk Veldhoff<br />

Interview mit der Bundesjustizministerin<br />

Hanna Furlkröger<br />

Wissenschaftlicher Beirat<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl<br />

Prof. Dr. Lena Rudowski<br />

Prof. Dr. Martin Schwab<br />

Ausgabe 1/<strong>2012</strong> | www.iurratio.de<br />

Exklusiv-Partner dieser Ausgabe:<br />

Mit Karteikarten


2<br />

Titelthema<br />

GESTALTEN<br />

SIE MIT!<br />

Wir sind eine unabhängige internationale Anwalts -<br />

kanzlei mit Büros in Deutschland, Ost europa,<br />

China und Brüssel.<br />

FÜR UNSERE BÜROS IN BERLIN, DÜSSELDORF,<br />

FRANKFURT AM MAIN, MÜNCHEN UND NÜRNBERG<br />

SUCHEN WIR ENGAGIERTE<br />

RECHTSREFERENDARE (W/M)<br />

FÜR ALLE RECHTSGEBIETE<br />

TÄTIGKEIT: Nicht nur Teamgeist, auch Aus -<br />

bildung wird bei uns groß geschrieben. Wir bieten<br />

Ihnen eine interessante Tätigkeit in juristisch und<br />

wirtschaftlich spannenden Bereichen. Sie werden<br />

von Beginn an in spezialisierten Teams eingebunden<br />

sein und die Arbeit in einer Großkanzlei hautnah<br />

kennen lernen. Es ist unser Anspruch, Ihnen neben<br />

vertiefenden theoretischen Kenntnissen vor allem<br />

die Möglichkeit zu bieten, qualifizierte praktische<br />

Erfahrungen zur Vorbereitung Ihrer Anwaltskarriere<br />

zu erwerben.<br />

QUALIFIKATIONEN: Neben einem erfolgreich<br />

abgeschlossenen ersten Staatsexamen sollten Sie<br />

eine hohe Affinität – möglichst belegt durch Aus -<br />

bildungs schwerpunkte während des Studiums oder<br />

durch praktische Tätigkeiten – zu dem gewünschten<br />

Rechts bereich mitbringen. Ihr freundliches Auftreten,<br />

hohe Verlässlichkeit, Flexibilität und Teamgeist<br />

zeichnen Sie zusätzlich aus. Gute PC- und Englisch -<br />

kenntnisse runden dabei Ihr Profil ab. Auch für eine<br />

promotionsbegleitende Nebentätigkeit oder für den<br />

Berufseinstieg freuen wir uns auf Ihre Bewerbung.<br />

KONTAKT: Christine Herzog, Recruitment Manager, Westhafen Tower, Westhafenplatz 1,<br />

60327 Frankfurt, Telefon: +49 69 756095-532, Christine.Herzog@bblaw.com<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

WWW.BEITENBURKHARDT.COM<br />

Die unabhängige Wirtschaftskanzlei<br />

Wir beraten anspruchs volle in- und auslän dische<br />

Man danten auf allen Gebieten des Wirt schafts -<br />

rechts.


MITARBEITERINTERVIEW: SABRINA MOKULYS<br />

: Sabrina, stell Dich doch einmal unseren Lesern vor!<br />

SABRINA: Mein Name ist Sabrina Mokulys, ich bin 22 Jahre alt,<br />

wohne in Bielefeld und studiere seit 2008 Rechtswissenschaft en an der<br />

Universität Bielefeld.<br />

: Was sind Deine Aufgaben <strong>im</strong> <strong>Iurratio</strong> – Projekt?<br />

SABRINA: Innerhalb des <strong>Iurratio</strong>-Projektes leite ich die Anzeigenabteilung<br />

und bin Vorsitzende des Vereins „<strong>Iurratio</strong>- juristische Nachwuchsförderung<br />

e.V.“, der <strong>im</strong> Januar letzten Jahres in Münster gegründet<br />

wurde.<br />

: Wie kann man sich die Arbeit in der Anzeigenabteilung<br />

vorstellen?<br />

SABRINA: Die Anzeigenabteilung ist in erster Linie für den Verkauf<br />

der Anzeigen in der Zeitschrift verantwortlich. Das heißt meine Kollegen<br />

und ich versenden Informationen an potentielle Werbepartner<br />

und sprechen <strong>im</strong> Nachhinein mit diesen in der Regel am Telefon, ob<br />

Interesse an einer Anzeigenschaltung in unserer Zeitschrift besteht.<br />

Auch die Kundenbetreuung fällt in unseren Aufgabenbereich, mit<br />

vielen unserer Kooperationspartner stehen wir so in regelmäßigem<br />

Kontakt. Daneben baut <strong>Iurratio</strong> seine Kundenbetreuung weiter aus,<br />

was aktuell auch in unseren Aufgabenbereich fällt. So informieren wir<br />

auf Wunsch unsere Partner und potentielle Kunden in einem persönlichen<br />

Gespräch über alle Aspekte unseres Projektes und die Möglichkeiten,<br />

die <strong>Iurratio</strong> unseren Werbepartnern anzubieten hat.<br />

: Du bist auch Vorsitzende des Vereins „<strong>Iurratio</strong>- juristische<br />

Nachwuchsförderung e.V.“, was ist Ziel dieses Vereins?<br />

SABRINA: Der Verein hat sich zur Aufgabe gemacht, gezielt juristischen<br />

Nachwuchs zu fördern, die Universitäten und Hochschulen<br />

in Lehre, Wissenschaft und Forschung zu unterstützen sowie rechtswissenschaft<br />

liche Studien zu veröff entlichen. Damit fangen wir jetzt<br />

<strong>im</strong> Kleinen an, so haben wir <strong>im</strong> Jahr 2011 die Erstsemesterausgabe<br />

von <strong>Iurratio</strong> als Geschenk an die Lehrstühle in Auft rag gegeben und<br />

erfolgreich unter den Erstsemestern verteilt. Langfristig haben wir<br />

uns höhere Ziele gesetzt, wie zum Beispiel die Vergabe von <strong>Iurratio</strong>-<br />

Stipendien.<br />

Zur Freude aller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben wir<br />

in der Tagesschau vom 1<strong>3.</strong>1<strong>2.</strong>2011 die <strong>Iurratio</strong> entdeckt:<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

<strong>Iurratio</strong> Aktuell<br />

: Was reizt Dich besonders an der<br />

Mitarbeit bei <strong>Iurratio</strong>?<br />

SABRINA: Zunächst ist <strong>Iurratio</strong> ein sehr<br />

spannendes Projekt, in dem man viele interessante<br />

und motivierte Menschen kennenlernt,<br />

die in verschiedensten Bereichen ihrer<br />

Ausbildung stecken. Besonders in meiner<br />

Position als Leiterin der Anzeigenabteilung<br />

erwirbt man neben den juristischen Hintergründen<br />

auch wirtschaft liche Fähigkeiten.<br />

Man erlernt Soft skills wie Kommunikationsfähigkeit<br />

und Umgang mit großen Werbekunden.<br />

Man lernt, was für ein wirtschaft licher<br />

Aufwand hinter der Finanzierung eines<br />

Projektes wie diesem steht. Insgesamt stellt<br />

<strong>Iurratio</strong> ein junges, dynamisches Projekt dar,<br />

welches sich ständig weiterentwickelt. Die<br />

Mitwirkung an einem solchen Projekt ist eine<br />

Herausforderung, die neben dem Studium<br />

eine gewinnbringende und zugleich spannende<br />

Abwechslung darstellt.<br />

: Was sind Deine Zukunft spläne<br />

mit <strong>Iurratio</strong>?<br />

SABRINA: Ich hoff e, dass sich <strong>Iurratio</strong> weiterhin<br />

so schnell weiterentwickelt wie bisher,<br />

und dass wir alle in der Zukunft geplanten<br />

Projekte erfolgreich vorantreiben. Darunter<br />

fällt zum Beispiel unser für <strong>2012</strong> geplanter<br />

Referendarführer, der hoff entlich genauso<br />

erfolgreich wird wie unsere Sonderausgabe für Erstsemester. Ferner<br />

sollte das Ziel sein, <strong>Iurratio</strong> innerhalb Deutschlands noch bekannter<br />

zu machen. In Zukunft freue ich mich auf jeden Fall auf viele neue<br />

Mitarbeiter und eine weiterhin so tolle Zusammenarbeit wie bisher.<br />

TITELTHEMEN <strong>2012</strong><br />

Als nächstes sind folgende spannende Titelthemen für<br />

die <strong>Iurratio</strong> geplant:<br />

Geplant sind für die Ausgabe 2/<strong>2012</strong>: „Steuerrecht“<br />

und für die Ausgabe 3/<strong>2012</strong>: „Compliance“.<br />

Haben Sie zu diesen Th emen eine interessante Beitragsidee<br />

oder haben Sie Interesse, einen Beitrag zu diesem Th ema zu<br />

leisten, melden Sie sich gerne bis zu unserem<br />

Redaktionsschluss am: 1<strong>2.</strong>0<strong>3.</strong><strong>2012</strong><br />

unter: chefredaktion@iurratio.de.<br />

<strong>Iurratio</strong> Herbst-Gesamtkonferenz und Praxis-Event in München<br />

Vom 1<strong>9.</strong>-20. November 2011 fand die diesjährige Herbst-GK erstmals<br />

in München an der TU München statt. Neben interessanten Workshops<br />

wurden in Arbeitsgruppen neue Projektideen erarbeitet und<br />

verfeinert.<br />

Ein besonderes Highlight war das erste <strong>Iurratio</strong> Praxis-Event „Recruiting<br />

<strong>im</strong> Zeitalter von Internet und Social-Media“. Dabei begeisterten<br />

die Teilnehmer nicht nur die informativen Vorträge, sondern insbesondere<br />

auch die Gespräche mit den anwesenden Kanzleivertretern.<br />

Ein Video zur diesjährigen Herbst-GK fi ndet Ihr auf unserer Homepage:<br />

www.iurratio.de.<br />

Wir freuen uns schon jetzt auf die Frühjahrs-GK in Düsseldorf <strong>im</strong><br />

März!<br />

3


4<br />

Inhalt / Impressum<br />

Titelthema: Gesellschaft srecht <strong>im</strong> Großen und Kleinen<br />

Interview mit der<br />

Bundesjustizministerin<br />

S. 60<br />

Das Gaddafi -Reg<strong>im</strong>e vor Gericht?<br />

S. 34<br />

Impressum Ausgabe 1/<strong>2012</strong><br />

Herausgeber (V.i.S.d.P.): Jens-Peter Th iemann, Alexander Otto<br />

herausgeberzeitung@iurratio.de<br />

Chefredaktion: Vivien Eckhoff , Hanna Furlkröger (Stellvertreterin)<br />

chefredaktion@iurratio.de<br />

Redaktion:<br />

Ressort Zivilrecht (zivilrecht@iurratio.de) Ahmad Sayed, Diana Regehr, Christian Döpke<br />

Ressort Strafrecht (strafrecht@iurratio.de) Mani Jaleesi (Ltg.)<br />

Ressort Öff entliches Recht (oerecht@iurratio.de) Georg Dietlein, Malte Hakemann,<br />

Stefanie Löhr<br />

Ressort Fallbearbeitungen (fallbearbeitung@iurratio.de) Hanna Furlkröger (Ltg.),<br />

Tamina Preuß, Katrin Appelt<br />

Ressort LawLifeStyle (lawlifestyle@iurratio.de) Sandra Beuke (Ltg.)<br />

Ressort Praxis & Karriere (praxis@iurratio.de) Jan-Christoph Stephan (Ltg.)<br />

Ressort Rechtsprechung (rechtsprechung@iurratio.de)<br />

Dirk Veldhoff (Ltg.), Kathrin Böckmann (stv. Ltg.), Alexander Otto, Maike Brinkert, Vivien<br />

Eckhoff , Prof. Dr. Lena Rudkowski, Christine Dutzmann, Christopher Exner, Patrick Droll,<br />

Prof. Dr. Rolf Schmidt<br />

Schreibpool Florian Waldhorst<br />

Unsere Ansprechpartner an den Standorten erreichen Sie unter unistadtname@iurratio.de,<br />

also z.B. die Standortleiterin in Bremen unter unibremen@iurratio.de.<br />

Wissenschaft licher Beirat:<br />

Prof. Dr. Michael Kotulla (Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung/Universität Bielefeld),<br />

Prof. Dr. Lena Rudkowski (Freie Universität Berlin),<br />

Prof. Dr. Martin Schwab (Freie Universität Berlin)<br />

Beilagen: Dieser Ausgabe sind zwei Bögen à 4 Karteikarten beigeheft et. Sollten diese Karten<br />

fehlen, können Sie diese nach Erscheinen unter www.iurratio.de abrufen.<br />

Ausschluss: Namentlich gekennzeichnete Beiträge repräsentieren nicht unbedingt die<br />

Meinung der Redaktion.<br />

Lektorat: Annica Klemme, Susanne Bettendorf<br />

Layout & Satz: Anja Krohn, Hamburg, layout@iurratio.de<br />

<strong>Iurratio</strong>-Logo: Tobias Kunkel<br />

Geschäft sführer: Eckart Pradel, gf@iurratio.de<br />

Anzeigenabteilung: Sabrina Mokulys (Ltg.), Merissa Gabor, K<strong>im</strong>-Aniko Naujok, Björn<br />

Wittenstein, Jenny Ryszka, Ralf Borchers, anzeigen@iurratio.de<br />

Auslandskorrespondenz: Inga Th iemann (Englisch, Niederländisch),<br />

Marlene Alker (Französisch)<br />

Logistik: Vanessa Faber (Ltg.), Björn Wittenstein, Deborah Götzel, Robin Mühlenbeck,<br />

Sebastian Klein, Jan Hendrik Lampe, Xinia Bitterlich<br />

logistik@iurratio.de<br />

Postanschrift : <strong>Iurratio</strong>, Röckumstraße 63, 53121 Bonn<br />

Redaktionsanschrift : Postfach 1540, 26645 Westerstede<br />

Aufl age: 1<strong>2.</strong>000 Exemplare<br />

Druck: Gutverlag, 48477 Hörstel, www.gutverlag.com<br />

Urheber- und Verlagsrechte Alle in dieser Zeitschrift veröff entlichten Beiträge sind urheberrechtlich<br />

geschützt. Der Rechtsschutz gilt auch gegenüber Datenbanken und ähnlichen Einrichtungen.<br />

Kein Teil dieser Zeitschrift darf außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes<br />

ohne schrift liche Genehmigung in irgendeiner Form reproduziert werden.<br />

Autorenhinweise: Ausführliche Autorenhinweise fi nden Sie auf unserer Homepage<br />

www.iurratio.de


<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

���������<br />

����������������<br />

����������<br />

�������� �� �������������� �������������������� ������������������ ��������������<br />

�������������������������������������������������������������������������������������<br />

���� ��������������� ���� ����� ���� ���������� ���������������������� ���� ��������� ��������<br />

����������������������������������������������������������������������������������<br />

�������������������������<br />

�������� ��� ����� ������� ���� ������������������ ����������������� ���� ����������� ����<br />

��������������������������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������������������������������������<br />

������������������������������������������������������<br />

������������������������������������<br />

�����������������������������������������������������������������������������������<br />

�������������������������������������������������<br />

�������������������<br />

����������������<br />

������ �����������������<br />

������������������������������������<br />

5


6<br />

Titelthema<br />

DIE GESELLSCHAFTSRECHTLICHE BERATUNG UND PROZESSFÜHRUNG<br />

IN EINER GROSSKANZLEI<br />

von Dr. Sabine Otte, LL.M. (Düsseldorf)<br />

Dr. Sabine Otte, LL.M. ist seit Januar 2008 Rechtsanwältin <strong>im</strong><br />

Düsseldorfer Büro der internationalen Anwaltskanzlei Baker &<br />

McKenzie. Sie hat an den Universitäten Münster, Paris II (Panthéon-Assas)<br />

und Köln studiert, einen LL.M. in Commercial<br />

Law in Bristol/England erworben und <strong>im</strong> rechtsvergleichenden<br />

Gesellschaftsrecht an der Universität Köln promoviert. Ihr<br />

Referendariat absolvierte sie in Düsseldorf mit Stationen bei<br />

Hogan Lovells, <strong>im</strong> Bundesministerium der Justiz (Berlin) und<br />

bei Cliff ord Chance (New York).<br />

Nachwuchsjuristen, die es reizt, Mandanten rund um den Globus in<br />

best<strong>im</strong>mten Rechtsgebieten zu beraten, sind in einer internationalen<br />

Großkanzlei gut aufgehoben. Und wer sich dafür entscheidet, als Anwalt<br />

<strong>im</strong> klassischen Gesellschaft srecht und in der gesellschaft srechtlichen<br />

Prozessführung tätig zu sein, den erwartet ein spannender<br />

Berufsalltag: Er berät Mandanten in allen Facetten des Gesellschaft srechts<br />

– von der Gründung der Gesellschaft bis zu deren Aufl ösung<br />

oder Liquidation – sowie bei Restrukturierungen ihrer Unternehmen,<br />

führt komplexe gesellschaft srechtliche Gerichtsprozesse ebenso<br />

wie nationale und internationale Schiedsverfahren.<br />

A. WAS VERBIRGT SICH HINTER DER TÄTIGKEIT?<br />

I. ALLGEMEINE GESELLSCHAFTSRECHTLICHE BERATUNG<br />

Mandanten treten an den Gesellschaft srechtler oft mit komplexen<br />

Fragen heran – sei es, was geplante Kapitalmaßnahmen oder konzernrechtliche<br />

Verhältnisse anbelangt oder wenn es um Rechte und<br />

Pfl ichten der Geschäft sführer oder Gesellschaft er – etwa in Konzernstrukturen<br />

– geht. Der Anwalt ist außerdem gefragt bei Gründungen<br />

von Gesellschaft en, Satzungsänderungen, Auslegung von Satzungen<br />

und Gesellschaft ervereinbarungen, Kapitalerhöhungen oder Aufl ösung<br />

und Liquidation von Gesellschaft en.<br />

Er berät nicht nur GmbHs und Personengesellschaft en – meist KGs<br />

–, sondern auch Aktiengesellschaft en. Die aktienrechtliche Beratung<br />

ist meist vielschichtiger als die GmbH-rechtliche, da die AG formalistischer<br />

geprägt ist als die GmbH. Zur aktienrechtlichen Beratung<br />

gehört auch, Hauptversammlungen börsennotierter Gesellschaft en<br />

vorzubereiten und durchzuführen.<br />

II. RESTRUKTURIERUNGEN<br />

Restrukturierungen erfolgen oft nach Abschluss eines Unternehmenskaufs,<br />

um das neu erworbene Unternehmen in die bestehende<br />

Konzernstruktur zu integrieren. Außerdem kommen Restrukturierungen<br />

in Betracht, um zum Beispiel verschiedene Unternehmensbereiche<br />

aus strategischen oder operativen Gründen umzugestalten<br />

oder um Strukturen steueropt<strong>im</strong>al zu gestalten.<br />

Die Restrukturierung kann in einer Umwandlung <strong>im</strong> Sinne von § 1<br />

Abs. 1 UmwG bestehen, also in einer Verschmelzung, Spaltung (Aufspaltung,<br />

Abspaltung, Ausgliederung), Vermögensübertragung oder<br />

einem Formwechsel der Gesellschaft . Darüber hinaus werden oft Gesellschaft<br />

en konzernintern „umgehangen“, das heißt, die Anteile an<br />

einer Gesellschaft werden auf eine andere Gesellschaft übertragen.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Da große Konzerne in der Regel aus zahlreichen Gesellschaft en bestehen,<br />

gibt es bei einer Restrukturierung meist eine Fülle von Umstrukturierungsmaßnahmen.<br />

Oft sind Konzerne in vielen verschiedenen<br />

Ländern aktiv, so dass eine Restrukturierung wegen der vielen<br />

aufeinander abzust<strong>im</strong>menden Vorgänge sehr komplex ist.<br />

III. GESELLSCHAFTSRECHTLICHE STREITIGKEITEN<br />

Gesellschaft srechtliche Streitigkeiten umfassen gerichtliche Streitigkeiten<br />

zwischen Unternehmen als Gesellschaft en auf der einen Seite<br />

und Gesellschaft ern oder Aktionären auf der anderen Seite, etwa<br />

<strong>im</strong> Wege so genannter Beschlussmängelklagen bei der Anfechtung<br />

von Beschlüssen der Gesellschaft er- oder Hauptversammlung. Zudem<br />

spielen gesellschaft srechtliche Streitigkeiten zwischen Gesellschaft<br />

ern untereinander eine große Rolle. Immer zahlreicher werden<br />

Organhaft ungsfälle, in denen die Gesellschaft en ihre (ehemaligen)<br />

Geschäft sführer oder Vorstandsmitglieder auf Schadensersatz in<br />

Anspruch nehmen. Komplexe Streitigkeiten fi nden sich auch bei<br />

Unternehmenskaufverträgen – so genannte „Post-M&A-Streitigkeiten“.<br />

Diese werden regelmäßig vor nationalen oder internationalen<br />

Schiedsgerichten ausgetragen.<br />

B. KANZLEIALLTAG<br />

Der Kanzleialltag sieht in den beschriebenen drei Spezialbereichen<br />

völlig unterschiedlich aus. Gerade die große Bandbreite macht die<br />

Tätigkeit so spannend und abwechselungsreich.<br />

I. ALLGEMEINE GESELLSCHAFTSRECHTLICHE BERATUNG<br />

Zum einen betreut ein Associate schon früh eigenständig gesellschaft<br />

srechtliche Standardabläufe: Beispielsweise entwirft er Gesellschaft<br />

erbeschlüsse und Handelsregisteranmeldungen für den Wechsel<br />

von Geschäft sführern und Prokuristen, für eine Satzungsänderung,<br />

Sitzverlegung oder eine Kapitalmaßnahme.<br />

Zum anderen erstellt er auch Kurzmemoranda und umfangreiche<br />

Gutachten mit Fundstellennachweisen zu spezifi schen gesellschaft srechtlichen<br />

Fragen. So haben Berufseinsteiger in einer Großkanzlei<br />

von Anfang an die Möglichkeit, sich in interessante Spezialprobleme<br />

des Gesellschaft srechts einzuarbeiten. Auch die Mandanten mit einer<br />

eigenen Rechtsabteilung lagern oft spezifi sche Fragen an Kanzleien<br />

aus, die eine detaillierte Recherche erfordern. Interessant ist diese<br />

Arbeit vor allem für denjenigen, der sich gern vertieft , mitunter auch<br />

wissenschaft lich, mit rechtlichen Fragen beschäft igt.<br />

Die Betreuung von Hauptversammlungen erfordert umfassende<br />

Kenntnisse des Aktienrechts und der aktuellen Rechtsprechung,<br />

Literatur und Praxis. Erfahrene Anwälte führen jüngere Kollegen<br />

Schritt für Schritt an diese Th ematik heran. Während der Vorbereitung<br />

einer Hauptversammlung stellen sich viele spannende Rechtsfragen,<br />

so dass sich eine gute Gelegenheit für jüngere Kollegen bietet,<br />

sich ins Aktienrecht einzuarbeiten. Highlight ist die Hauptversammlung<br />

selbst: Anwälte <strong>im</strong> Back Offi ce müssen rechtliche Fragen der<br />

Aktionäre zur Hauptversammlung binnen kürzester Zeit beantworten<br />

und einen Vorschlag für eine Stellungnahme des Vorstands<br />

oder Aufsichtsrats formulieren und dem Versammlungsleiter Verhaltensratschläge<br />

geben. Da zu diesem Zeitpunkt eine umfassende


Literaturrecherche nicht mehr möglich ist, bereitet man sich bereits<br />

<strong>im</strong> Vorfeld mit Musterfragen und -antworten (Questions & Answers,<br />

kurz Q&A) vor.<br />

II. RESTRUKTURIERUNGEN<br />

Bei einem komplexen Restrukturierungsprozess sieht der Kanzleialltag<br />

völlig anders aus: Der Anwalt ist gefragt, den gesamten Prozess<br />

zu koordinieren und organisieren. Zunächst erarbeiten die Anwälte<br />

gemeinsam mit den Fachabteilungen und den steuerlichen Beratern<br />

des Mandanten einen so genannten „Step Plan“, der alle erforderlichen<br />

Schritte und einen Zeitplan enthält. Anschließend entwerfen<br />

die Anwälte die gesellschaft srechtliche Dokumentation - zum Beispiel<br />

Gesellschaft erbeschlüsse, Handelsregisteranmeldungen und<br />

Anteilsübertragungsverträge - und überwachen und koordinieren<br />

die Arbeit anderer Praxisgruppen oder anderer Jurisdiktionen. Hier<br />

ist der Anwalt gefordert, unter hohem Zeitdruck einen Überblick<br />

über eine Flut von E-Mails und Telefonkonferenzen zu behalten.<br />

Große Restrukturierungen eines Konzerns spielen sich fast ausschließlich<br />

auf internationalem Parkett ab, da die beteiligten Gesellschaft<br />

en nur selten in Deutschland sitzen. Daher erfolgt die<br />

Dokumentation regelmäßig zweisprachig. Mit Mandanten und zu<br />

Kollegen <strong>im</strong> Ausland, die in anderen Jurisdiktionen beraten, kommuniziert<br />

der Anwalt regelmäßig in Englisch. Er muss die erforderlichen<br />

Informationen von den Kollegen <strong>im</strong> Ausland einholen, diese<br />

dem Mandanten eingängig vermitteln und das fremde Rechtssystem<br />

erklären. Daher reicht es zum Beispiel nicht aus, den englischen Begriff<br />

„mortgage“ einfach mit „Hypothek“ zu übersetzen, sondern der<br />

Anwalt muss die unterschiedlichen juristischen Auswirkungen zumindest<br />

kurz erläutern.<br />

Zudem arbeiten Anwälte während einer Restrukturierung oft mit<br />

Kollegen aus anderen Rechtsgebieten zusammen - beispielsweise<br />

mit Arbeits- oder Steuerrechtlern. Arbeitsrechtler kommen ins Spiel,<br />

wenn es etwa darum geht, den Betriebsrat vor dem Beschluss zu unterrichten;<br />

Steuerexperten prüfen und gestalten die steueropt<strong>im</strong>ale<br />

Strukturierung der Transaktion.<br />

III. GESELLSCHAFTSRECHTLICHE STREITIGKEITEN<br />

Der Arbeitsalltag eines Spezialisten für gesellschaft srechtliche Streitigkeiten<br />

sieht wiederum völlig anders aus: Hier steht die prozessrechtliche<br />

Tätigkeit, also das Erstellen von Schrift sätzen, <strong>im</strong> Vordergrund.<br />

Bevor die Auseinandersetzung streitig wird, vertritt der Anwalt seinen<br />

Mandanten bereits bei außergerichtlichen Verhandlungen mit<br />

der Gegenseite und verfasst die Korrespondenz, mit der er den Anspruch<br />

geltend macht oder bestreitet. Dazu muss er zunächst den<br />

oft komplexen Sachverhalt aufk lären und in allen Facetten durchdenken.<br />

Darüber hinaus hat er für seinen Mandanten die Erfolgsaussichten<br />

eines gerichtlichen Vorgehens einschätzen. Im Rahmen<br />

gesellschaft srechtlicher Streitigkeiten muss man sich – ebenso wie<br />

in der allgemeinen gesellschaft srechtlichen Beratung – in der Praxis<br />

vertieft mit (gesellschaft s-) rechtlichen Aspekten auseinandersetzen.<br />

Diese Tätigkeit ist meist juristisch sehr anspruchsvoll.<br />

Sollten sich die Parteien außergerichtlich nicht einigen, vertritt der<br />

Anwalt den Mandanten in der Prozessführung - entweder vor einem<br />

ordentlichen Gericht oder vor einem Schiedsgericht. Neben gesellschaft<br />

srechtlichem Fachwissen sind Spezialkenntnisse <strong>im</strong> Prozessrecht<br />

ein Muss. Die Prozesse haben regelmäßig einen hohen Streitwert.<br />

Wie sie ausgehen, spielt daher für Unternehmen eine wichtige<br />

Titelthema<br />

Rolle, nicht zuletzt wegen der Berichterstattung in der Tages- oder<br />

Fachpresse, zum Beispiel bei Organhaft ungsfällen. Bei den Auseinandersetzungen<br />

st<strong>im</strong>mt der Anwalt seine Schrift satzentwürfe vorab<br />

Wort für Wort mit dem Mandanten ab, arbeitet den Inhalt auf und<br />

recherchiert ihn rechtlich. Auch gesellschaft srechtliche Streitigkeiten<br />

haben regelmäßig einen internationalen Bezug.<br />

C. PRAKTIKERTIPP<br />

Ein <strong>im</strong> Gesellschaft srecht tätiger Anwalt muss sich sehr gut <strong>im</strong> Gesellschaft<br />

srecht auskennen, vor allem <strong>im</strong> Kapitalgesellschaft srecht.<br />

Den Grundstein dafür legt er idealerweise bereits <strong>im</strong> Studium durch<br />

Wahl seines Schwerpunktsbereichs oder anschließend des Promotionsthemas,<br />

durch Praktika, Nebentätigkeiten und/oder durch eine<br />

Referendarstation in einer Wirtschaft skanzlei. Im Berufsalltag kann<br />

er schließlich diese Kenntnisse praxisnah vertiefen.<br />

Darüber hinaus sollte sich ein Anwalt <strong>im</strong> Gesellschaft srecht für wirtschaft<br />

liche Zusammenhänge interessieren und dazu fähig sein, sich<br />

schnell in neue Sachverhalte einzuarbeiten sowie wirtschaft liche Abläufe<br />

<strong>im</strong> Unternehmen des Mandanten nachzuvollziehen.<br />

Oft ist die Arbeitssprache Englisch, da insbesondere in internationalen<br />

Sozietäten die Mandanten oder zumindest Ansprechpartner<br />

involvierter Konzerngesellschaft en häufi g nicht Deutsch sprechen.<br />

Daher sind gute englische Sprachkenntnisse und auch Kenntnisse<br />

der englischen Rechtssprache unerlässlich. Diese sollten Nachwuchsjuristen<br />

idealerweise <strong>im</strong> Ausland erwerben, um auch mit den<br />

Besonderheiten der fremden Rechtskulturen vertraut zu werden.<br />

Auslandsaufenthalte <strong>im</strong> Studium – zum Beispiel ein Erasmus- oder<br />

LL.M.-Studium oder ein Forschungsaufenthalt während der Promotion<br />

– sowie Auslandspraktika und Referendarstationen <strong>im</strong> Ausland<br />

sind daher sehr zu empfehlen.<br />

7


8<br />

Titelthema<br />

A. EINLEITUNG<br />

Der Beitrag beschäft igt sich mit den Tätigkeitsgebieten eines Gesellschaft<br />

srechtlers bei einer deutschen Großkanzlei. Er soll den Lesern<br />

vor allem Einblicke in die verschiedenen Th emengebiete gewähren<br />

und damit auch die Anforderungen an einen Gesellschaft srechtler<br />

näher erläutern. Die Aufgabe des Beitrags besteht jedoch nicht darin,<br />

die verschiedenen Beratungsgebiete <strong>im</strong> Einzelnen zu beleuchten.<br />

Nachfolgend soll daher exemplarisch zunächst eine Kurzdarstellung<br />

der einzelnen Bereiche erfolgen, wobei die grobe Unterteilung nach<br />

„Gesellschaft srecht <strong>im</strong> Großen“ und „Gesellschaft srecht <strong>im</strong> Kleinen“<br />

unterscheidet. Nach der Skizzierung der einzelnen Kernarbeitsgebiete<br />

werden die Anforderungen an einen Gesellschaft srechtler in einer<br />

Großkanzlei dargestellt.<br />

B. GESELLSCHAFTSRECHT IM GROßEN<br />

I. TRANSAKTIONSBERATUNG<br />

Ein wichtiges Tätigkeitsfeld, mit dem sich Gesellschaft srechtler befassen,<br />

stellt die Transaktionsberatung dar, die neudeutsch auch gerne<br />

als „M&A-Beratung“ 1 bezeichnet wird. Häufi g ist es so, dass <strong>im</strong><br />

Rahmen einer Transaktion nicht nur überdurchschnittliche Kenntnisse<br />

<strong>im</strong> Kapitalgesellschaft srecht gefordert werden, sondern auch<br />

tiefe Kenntnisse <strong>im</strong> Personengesellschaft srecht vonnöten sind. Denn<br />

in vielen Fällen sind als Transaktionsobjekte auch GmbH & Co. KG’s<br />

beteiligt, sodass beide Rechtsmaterien betroff en sind. Unerlässlich<br />

sind in diesem Zusammenhang auch sehr gute Kenntnisse der englischen<br />

Sprache, da in allen Fällen, in denen eine ausländische Gesellschaft<br />

oder Person zumindest mittelbar involviert ist, die Verträge in<br />

englischer Sprache abzufassen sind. Die entsprechenden Kenntnisse<br />

sollte man sich bereits <strong>im</strong> Studium oder spätestens <strong>im</strong> Referendariat<br />

aneignen.<br />

Zu Beginn einer Transaktion stellt sich natürlich die Frage, ob der<br />

Verkäufer oder der Käufer beraten werden soll. Sofern der Käufer<br />

beraten wird, steht in vielen Fällen schon fest, in welchen Phasen und<br />

in welchen Zeiträumen der Kaufprozess abläuft , also wann zum Beispiel<br />

der „Due Diligence“-Prozess 2 statt zu fi nden hat.<br />

Sollte man jedoch den Verkäufer beraten, so wird der reine Rechtsrat<br />

durch die Prozesskoordinierung und Prozesssteuerung ergänzt. So<br />

1 Vertiefend Gran, in: NJW 2008, 140<strong>9.</strong><br />

2 Vertiefend Fleischer/Körber, in: BB 2001, 84<strong>1.</strong><br />

Gesellschaftsrecht <strong>im</strong> Großen und Kleinen<br />

von Dr. Stefan Galla (Essen)<br />

Dr. Stefan Galla ist 1973 geboren. Er studierte Rechtswissenschaften<br />

in Bonn und schloss sein Studium 1999 ab.<br />

Seit 2009 ist er Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht<br />

und 2010 wurde er zum Notar bestellt.<br />

Stefan Galla ist Partner der Luther Rechtswaltsgesellschaft<br />

mbH am Standort Essen und verfasst regelmäßig Beiträge zu<br />

gesellschaftsrechtlichen Themen.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

könnte sich zum Beispiel die Frage stellen, ob ein „Bieterverfahren“ 3<br />

den zu erreichenden Verkaufspreis opt<strong>im</strong>ieren könnte.<br />

Unabhängig davon, welche Partei des Kaufvertrages beraten werden<br />

soll, kann jedoch festgehalten werden, dass die Transaktionsbegleitung<br />

sehr zeitintensiv ist. Für den Mandanten ist es von großer<br />

Wichtigkeit, dass alle Berater rund um die Uhr erreichbar sind und<br />

auch außerhalb der „normalen“ Bürozeiten zu allen Th emen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem Verkaufsprozess befragt werden können. Zumeist<br />

ist es so, dass der die Transaktion begleitende Partner aus dem<br />

Gesellschaft srecht der Hauptansprechpartner für den Mandanten ist.<br />

Der zuständige Partner hat dabei auch die anderen Disziplinen einzubinden<br />

und zu koordinieren. Dies sind insbesondere die Kollegen<br />

aus dem Steuerrecht und aus dem Arbeitsrecht. Zusätzlich müssen<br />

häufi g auch Kollegen aus dem Kartellrecht und aus dem gewerblichen<br />

Rechtsschutz (IP/IT) eingebunden werden. Diese Liste ließe<br />

sich beliebig erweitern, da es <strong>im</strong>mer darauf ankommt, welches Unternehmen<br />

konkret verkauft werden soll.<br />

Der Gesellschaft srechtler muss daher zunächst erkennen, welche<br />

Fragen wohl <strong>im</strong> Laufe des Verkaufsprozesses zu klären sind. Aus<br />

diesem Grunde ist es <strong>im</strong>mens wichtig, dass der Gesellschaft srechtler<br />

auch über Grundkenntnisse in den Rechtsgebieten verfügt, die häufi g<br />

von einer Transaktion betroff en sind. Es geht zwar nicht darum, dass<br />

der Gesellschaft srechtler sämtliche Fragen rund um die Transaktion<br />

selbst beantworten kann, sondern vielmehr muss er ein Problembewusstsein<br />

dafür entwickeln, welche Fragen für den eigenen Mandanten<br />

von Relevanz sein könnten. Wenn bereits die ersten Vertragsentwürfe<br />

vorliegen, besteht der wichtigste Part darin, gemeinsam mit<br />

dem Mandanten die Verhandlungen zu führen. Hierbei kommt es<br />

ganz entscheidend auf das Verhandlungsgeschick des Rechtsberaters<br />

an, der zu erkennen hat, wann er einmal in einer Verhandlungsposition<br />

nachzugeben hat und wann er unnachgiebig bleiben muss. Neben<br />

den rein rechtlichen Aspekten sind hier natürlich auch Kenntnisse<br />

von Branche und Markt, in dem sich die Transaktion bewegt,<br />

Psychologie <strong>im</strong> Umgang mit Mandanten, Gegenseite, den jeweiligen<br />

Beratern und die Persönlichkeit des Anwalts von Bedeutung. Nicht<br />

zuletzt, und das gilt auch für die weiteren, nachfolgend dargestellten<br />

Tätigkeitsfelder, ist eine gute Kondition hilfreich für „Verhandlungsmarathons“.<br />

Zusammenfassend lässt sich für die Transaktionsberatung sicherlich<br />

festhalten, dass es sich um eine höchst interessante und zeitintensive<br />

Materie handelt, die einen wichtigen Bestandteil <strong>im</strong> Arbeitsleben des<br />

Gesellschaft srechtlers darstellt. Nicht zuletzt ist mit der erfolgreichen<br />

Beratung und Gestaltung von Transaktionen ein gewisses Renommee<br />

des Anwalts und der Kanzlei verbunden, und damit ein guter<br />

Ansatzpunkt für die Ansprache bestehender und neuer Mandanten<br />

gegeben.<br />

II. RESTRUKTURIERUNGEN/UMWANDLUNGEN<br />

Wesentliche Teile der gesellschaft srechtlichen Beratung befassen<br />

sich mit konzerninternen Restrukturierungen, die zum Teil auch<br />

unter steuerlichen Gesichtspunkten erwünscht sind. Hier berät der<br />

3 Vertiefend Gran, in: NJW 2008, 1409 (1410).


Gesellschaft srechtler den Mandanten nicht in streitigen Verhandlungen<br />

mit Dritten, sondern die Aufgabe des Anwalts besteht darin,<br />

die Restrukturierungsschritte zu koordinieren und die notwendigen<br />

Entwürfe anzufertigen. Zu Beginn einer solchen Restrukturierung<br />

ist es zumeist in Zusammenarbeit mit den Kollegen aus dem Steuerrecht<br />

erforderlich einen detaillierten Step-Plan anzufertigen, der<br />

wiedergibt, welche Dokumente benötigt werden, wer für die Umsetzung/Unterzeichnung<br />

der Dokumente zuständig ist und wann<br />

die jeweiligen Schritte (zumeist durch Eintragung <strong>im</strong> zuständigen<br />

Handelsregister der betroff enen Gesellschaft ) umgesetzt sein müssen.<br />

Nachdem der Step-Plan fi nalisiert ist, besteht die Aufgabe des<br />

Gesellschaft srechtlers in dem Entwurf der für die Umsetzung des<br />

Step-Plans erforderlichen Dokumente. Diese Entwürfe werden vor<br />

Umsetzung natürlich noch steuerlich geprüft , um unerwünschte Folgen<br />

ausschließen zu können. Auch hier zeigt sich, dass ein guter Gesellschaft<br />

srechtler über seinen Tellerrand hinausschauen und Wissen<br />

in angrenzenden Rechtsgebieten haben und erwerben muss, wenn er<br />

zeit- und kostenintensive Korrekturen und damit Ärger bei seinem<br />

Mandanten oder anderen Beteiligten vermeiden will.<br />

In den meisten Fällen sind aufgrund der Beurkundungsbedürft igkeit<br />

einzelner Maßnahmen Notariate einzuschalten, die dann gewöhnlich<br />

auch die Kommunikation mit den Registergerichten führen. Es ist<br />

daher von großer Bedeutung, einen Notar zu wählen, der sich <strong>im</strong> Gesellschaft<br />

srecht auskennt, damit möglichst keine Probleme mit den<br />

Registern entstehen oder, falls sie doch entstehen, damit der Notar<br />

diese mit den Registergerichten unmittelbar, schnell und zielführend<br />

diskutieren kann, um eine fristgemäße Eintragung zu unterstützen.<br />

Bei der Beratung von Konzernen sind neben der Begleitung von umfangreichen<br />

Restrukturierungen häufi g auch Maßnahmen nach dem<br />

UmwG 4 zu begleiten. Zumeist handelt es sich dabei um Verschmelzungs-<br />

(vgl. § 2 UmwG) und Spaltungsverträge (vgl. § 123 UmwG),<br />

die entworfen werden müssen. Hierbei ist <strong>im</strong>mer die Beteiligung der<br />

Arbeitnehmer zu beachten, die aufgrund der zwingend einzuhaltenden<br />

Fristen (vgl. etwa § 5 Abs. 3 UmwG) zu zeitlichen Problemen<br />

führen kann. Denn bei den vorgenannten Umwandlungsfällen ist<br />

<strong>im</strong>mer eine Schlussbilanz des übertragenden Rechtsträgers einzureichen,<br />

die höchstens acht Monate alt sein darf (vgl. § 17 Abs. 2 S. 4<br />

UmwG). Dies ist der Grund, warum in der Regel Ende August die<br />

entsprechenden Unterlagen zum Handelsregister eingereicht werden<br />

müssen. Denn die meisten Gesellschaft en stellen ihren Jahresabschluss<br />

zum 3<strong>1.</strong>1<strong>2.</strong> eines jeden Jahres auf und der Jahresabschluss<br />

wird in der überwiegenden Anzahl der Fälle aus Kostengründen auch<br />

als Schlussbilanz <strong>im</strong> Sinne von § 17 Abs. 2 S. 1 UmwG verwendet.<br />

Die besondere Anforderung an den Gesellschaft srechtler bei der Beratung<br />

von Restrukturierungen und Umwandlungsmaßnahmen liegt<br />

in der Einhaltung der vom Gesetz bzw. den Steuerberatern vorgegebenen<br />

„Notfristen“, so dass in diesem Beratungsbereich der Anwalt<br />

eine hohe Belastbarkeit aufweisen muss. Auf der anderen Seite bereitet<br />

die Betreuung konzerninterner Restrukturierungsmaßnahmen,<br />

die fristgemäß umgesetzt werden, auch große Freude.<br />

III. JOINT VENTURES<br />

Auch bei der Begleitung von nationalen und internationalen Joint<br />

Ventures handelt es sich um eine tragende Säule des <strong>im</strong> Gesellschaft srecht<br />

beratenden Anwalts. Hier dreht sich vieles um die konkrete<br />

4 Vertiefend Schwarz, in: DStR 1994, 1694.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

Ausgestaltung des Gesellschaft svertrages der Joint Venture Partner.<br />

Welcher Partei stehen welche Rechte zu und wie ist der Ausstieg eines<br />

Joint Venture Partners geregelt? Joint Ventures sind oft als 50/50<br />

Gesellschaft en gewollt und daher eigentlich auf Einvernehmen der<br />

Partner angelegt. Hier muss der Anwalt oft die unromantische Rolle<br />

desjenigen spielen, der schon bei der „Verlobung“ an die „Scheidung“<br />

denkt. Bei der Beratung von Joint Ventures kommt es ganz besonders<br />

auf die Klärung der für den Einzelfall aktuell und zukünft ig anstehenden,<br />

wichtigen Aspekte an, die oft stark voneinander abweichen.<br />

Es ist in diesem Bereich äußerst schwierig mit vorhandenen Mustern<br />

zu arbeiten, sondern die Regelungen sind konkret auf die individuellen<br />

Belange hin zu entwerfen.<br />

Der Joint-Ventures betreuende Anwalt muss in enger Abst<strong>im</strong>mung<br />

mit dem Mandanten versuchen dessen Ziele umzusetzen, ohne den<br />

Joint-Venture-Partner zu verärgern. Denn der Mandant beabsichtigt<br />

ja gerade mit dem Joint-Venture-Partner eine strategische Zusammenarbeit<br />

ins Leben zu rufen.<br />

IV. IPO<br />

Der Börsengang eines Unternehmens kommt eher selten vor, und für<br />

die Platzierung eines Unternehmens an der Börse bedarf es eines großen<br />

Zeitaufwands und eines sehr speziellen Wissens, sodass dieser<br />

Teilbereich des Gesellschaft srechts nur von recht wenigen Experten<br />

unter den Gesellschaft srechtlern begleitet wird. Die entsprechenden<br />

Kenntnisse gehören nicht zum Repertoire des „normalen“ Gesellschaft<br />

srechtlers. Es kommt aber durchaus vor, dass man zumindest<br />

einzelne Maßnahmen <strong>im</strong> Rahmen einer den Börsengang vorbereitenden<br />

Restrukturierung begleitet und betreut, etwa die Umwandlung<br />

in eine Aktiengesellschaft oder die Veräußerung von Unternehmensteilen,<br />

die als nicht „börsentauglich“ angesehen werden.<br />

C. GESELLSCHAFTSRECHT IM KLEINEN<br />

I. GESELLSCHAFTSGRÜNDUNGEN<br />

Ein wichtiger Aspekt, sozusagen der Anfangspunkt der gesellschaft srechtlichen<br />

Beratung, ist naturgemäß die Gründung von Personen-<br />

und Kapitalgesellschaft en, wobei die Errichtung von Kapitalgesellschaft<br />

en den überwiegenden Teil ausmacht. Bei den Kapitalgesellschaft<br />

en werden insbesondere GmbHs gegründet. Im Gegensatz zu<br />

den bereits beschriebenen Tätigkeitsgebieten (oben A. Ziff ern 1 und<br />

3) eines Gesellschaft srechtlers sind streitige Verhandlungen und starre<br />

Verhandlungspositionen bei der Gründung von Gesellschaft en,<br />

auch wenn mehrere Gründer beteiligt sind, seltener. Die Atmosphäre<br />

bei der Gründung von Gesellschaft en ist daher entspannter und<br />

nicht ganz so hektisch wie bei den oben bereits aufgeführten Fällen.<br />

Bei der Gründung von Gesellschaft en hat man den Mandanten zusammen<br />

mit den steuerlichen Beratern zunächst über die für den angestrebten<br />

Zweck richtige Gesellschaft sform zu beraten. Sobald dies<br />

abgeklärt ist, muss ein Gesellschaft svertrag entworfen werden, der<br />

den individuellen Besonderheiten der Gründungsgesellschaft er und<br />

dem Gesellschaft szweck Rechnung trägt. Von Bedeutung ist dabei<br />

auch, ob ein Fremdgeschäft sführer berufen (das ist die gesellschaft srechtliche<br />

Seite) und eingestellt (das wäre dann der arbeitsrechtliche<br />

Teil) werden soll. Zusammen mit dem die Gründung von Kapitalgesellschaft<br />

en beurkundenden Notar ist sodann Sorge für die zeitgerechte<br />

Eintragung <strong>im</strong> Handelsregister zu tragen. Hierbei treff en den<br />

Notar aufgrund seiner notariellen Prüfungs- und Belehrungspfl ichten<br />

hinsichtlich der Gestaltung der Gründungsurkunde und der<br />

Prüfung der Wirksamkeit des Gesellschaft svertrages die entschei-<br />

9


10<br />

Titelthema<br />

denden Pfl ichten. Der die Gründung beratende Anwalt wird jedoch<br />

bei Satzungsgestaltungen, die zweifelhaft sind und die von dem die<br />

Beurkundung durchführenden Notar gegebenenfalls nicht erkannt<br />

werden, derjenige sein, der das Problem am Ende lösen muss. Es ist<br />

schließlich sein Mandant. Und oft hat auch der Anwalt den Notar<br />

empfohlen, sodass ein etwaiger Fehler des Notars auch dem Anwalt<br />

zur Last gelegt würde.<br />

Anders als der Rechtsanwalt in einer Großkanzlei, dessen Leistungen<br />

in der Regel nach Stundensatz abgerechnet werden, hat der Notar,<br />

der an eine Großkanzlei angebunden ist, zu den in der KostO festgelegten<br />

Gebühren abzurechnen. Der Notar hat auch grundsätzlich<br />

eine Beurkundungspfl icht, sodass es auch vorkommen kann, dass er<br />

einmal die Gründung einer Unternehmergesellschaft (haft ungsbeschränkt)<br />

notariell zu betreuen hat, auch wenn eine „1-Euro-GmbH“<br />

nicht auskömmlich honoriert wird.<br />

Die Beratung von Gesellschaft sgründungen gehört für jeden Gesellschaft<br />

srechtler zum Standardrepertoire und muss unbedingt beherrscht<br />

werden.<br />

II. GESELLSCHAFTSRECHTLICHE DAUERBERATUNG<br />

Ist die Gesellschaft erst einmal <strong>im</strong> Handelsregister eingetragen, so<br />

schließt daran die laufende gesellschaft srechtliche Beratung des<br />

Mandanten an. Diese umfasst bei Aktiengesellschaft en zum Beispiel<br />

die Vorbereitung und die Begleitung bei der Durchführung von<br />

Hauptversammlungen oder bei der GmbH den Entwurf von Beschlüssen<br />

der Gesellschaft erversammlung oder den Entwurf etwaiger<br />

Satzungsänderungen. Hierbei ist es natürlich von Vorteil, wenn<br />

der Anwalt die Gesellschaft schon länger berät, da sich in diesem<br />

Fall unnötige Nachfragen be<strong>im</strong> Mandanten vermeiden lassen. Dies<br />

ist auch der Grund dafür, dass Mandanten die gesellschaft srechtlich<br />

beratenden Anwälte <strong>im</strong> Dauerberatungsverhältnis nur bei gewichtigen<br />

Gründen austauschen. Die Dauerberatung <strong>im</strong> Gesellschaft srecht<br />

beinhaltet dabei Fragen zur Prokurenanmeldung genauso wie die<br />

Errichtung von Zweigniederlassungen oder Gründung von ausländischen<br />

Tochtergesellschaft en. Bei Auslandsbezug ist es dem deutschen<br />

Mandanten oft lieb, wenn „sein“ Anwalt auch die Auslandsaktivitäten<br />

koordiniert und direkt mit den ausländischen Kollegen vor Ort<br />

kommuniziert.<br />

Sollte es sich um Mandanten handeln, die über eine eigene Rechtsabteilung<br />

verfügen, so werden natürlich viele der oben beispielhaft<br />

aufgezählten Tätigkeitsgebiete von den Inhouse-Juristen, den Justiziaren,<br />

selbst bearbeitet. Grob lässt sich sagen, dass mittelständische<br />

Unternehmen (durchaus bis zu einem Umsatzvolumen von ca. € 500<br />

Millionen oder mehr) eher über kleine Rechtsabteilungen verfügen,<br />

die die gesellschaft srechtliche Beratung zumindest teilweise auslagern.<br />

Die Dauerberatungsmandate <strong>im</strong> Gesellschaft srecht zeigen, dass der<br />

Mandant mit dem beratenden Anwalt zufrieden ist und diesen ständig<br />

mit den entsprechenden Aufgabenstellungen betraut. Die Anwälte<br />

müssen also gerade in diesem Bereich nachhaltig auf hohem<br />

Niveau arbeiten, um sich das dauerhaft e Vertrauen des Mandanten<br />

zu erarbeiten.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

D. ANFORDERUNGEN UND FAZIT<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Berater <strong>im</strong> Gesellschaft srecht<br />

gut mit Menschen umgehen können sollte und sich klar und<br />

verständlich ausdrücken können muss. Denn in Verhandlungssituationen<br />

sind diese Fähigkeiten von großer Bedeutung. Des Weiteren<br />

sollte er Kenntnisse über den Tellerrand seines Spezialgebietes hinaus<br />

haben und opt<strong>im</strong>aler Weise <strong>im</strong> Rahmen des Studiums oder Referendariats<br />

einen längeren Auslandsaufenthalt aufweisen können.<br />

Natürlich kann dies auch später noch mit „Secondments“ bei der<br />

jeweiligen Großkanzlei gefördert werden, allerdings sind sehr gute<br />

Grundkenntnisse zumindest der englischen Sprache von Beginn<br />

an unerlässlich. Der Gesellschaft srechtler sollte daneben ein echter<br />

Teamplayer sein und gut mit zeitlichem Druck umgehen können.<br />

Hinsichtlich der bereits grob dargestellten Einsatzbereiche wird in<br />

Großkanzleien selbstverständlich eine Spezialisierung stattfi nden<br />

müssen, da die einzelnen Th emen viel zu komplex sind, als dass ein<br />

Anwalt in allen Verästelungen auf Augenhöhe beraten könnte. So gibt<br />

es ebenso Spezialisten für die verschiedenen Kapitalgesellschaft sformen<br />

wie auch für das Personengesellschaft srecht. Ebenso gibt es<br />

Kollegen, die ausschließlich das Transaktionsgeschäft begleiten. In<br />

der Anfangszeit sollte es jedoch so sein, dass der junge Anwalt einen<br />

Einblick in die wichtigsten Bereiche erlangt, um dann entscheiden zu<br />

können, in welchen Bereichen er sich spezialisieren will. Neben der<br />

Spezialisierung ist es allerdings auch notwendig, dass sich der Anwalt<br />

in den anderen relevanten Bereichen auf dem Laufenden hält, dies<br />

gilt insbesondere für Grundzüge des Steuerrechts. Denn ein Grundverständnis<br />

für auft retende Probleme sollte jeder Anwalt haben. Der<br />

Gesellschaft srechtler muss sicherlich nicht alle Antworten zu allen<br />

Rechts- und Steuerfragen geben können, aber er muss die richtigen<br />

Fragen stellen, und zwar rechtzeitig und an die richtigen Kollegen.<br />

Das macht einen weiteren typischen Aspekt der gesellschaft srechtlichen<br />

Beratung in der Großkanzlei aus, denn hier ist oft das ganze<br />

Team gefragt und eingebunden.<br />

Gleichzeitig wird Anwälten in Großkanzleien grundsätzlich auch die<br />

Möglichkeit gegeben wissenschaft liche Beiträge zu veröff entlichen.<br />

Oft mals ergibt sich ein Beitragsprojekt <strong>im</strong> Rahmen eines konkreten<br />

Mandats, sodass bereits erfolgte Recherchen in einen solchen Beitrag<br />

miteinfl ießen können. Ebenso bieten öff entliche Vorträge eine gute<br />

Gelegenheit die eigenen Fähigkeiten auszubauen.<br />

Wenn sich Studenten für das hier <strong>im</strong> Überblick dargestellte Berufsbild<br />

des Gesellschaft srechtlers interessieren, sollten sie die Möglichkeiten<br />

zur Mitarbeit in einer Großkanzlei bereits während des Studiums<br />

oder <strong>im</strong> Rahmen des Referendariats nutzen, um selbst feststellen<br />

zu können, ob die Tätigkeit als „Gesellschaft srechtler“ eine<br />

Option für den späteren Berufseinstieg ist.<br />

STELLENMARKT<br />

UNIVERSITÄT BAYREUTH<br />

Prof. Dr. Stephan Rixen<br />

Lehrstuhl für Öff entliches Recht,<br />

Sozialwirtschaft s- und Gesundheitsrecht<br />

Wissenschaft liche/r Mitarbeiter/in<br />

(Teilzeit: 50 %, Entgeltgruppe 13 TV-L,<br />

Befristung: 3 Jahre)<br />

Bewerbungsschluss: 1<strong>5.</strong>0<strong>2.</strong><strong>2012</strong><br />

Die komplette Stellenausschreibung fi nden Sie hier:<br />

www.iurratio.de


Das Kapital einer guten Kanzlei sind gute Köpfe.<br />

Charaktere. Menschen, die anders denken.<br />

Vor allem nicht in Schablonen. Fühlen Sie sich angesprochen?<br />

Welcome to Latham & Watkins!<br />

Für unsere Frankfurter, Hamburger und Münchener Teams suchen wir<br />

Praktikanten/Praktikantinnen<br />

Referendare/Referendarinnen.<br />

Auf Ihre Bewerbung freuen sich<br />

Lisa Sönnichsen, lisa.soennichsen@lw.com, 06<strong>9.</strong>606<strong>2.</strong>6000<br />

Norma-Isabel Baus, norma-isabel.baus@lw.com, 040.4140.30<br />

Nicole Beyersdorfer, nicole.beyersdorfer@lw.com, 08<strong>9.</strong>2080.<strong>3.</strong>8000<br />

www.lw.com/zukunft<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

11


12<br />

Titelthema<br />

A. EINFÜHRUNG<br />

DIE PERSÖNLICHE HAFTUNG VON GMBH-GESELLSCHAFTERN<br />

von Lisa Riedel, B.Sc. (Universität zu Köln)<br />

Lisa Riedel, B.Sc., Jahrgang 1988, ist Studentin der Rechts- und<br />

Wirtschaftswissenschaften an der Universität zu Köln und studentische<br />

Hilfskraft am Institut für das Recht der Europäischen<br />

Union von Univ.-Prof. Dr. Ehricke, LL. M., M. A.<br />

Die GmbH ist die in Deutschland vor allem von mittelständischen<br />

Unternehmen am häufi gsten gewählte Gesellschaft sform. 1 Wesentliches<br />

Merkmal der GmbH ist die Haft ungsbeschränkung der Gesellschaft<br />

er. Diese gilt allerdings nicht uneingeschränkt. Gegenstand der<br />

folgenden Untersuchung sollen Konstellationen sein, in denen die<br />

Gesellschaft er einer GmbH für deren Verbindlichkeiten haft en.<br />

B. GRUNDLAGEN<br />

I. DAS TRENNUNGSPRINZIP DES § 13 ABS. 2 GMBHG<br />

Für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft haft et gemäß § 13 Abs. 2<br />

GmbHG den Gläubigern der GmbH nur das Gesellschaft svermögen.<br />

Das bedeutet, dass Gesellschaft und Gesellschaft er getrennt voneinander<br />

zu behandeln sind (Trennungsprinzip). 2 Ferner haft en die Gesellschaft<br />

er einer GmbH nicht persönlich für deren Verbindlichkeiten<br />

(Haft ungsprivileg). 3 Die Rechtsformbezeichnung „Gesellschaft<br />

mit beschränkter Haft ung“ ist allerdings irreführend, weil weder<br />

die Gesellschaft noch ihre Mitglieder beschränkt haft en; sie ist nicht<br />

rechtsdogmatisch, sondern vielmehr <strong>im</strong> Sinne einer begrenzten Einlagepfl<br />

icht und eines begrenzten Risikos der Gesellschaft er zu verstehen.<br />

4 Dies hat grundsätzlich eine wirtschaft spolitisch wünschenswerte<br />

Wirkung: Die Möglichkeit, das Privatvermögen von einer Haftung<br />

freizuhalten, befl ügelt den unternehmerischen Wagemut. 5<br />

II. KAPITALAUFBRINGUNG UND -ERHALTUNG<br />

Nach der Vorstellung des deutschen Gesetzgebers setzt eine solche<br />

Haft ungsprivilegierung eine ordnungsgemäße Kapitalaufb ringung<br />

bei Gründung und danach Kapitalerhaltung bei Führung der GmbH<br />

voraus. 6 Gegenstand der Kapitalaufb ringung ist das Stammkapital.<br />

Der Betrag des Stammkapitals muss nach § 5 Abs. 1 GmbHG mindestens<br />

2<strong>5.</strong>000 Euro betragen. Nur bei Gründung einer Unternehmergesellschaft<br />

(UG) haft ungsbeschränkt darf diese Mindeststammkapitalziff<br />

er gemäß § 5a GmbHG unterschritten werden, wobei die<br />

Kehrseite allerdings die Pfl icht zur Bildung einer gesetzlichen Rücklage<br />

(§ 5a Abs. 3 GmbHG) ist. 7 Die Gläubiger sollen sich darauf verlassen<br />

können, dass Einlagen in Höhe der Stammkapitalziff er <strong>im</strong><br />

1 Vgl. Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, Einl. Rn. 15 ff .<br />

2 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 30<strong>5.</strong><br />

3 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 30<strong>5.</strong><br />

4 Fleischer, in: MünchKommGmbHG, 2010, Einl. Rn. 1<strong>8.</strong><br />

5 Fleischer, in: MünchKommGmbHG, 2010, Einl. Rn. 28<strong>3.</strong><br />

6 Vgl. RGZ 168, 292 (297); Heidinger, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 30 Rn. <strong>1.</strong><br />

7 Vertiefend dazu Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaft srecht, <strong>5.</strong> Aufl . 2011, § 14 Rn. 104 ff .<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Zuge der Gründung in die Gesellschaft gefl ossen sind. 8<br />

Das als Kreditgrundlage und Haft ungsstock der Gesellschaft dienende<br />

Stammkapital darf dem Zugriff der Gläubiger nicht nachträglich<br />

wieder entzogen werden. 9 Die in § 30 Abs. 1 S. 1 GmbHG geregelte<br />

Ausschüttungssperre enthält deshalb ein Verbot dahingehend, dass<br />

das zur Erhaltung des Stammkapitals erforderliche Vermögen der<br />

Gesellschaft nicht an die Gesellschaft er ausgezahlt werden darf. Das<br />

Auszahlungsverbot ist verletzt, wenn einem Gesellschaft er auf Grund<br />

des Gesellschaft sverhältnisses ein Vorteil aus dem Gesellschaft svermögen<br />

zugewendet wird und sich dadurch das Vermögen der Gesellschaft<br />

derart verringert, dass eine Unterbilanz entsteht oder vertieft<br />

wird. 10 Unter Auszahlung in diesem Sinne wird nicht nur das<br />

Auskehren von Barmitteln verstanden, sondern nach dem Sinn und<br />

Zweck von §§ 30, 31 GmbHG jede Verringerung des Gesellschaft svermögens.<br />

11 Deshalb fallen auch Dienstleistungen der Gesellschaft<br />

unter den Begriff der Auszahlung, wenn sie zur Verringerung des<br />

Gesellschaft svermögens führen. 12<br />

C. DURCHGRIFFSHAFTUNG<br />

Trifft eine an sich die GmbH betreff ende Haft ung auch den oder die<br />

Gesellschaft er, so spricht man von der Durchgriff shaft ung. 13 Eine solche<br />

persönliche Haft ung kann einerseits durch eigene Verpfl ichtung<br />

des Gesellschaft ers begründet werden (unechte Durchgriff shaft ung)<br />

oder sich als eine echte Durchbrechung des § 13 Abs. 2 GmbHG<br />

darstellen (echte Durchgriff shaft ung). Zudem fi nden sich besondere<br />

Tatbestände einer persönlichen Gesellschaft erhaft ung in den Gründungsstadien<br />

der Gesellschaft <strong>im</strong> GmbHG, die allerdings nicht Gegenstand<br />

dieses Beitrags sein sollen. 14<br />

I. UNECHTE DURCHGRIFFSHAFTUNG – HAFTUNG AUS BESON-<br />

DEREM VERPFLICHTUNGSGRUND<br />

Der Gesellschaft er haft et <strong>im</strong> Falle eines unechten Durchgriff s zwar<br />

persönlich, jedoch nicht für eine Verbindlichkeit der Gesellschaft ,<br />

sondern für eine eigene Verbindlichkeit, die aber <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem Tätigwerden für die GmbH begründet wurde. 15<br />

Das Trennungsprinzip ist hingegen erst dann tangiert, wenn sich die<br />

Verpfl ichtung des Gesellschaft ers <strong>im</strong> Verhältnis zu Dritten unmittelbar<br />

aus seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft ergibt. 16 Da sich<br />

der Gesellschaft er bei einem unechten Haft ungsdurchgriff selbst gegenüber<br />

Dritten verpfl ichtet, handelt es sich um eine Außenhaft ung.<br />

Anspruchsinhaber ist deshalb ein Dritter und nicht die Gesellschaft<br />

selbst. 17<br />

8 Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaft srecht, <strong>5.</strong> Aufl . 2011, § 14 Rn. 1<strong>8.</strong><br />

9 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong> Aufl . 2010, § 37 Rn. <strong>1.</strong><br />

10 Vgl. dazu insbesondere Kindl, Gesellschaft srecht, 2010, § 27 Rn. 2<strong>1.</strong><br />

11 Vgl. RGZ 136, 260 (264); BGHZ 31, 258 (276); BGHZ 122, 333 (337); Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck,<br />

GmbHG, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 30 Rn. 33; Habersack, in: Ulmer, GmbHG, 2006, § 30 Rn. 75;<br />

Heidinger, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 30 Rn. 5<strong>9.</strong><br />

12 Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 30 Rn. 3<strong>3.</strong><br />

13 Kindl, Gesellschaft srecht, 2011, § 28 Rn. <strong>2.</strong><br />

14 Dazu Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaft srecht, <strong>5.</strong> Aufl . 2011, § 14 Rn. 53 ff .<br />

15 Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1561).<br />

16 Merkt, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Rn. 33<strong>1.</strong><br />

17 Vgl. Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1561).


<strong>1.</strong> RECHTSGESCHÄFT<br />

§ 13 Abs. 2 GmbHG steht einer persönlichen Haft ung des Gesellschaft<br />

ers aufgrund einer selbstständigen Verpfl ichtung nach allgemeinen<br />

rechtlichen Grundsätzen nicht entgegen. 18 Jeder Gesellschafter<br />

kann die (Mit-)Haft ung für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft<br />

durch Bürgschaft , Garantieversprechen, Schuldbeitritt oder dergleichen<br />

übernehmen. 19 Klausurrelevant ist in diesem Zusammenhang<br />

die Frage, ob bei einer Bürgschaft des Gesellschaft ers für eine Gesellschaft<br />

sschuld das Schrift formerfordernis des § 766 S. 1 BGB gemäß<br />

§ 350 HGB und die Einrede der Vorausklage (§ 771 BGB) nach § 349<br />

HGB ausgeschlossen sind. Dies setzt voraus, dass der Bürge Kaufmann<br />

und die Bürgschaft für ihn ein Handelsgeschäft ist. Zu bejahen<br />

ist dies, wenn sich <strong>im</strong> Konzern eine Mutterkapitalgesellschaft für ihre<br />

Tochter verbürgt. Die Muttergesellschaft ist Formkaufmann nach § 6<br />

Abs. 2 HGB, § 13 Abs. 1 GmbHG oder § 3 Abs. 1 AktG und die Bürgschaft<br />

gilt <strong>im</strong> Zweifel als Handelsgeschäft , §§ 343, 344 HGB. Ist der<br />

Gesellschaft er und/oder Geschäft sführer aber eine natürliche Person,<br />

so ist dieser in beiden Eigenschaft en nicht Kaufmann <strong>im</strong> Sinne des<br />

§ 1 HGB, sodass §§ 349, 350 HGB jedenfalls nicht direkt anwendbar<br />

sind. 20 Eine analoge Anwendung befürwortet Karsten Schmidt, falls<br />

es sich um die Bürgschaft eines geschäft sführenden (Allein-) Gesellschaft<br />

ers für die Schulden der eigenen Gesellschaft handelt. 21 Grund<br />

dafür sei, dass geschäft sführende Gesellschaft er in genau der Weise<br />

am Wirtschaft sleben teilnehmen wie sich der HGB-Gesetzgeber dies<br />

be<strong>im</strong> Kaufmann nach §§ 1 ff . HGB vorgestellt habe. 22<br />

<strong>2.</strong> RECHTSSCHEINHAFTUNG<br />

Eine persönliche Haft ung des Gesellschaft ers kann sich ebenso aus<br />

den Grundsätzen der Rechtsscheinhaft ung ergeben. Dies setzt voraus,<br />

dass ein handelnder Gesellschaft er gegenüber einem gutgläubigen<br />

Dritten in zurechenbarer Weise den Eindruck erweckt, er werde<br />

persönlich für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft einstehen. 23 Aus<br />

Gründen des Gläubigerschutzes ist eine Gesellschaft gemäß §§ 4, 35a<br />

GmbHG verpfl ichtet, unter dem Zusatz der Haft ungsbeschränkung<br />

<strong>im</strong> Geschäft sverkehr aufzutreten. Tritt eine Gesellschaft ohne den<br />

GmbH-Zusatz auf und erweckt dadurch den Anschein, es handele<br />

sich um eine Gesellschaft mit persönlicher Haft ung der Gesellschafter,<br />

können die Gesellschaft er auf Grund Rechtsscheintatbestandes<br />

haft bar gemacht werden. 24 Ebenso kann sich ein Alleingesellschaft er,<br />

der unter derselben Geschäft sadresse eine GmbH und ein Einzelunternehmen<br />

unter gleicher Firma, mit gleichem Briefk opf und Geschäft<br />

sgegenstand betreibt, der persönlichen Haft ung nicht mit dem<br />

Hinweis entziehen, er habe für die GmbH gehandelt, wenn für den<br />

Rechtsverkehr keine klare Zuordnungsmöglichkeit bestand. 25<br />

<strong>3.</strong> HAFTUNG AUS CULPA IN CONTRAHENDO<br />

Eine Eigenhaft ung des Vertreters und damit konkret des GmbH-<br />

Geschäft sführers oder der an den Vertragsverhandlungen beteiligten<br />

Gesellschaft er aus culpa in contrahendo (§§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2,<br />

311 Abs. 2, Abs. 3 BGB) kommt nur in zwei Fallgruppen in Betracht,<br />

18 Merkt, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Rn. 33<strong>1.</strong><br />

19 Emmerich, in: Scholz, GmbHG, 10. Aufl . 2006, § 13 Rn. 61 f.; Merkt, in: MünchKommGmbHG,<br />

2010, § 13 Rn. 33<strong>2.</strong><br />

20 K.Schmidt, in: MünchKommHGB, <strong>2.</strong> Aufl . 2009, § 350 Rn.10; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1562).<br />

21 K.Schmidt, in: MünchKommHGB, <strong>2.</strong> Aufl . 2009, § 349 Rn. <strong>5.</strong><br />

22 K.Schmidt, in: ZIP 1986, 1510 ff .; ders., in: MünchKommHGB, <strong>2.</strong> Aufl . 2009, § 350 Rn. 10; ablehnend<br />

aber BGHZ 165, 43 (43).<br />

23 Merkt, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

24 Michalski, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 333; Merkt, in: MünchKommGmbHG,<br />

2010, § 13 Rn. 335; Scholz, in: Scholz/Emmerich, 10. Aufl . 2006, § 13 Rn. 6<strong>3.</strong><br />

25 Vgl. OLG Düsseldorf, ZMR 1972, 30<strong>7.</strong>; Merkt, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

nämlich der Sachwalterhaft ung und der Haft ung wegen Inanspruchnahme<br />

besonderen persönlichen Vertrauens. 26<br />

Bei der Sachwalterhaft ung geht es um Fälle, in denen der Gesellschaft<br />

er-Geschäft sführer bei Vertragsverhandlungen für die GmbH<br />

nicht über mangelnde Kreditwürdigkeit der Gesellschaft aufk lärt. 27<br />

Voraussetzung ist ein wirtschaft liches Eigeninteresse des beteiligten<br />

Gesellschaft ers. 28 Daran sind hohe Anforderungen zu stellen, um einen<br />

Wertungswiderspruch zu § 13 Abs. 2 GmbHG zu vermeiden. 29<br />

Unzureichend ist das allgemeine Interesse am Erfolg der Unternehmung<br />

30 oder eine maßgebliche Beteiligung 31 .<br />

Der in § 311 Abs. 3 S. 2 BGB genannte Fall einer Inanspruchnahme<br />

besonderen persönlichen Vertrauens setzt voraus, dass der Gesellschaft<br />

er-Geschäft sführer eine von ihm persönlich ausgehende Gewähr<br />

für die Seriosität und die Erfüllung des Geschäft s bietet oder<br />

den Eindruck vermittelt, er werde persönlich mit seiner Sachkunde<br />

die ordnungsgemäße Abwicklung des Geschäft s gewährleisten. 32 Der<br />

Gesellschaft er-Geschäft sführer muss „gleichsam <strong>im</strong> Umfeld einer<br />

Garantiezusage“ einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaff en<br />

und dadurch die Vertragsverhandlungen oder den Vertragsschluss<br />

wesentlich beeinfl usst haben. 33<br />

4. AUSSENHAFTUNG NACH DELIKTSRECHT<br />

Titelthema<br />

Ein Gesellschaft er-Geschäft sführer kann sich durch eigenes Handeln<br />

nach §§ 823 ff . BGB gegenüber Gläubigern der GmbH schadensersatzpfl<br />

ichtig machen. Er haft et auch dann, wenn er in seiner<br />

Eigenschaft als gesetzlicher Vertreter der GmbH gehandelt hat und<br />

die GmbH der Zurechnung wegen gemäß § 31 BGB neben ihm<br />

i. S. d. § 840 BGB haft et. 34<br />

Ein Gläubiger, der in der Insolvenz der GmbH mit seiner Forderung<br />

ausfällt, ist pr<strong>im</strong>är in seinem Vermögen geschädigt, sodass insbesondere<br />

§ 826 BGB als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, welche<br />

freilich mit den Tatbestandsmerkmalen der Sittenwidrigkeit und des<br />

Vorsatzes hohe Anforderungen stellt. 35 § 826 BGB ist erfüllt, wenn<br />

der Gesellschaft er-Geschäft sführer einen Vertragspartner vor Vertragsschluss<br />

über die Bereitschaft und Fähigkeit der GmbH zur Zahlung<br />

der bezogenen Waren oder Dienstleistungen getäuscht hat. 36<br />

Eine Pfl icht zur Off enbarung der wirtschaft lichen Lage der GmbH<br />

besteht nämlich dann, wenn die Durchführbarkeit des Vertrages bei<br />

Vorleistungspfl icht des Vertragspartners von vornherein schwerwiegend<br />

gefährdet ist oder zu erwarten ist, dass die Gesellschaft <strong>im</strong><br />

Zeitpunkt der Fälligkeit der Forderung zahlungsunfähig sein wird. 37<br />

Neben § 826 BGB greift in derartigen Fällen § 823 Abs. 2 BGB i. V. m.<br />

§ 263 Abs. 1 StGB, da der Geschäft sführer in der Regel vorsätzlich<br />

über die Fähigkeit und Bereitschaft der GmbH zur Erfüllung des<br />

Vertrags täuscht. 38 Denn die Eingehung jeder vertraglichen Verpfl<br />

ichtung enthält – sofern sich aus den Umständen nichts anderes<br />

ergibt – die stillschweigende Erklärung des Schuldners, dass er zur<br />

Vertragserfüllung willens und seiner Einschätzung nach bei Fälligkeit<br />

auch in der Lage sei. 39<br />

26 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 334.<br />

27 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

28 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

29 Vgl. Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

30 BGH, NJW 1990, 389; BGH, NJW 1995, 1544.<br />

31 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 33<strong>5.</strong><br />

32 Vgl. Kindl, in: Erman, BGB, 1<strong>3.</strong> Aufl . 2011, § 311 Rn. 48; Kindl, Gesellschaft srecht, 2011, § 26 Rn. 24.<br />

33 BGHZ 126, 181 (189); Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 336.<br />

34 Verse, in: Henssler/Strohn, Gesellschaft srecht, 2011, § 13 GmbHG Rn. 2<strong>7.</strong><br />

35 Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1566).<br />

36 Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1566).<br />

37 BGH, NJW-RR 1991, 1312; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1566).<br />

38 Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1566).<br />

39 BGH, NJW-RR 1991, 131<strong>2.</strong><br />

13


14<br />

Titelthema<br />

Besonders bedeutend ist die Haft ung wegen Insolvenzverschleppung<br />

nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO, die zwar pr<strong>im</strong>är den<br />

Geschäft sführer trifft , jedoch bei Führungslosigkeit der Gesellschaft<br />

nach § 15a Abs. 3 InsO auch die Gesellschaft er treff en kann. § 15a<br />

Abs. 1 InsO ist ein Schutzgesetz i. S. d. § 823 Abs. 2BGB, da die Stellung<br />

eines Insolvenzantrags gerade die Gläubiger eines kränkelnden<br />

Unternehmens vor der Verschlechterung der Befriedigungsmöglichkeiten<br />

schützen soll und nicht etwa nur die Allgemeinheit vor überschuldeten<br />

Kapitalgesellschaft en. 40<br />

II. ECHTE DURCHGRIFFSHAFTUNG – DURCHBRECHUNG VON<br />

§ 13 ABS. 2 GMBHG<br />

Obwohl Gläubiger grundsätzlich durch Maßnahmen der Kapitalaufbringung<br />

und -erhaltung sowie Insolvenzantragspfl ichten geschützt<br />

werden, gibt es Fälle, in denen der Gesellschaft er wegen seines<br />

Verhaltens oder durch besondere Umstände die Berufung auf das<br />

Haft ungsprivileg des § 13 Abs. 2 GmbHG nicht verdient zu haben<br />

scheint. 41 Das anglo-amerikanische Recht spricht in anschaulicher<br />

Bildersprache davon, dass der durch den Rechtsträger gebildete<br />

Schleier gehoben bzw. durchstoßen wird (lift ing or piercing the corporate<br />

veil). 42<br />

<strong>1.</strong> DOGMATISCHE GRUNDLAGE<br />

Die dogmatische Grundlage der echten Durchgriff shaft ung ist umstritten.<br />

43 Im Schrift tum werden <strong>im</strong> Wesentlichen drei verschiedene<br />

Ansätze vertreten. Die Missbrauchstheorie sieht den Durchgriff als<br />

seltenen Ausnahmefall an, in dem die Rechtsfi gur der juristischen<br />

Person absichtlich zu anderen als von der Rechtsordnung vorgesehenen<br />

Zwecken missbraucht werde. 44 Hingegen sieht die Normanwendungstheorie<br />

in der juristischen Person eine Schöpfung der<br />

Rechtsordnung, die von vornherein nur soweit beachtet zu werden<br />

braucht, als das geltende Recht ihre Anwendung rechtfertigt. 45 Aufbringung<br />

und Erhaltung des Stammkapitals seien Voraussetzung des<br />

Haft ungsprivilegs, welches bei Nichterfüllung entfallen müsse. 46 Im<br />

Gegensatz dazu halten Vertreter der Trennungstheorie einen Haftungsdurchgriff<br />

grundsätzlich für verfehlt und nehmen stattdessen<br />

eine Haft ung wegen Pfl ichtverletzung an. 47 Die Rechtsprechung hat<br />

sich hingegen keiner der Th eorien angeschlossen, sondern versucht<br />

dem Problem durch Entwicklung von Fallgruppen beizukommen. In<br />

Betracht kommt eine Durchgriff shaft ung in den Fällen der Vermögensvermischung,<br />

der Unterkapitalisierung und des existenzvernichtenden<br />

Eingriff s. Das Rechtsinstitut des qualifi ziert faktischen Konzerns<br />

wurde vom BGH 48 hingegen endgültig aufgegeben. 49<br />

<strong>2.</strong> FALLGRUPPEN<br />

a) Vermögens- und Sphärenvermischung<br />

Eine Vermögensvermischung führt dann zur persönlichen Gesellschaft<br />

erhaft ung, wenn eine Vermögensabgrenzung zwischen<br />

Gesellschaft s- und Privatvermögen durch eine undurchsichtige<br />

40 Wagner, in: MünchKommBGB, <strong>5.</strong> Aufl . 2009, § 823 Rn. 396; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1572).<br />

41 Michalski/Funke, in: Michalski, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 33<strong>9.</strong><br />

42 Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1578).<br />

43 Dazu Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong> Aufl . 2010, § 29 Rn.<strong>3.</strong><br />

44 Begründet von Serick, Rechtsform und Realität juristischer Personen, 1980, S. 20<strong>3.</strong><br />

45 Begründet von Müller-Freienfels, in: AcP 156 (1957), 522 ff ., und Rehbinder, Konzernaußenrecht<br />

und allgemeines Privatrecht, 1969, S. 103 ff .; siehe dazu Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong><br />

Aufl . 2010, § 29 Rn. <strong>3.</strong><br />

46 So auch Wiedemann, ZGR 2003, 283 (285).<br />

47 Flume, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I/2 – die juristische Person, 1983, S. 63 ff ; Wilhelm,<br />

Rechtsform und Haft ung, 1981, S. 285 ff ; dazu Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong> Aufl .<br />

2010, § 29 Rn. <strong>3.</strong><br />

48 BGHZ 149, 10.<br />

49 Zur früheren Rechtslage siehe Liebscher, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Anh. Rn. 476 ff .<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Buchführung oder auf andere Weise so verschleiert wird, dass die<br />

Beachtung der Kapitalerhaltungsvorschrift en unkontrollierbar ist. 50<br />

Für derartige Fälle ist die Bezeichnung „Waschkorbbuchhaltung“<br />

oder „Waschkorblage“ treff end. 51 Solange allerdings bei einzelnen<br />

Privatentnahmen eine Rückzahlung nach §§ 30, 31 GmbHG wegen<br />

eindeutiger Trennung der Sphären möglich ist, scheidet eine Durchgriff<br />

shaft ung aus. 52 Die Haft ung trifft nur denjenigen Gesellschaft er,<br />

der die Verantwortung für die Vermögensvermischung trägt, da die<br />

Durchgriff shaft ung wegen Vermögensvermischung nach Auff assung<br />

des BGH keine Zustandshaft ung ist, sondern eine Verhaltenshaft ung<br />

wegen Rechtsformmissbrauchs. 53<br />

Unter einer Sphärenvermischung werden die Fälle verstanden, in<br />

denen der Gesellschaft er <strong>im</strong> Rechtsverkehr nicht klar zwischen den<br />

Sphären von Gesellschaft und Gesellschaft er trennt. 54 Dies ist aber<br />

kein Fall der Durchgriff shaft ung <strong>im</strong> engeren Sinne, sondern als ein<br />

Fall des unechten Durchgriff s über die Grundsätze der Rechtsscheinhaft<br />

ung zu lösen. 55<br />

b) Unterkapitalisierung<br />

Die wohl bedeutendste und umstrittenste Frage ist die nach der Haftung<br />

wegen Unterkapitalisierung. Gemeint sind Fälle, in denen die<br />

Gesellschaft er ihre GmbH in Anbetracht ihrer Geschäft stätigkeit mit<br />

einem zu geringen Eigenkapital ausstatten. Der Betrieb einer unterkapitalisierten<br />

GmbH mit Risikoverlagerung auf die Gläubiger<br />

widerspricht dem Zweck des § 13 Abs. 2 GmbHG, denn das Gesellschaft<br />

svermögen soll auch als Finanzpolster dienen, mit dem Verluste<br />

aufgefangen und ein jederzeitiges Abrutschen der GmbH in die<br />

Insolvenz verhindert wird. 56<br />

aa) Defi nition und Arten<br />

Eine Unterkapitalisierung liegt vor, wenn erstens ein nicht nur vorübergehender<br />

Finanzierungsbedarf besteht und zweitens die Gesellschaft<br />

nicht kreditwürdig ist, der Finanzierungsbedarf also nicht<br />

durch Kredite Dritter gedeckt werden kann. 57 Dabei sind die nominelle<br />

und die materielle Unterkapitalisierung zu unterscheiden. Von<br />

nomineller Unterkapitalisierung spricht man, wenn der Gesellschaft<br />

in der Krise kein neues Eigen-, sondern nur Fremdkapital – meist in<br />

Form von Gesellschaft erdarlehen – zugeführt wird. 58 Derartige Fälle<br />

wurden früher nach den Grundsätzen über eigenkapitalersetzende<br />

Gesellschaft erdarlehen behandelt. 59 Seit der Änderung durch das<br />

MoMiG 60 werden in allen Gesellschaft sformen Rückzahlungsansprüche<br />

des Gesellschaft ers auf Grund eines Darlehens nach § 39 Abs. 1<br />

Nr. 5 InsO nachrangig befriedigt.<br />

Als materielle Unterkapitalisierung werden hingegen Fälle bezeichnet,<br />

in denen eine Kapitalzufuhr trotz Finanzierungsbedarfs<br />

50 BGHZ 95, 330; BGHZ 165, 85; Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 36<strong>5.</strong><br />

51 Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 45; Lutter, in: Lutter/Hommelhoff ,<br />

GmbHG, 1<strong>7.</strong> Aufl . 2009, § 13 Rn. 14; Kindl, Gesellschaft srecht, 2011, § 28 Rn. <strong>7.</strong><br />

52 BGHZ 95, 330.<br />

53 BGHZ 165, 85 (85); Kindl, Gesellschaft srecht, 2011, § 28 Rn. <strong>7.</strong><br />

54 K. Schmidt, Gesellschaft srecht, 4. Aufl age 2002, § 9 IVa, S. 236 f; Michalski/Funke, in: Michalski,<br />

GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 374.<br />

55 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaft srecht, 4. Aufl . 2002, § 9 IVa, S. 236; Michalski/Funke, in: Michalski,<br />

GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 374; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1579).<br />

56 Lutter, in: Lutter/Hommelhoff , § 13 Rn. 15; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1580).<br />

57 Vgl. K. Schmidt, Gesellschaft srecht, 4. Aufl . 2002, § 9 IVa, S. 240; Kindl, Gesellschaft srecht, § 28 Rn.<strong>9.</strong><br />

58 Vgl. etwa Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 378; Emmerich, in:<br />

Scholz, 10. Aufl . 2006, § 13 Rn.82; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1580).<br />

59 Vertiefend dazu etwa Löwisch, Eigenkapitalersatzrecht, 200<strong>7.</strong><br />

60 Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen (MoMiG)<br />

vom 2<strong>3.</strong>10.2008, BGBl. I 2008, 2026.


unterbleibt. 61 Schlagwortartig kann daher in Abgrenzung zur nominellen<br />

„Unterkapitalisierung durch Fremdkapitalisierung“ von „Unterkapitalisierung<br />

durch Nichtkapitalisierung“ gesprochen werden. 62<br />

Sodann wird zwischen der einfachen und der qualifi zierten Unterkapitalisierung<br />

unterschieden. Letztere liegt vor, wenn die Gesellschaft<br />

eindeutig und für Insider klar erkennbar unzureichend mit Eigenkapital<br />

ausgestattet ist, sodass bei normalem Geschäft sverlauf ein Misserfolg<br />

zulasten der Gläubiger mit hoher, das gewöhnliche Geschäft srisiko<br />

deutlich übersteigender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist. 63<br />

bb) Haft ung wegen materieller Unterkapitalisierung<br />

Die Annahme einer Haft ung wegen materieller Unterkapitalisierung<br />

ist nicht unproblematisch. Sie setzt voraus, dass die Gesellschaft er<br />

eine über die Kapitalerhaltung hinausgehende Pfl icht haben, die<br />

Gesellschaft entsprechend dem Geschäft sumfang mit genügend Eigenkapital<br />

auszustatten. 64 Das Gesetz schreibt allerdings nur vor, dass<br />

nach § 5 GmbHG bei Gründung der Gesellschaft das erforderliche<br />

Stammkapital aufgebracht sein muss und danach gemäß §§ 30, 31<br />

GmbHG erhalten bleibt. Gerade die Möglichkeit der Gründung einer<br />

UG (haft ungsbeschränkt) zeigt, dass das Eigenkapital nicht in einem<br />

angemessenen Verhältnis zum angestrebten oder tatsächlichen Geschäft<br />

sumfang stehen muss. Der Gläubigerschutz würde bei einer<br />

Haft ung wegen materieller Unterkapitalisierung auch überdehnt, da<br />

ein Vertragspartner es selbst in der Hand hat, sich ausreichend über<br />

die wirtschaft liche Situation der Gesellschaft zu informieren und gegebenenfalls<br />

persönliche Sicherheiten zu fordern. 65 Zudem könnte<br />

eine Pfl icht zur angemessenen Kapitalausstattung der Finanzierungsentscheidung<br />

der Gesellschaft er widersprechen, die es erlaubt, selbst<br />

zu best<strong>im</strong>men, wie viel Kapital und in welcher Form sie dieses zur<br />

Verfügung stellen wollen. 66<br />

Teile der Literatur sprechen sich allerdings für eine Haft ung in Fällen<br />

einer qualifi zierten materiellen Unterkapitalisierung aus. 67 Da die<br />

Gläubiger <strong>im</strong> Fall einer bloß nominellen Unterkapitalisierung durch<br />

die Vorschrift en über die Nachrangigkeit von Gesellschaft erdarlehen<br />

68 geschützt werden, dürfe es keinen Unterschied machen, ob<br />

die Gesellschaft er den Finanzbedarf durch Darlehen oder Eigenkapital<br />

gedeckt haben. 69 Die Rechtsprechung ist hier eher restriktiv. 70<br />

So betont der BGH, dass das GmbH-Gesetz lediglich die Entnahmesperre<br />

zugunsten des Stammkapitals (§ 30, 31 GmbHG), nicht<br />

aber eine darüber hinausgehende Rechtspfl icht der Gesellschaft er zu<br />

ausreichender Finanzausstattung vorsehe. 71 Deshalb komme mangels<br />

gesetzlicher Regelungslücke eine richterliche Rechtsfortbildung dahingehend<br />

nicht in Betracht. 72 Anders stelle sich die Situation nur<br />

dar, wenn die materielle Unterkapitalisierung durch einen existenzvernichtenden<br />

Eingriff des Gesellschaft ers hervorgerufen worden<br />

sei. 73 Der Rechtsprechung ist vor allem unter dem Gesichtspunkt der<br />

Gesetzestreue (§ 5 Abs. 1 GmbHG) zu folgen. 74<br />

61 Vgl. Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 47; Bitter, in: ZInsO 2010, 1561<br />

(1580).<br />

62 K.Schmidt, in: ZIP 1981, 689 (690); Bitter, in: ZInsO 2010, 1561 (1580).<br />

63 Kindl, Gesellschaft srecht, 2011, § 28 Rn. 9 m.w.N..<br />

64 Vgl. Ulmer, in: Hachenburg, GmbHG, <strong>8.</strong> Aufl . 1992, Anhang § 30 Rn. 1; Michalski/Funke, in: Michalski,<br />

GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl age 2010, § 13 Rn. 37<strong>7.</strong><br />

65 Vgl. Saenger, Gesellschaft srecht, 2010, § 17 Rn. 80<strong>5.</strong><br />

66 Michalski/Funke, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl age 2010, § 13 Rn. 37<strong>7.</strong><br />

67 Z.B. Lutter, in: Lutter/Hommelhoff , GmbHG, 1<strong>7.</strong> Aufl . 2009; § 13 Rn. 16; Raiser/Veil, Recht der<br />

Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong> Aufl . 2010, § 29 Rn. 44.<br />

68 § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO; vor MoMiG §§ 32a, 32b GmbHG a. F..<br />

69 Raiser/Veil, Recht der Kapitalgesellschaft en, <strong>5.</strong> Aufl . 2010, § 29 Rn. 46.<br />

70 Etwa BGHZ 68, 312; BAG, NJW 1999, 740; BAG, NJW 1999, 229<strong>9.</strong><br />

71 BGHZ 176, 204.<br />

72 BGHZ 176, 204.<br />

73 BGHZ 176, 204.<br />

74 Kindler, Grundkurs Handels- und Gesellschaft srecht, <strong>5.</strong> Aufl . 2011, § 14 Rn. 8<strong>7.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

c) Existenzvernichtender Eingriff<br />

Titelthema<br />

Nach der aktuellen Rechtsprechung des BGH 75 ist die Durchgriff shaft<br />

ung als eine Schadensersatzhaft ung des Gesellschaft ers gegenüber<br />

der GmbH nach § 826 BGB ausgestaltet, welche vom Insolvenzverwalter<br />

geltend gemacht wird. Genau betrachtet kann die<br />

Haft ung wegen existenzvernichtenden Eingriff s nicht mehr als Haftungsdurchgriff<br />

bezeichnet werden, da es sich um einen deliktischen<br />

Schadensersatzanspruch in Form einer Binnenhaft ung handelt. In<br />

der Klausurbearbeitung sollte dies bereits <strong>im</strong> Obersatz deutlich gemacht<br />

werden. Jener könnte lauten: „Die GmbH könnte gegen den<br />

Gesellschaft er einen Anspruch auf Schadensersatz wegen existenzvernichtenden<br />

Eingriff s auf Grundlage von § 826 BGB haben, welcher<br />

durch den Insolvenzverwalter gemäß § 80 Abs. 1 InsO geltend<br />

gemacht würde.“ 76<br />

aa) Tatbestand<br />

aaa) Eingriff in das Gesellschaft svermögen ohne Rechtfertigung oder<br />

Kompensation<br />

Ein Eingriff in das Gesellschaft svermögen besteht in der Entziehung<br />

vermögensrelevanter Vorteile zu betriebsfremden Zwecken. 77 Dies<br />

setzt begriff snotwendig positives Tun voraus. 78 Maßgeblich ist dabei<br />

die Missachtung der Zweckbindung des Gesellschaft svermögens zur<br />

vorrangigen Befriedigung der Gläubiger. 79 Dabei ist der Vermögensbegriff<br />

nicht auf das bilanzielle Vermögen der Gesellschaft begrenzt.<br />

Vielmehr fallen darunter auch Geschäft schancen, der Abzug notwendigen<br />

Personals, die Verlagerung von Produktion oder die Belastung<br />

von Gesellschaft svermögen für fremde Schulden. 80 In einem<br />

der jüngsten Urteile sieht der BGH einen Vermögenseingriff in der<br />

prozessualen Vereitelung der Durchsetzung eines bestehenden Anspruchs<br />

der GmbH gegen ihren Alleingesellschaft er durch Herbeiführung<br />

eines rechtskräft igen Versäumnisurteils. 81 Keinesfalls ausreichend<br />

sind hingegen bloße Managementfehler. 82 Haft ungsrelevantes<br />

Verhalten liegt dann vor, wenn der Gesellschaft er die GmbH durch<br />

Abzug aller Ressourcen quasi „auf kaltem Wege“, d. h. entgegen den<br />

Vorschrift en §§ 66 ff . GmbHG, liquidiert. 83<br />

Durch die Verortung der Haft ung <strong>im</strong> Deliktsrecht besteht grundsätzlich<br />

die Möglichkeit einer Teilnehmerhaft ung nach §§ 830 Abs.<br />

2, Abs. 1, 826 BGB. 84<br />

Die Gesellschaft er sind nicht haft bar, wenn der Eingriff gerechtfertigt<br />

ist oder kompensiert wurde. 85 Gerechtfertigt ist der Eingriff dann,<br />

wenn dem Gesellschaft er ein subjektives Recht zusteht, er z. B. ein<br />

Nutzungsverhältnis wegen Zahlungsverzugs kündigen darf 86 oder<br />

der Gesellschaft eine marktgerechte Gegenleistung zufl ießt 87 . Eine<br />

Kompensation liegt etwa darin, dass der Gesellschaft an den entzogenen<br />

Vermögensgegenständen ein Nutzungsrecht eingeräumt wird. 88<br />

75 BGHZ 173, 246; BGHZ 176, 204; BGHZ 179, 344.<br />

76 T<strong>im</strong>m/Schöne, Fälle zum Handels- und Gesellschaft srecht, Band II, <strong>7.</strong> Aufl . 2010, S. 14<strong>3.</strong><br />

77 Vgl. Wicke, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2011, § 13 Rn. 6.<br />

78 BGHZ 176, 204.<br />

79 BGHZ 151, 181 (186).<br />

80 Lutter, in: Lutter/Hommelhoff , GmbHG, 1<strong>7.</strong> Aufl . 2009, § 13 Rn. 34.<br />

81 BGHZ 179, 344.<br />

82 BGH, ZIP 2005, 250; zur Business Judgment Rule des § 93 AktG <strong>im</strong> GmbH-Recht vgl. Scholl, in:<br />

Götze/Lang, Strategisches Management zwischen Globalisierung und Regionalisierung, 2009, S. 148 ff .<br />

83 Bitter, Gesellschaft srecht, 2011, § 4 Rn. 25<strong>3.</strong><br />

84 Vgl. BGHZ 173, 246; dazu Schneider, in: GmbHR 2011, 685 (689).<br />

85 BGHZ 173, 46; BGH, GmbHR 2008, 929 (930).<br />

86 BGHZ 173, 246.<br />

87 BGHZ 173, 246; dazu Weller, in: ZIP 2007, 1681 (1685).<br />

88 BGHZ 173, 246; dazu Weller, in: ZIP 2007, 1681 (1685).<br />

15


16<br />

Titelthema<br />

bbb) Kausalität zwischen schädigendem Eingriff und Insolvenzeintritt<br />

oder -vertiefung<br />

Der Eingriff muss kausal für die Existenzvernichtung der Gesellschaft<br />

sein. 89 Dies setzt voraus, dass die Fähigkeit der GmbH zur<br />

Erfüllung ihrer Verbindlichkeiten in einem ins Gewicht fallenden<br />

Ausmaß beeinträchtigt ist. 90 Dies ist regelmäßig bei Verursachung<br />

der Insolvenz der Fall. 91 War die Gesellschaft bereits vor dem Eingriff<br />

insolvent, genügt die Insolvenzvertiefung. 92<br />

ccc) Sittenwidrigkeit und Vorsatz<br />

Ein sittenwidriges Verhalten ist in dem planmäßigen Entzug des Gesellschaft<br />

svermögens zu sehen, wenn dieser zu gesellschaft sfremden<br />

Zwecken und zum eigenen Vorteil der Gesellschaft er vorgenommen<br />

wird. 93 In der rücksichtslosen Missachtung der Zweckbindung des<br />

Gesellschaft svermögens liegt eine grob gegen die Verkehrserwartung<br />

verstoßende Handlungsweise. 94<br />

§ 826 BGB verlangt ein vorsätzliches Handeln. In Bezug auf die Sittenwidrigkeit<br />

ist es ausreichend, dass dem Gesellschaft er die Tatsache<br />

bewusst ist, dass durch die jeweiligen Maßnahmen das Gesellschaft svermögen<br />

geschädigt wird. 95 Ein Bewusstsein für die Sittenwidrigkeit<br />

ist nicht notwendig. 96<br />

bb) Rechtsfolge<br />

Die Höhe des Schadensersatzanspruchs richtet sich nach § 249 BGB.<br />

Der Schaden umfasst zunächst den Wert der unmittelbar entzogenen<br />

Vermögenspositionen sowie einen entgangenen Gewinn und die<br />

Kosten des vorläufi gen Insolvenzverfahrens. 97 Die Haft ung fl ankiert<br />

damit gewissermaßen die Vorschrift en der §§ 30, 31 GmbHG für<br />

Fälle, in denen diese Normen keinen ausreichenden Gläubigerschutz<br />

bieten. 98 Die Innenhaft ung ist auf den Schaden begrenzt, der der Gesellschaft<br />

durch den Eingriff zurechenbar entstanden ist. 99<br />

Der Gesellschaft er haft et nicht persönlich gegenüber Dritten wie ein<br />

oHG-Gesellschaft er <strong>im</strong> Sinne einer Außenhaft ung 100 , sondern gegenüber<br />

seiner Gesellschaft 101 . Nachteilig an dem Binnenhaft ungskonzept<br />

ist jedoch, dass die geschädigten Gläubiger auf den umständlichen<br />

Weg verwiesen sind, den Anspruch der GmbH gegen den Gesellschaft<br />

er zu pfänden und an sich überweisen zu lassen. 102 In vielen<br />

Fällen, in denen mangels Masse kein Insolvenzverfahren eröff net<br />

wird, kann der Anspruch in der Konsequenz nicht von einem Insolvenzverwalter<br />

geltend gemacht werden. 103 Die Gesellschaft als Klägerin<br />

bzw. der Insolvenzverwalter trägt die Darlegungs- und Beweislast<br />

für alle objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmale. 104<br />

89 Liebscher, in: MünchKommGmbHG, 2010, § 13 Anh Rn. 557 m. w. N..<br />

90 Liebscher, in: MünchKommGmbHG, 2010, Anh § 13 Rn. 55<strong>7.</strong><br />

91 Liebscher, in: MünchKommGmbHG, 2010, Anh § 13 Rn. 55<strong>7.</strong><br />

92 Liebscher, in: MünchKommGmbHG, 2010, Anh § 13 Rn. 557 m. w. N..<br />

93 BGHZ 173, 246; BGHZ 176, 204.<br />

94 Schanze, in: NZG 2007, 681 (683); Hueck/Fastrich, in: Baumbach/Hueck, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 13 Rn. 67;<br />

T<strong>im</strong>m/Schöne, Fälle zum Handels- und Gesellschaft srecht, Band II, <strong>7.</strong> Aufl . 2010, S. 146.<br />

95 BGHZ 173, 246.<br />

96 BGHZ 173, 246; Wagner, in: MünchKommBGB, <strong>5.</strong> Aufl . 2009, § 826 Rn. 23f.<br />

97 BGHZ 173, 246.<br />

98 Vgl. Haas, in: ZIP 2009, 1257 (1257); Bitter, Gesellschaft srecht, 2011, § 4 Rn. 25<strong>7.</strong><br />

99 Bitter, Gesellschaft srecht, 2011, § 4 Rn. 25<strong>8.</strong><br />

100 Anders noch BGHZ 149, 10 und BGHZ 151, 18<strong>1.</strong><br />

101 BGHZ 173, 246; BGHZ 176, 204; BGHZ 179, 344.<br />

102 Bitter, Gesellschaft srecht, 2011, § 4 Rn. 25<strong>7.</strong><br />

103 Vgl. Wagner, in: MünchKommBGB, <strong>5.</strong> Aufl . 2009, § 826 Rn. 120; ebenso Bitter, Gesellschaft srecht,<br />

2011, § 4 Rn. 25<strong>8.</strong><br />

104 BGHZ 173, 246;Wicke, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2011, § 13 Rn. 1<strong>1.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

III. PARALLELE ANSPRUCHSGRUNDLAGEN<br />

Neben der Haft ung wegen existenzvernichtenden Eingriff s können<br />

regelmäßig andere gesellschaft srechtliche Anspruchsgrundlagen<br />

einschlägig sein. Eine Haft ung des Gesellschaft ers nach §§ 30, 31<br />

GmbHG ist wegen des in der Regel gleichzeitig verwirklichten Verstoßes<br />

gegen das Auszahlungsverbot zu bejahen.<br />

Ist der in das Gesellschaft svermögen eingreifende Gesellschaft er<br />

gleichzeitig Geschäft sführer, so haft et er gegenüber der Gesellschaft<br />

auch nach § 43 Abs. 3 S. 1 GmbHG. Handelt der Geschäft sführer<br />

auf Grund eines Gesellschaft erbeschlusses, so soll er sich nach h. M.<br />

analog § 43 Abs. 3 S. 3 GmbHG nicht darauf berufen können, wenn<br />

die Maßnahme, zu der angewiesen wird, einen existenzvernichtenden<br />

Eingriff darstellt. 105 Zu ersetzen ist der „Auszahlungsschaden“ 106 ,<br />

welcher in dem Liquiditätsabfl uss oder <strong>im</strong> Abgang sonstiger Vermögenswerte<br />

liegt. 107<br />

Ebenso kann der Gesellschaft er-Geschäft sführer nach § 64 GmbHG<br />

wegen Masseschmälerung haft en. Nach § 64 S. 1 GmbHG sind die<br />

Geschäft sführer zum Ersatz von Zahlungen verpfl ichtet, die nach<br />

Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der GmbH oder nach Feststellung<br />

ihrer Überschuldung geleistet werden, wenn das Verhalten nicht mit<br />

der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäft smanns vereinbar ist (§ 64<br />

S. 2 GmbHG). Seit der Änderung durch das MoMiG richtet sich der<br />

Wortlaut der Norm konkret gegen den Abzug von Vermögenswerten<br />

und deckt damit einen Teilbereich der Fälle des existenzvernichtenden<br />

Eingriff s ab. 108 Angesetzt wird nicht be<strong>im</strong> Gesellschaft er als<br />

Empfänger der existenzvernichtenden Leistung, sondern be<strong>im</strong> Geschäft<br />

sführer als deren Auslöser bzw. Gehilfen. 109<br />

D. ZUSAMMENFASSUNG<br />

Die persönliche Haft ung eines GmbH-Gesellschaft ers für Verbindlichkeiten<br />

der Gesellschaft kann sich auf Grund einer eigenen Verpfl<br />

ichtung gegenüber Dritten ergeben. Eine echte Durchbrechung<br />

des Trennungsprinzips stellt die Haft ung wegen Vermögensvermischung<br />

und wegen existenzvernichtenden Eingriff s dar, welche als<br />

Binnenkonzept ausgestaltet ist. Die Existenzvernichtungshaft ung<br />

ist nach der aktuellen Rechtsprechung ein Fall des § 826 BGB. Die<br />

vorsätzliche sittenwidrige Schädigung besteht in der Missachtung<br />

der Kapitalerhaltungsvorschrift en. Die Frage, ob die Gesellschaft er<br />

persönlich für Schulden einer materiell unterkapitalisierten GmbH<br />

haft en, ist umstritten und wird von der Rechtsprechung grundsätzlich<br />

verneint.<br />

105 Zöllner/Noack, in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 1<strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 43 Rn. 54; Haas/Ziemons, in:<br />

Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 43 Rn. 220d.<br />

106 BGH, NZG 2008, 90<strong>8.</strong><br />

107 Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 43 Rn. 21<strong>9.</strong><br />

108 Vgl. Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 64 Rn. <strong>3.</strong><br />

109 Haas/Ziemons, in: Michalski, GmbHG, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 64 Rn. <strong>3.</strong>


Dr. Regina Engelstädter, Partnerin<br />

M&A, Corporate<br />

Dr. Peter Wessels, Partner<br />

M&A, Restrukturierung, Corporate<br />

Baker & McKenzie - Partnerschaftsgesellschaft<br />

Melita Mesaric, Bethmannstraße 50-54, 60311 Frankfurt am Main,<br />

Telefon +49 (0) 69 2 99 08 555, E-Mail: melita.mesaric@bakermckenzie.com,<br />

www.bakermckenzie.com<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

Die Baker & McKenzie - Partnerschaft von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern, Steuerberatern und Solicitors ist eine <strong>im</strong> Partnerschaftsregister des Amtsgerichts Frankfurt/Main<br />

unter PR-Nr. 1602 eingetragene Partnerschaftsgesellschaft nach deutschem Recht mit Sitz in Frankfurt/Main. Sie ist assoziiert mit Baker & McKenzie International, einem Verein<br />

nach Schweizer Recht.<br />

Dr. Florian Thamm, Partner<br />

M&A, Real Estate, Corporate<br />

Kollegen (m/w) gesucht.<br />

Zum weiteren Ausbau unserer Praxis <strong>im</strong> Bereich<br />

Corporate/M&A suchen wir Anwälte (m/w) für unsere<br />

Büros in Berlin, Frankfurt am Main und München.<br />

Berufsanfänger sind uns ebenso willkommen wie<br />

Kollegen mit Berufserfahrung. Unser Ziel ist es, Sie an<br />

die Partnerschaft in einer internationalen Großkanzlei<br />

heranzuführen.<br />

Wir setzen Maßstäbe bei der Förderung unserer<br />

Associates und helfen Ihnen, sich zu einer Anwaltspersönlichkeit<br />

zu entwickeln. Unter der Obhut eines<br />

Mentors binden wir Sie frühzeitig eng in die Mandatsarbeit<br />

ein. Veranstaltungen in unserer Inhouse University<br />

und den Praxisgruppen runden Ihre Fortbildung ab.<br />

Regelmäßige Treffen auf nationaler und internationaler<br />

Ebene bieten weitere Gelegenheit zum kollegialen<br />

Gedankenaustausch. Zusätzliche Informationen<br />

über unsere Nachwuchsarbeit finden Sie unter<br />

www.bakercareers.de. Wir freuen uns auf Ihre<br />

Bewerbung.<br />

17


18<br />

Ausbildung<br />

A. EINLEITUNG<br />

Art. 12 Abs. 1 GG ist das zentrale Grundrecht der deutschen Wirtschaft<br />

sordnung und bereits in den ersten Semestern klausurrelevant<br />

bis zum Examen (und auch danach) aktuell. Er gewährleistet das<br />

Recht des Einzelnen, die Tätigkeit, die er für sich als geeignet ansieht,<br />

als Beruf zu ergreifen und sie zur Grundlage seiner Lebensführung<br />

zu machen. 1 Die besondere Bedeutung der Berufsfreiheit liegt daher<br />

darin, dass eine Vielzahl wirtschaft sregulierender Maßnahmen (wie<br />

z.B.: Ladenschlussgesetze, Rauchverbote in Gaststätten) an Art. 12<br />

Abs. 1 GG gemessen werden muss.<br />

B. DIE GRUNDLAGEN ZU ART. 12 ABS. 1 GG<br />

I. AUFBAU<br />

Der Prüfungsaufb au von Art. 12 Abs. 1 GG entspricht dem klassischen<br />

Prüfungsschema eines Freiheitsgrundrechts: Schutzbereich,<br />

Eingriff , Rechtfertigung.<br />

II. SCHUTZBEREICH<br />

Art. 12 Abs. 1 GG – eine Einführung:<br />

Die Berufsfreiheit und das Rauchverbot in Shisha-Bars<br />

von Prof. Dr. Monika Polzin, LL.M. (Universität Augsburg)<br />

Prof. Dr. Monika Polzin, LL.M (NYU) ist Juniorprofessorin<br />

an der Universität Augsburg und lehrt dort Öff entliches<br />

Recht und Völkerrecht.<br />

Bei der Schutzbereichsprüfung ist zwischen dem persönlichen und<br />

sachlichen Schutzbereich zu unterscheiden. Der persönliche Schutzbereich<br />

betrifft die Frage, wer sich auf ein Grundrecht berufen kann;<br />

der sachliche Schutzbereich die Frage, welcher Sachverhalt vom jeweiligen<br />

Grundrecht umfasst wird.<br />

<strong>1.</strong> PERSÖNLICHER SCHUTZBEREICH<br />

a) Art. 12 Abs. 1 GG als Deutschengrundrecht<br />

Art. 12 Abs. 1 GG ist ein Deutschengrundrecht. Ausländer werden<br />

daher grundsätzlich nicht vom Schutzbereich umfasst. Sie können<br />

sich allerdings für den Schutz ihrer Berufsfreiheit auf das allgemeine<br />

Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG berufen. 2 Umstritten ist, ob<br />

sich Angehörige eines anderen EU-Mitgliedsstaates auf Art. 12 Abs. 1<br />

GG berufen können. Diese Problematik ergibt sich aus der Regelung<br />

in Art. 18 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen<br />

Union („AEUV“), der ein Diskr<strong>im</strong>inierungsverbot enthält. Art. 18<br />

Abs. 1 AEUV verbietet grundsätzlich die innerstaatliche Schlechterstellung<br />

von EU-Staatsangehörigen wegen ihrer Nationalität. 3 Es<br />

wird daher aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts vertreten, dass<br />

1 siehe z.B.: BVerfGE 7, 377 (397); 50, 290 (362).<br />

2 siehe z.B.: BVerfGE 78, 179 (196 f.).<br />

3 Vgl. EuGH, Rs. 293/83, Slg. 1985, 593, Rn. 26.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Art. 12 Abs. 1 GG auch für Angehörige von EU-Mitgliedstaaten gilt. 4<br />

Andere Autoren berufen sich auf den Wortlaut des Art. 12 Abs. 1<br />

GG und machen geltend, dass sich EU-Staatsangehörige lediglich<br />

auf Art. 2 Abs. 1 GG bzw. die Grundfreiheiten des AEUV berufen<br />

könnten. 5<br />

b) Juristische Personen<br />

Die Grundregel für die Frage, ob ein Grundrecht auch auf inländische<br />

juristische Personen anwendbar ist, ist in Art. 19 Abs. 3 GG<br />

enthalten. Art. 19 Abs. 3 GG best<strong>im</strong>mt, dass Grundrechte für inländische<br />

juristische Personen gelten, soweit sie ihrem Wesen nach auf<br />

diese anwendbar sind. Dies ist der Fall, wenn die von dem Grundrecht<br />

geschützten Tätigkeiten auch von juristischen Personen ausgeübt<br />

werden und nicht nur von natürlichen Personen. 6 Art. 12 Abs.<br />

1 GG schützt die Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit<br />

ausüben zu können. 7 Auch juristische Personen können zu Erwerbszwecken<br />

tätig sein. Ein Beispiel wäre eine juristische Person des Privatrechts<br />

(z.B. eine GmbH), die ein Bekleidungsgeschäft betreibt. Es<br />

können sich also auch juristische Personen auf Art. 12 Abs. 1 GG<br />

berufen. 8 Dies gilt jedenfalls für inländische juristische Personen des<br />

Privatrechts. Juristische Personen des Öff entlichen Rechts können<br />

sich grundsätzlich nicht auf Grundrechte und auch nicht auf Art. 12<br />

Abs. 1 GG berufen. 9 Denn Grundrechte sind Abwehrrechte des Einzelnen<br />

gegenüber staatlichem Handeln. 10<br />

<strong>2.</strong> SACHLICHER SCHUTZBEREICH<br />

a) Einheitlicher Schutzbereich<br />

Der Wortlaut des Artikel 12 Abs. 1 S. 1 GG lautet: „Alle Deutschen<br />

haben das Recht, Beruf, Ausbildungsstätte und Arbeitsplatz frei zu<br />

wählen“. In Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG heißt es: „Die Berufsausübung<br />

kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.“<br />

Ein klassisches Problem in Klausuren ist, ob Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG<br />

ein einheitliches Grundrecht oder mehrere Grundrechte, d.h. ein<br />

Recht auf Berufswahl, ein Recht auf Wahl der Ausbildungsstätte, ein<br />

Recht auf Wahl des Arbeitsplatzes und ein Recht auf Berufsausübung<br />

gewährleistet.<br />

Das Bundesverfassungsgericht („BVerfG“) hat schon 1958 entschieden,<br />

dass Art. 12 Abs. 1 GG ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit<br />

enthält. 11 Dies hat es damit begründet, dass genannte<br />

verschiedene Phasen des Berufslebens (Wahl des Berufes, Wahl der<br />

Ausbildungsstätte, Ausübung des Berufs, usw.) nicht unabhängig<br />

voneinander bestehen. Vielmehr beginnt mit der Berufswahl i.d.R.<br />

auch die Ausübung des Berufes und die Berufsausübung stellt <strong>im</strong>mer<br />

auch eine Bestätigung der Berufswahl dar. 12<br />

4 So z.B.: OVG Münster, NWVBl. 1995, 18 (18); Ruff ert, in: Epping/Hillgruber, Beck’scher Online-<br />

Kommentar zum GG, 1<strong>1.</strong> Ed. (2011), Art 12, Rn. 3<strong>7.</strong><br />

5 z.B. Nolte/Tams, in: JuS 2006, 31 (31 f.) mit ausführlicherer Darstellung.<br />

6 z.B.: BVerfGE 95, 220 (242).<br />

7 z.B.: BVerfGE 30, 292 (312); 50, 290 (363).<br />

8 z.B.: BVerfGE 105, 252 (265).<br />

9 Zu den Ausnahmen Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 2<strong>7.</strong> Aufl age 2011, S. 39 ff .,<br />

Rn. 157 ff .<br />

10 z.B.: BVerfGE 21, 362 (369 ff .).<br />

11 BVerfGE 7, 377 (401).<br />

12 BVerfGE 7, 377 (401).


) Beruf <strong>im</strong> Sinne von Art. 12 Abs. 1 GG<br />

aa) Defi nition<br />

Ein Beruf ist „jede auf Erwerb gerichtete Tätigkeit (…), die auf Dauer<br />

angelegt ist und der Schaff ung und Aufrechterhaltung einer Lebensgrundlage<br />

dient“. 13<br />

bb) Weiter Berufsbegriff<br />

Das BVerfG vertritt einen „weiten“ Berufsbegriff . Es sieht die Berufsfreiheit<br />

auch als Teil der freien Entfaltung der Persönlichkeit an. Die<br />

Berufstätigkeit dient nicht nur dem Erwerb und der Aufrechterhaltung<br />

bzw. Finanzierung einer Lebensgrundlage sondern steht auch<br />

<strong>im</strong> Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Einzelnen, die wiederum<br />

durch die Berufsausübung geprägt wird. 14<br />

Deshalb umfasst Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG nicht nur solche Berufe, die<br />

best<strong>im</strong>mten traditionellen oder sogar rechtlich fi xierten Berufsbildern<br />

(wie z.B.: Lehrer, Schornsteinfeger) entsprechen, sondern auch<br />

die vom Einzelnen frei gewählten untypischen Tätigkeiten. 15<br />

cc) Verbotene Tätigkeiten<br />

Ein klausurrelevantes Problem ist, ob zu einem Beruf auch Tätigkeiten<br />

zählen, die gesetzlich verboten sind (z.B.: Drogenhändler). Nach<br />

der Rechtsprechung gilt der Grundsatz, dass solche Tätigkeiten nicht<br />

per se vom Schutzbereich ausgenommen sind. Es sind nur solche<br />

gesetzlich verbotenen Tätigkeiten ausgenommen, die aufgrund ihrer<br />

Sozial- und Gemeinschaft sschädlichkeit schon ihrem Wesen nach als<br />

unerwünscht und daher als verboten anzusehen sind. 16 Hierzu gehört<br />

klassischerweise die Tätigkeit eines Berufskillers. Zu den verbotenen<br />

Tätigkeiten, die vom Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG<br />

umfasst sind, gehört dagegen beispielsweise Schwarzarbeit 17 . Für die<br />

Unterscheidung kommt es maßgeblich darauf an, ob das Verhalten<br />

an sich als unerlaubt anzusehen ist (wie z.B.: Mord) oder nur die berufl<br />

iche bzw. gewerbliche Ausübung des jeweiligen Verhaltens. Dies<br />

wird deutlich anhand der aktuellen Rechtsprechung des BVerfG zum<br />

unerlaubten Glücksspiel. 18 Das BVerfG hatte in dem Sportwettenurteil<br />

19 darüber zu entscheiden, ob ein privater Sportwettenanbieter<br />

sich auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen kann. Nach den maßgeblichen<br />

gesetzlichen Regelungen war das Veranstalten von Sportwetten nur<br />

durch staatliche Anbieter erlaubt. Das Anbieten von Sportwetten<br />

durch private Unternehmer stellte daher grundsätzlich eine Straft at<br />

gemäß § 284 StGB dar. Das BVerfG entschied, dass sich private Anbieter<br />

von Sportwetten auf Art. 12 Abs. 1 GG berufen können. Das<br />

Kernargument war, dass die Rechtsordnung die gewerbliche Veranstaltung<br />

von Sportwetten auch als erlaubte Tätigkeit kennt. 20<br />

III. EINGRIFF<br />

Ein Grundrechtseingriff liegt grundsätzlich vor, wenn staatliches<br />

Handeln dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich<br />

fällt, unmöglich macht oder erschwert. 21 Bei Art. 12 Abs. 1 GG gelten<br />

Besonderheiten. 22 Zunächst sind solche staatlichen Maßnahmen<br />

(insbesondere Gesetze) Eingriff e, die gezielt ein Verhalten unterbin-<br />

13 BVerfGE 105, 252 (265) m.w.N.<br />

14 BVerfGE 7, 377 (397).<br />

15 BVerfGE 7, 377 (397).<br />

16 z.B.: BVerfGE 115, 276 (300 f.).<br />

17 So z.B.: Pieroth/Schlink, Grundrechte, Staatsrecht II, 2<strong>7.</strong> Aufl age 2011, S. 215, Rn. 880.<br />

18 BVerfGE 115, 265; BVerfG, Urt. v. 30.1<strong>1.</strong>2010, Az.: 1 BvL 3/0<strong>7.</strong><br />

19 BVerfGE 115, 26<strong>5.</strong><br />

20 BVerfGE 115, 276 (301).<br />

21 Detterbeck, Öff entliches Recht, <strong>8.</strong> Aufl age 2011, S. 118 ff ., Rn. 282 ff mit ausführlicher Darstellung.<br />

22 Ausführlich Epping, Grundrechte, 4. Aufl age 2009, S. 161 ff ., Rn. 376 ff .<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

den, das in den Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG fällt. 23 Hierzu<br />

würde beispielsweise das Verbot der Produktion von Absatzschuhen<br />

gehören. Ein solches Verbot betrifft zielgerichtet die Berufsausübung<br />

eines Schuhproduzenten.<br />

Problematisch sind Maßnahmen, die die Ausübung der Berufsfreiheit<br />

nur mittelbar oder faktisch beeinträchtigen. 24 Hierzu gehören<br />

z.B.: gesetzliche Regelungen, die die Ausübung eines Berufs nicht<br />

unmittelbar regeln. Ein Beispiel hierfür wäre die Straßenverkehrsordnung,<br />

die allgemein den Straßenverkehr regelt, sich aber auch<br />

auf die Berufsausübung eines Taxifahrers auswirkt. Solche Best<strong>im</strong>mungen<br />

sind dann Eingriff e in Art. 12 Abs. 1 GG, wenn sie in einem<br />

engen Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs stehen und<br />

über eine objektiv-berufsregelnde Tendenz verfügen. 25 In unserem<br />

Beispiel der Straßenverkehrsordnung wäre ein solche objektiv-berufsregelnde<br />

Tendenz nicht gegeben. 26<br />

IV. VERFASSUNGSRECHTLICHE RECHTFERTIGUNG<br />

<strong>1.</strong> ART. 12 ABS. 1 S. 2 ALS EINHEITLICHER GESETZESVORBEHALT<br />

Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG best<strong>im</strong>mt, dass die Berufsausübung durch und<br />

aufgrund eines Gesetzes geregelt werden kann und enthält daher<br />

eine ausdrückliche Schrankenregelung nur für die Berufsausübung.<br />

Es stellt sich also die Frage, ob Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG auch für Eingriff<br />

e in die Berufswahl gilt. Wie soeben dargestellt, 27 enthält Art. 12<br />

Abs. 1 S. 1 GG ein einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit. Denn<br />

Berufswahl und Berufsausübung können zeitlich nicht voneinander<br />

getrennt werden. Deshalb gilt Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG auch für Eingriffe<br />

in die Berufswahl und regelt daher einen einheitlichen Gesetzesvorbehalt<br />

für alle Eingriff e in Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG. 28<br />

<strong>2.</strong> DIE DREI-STUFEN-THEORIE<br />

Bei Art. 12 Abs. 1 GG gelten auf der Rechtfertigungsebene Besonderheiten.<br />

In die Berufsfreiheit kann mit unterschiedlicher Intensität<br />

eingegriff en werden. Ein besonders intensiver Eingriff ist ein Gesetz,<br />

das die Wahl eines Berufes unmöglich macht (z.B.: durch das Verbot<br />

einer Tätigkeit). Dagegen stellt eine Regelung, die lediglich die Art<br />

und Weise der Berufsausübung (z.B.: Verbot in einer best<strong>im</strong>mten<br />

Art und Weise für seine Tätigkeit zu werben) betrifft , einen weniger<br />

intensiven Eingriff dar. Denn der Einzelne kann weiterhin den<br />

von ihm gewählten Beruf ausüben. Gleichzeitig werden aber durch<br />

die Aufnahme und Ausübung eines Berufs auch verstärkt Interessen<br />

Dritter (z.B.: Kunden, Verbraucher, Patienten) und damit auch das<br />

Gemeinwohl betroff en. 29 Daher hat das BVerfG <strong>im</strong> berühmten Apothekenurteil<br />

die sog. Drei-Stufen-Th eorie entwickelt. 30 Diese unterscheidet<br />

hinsichtlich der materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen<br />

nach drei verschiedenen Intensitätsstufen des Eingriff s.<br />

a) Stufe 1: Objektive Berufswahlbeschränkungen<br />

Der intensivste Eingriff sind objektive Berufswahlbeschränkungen.<br />

Das sind Regelungen, die die objektiven Bedingungen der Berufszulassung<br />

betreff en. Sie sind unabhängig von den persönlichen Qualifi<br />

kationen des Bewerbers und der Einzelne hat auf die Erfüllung der<br />

objektiven Bedingungen keinen Einfl uss. 31 Ein Beispiel hierfür<br />

23 Detterbeck, Öff entliches Recht, <strong>8.</strong> Aufl age 2011, S. 193, Rn. 466.<br />

24 Ausführlich Detterbeck, Öff entliches Recht, <strong>8.</strong> Aufl age, S. 194, Rn. 467 f.<br />

25 Siehe nur BVerfGE 70, 191 (214).<br />

26 Vgl. Epping, Grundrechte, 4. Aufl age 2009, S. 166, Rn. 38<strong>7.</strong><br />

27 Siehe oben Ziff . II. <strong>2.</strong> a).<br />

28 Ausführlich Epping, Grundrechte, 4. Aufl age 2009,S. 167, Rn. 38<strong>9.</strong><br />

29 Vgl. BVerfGE 7, 377 (402 f.).<br />

30 BVerfGE 7, 377 (405 ff .).<br />

31 BVerfGE 7, 377 (407).<br />

19


20<br />

Ausbildung<br />

ist ein staatliches Monopol für die Veranstaltung von Sportwetten.<br />

Dies hat zur Folge, dass kein privater Anbieter Sportwetten veranstalten<br />

darf. 32 Objektive Berufswahlbeschränkungen können nur gerechtfertigt<br />

werden, wenn sie <strong>1.</strong> den Zweck verfolgen, nachweisbare<br />

bzw. höchstwahrscheinliche Gefahren für ein überragend wichtiges<br />

Gemeinschaft sgut abzuwenden 33 und <strong>2.</strong> bezogen auf dieses Ziel verhältnismäßig,<br />

d.h. geeignet, erforderlich und angemessen sind. 34 Das<br />

bedeutet, dass eine objektive Berufswahlbeschränkung zum Schutz<br />

des Ansehens eines best<strong>im</strong>mten Berufs schon mangels Verfolgung<br />

eines legit<strong>im</strong>en Zwecks nicht gerechtfertigt wäre. 35<br />

b) Stufe 2: Subjektive Berufswahlbeschränkungen<br />

Subjektive Berufswahlbeschränkungen sind Regelungen, die an subjektive<br />

Fähigkeiten und Qualifi kationen des Einzelnen für die Zulassung<br />

zu einem Beruf anknüpfen (z.B.: Sprachkenntnisse, bestandene<br />

Prüfungen). Es geht um Qualifi kationen, auf die der Bewerber<br />

selbst Einfl uss hat. Solche Regelungen sind nur erlaubt, wenn sie dem<br />

Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaft sguts dienen 36 . Das<br />

heißt es ist zu prüfen ob <strong>1.</strong> eine subjektive Berufswahlbeschränkung<br />

dem Zweck Schutz eines besonders wichtigen Gemeinschaft sgutes<br />

(z.B.: Tierschutz) dient und <strong>2.</strong> ob sie bezogen auf dieses Ziel verhältnismäßig,<br />

d.h. geeignet, erforderlich und angemessen ist.<br />

c) Stufe 3: Berufsausübungsregelungen<br />

Berufsausübungsregelungen sind die Eingriff e mit der geringsten<br />

Intensität. Hierbei handelt es sich um Regelungen, die Art und Weise<br />

der Ausübung eines Berufs betreff en (Beispiel: Ladenschlussregelungen).<br />

Solche Regelungen sind zulässig, wenn vernünft ige Gemeinwohlerwägung<br />

einen solchen Eingriff zweckmäßig erscheinen<br />

lassen. 37 Berufsausübungsschranken müssen also einem allgemeinen<br />

Gemeinwohlziel dienen, wozu z.B. der Schutz des Ansehens eines<br />

best<strong>im</strong>mten Berufs gehören kann. Weiterhin müssen sie bezogen auf<br />

dieses Gemeinwohlziel verhältnismäßig sein. 38<br />

C. FALLBEISPIEL<br />

Im Folgenden soll die Funktionsweise des Art. 12 Abs. 1 GG anhand<br />

des Fallbeispiels „Rauchverbot in Shisha-Bars“ 39 näher erläutert werden.<br />

I. SACHVERHALT<br />

Der deutsche Staatsangehörige A betreibt eine Shisha-Bar. Die<br />

Hauptattraktion der Bar und A’s Haupteinnahmequelle sind Wasserpfeifen.<br />

Seit dem Inkraft treten des <strong>neuen</strong> Landesgesundheitsgesetzes<br />

(„LGG“) zum <strong>1.</strong> August 2010 gilt ein striktes Rauchverbot für alle<br />

Gaststätten <strong>im</strong> Sinne des GastG, wozu auch die Bar des A gehört.<br />

§ 3 LGG lautet: „Das Rauchen ist in Innenräumen von Gaststätten<br />

<strong>im</strong> Sinne des GastG sowie in den in § 2 bezeichneten Gebäuden, (…)<br />

verboten. (…). Rauchen umfasst auch das Rauchen von Wasserpfeifen.“<br />

32 Siehe hierzu BVerfGE 115, 276.<br />

33 BVerfGE 7, 377 (408).<br />

34 BVerfGE 7, 377 (409); 115, 276 (304 ff .).<br />

35 BVerfGE 7, 377 (408).<br />

36 BVerfGE 7, 377 (406); BVerfGE 119, 59 (83 ff .).<br />

37 BVerfGE 7, 377 (405 f.).<br />

38 z.B.: BVerfGE 121, 317 (346).<br />

39 Leicht abgeändert BVerfG, Beschluss v. <strong>2.</strong><strong>8.</strong>2010, Az. 1 BvQ 23/10.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

A ist verzweifelt. 95% seiner Kunden kommen lediglich zum Wasserpfeifenrauchen.<br />

A ist der Ansicht, dass das formell rechtmäßige LGG<br />

gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstößt. Ist dies zutreff end?<br />

II. FALLLÖSUNG<br />

Fraglich ist, ob das LGG gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstößt. Dies wäre<br />

der Fall, wenn es einen nicht gerechtfertigten Eingriff in den Schutzbereich<br />

von Art. 12 Abs. 1 GG darstellt.<br />

<strong>1.</strong> SCHUTZBEREICH<br />

Es müsste der Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG in sachlicher und<br />

persönlicher Hinsicht eröff net sein.<br />

a) Persönlicher Schutzbereich<br />

Der persönliche Schutzbereich ist eröff net. A ist deutscher Staatsangehöriger.<br />

b) Sachlicher Schutzbereich<br />

Es müsste der sachliche Schutzbereich von Art. 12 Abs. 1 GG betroffen<br />

sein. Fraglich ist zunächst, welchen Beruf A ausübt. A betreibt<br />

eine Shisha-Bar. Er könnte daher den Beruf eines Gastwirts oder den<br />

eines „Shisha-Bar-Betreibers“ ausüben.<br />

Für die Abgrenzung, ob eine Tätigkeit einen eigenständigen Beruf<br />

i.S.v. Art. 12 Abs. 1 GG darstellt, kommt es auf eine Vielzahl von Kriterien<br />

und Indizien an. Hierzu gehören u.a. die Ausgestaltung und<br />

Inhalt der Berufstätigkeit (z.B.: Kundenkreis, Absatzmarkt, usw.) 40<br />

sowie die maßgeblichen gesetzlichen Best<strong>im</strong>mungen. 41 Ein wesentliches<br />

Indiz für einen eigenständigen Beruf ist, ob für die Ausübung<br />

der Tätigkeit eine spezielle – über die Vermittlung der üblichen Branchenkenntnisse<br />

hinausgehende – eigenständige Berufsausbildung<br />

notwendig ist. 42<br />

Die Bar des A unterliegt den Regelungen des Gaststättengesetzes<br />

und wird dort als Gaststätte angesehen (vgl. Sachverhalt). Für das<br />

Betreiben einer Shisha-Bar ist keine spezifi sche Berufsausbildung erforderlich.<br />

Das Anbieten von Wasserpfeifen ist lediglich – genauso<br />

wie die Spezialisierung eines Restaurants auf indische Küche oder<br />

das Servieren von Speisen <strong>im</strong> Dunkeln - ein gastronomisches Konzept.<br />

A übt daher den Beruf eines „Gastwirtes“ aus. 43 § 3 LGG trifft<br />

vorliegend eine Regelung (Rauchverbot), die den Barbetrieb betrifft .<br />

Der sachliche Schutzbereich ist betroff en.<br />

<strong>2.</strong> EINGRIFF<br />

Weiterhin müsste § 3 LGG einen Eingriff darstellen. Ein Eingriff ist<br />

eine staatliche Maßnahme, die die Ausübung von Art. 12 Abs. 1 verhindert<br />

oder unmöglich macht. § 3 LGG verbietet, dass in dem Bistro<br />

das A Wasserpfeifen geraucht werden. Es liegt ein Eingriff vor.<br />

40 Vgl. BVerfGE 17, 269 (274 f.).<br />

41 Vgl. BVerfGE 17, 269 (274 f.); 119, 59 (78 f.).<br />

42 BVerfGE 119, 59 (78 f.).<br />

43 Vgl. BVerfG, Beschluss v. <strong>2.</strong><strong>8.</strong>2010, Az. 1 BvQ 23/10.


<strong>3.</strong> RECHTFERTIGUNG<br />

Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt ist.<br />

a) Formelle Rechtmäßigkeit<br />

Ein Gesetz ist formell rechtmäßig, wenn es von der zuständigen Körperschaft<br />

(Bund oder Land) ordnungsgemäß erlassen worden ist.<br />

Das LGG ist formell rechtmäßig (siehe Sachverhalt).<br />

b) Materielle Rechtmäßigkeit<br />

Fraglich ist, ob § 3 LGG materiell rechtmäßig ist. Um die materiellen<br />

Rechtmäßigkeitsanforderungen zu ermitteln, ist zunächst zu<br />

best<strong>im</strong>men, welche Eingriff sstufe <strong>im</strong> Sinne der Drei-Stufen-Th eorie<br />

vorliegt. § 3 LGG könnte eine Berufsausübungsregel darstellen. Eine<br />

Berufsausübungsregel liegt vor, wenn eine gesetzliche Best<strong>im</strong>mung<br />

die Art und Weise der Ausübung der Berufstätigkeit regelt. § 3 LGG<br />

best<strong>im</strong>mt, dass in der Bar des A nicht geraucht werden darf und daher<br />

auch das Wasserpfeifenrauchen verboten ist. § 3 LGG betrifft daher<br />

die Art und Weise, wie A seine Bar betreiben kann. Es liegt eine<br />

Berufsausübungsregel vor. Eine Berufsausübungsregel ist gerechtfertigt,<br />

wenn sie einem Gemeinwohlziel dient und verhältnismäßig ist. 44<br />

An diesem Punkt wird deutlich, dass die genaue Defi nition des Berufs<br />

<strong>im</strong> Rahmen des Schutzbereichs wichtig ist. Denn die Festlegung<br />

des Berufs hat Auswirkungen auf die Best<strong>im</strong>mung der Eingriff sart<br />

<strong>im</strong> Sinne der Drei-Stufen-Th eorie und damit auf die Rechtmäßigkeitsanforderungen<br />

an das jeweilige Gesetz. Defi niert man den Beruf<br />

des A als Shisha-Bar-Betreiber führt § 3 LGG dazu, dass A diesen<br />

Beruf nicht mehr ausüben kann. A könnte den Beruf des Shisha-Bar-<br />

Betreibers unabhängig von seinen berufl ichen Qualifi kationen nicht<br />

mehr wählen. § 3 LGG würde dann eine objektive Berufswahlbeschränkung<br />

darstellen. Defi niert man den Beruf des A dagegen wie<br />

hier als Gastwirt stellt § 3 LGG lediglich, wie soeben ausgeführt, eine<br />

Berufsausübungsregel dar.<br />

aa) Gemeinwohlziel<br />

§ 3 LGG müsste der Verwirklichung eines Gemeinwohlziels dienen.<br />

Das § 3 LGG dient dem Gesundheitsschutz und verfolgt daher ein<br />

Gemeinwohlziel.<br />

bb) Geeignetheit<br />

Das Rauchverbot in § 3 LGG müsste geeignet sein. Eine Berufsausübungsregel<br />

ist geeignet, wenn sie den gewünschten Erfolg fördert. 45<br />

Es kommt also darauf an, ob das Rauchverbot den Gesundheitsschutz<br />

fördert. Durch das Rauchverbot wird das Rauchen in Gaststätten<br />

untersagt. Daher werden weniger Personen den Gefahren des<br />

Passivrauchens ausgesetzt. 46 Das Rauchverbot in § 3 LGG ist daher<br />

geeignet.<br />

cc) Erforderlichkeit<br />

Fraglich ist, ob das Rauchverbot erforderlich ist. Im Rahmen der Erforderlichkeit<br />

ist zu prüfen, ob dem Gesetzgeber kein genauso wirksames,<br />

aber die Berufsfreiheit weniger einschränkendes Mittel, zur<br />

Verfügung steht. 47 Hier wäre maßgeblich, ob es ein milderes Mittel<br />

44 Siehe oben Ziff . B. III. <strong>2.</strong> a).<br />

45 BVerfGE 121, 317 (354) m.w.N.<br />

46 Vgl. auch BVerfGE 121, 317 (354).<br />

47 BVerfGE 121, 317 (354) m.w.N.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

gibt, das genauso eff ektiv hinsichtlich des Gesundheitsschutzes ist<br />

wie das Rauchverbot. Fraglich ist, ob z.B. getrennte Raucher - und<br />

Nichtraucherbereiche ein milderes Mittel wären. Hiergegen spricht,<br />

dass bei abgetrennten Raucherbereichen weiterhin die Gesundheit<br />

der Mitarbeiter beeinträchtigt würde, die <strong>im</strong> Raucherbereich beschäft<br />

igt sind. Dasselbe gilt für die Gesundheit von Gaststättenbesuchern,<br />

die Nichtraucher sind und sich <strong>im</strong> Raucherbereich aufh alten.<br />

Getrennte Raucher- und Nichtraucherbereiche sind daher kein genauso<br />

eff ektives Mittel zum Gesundheitsschutz. Das gleiche gilt für<br />

eine den Gaststättenbetreibern einzuräumende Wahlmöglichkeit,<br />

entweder ein Raucher- oder ein Nichtraucherlokal zu führen. Eine<br />

solche Regelung wäre weniger eff ektiv, da zu erwarten ist, dass viele<br />

Gaststättenbesitzer weiterhin ein Raucherlokal betreiben würden.<br />

Das Rauchverbot ist erforderlich. 48<br />

dd) Angemessenheit<br />

Fraglich ist, ob das Rauchverbot angemessen ist. Bei der Angemessenheit<br />

ist zu prüfen, ob die Belastung des Einzelnen <strong>im</strong> vernünft igen<br />

Verhältnis zu dem durch das Gesetz der Allgemeinheit erwachsenden<br />

Vorteil steht. 49 Es kommt daher auf die Zweck-Mittel-Relation<br />

an. Hier liegt ein schwerer Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit<br />

des A vor. A verliert 95% seines Umsatzes und kann sein gastronomisches<br />

Konzept nicht mehr anbieten. Andererseits dient § 3 LGG<br />

einem überragend wichtigen Gemeinwohlbelang (dem Gesundheitsschutz).<br />

Daher ist § 3 LGG grundsätzlich angemessen. Fraglich ist<br />

jedoch, ob nicht aufgrund von Art. 3 Abs.1 GG, Art. 12 Abs. 1 GG<br />

eine Sonderfall- bzw. Härtefallregelung notwendig ist. A wird <strong>im</strong><br />

Gegensatz zu einem „normalen“ Gastwirt (z.B.: einem Restaurantbesitzer)<br />

durch § 3 LGG besonders belastet. Ein Restaurantbesitzer<br />

kann trotz des Rauchverbots seine Hauptleistung (das Verkaufen<br />

von Speisen und Getränken) weiter anbieten. Einem Shisha-Bar-<br />

Betreiber ist dagegen seine Hauptleistung (das Anbieten von Wasserpfeifen)<br />

unmöglich geworden. Eine solche besondere Belastung<br />

wäre hinzunehmen, wenn sie durch hinreichende sachliche Gründe<br />

gerechtfertigt ist. 50 Man könnte argumentieren, dass diese besondere<br />

Belastung hinzunehmen ist, da sonst auf den Gesundheitsschutz<br />

einiger Gäste, d.h. der Nichtraucher, verzichtet würde. 51 Hiergegen<br />

könnte man aber einwenden, dass die Gäste einer Shisha-Bar gerade<br />

kommen, um zu rauchen und deshalb kein Schutzbedarf besteht. In<br />

einer Klausur wäre an diesem Punkt Ihre eigene Argumentation gefragt.<br />

Das BVerfG hat entschieden, dass es keiner Sonderregeln für<br />

Shisha-Bars bedarf. 52<br />

c) Ergebnis<br />

§ 3 LGG ist, sofern man das Rauchverbot als angemessen ansieht, mit<br />

Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar.<br />

48 Siehe hierzu BVerfGE 121, 317 (354 f.).<br />

49 z.B.: BVerfGE 76, 1 (51).<br />

50 BVerfGE 121, 317 (358) m.w.N.<br />

51 BVerfGE 121, 317 (358 f.)<br />

52 BVerfG, Beschluss v. <strong>2.</strong><strong>8.</strong>2010, Az.: 1 BvQ 23/10.<br />

21


22<br />

Titelthema<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong>


A. EINLEITUNG<br />

In Assessorexamensklausuren kommt es vor, dass ein Beklagter hilfsweise<br />

mit einer bestrittenen Forderung aufrechnet, die einer gesetzlichen<br />

Minderung unterliegt, zum Beispiel wegen zu berücksichtigender<br />

Betriebsgefahr bei einem Verkehrsunfall (§ 17 Abs. 2, Abs. 1<br />

StVG) oder wegen Mitverschuldens (§ 254 Abs. 1 BGB).<br />

Schwierig sind in solchen Fällen die Best<strong>im</strong>mung der Reichweite der<br />

Rechtskraft und die Kostenentscheidung. Das Schrift tum bietet hier<br />

wenig Hilfe. Begibt man sich in den einschlägigen Kommentaren auf<br />

die Suche, fi ndet man nicht mehr als eine pauschale Verweisung auf<br />

die Regeln, die für Teilklagen gelten. 1<br />

Dieser Beitrag soll die Lösung solcher Fälle aufzeigen und dabei auch<br />

für Studenten in den ersten Semestern verständlich sein. Deshalb<br />

wird zunächst das nötige Grundlagenwissen vermittelt.<br />

B. DIE BEDEUTUNG DER RECHTSKRAFT IM ZIVILPROZESS<br />

Der übliche Weg, auf dem Bürger in einem Rechtsstaat (Rechts-)<br />

Streitigkeiten lösen, ist der Zivilprozess. Zwischen den streitenden<br />

Parteien müssen der umstrittene Sachverhalt und die umstrittene<br />

Rechtslage inhaltlich geklärt und verbindlich festgestellt werden. Im<br />

Sinne der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens sollte dies nicht<br />

nur mit Wirkung für die Vergangenheit und die Gegenwart, sondern<br />

auch für die Zukunft geschehen. Dies wird <strong>im</strong> Regelwerk der<br />

Zivilprozessordnung (ZPO) durch die Rechtskraft der Urteile 2 gewährleistet.<br />

Das Gesetz unterscheidet die formelle und die materielle<br />

Rechtskraft .<br />

Formelle Rechtskraft (§ 705 ZPO) bedeutet, dass ein Urteil mit den<br />

gewöhnlichen Rechtsmitteln 3 nicht (mehr) angegriff en werden kann,<br />

beispielsweise weil die Frist zu deren Einlegung (§§ 517, 548 ZPO)<br />

verstrichen ist. Zur formellen Rechtskraft zwei Beispiele:<br />

1 Siehe Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 2<strong>2.</strong> Aufl ., 2008, § 322 Rn. 162; Gottwald, in: MünchKomm-ZPO,<br />

<strong>3.</strong> Aufl ., 2008, § 322 Rn 204.<br />

2 Zur Rechtskraft fähigkeit von Beschlüssen Musielak, in: Musielak, ZPO, <strong>8.</strong> Aufl ., 2011, § 329 Rn. 1<strong>7.</strong><br />

3 Berufung, Revision (§§ 511, 542 ZPO), nicht dagegen Wiederaufnahme (§ 578 ZPO), Gehörsrüge (§<br />

321a ZPO) oder Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 BVerfGG), vergleiche<br />

Stöber, in: Zöller, ZPO, 2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, § 705 Rn. <strong>1.</strong><br />

Fall 1a:<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

Rechtskraft und Kosten bei Aufrechnung <strong>im</strong> Zivilprozess<br />

Unter besonderer Berücksichtigung der Hilfsaufrechnung mit einer<br />

bestrittenen Forderung, die einer gesetzlichen Minderung unterliegt<br />

von Merle Erpenbeck, B.Sc., und Dr. S<strong>im</strong>on Kempny, LL.M., (beide Münster)<br />

Merle Erpenbeck studiert <strong>im</strong> Masterstudiengang Mathematik mit den Schwerpunkten Logik und angewandte Mathematik an<br />

der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Aus Interesse an der Versicherungsmathematik hörte sie auch eine Vorlesung<br />

zum Versicherungsaufsichtsrecht an der juristischen Fakultät und kam so näher mit der Rechtswissenschaft in Berührung.<br />

S<strong>im</strong>on Kempny hat an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und als Postgraduate an der University of the West of<br />

England Bristol Rechtswissenschaften studiert. Er wurde 2011 in Münster mit einer Arbeit über die Staatsfi nanzierung nach<br />

der Paulskirchenverfassung promoviert und ist derzeit Rechtsreferendar be<strong>im</strong> dortigen Landgericht.<br />

K verklagt B auf Zahlung von 10.000 €, die ihm angeblich aus einem<br />

Kaufvertrag zustehen. Das zuständige 4 Landgericht weist die Klage<br />

als unbegründet ab, weil der Vertrag wirksam angefochten worden<br />

sei und der Anspruch somit nicht bestehe. Fünf Jahre vergehen.<br />

Gegen das Urteil wäre zwar das Rechtsmittel der Berufung statthaft ,<br />

aber die Berufungsfrist nach § 517 ZPO ist verstrichen, die Berufung<br />

unzulässig – das Urteil ist also rechtskräft ig.<br />

Fall 1b:<br />

K ist <strong>im</strong> ersten Rechtszug mit einer Klage gegen B unterlegen. Seine<br />

Berufung ist ohne Erfolg, das Berufungsgericht lässt aber die Revision<br />

zu (§ 543 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 ZPO). K legt ordnungsgemäß Revision<br />

ein; der Bundesgerichtshof 5 weist sie jedoch als unbegründet<br />

zurück. Es gibt kein statthaft es gewöhnliches Rechtsmittel mehr, somit<br />

ist das Urteil rechtskräft ig.<br />

Materielle Rechtskraft 6 bedeutet, dass der Urteilsspruch die Parteien<br />

und die Gerichte inhaltlich bindet. Der Streitgegenstand, das heißt<br />

(nach h. M.) der der Klage zugrunde gelegte Lebenssachverhalt und<br />

der vom Kläger gestellte Antrag, kann von keiner Partei mehr zum<br />

Gegenstand eines (anderen) Rechtsstreits gemacht werden. 7 Die materielle<br />

Rechtskraft setzt die formelle voraus. 8<br />

Zwei Beispiele zur Wirkung der materiellen Rechtskraft :<br />

Fall 2a:<br />

K ist mit einer Klage gegen B unterlegen. Er verlor den Prozess nur,<br />

weil er einen Vertragsschluss (der tatsächlich vorlag) nicht beweisen<br />

konnte. Ein Jahr später fi ndet er eine Urkunde, mit der ihm dies<br />

möglich wäre. Er klagt erneut. Die Klage ist (als unzulässig) abzuweisen,<br />

da über diesen Streitgegenstand bereits rechtskräft ig entschieden<br />

wurde.<br />

4 §§ 23, 71 Abs. 1 GVG, 3 ZPO.<br />

5 Zuständig gemäß § 133 GVG.<br />

6 In der ZPO nur „punktuell“ (Pohlmann, Zivilprozessrecht, 2009, S. 278) geregelt, in §§ 322–327<br />

ZPO. Die Bindungswirkung nach § 318 ZPO ist davon zu unterscheiden; inhaltlich entspricht sie freilich<br />

der materiellen Rechtskraft (Musielak, in: Musielak, ZPO, <strong>8.</strong> Aufl ., 2011, § 318 Rn. 2, § 322 Rn. 7).<br />

7 So die heute herrschende „prozessrechtliche Th eorie“ in Gestalt der „Ne-bis-in-idem-Lehre“, wonach<br />

die materielle Rechtskraft als negative Prozessvoraussetzung angesehen wird (zu den verschiedenen<br />

Th eorien überblicksartig Saenger, in: Hk-ZPO, 4. Aufl ., 2011, § 322 Rn. 8 ff .).<br />

8 Saenger, in: Hk-ZPO, 4. Aufl ., 2011, § 322 Rn. <strong>1.</strong><br />

23


24<br />

Ausbildung<br />

Fall 2b: 9<br />

In einem Vorprozess zwischen G und S wurde rechtskräft ig festgestellt,<br />

dass dem G ein Auto gehört. Nun verlangt der G von S Schadensersatz<br />

wegen Beschädigung dieses Autos. Das Gericht gelangt zu<br />

der Überzeugung, dass als Anspruchsgrundlage allein § 823 Abs. 1<br />

BGB in Betracht kommt. S verteidigt sich damit, dass das Auto nicht<br />

G gehöre. Die Eigentümerstellung des G ist jedoch bereits rechtskräftig<br />

festgestellt. Das Gericht darf sie also nicht erneut prüfen, sondern<br />

muss sie seinem Urteil zugrundelegen.<br />

Die materielle Rechtskraft wirkt in den Fällen der Identität der Streitgegenstände<br />

(Fall 2a) als Zulässigkeitshindernis. In den Fällen der<br />

Präjudizialität (Fall 2b), also wenn das Ergebnis des einen Prozesses<br />

eine Vorfrage des anderen Prozesses darstellt, wirkt die materielle<br />

Rechtskraft <strong>im</strong> Rahmen der Begründetheitsprüfung, indem sie das<br />

jeweilige Teilergebnis vorgibt.<br />

Wie man an Fall 2a sieht, sind auch falsche Urteile der Rechtskraft<br />

fähig. Dies wird um der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens<br />

willen in Kauf genommen. Insoweit besteht eine Ähnlichkeit zur Bestandskraft<br />

von Verwaltungsakten (§ 43 Abs. 2 VwVfG): Auch rechtswidrige<br />

Verwaltungsakte können (soweit sie nicht ausnahmsweise<br />

nichtig sind [§ 44 VwVfG]) bestandskräft ig werden.<br />

C. DIE REICHWEITE DER MATERIELLEN RECHTSKRAFT<br />

Gemäß § 322 Abs. 1 ZPO sind Urteile nur insoweit der Rechtskraft fähig,<br />

als über den durch die Klage und eine etwaige Widerklage erhobenen<br />

Anspruch entschieden ist. Die materielle Rechtskraft umfasst<br />

somit nicht das ganze Urteil, insbesondere nicht alle Feststellungen<br />

des Tatbestandes und alle Erwägungen der Entscheidungsgründe,<br />

sondern nur den Entscheidungssatz, 10 den Ausspruch des Bestehens<br />

oder des Nichtbestehens der begehrten Rechtsfolge. Grundsätzlich<br />

erwächst also nur die Urteilsformel in Rechtskraft , wobei Tatbestand<br />

und Entscheidungsgründe unter Umständen (etwa bei Klageabweisung)<br />

zur Abgrenzung des Streitgegenstands und damit zur Best<strong>im</strong>mung<br />

des Umfangs der Rechtskraft herangezogen werden müssen. 11<br />

Grundsätzlich nicht in Rechtskraft erwachsen Einwendungen, Einreden<br />

und Gegenrechte. 12<br />

Von diesem Grundsatz gibt es eine Ausnahme 13 in § 322 Abs. 2 ZPO.<br />

Nach dieser Vorschrift ist in dem Fall, dass der Beklagte mit einer<br />

Gegenforderung gegen die Klageforderung aufrechnet, 14 auch „die<br />

Entscheidung, dass die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe<br />

des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist,<br />

der Rechtskraft fähig“. Nach allgemeiner Auff assung 15 ist der Wortlaut<br />

insoweit zu eng geraten, als nicht nur das Nichtbestehen der<br />

Gegenforderung (<strong>im</strong> Falle der erfolglosen Verteidigung des Beklagten),<br />

sondern auch das Nichtmehrbestehen der Gegenforderung (als<br />

9 Fall nach Pohlmann/Walz, Ad Legendum 2010, 295 (296).<br />

10 Vergleiche Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, Vor § 322 Rn. 3<strong>1.</strong><br />

11 Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, Vor § 322 Rn. 31; Pohlmann, Zivilprozessrecht, 2009, S.<br />

28<strong>2.</strong><br />

12 Dazu unten Fall 3b.<br />

13 Diese Ausnahme ist nach h. M. <strong>im</strong> allgemeinen nicht analogiefähig; dazu Musielak, in: Musielak,<br />

ZPO, <strong>8.</strong> Aufl ., 2011, § 322 Rn. 77, Vollkommer, in: Zöller, ZPO, 2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, § 322 Rn. 15; zu Sonderfällen,<br />

insbesondere für den Fall des negative Feststellungsklage erhebenden Schuldners, der eine<br />

Aufrechnung ins Feld führt, Musielak, in: Musielak, ZPO, <strong>8.</strong> Aufl ., 2011, § 322 Rn. 78 ff .; Vollkommer,<br />

in: Zöller, ZPO, 2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, § 322 Rn. 24.<br />

14 §§ 387 ff . BGB. Für die Anwendbarkeit des § 322 Abs. 2 ZPO ist es weder von Belang, ob die Aufrechnung<br />

vor- oder innerprozessual erklärt wird, noch ob es sich um eine Haupt- oder Hilfsaufrechnung<br />

handelt (Büscher, in: Wieczorek/Schütze, ZPO, <strong>3.</strong> Aufl ., 2007, § 322 Rn. 254 f.).<br />

15 Siehe etwa Gottwald, in: MünchKomm-ZPO, <strong>3.</strong> Aufl ., 2008, § 322 Rn. 197, mit rechtsgeschichtlichem<br />

Hintergrund Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 2<strong>2.</strong> Aufl ., 2008, § 322 Rn. 159 f.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Folge einer erfolgreichen Verteidigung [§ 389 BGB]) der Rechtskraft<br />

fähig ist. 16<br />

Zur Reichweite der materiellen Rechtskraft nun drei Beispiele:<br />

Fall 3a:<br />

K glaubt, gegen B eine Forderung über 20.000 € zu haben. Er klagt<br />

davon <strong>im</strong> Wege der off enen Teilklage 17 10.000 € ein. Vom Gericht<br />

werden ihm 5000 € zugesprochen. Die Rechtskraft erstreckt sich auf<br />

10.000 € (nämlich auf die Feststellung, dass seine Forderung in Höhe<br />

von 5000 € besteht und in Höhe von 5000 € nicht besteht). Über die<br />

verbleibenden 10.000 € kann K in einem weiteren Prozess noch eine<br />

Sachentscheidung bekommen.<br />

Fall 3b:<br />

In einem Vorprozess wurde B antragsgemäß verurteilt, an K<br />

10.000 € zu zahlen. Es handelte sich hierbei um eine off ene Teilklage<br />

aus einem Verkehrsunfall in München, aus dem B als Fahrer in Anspruch<br />

genommen wird. Die Verurteilung stützte sich darauf, dass<br />

Bs Behauptung, an dem fraglichen Tag in Berlin gewesen zu sein,<br />

nicht geglaubt wurde. Als K nunmehr den verbleibenden Betrag einklagt,<br />

kann B das Gericht überzeugen, an jenem Tag mit dem Auto<br />

in Berlin gewesen zu sein. Die Rechtskraft erstreckt sich nicht auf die<br />

prozessuale Einrede Bs <strong>im</strong> ersten Prozess, und das Gericht ist nicht<br />

gehindert, die Klage abzuweisen.<br />

Fall 3c:<br />

K glaubt, gegen B eine Forderung über 20.000 € zu haben. B bestreitet<br />

die Forderung nicht und erklärt die Aufrechnung mit einer Gegenforderung<br />

von 20.000 €, deren Existenz K bestreitet. Nach dem<br />

Ergebnis der Beweisaufnahme steht fest, dass nur 1<strong>5.</strong>000 € der Gegenforderung<br />

bestehen. Dementsprechend wird B zur Zahlung von<br />

5000 € verurteilt. In Rechtskraft erwächst das Nichtbestehen der Gegenforderung<br />

in Höhe von 5000 €, das Nichtmehrbestehen der Gegenforderung<br />

in Höhe von 1<strong>5.</strong>000 € und somit das (Noch-)Bestehen<br />

der Klageforderung in Höhe von 5000 €.<br />

D. ZWISCHENERGEBNIS<br />

In Fall 3a sieht man, dass die Rechtskraft nicht unbedingt so weit<br />

reicht, wie das Gericht die Lage materiellrechtlich beurteilen muss,<br />

um prozessual richtig zu entscheiden: Um zu entscheiden, dass die<br />

Forderung nur in Höhe von 5000 € bestehe, musste es die Forderung<br />

in vollem behaupteten Umfang (20.000 €) prüfen und logisch zwingend<br />

zu dem Schluss kommen, dass sie in Höhe von 1<strong>5.</strong>000 € eben<br />

nicht bestehe. Prozessual standen aber nur 10.000 € zur Entscheidung<br />

an. Damit erwächst die Entscheidung über die Gegenforderung gemäß<br />

§ 322 Abs. 2 ZPO auch nur in Höhe von 10.000 € in Rechtskraft .<br />

Über die verbleibenden 10.000 € kann in einem weiteren Rechtsstreit<br />

ohne jede Bindung an die Beurteilung des ersten Gerichtes entschieden<br />

werden, insbesondere auch in einer Weise, die der Beurteilung<br />

dieses Gerichtes logisch widerspricht (was bei jedem Zuerkennen<br />

auch nur eines Teils der verbleibenden 10.000 € der Fall ist).<br />

16 Zur Wirkung des § 322 Abs. 2 ZPO siehe unten Fall 3c.<br />

17 Bei verdeckten Teilklagen ist die Lage nach h. M. (siehe beispielsweise Vollkommer, in: Zöller, ZPO,<br />

2<strong>8.</strong> Aufl ., 2010, Vor § 322 Rn. 48) gleich zu beurteilen.


Dies mag auf den ersten Blick befremden; es war aber eine bewusste<br />

gesetzgeberische Entscheidung, die Rechtskraft so eng zu fassen 18<br />

und somit sich widersprechende Feststellungen insoweit in Kauf zu<br />

nehmen, als nur Entscheidungsgründe verschiedener Urteile betroffen<br />

sind. Für diese Entscheidung spricht, dass sie die Dispositionshoheit<br />

der Parteien stärkt: Sie können die Reichweite der verbindlichen<br />

Entscheidung des Gerichts genau begrenzen und müssen sie nicht<br />

dort fürchten, wo sie sie nicht herbeiführen wollen.<br />

E. AUFRECHNUNG MIT GESETZLICHER MINDERUNG UNTERLIE-<br />

GENDER GEGENFORDERUNG<br />

Nun zu einer typischen Zweitexamenskonstellation:<br />

Fall 4:<br />

K verklagt B vor dem Landgericht Münster auf Zahlung von 10.000<br />

€. Die Klageforderung ergebe sich, so K, aus einem Kaufvertrag. B<br />

bestreitet den Vertragsschluss und trägt dazu vor, man sei sich über<br />

den Preis noch nicht einig gewesen. Hilfsweise verteidigt er sich mit<br />

einer ihm angeblich zustehenden Gegenforderung auf Schadensersatz<br />

aus einem Straßenverkehrsunfall. Hierzu behauptet er unter anderem,<br />

er sei am <strong>1.</strong> Juni 2010 mit seinem Wagen auf der Münsteraner<br />

Universitätsstraße gefahren und dort mit dem Wagen des K zusammengestoßen.<br />

Den Wagen des K habe Ks Sohn S gefahren, und ein<br />

Fahrfehler des S habe zu dem Unfall geführt. K bestreitet den Unfall;<br />

er selbst sei am <strong>1.</strong> Juni den ganzen Tag über mit dem Auto in Köln<br />

gewesen. Aufgrund der Beweisaufnahme kommt das Gericht zu der<br />

Erkenntnis, dass die Klageforderung in voller Höhe besteht, dass der<br />

umstrittene Verkehrsunfall stattgefunden hat, und dass dem B daraus<br />

ein Schaden in Höhe von 2<strong>1.</strong>000 € (ohne Umsatzsteuer19 ) entstanden<br />

ist. Der behauptete Fahrfehler des S bestätigt sich. Allerdings stellt<br />

das Gericht fest, dass auch ein Fahrfehler des B – und zwar einer, der<br />

schwerer wog als der des S – für den Unfall ursächlich war. Nach der<br />

Auff assung des Gerichts steht dem B demzufolge in der Tat eine Gegenforderung<br />

in Gestalt eines Anspruchs auf Schadensersatz gemäß<br />

§ 7 Abs. 1 StVG gegen den K zu, aber wegen zu berücksichtigender<br />

Betriebsgefahr des Wagens des B (§ 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG) könne<br />

der B lediglich Ersatz eines Drittels seines Schadens, also 7000 € verlangen.<br />

Um die richtige Entscheidung fi nden zu können, muss das Gericht<br />

eine Reihe von Feststellungen treff en. Die Frage ist, wieweit diese in<br />

Rechtskraft erwachsen können. Besonders hinsichtlich der Gegenforderung<br />

des B, die einer gesetzlichen Minderung unterliegt – statt<br />

§ 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG kommt in anderen Fällen § 254 BGB in<br />

Betracht –, können leicht Fehler unterlaufen, die daher rühren, dass<br />

die gebotene Reihenfolge, in der materielle und prozessuale Erwägungen<br />

anzustellen sind, nicht eingehalten wird. Grob gesagt, könnte<br />

man entweder zuerst die gesetzliche Minderung berücksichtigen<br />

und dann die Reichweite der Rechtskraft best<strong>im</strong>men oder umgekehrt<br />

(Lösung unten unter G). Die Bedeutung des richtigen Vorgehens erschöpft<br />

sich nicht darin, dass die Reichweite der Rechtskraft sonst<br />

nicht richtig best<strong>im</strong>mt wird. Es ist auch Voraussetzung für eine zutreff<br />

ende Kostenentscheidung.<br />

18 Zur Geschichte Walsmann, in: Seuff ert, ZPO, 1<strong>2.</strong> Aufl ., 1932, § 322 unter 3 (Bd. 1 S. 533 f.); Leipold,<br />

in: Stein/Jonas, ZPO, 2<strong>2.</strong> Aufl ., 2008, § 322 Rn. 67 ff .<br />

19 Siehe § 249 Abs. 2 S. 2 BGB.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

F. KOSTEN<br />

I. ALLGEMEINES<br />

Die Kosten eines Rechtsstreits, über die das Gericht von Amts wegen<br />

zu entscheiden hat (§ 308 Abs. 2 ZPO), sind grundsätzlich der unterlegenen<br />

Partei aufzuerlegen (§ 91 Abs. 1 S. 1 ZPO). Wenn jede Partei<br />

teilweise obsiegt und teilweise unterliegt, sind die Kosten gegeneinander<br />

aufzuheben20 oder verhältnismäßig zu teilen (§ 92 Abs. 1 S.<br />

1 ZPO). Die Höhe der Gerichts- und Rechtsanwaltsgebühren richten<br />

sich nach dem Gebührenstreitwert (§§ 3, 34 GKG, 2, 13 RVG). Das<br />

Teilungsverhältnis richtet sich danach, welche Partei, gemessen am<br />

Streitwert, wie viel verloren hat. Bei einer Klage wegen einer Geldforderung<br />

entspricht die Höhe des Gebührenstreitwerts <strong>im</strong> allgemeinen<br />

der eingeklagten Summe (§§ 48 Abs. 1 S. 1 GKG, 3 ZPO).<br />

II. DIE AUSWIRKUNG AUF DIE GERICHTSKOSTEN IM FALL DER<br />

HILFSAUFRECHNUNG MIT BESTRITTENER GEGENFORDERUNG<br />

Für best<strong>im</strong>mte Fälle der Rechtskraft erstreckung nach § 322 Abs. 2<br />

ZPO, nämlich für die Fälle der Hilfsaufrechnung mit bestrittener<br />

Gegenforderung, besteht eine besondere Regelung hinsichtlich des<br />

Gebührenstreitwerts und damit der Gerichtskosten. Es wird der Gebührenstreitwert<br />

um den Wert der Gegenforderung erhöht, soweit<br />

eine der Rechtskraft fähige Entscheidung über sie ergeht. Dies folgt<br />

aus § 45 Abs. 3 GKG, der in diesem Sonderfall an § 322 Abs. 2 ZPO<br />

anknüpft . Bei Hauptaufrechnungen und unbestrittenen Gegenforderungen<br />

wird der Gebührenstreitwert nicht erhöht. Im folgenden<br />

Beispiele für die Anwendung des § 45 Abs. 3 GKG:<br />

Fall 5:<br />

K verklagt B auf Zahlung von 20.000 €. B bestreitet die Klageforderung<br />

und verteidigt sich hilfsweise damit, dass er mit einer gegen K<br />

gerichteten Forderung aufrechne. Die Höhe seiner Gegenforderung<br />

betrage, so B, 30.000 €. K bestreitet die geltend gemachte Gegenforderung.<br />

Unterfall a:<br />

Die Klageforderung besteht nicht (sei es, dass die Klage unschlüssig<br />

ist; sei es, dass B mit seiner Hauptverteidigung Erfolg hat). Die Klage<br />

wird abgewiesen; die Kosten des Rechtsstreits trägt der K (§ 91<br />

Abs. 1 ZPO). Zu einer Entscheidung über die Hilfsaufrechnung<br />

kommt es nicht. Der Gebührenstreitwert wird nicht erhöht und beträgt<br />

gemäß §§ 48 Abs. 1 S, 1 GKG, 3 ZPO 20.000 €. B kann in einem<br />

späteren Rechtsstreit den K auf der Grundlage der behaupteten<br />

Gegenforderung – dann als Haupt-(Klage-)Forderung – auf Zahlung<br />

von 30.000 € verklagen, ohne dass dem Rechtskraft entgegensteht.<br />

Unterfall b:<br />

Die Klageforderung besteht, die Gegenforderung nicht. B wird Ks<br />

Antrag gemäß verurteilt. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der B<br />

(§ 91 Abs. 1 ZPO). Über die Gegenforderung ist in voller Höhe entschieden<br />

worden. Wenn das Gericht „nur die ersten 20.000 € der<br />

Gegenforderung angeschaut hätte“, hätte es nicht entscheiden dürfen,<br />

dass die Aufrechnung insgesamt erfolglos sei, denn diese Aussage<br />

spricht dem B (be<strong>im</strong> Fehlen anderer Aufrechnungshindernisse)<br />

20 Dies bedeutet, dass jede Partei ihre eigenen außergerichtlichen (namentlich Anwalts-)Kosten sowie<br />

die Hälft e der Gerichtskosten (§ 92 Abs. 1 S. 2 ZPO) trägt. Kostenaufh ebung kommt in Betracht, wenn<br />

jede Partei in etwa zu gleichen Teilen obsiegt hat und unterlegen ist. Sie ist dann einer hälft igen Teilung<br />

aller Kosten vorzuziehen, weil bei einer Kostenaufh ebung derjenigen Partei, die den Prozess sparsamer<br />

geführt hat (bei der weniger außergerichtliche Kosten angefallen sind), ein entsprechender wirtschaft licher<br />

Vorteil verbleibt (siehe Wolst, in: Musielak, ZPO, <strong>8.</strong> Aufl ., 2011, § 92 Rn. 5).<br />

25


26<br />

Ausbildung<br />

jedwede Inhaberschaft an der Gegenforderung ab. Die Entscheidung<br />

über die Gegenforderung ist gemäß § 322 Abs. 2 ZPO aber nur „bis<br />

zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht<br />

worden ist“ – das ist die Höhe der Klageforderung – „der Rechtskraft<br />

fähig“. Der Gebührenstreitwert wird gemäß § 45 Abs. 3 GKG so weit<br />

erhöht, wie über die Gegenforderung rechtskräft ig entschieden worden<br />

ist, also um 20.000 €, sodass er 40.000 € beträgt. B kann in einem<br />

späteren Rechtsstreit den K auf der Grundlage der behaupteten Gegenforderung<br />

ungeachtet des Urteils noch auf Zahlung von 10.000 €<br />

verklagen, ohne dass dem Rechtskraft entgegensteht. 21<br />

Unterfall c:<br />

Die Klageforderung besteht, die Gegenforderung nur in Höhe von<br />

2<strong>5.</strong>000 €. Die Klage wird abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits<br />

werden gegeneinander aufgehoben oder hälft ig aufgeteilt (§ 92<br />

Abs. 1 ZPO). Die Entscheidung über das Nicht(mehr)bestehen der<br />

Gegenforderung ist gemäß § 322 Abs. 2 ZPO hinsichtlich 20.000 €<br />

der Rechtskraft fähig. Der Gebührenstreitwert wird gemäß § 45 Abs.<br />

3 GKG um 20.000 € auf 40.000 € erhöht. B kann in einem späteren<br />

Rechtsstreit den K auf der Grundlage der behaupteten Gegenforderung<br />

noch auf Zahlung von 10.000 (nicht nur 5000!) € verklagen,<br />

ohne dass dem Rechtskraft entgegensteht, denn oberhalb der für die<br />

Aufrechnung verbrauchten Höhe ist hinsichtlich der Entscheidung<br />

über die Forderung des B keine Rechtskraft eingetreten.<br />

Unterfall d:<br />

Die Klageforderung besteht, die Gegenforderung nur in Höhe von<br />

1<strong>5.</strong>000 €. B wird verurteilt, an den K 5000 € zu zahlen; <strong>im</strong> Übrigen<br />

wird die Klage abgewiesen. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der K<br />

zu 3/8 und der B zu 5/8 (§ 92 Abs. 1 S. 1 <strong>2.</strong> Fall ZPO). 22 Die Entscheidung<br />

über das Nicht(mehr)bestehen der Gegenforderung ist gemäß<br />

§ 322 Abs. 2 ZPO hinsichtlich 20.000 € der Rechtskraft fähig. Der<br />

Gebührenstreitwert wird gemäß § 45 Abs. 3 GKG um 20.000 € auf<br />

40.000 € erhöht. B kann in einem späteren Rechtsstreit den K auf der<br />

Grundlage der behaupteten Gegenforderung ungeachtet des Urteils<br />

noch auf Zahlung von 10.000 € verklagen, ohne dass dem Rechtskraft<br />

entgegensteht, denn oberhalb der für die Aufrechnung verbrauchten<br />

Höhe ist hinsichtlich der Forderung des B keine Rechtskraft eingetreten.<br />

Unterfall e:<br />

Die Klageforderung besteht nur in Höhe von 10.000 €, die Gegenforderung<br />

nur in Höhe von 1<strong>5.</strong>000 €. Die Klage wird abgewiesen. Die<br />

Kosten des Rechtsstreits trägt der K zu 2/3 und der B zu 1/3 (§ 92<br />

Abs. 1 S. 1 <strong>2.</strong> Fall ZPO). 23 Die Entscheidung über das Nicht(mehr)bestehen<br />

der Gegenforderung ist gemäß § 322 Abs. 2 ZPO hinsichtlich<br />

10.000 € der Rechtskraft fähig. Der Gebührenstreitwert, der schon<br />

21 Insoweit besteht eine Parallele zur Teilklage. Wenn K der Ansicht ist, eine Forderung über 30.000 €<br />

gegen B zu haben und davon 20.000 € einklagt und verliert, ist er jedenfalls bei einer off enen, nach h. M.<br />

auch bei einer verdeckten Teilklage nicht gehindert, in einem weiteren Prozess noch 10.000 € einzuklagen.<br />

22 Der Streitwert beträgt wegen der Klageforderung 20.000 € und wird wegen der Gegenforderung um<br />

20.000 € auf 40.000 € erhöht. Um die Kostenquote zu ermitteln, ist zu best<strong>im</strong>men, wer wie viel verliert.<br />

Der K verliert, soweit die Gegenforderung als bestehend angesehen wird, also in Höhe von 1<strong>5.</strong>000 €<br />

(= 3/8 von 40.000 €); der B verliert zum einen, weil die Klageforderung als bestehend angesehen wird,<br />

in Höhe von 20.000 € (= 4/8 von 40.000 €), zum andern, soweit er mit seiner Hilfsverteidigung nicht<br />

durchdringt, also in Höhe von 5000 € (= 1/8 von 40.000 €).<br />

23 Der Streitwert beträgt wegen der Klageforderung 20.000 €. Da sie nur in Höhe von 10.000 € als<br />

bestehend angesehen wird, ist über das Bestehen der Gegenforderung von vornherein nur in Höhe von<br />

10.000 € zu entscheiden. Deshalb wird der Streitwert nur um 10.000 € auf 30.000 € erhöht. Hiervon<br />

verliert der K 10.000 € (von seiner Klageforderung) und 10.000 € (wegen der Gegenforderung), also<br />

zusammen 20.000 € (= 2/3 von 30.000 €). B verliert, soweit die Klageforderung besteht, also in Höhe<br />

von 10.000 € (= 1/3 von 30.000 €).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

wegen der Klageforderung 20.000 € beträgt (§§ 48 Abs. 1 S. 1 GKG, 3<br />

ZPO), wird gemäß § 45 Abs. 3 GKG um 10.000 € auf 30.000 € erhöht.<br />

B kann in einem späteren Rechtsstreit den K auf der Grundlage der<br />

behaupteten Gegenforderung noch auf Zahlung von 20.000 € verklagen,<br />

ohne dass dem Rechtskraft entgegensteht, denn oberhalb der für<br />

die Aufrechnung verbrauchten Höhe ist über die Forderung des B<br />

keine Rechtskraft eingetreten.<br />

G. LÖSUNG UND KLAUSURTECHNISCHER RAT<br />

Die Regelung des § 322 Abs. 2 ZPO gilt auch dann, wenn Forderungen<br />

von Gesetzes wegen gemindert werden. Materiellrechtlich betrifft<br />

dies insbesondere Schadensersatzansprüche, die grundsätzlich<br />

bestehen, deren Gläubiger sich aber wegen Mitverschuldens (§ 254<br />

Abs. 1 BGB) oder Betriebsgefahr (§ 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG) eine Minderung<br />

gefallen lassen muss.<br />

Erinnern wir uns noch einmal an Fall 4:<br />

In der Hauptsache wird der B verurteilt, dem K 3000 € zu zahlen<br />

(<strong>im</strong> Übrigen wird die Klage abgewiesen). Denn die Klageforderung<br />

bestand und ist nur in Höhe von 7000 € gemäß § 389 BGB durch<br />

die Aufrechnung erloschen. Hier – für die Hauptsacheentscheidung<br />

– muss eine materiellrechtliche Betrachtung vorgenommen, darf die<br />

Reichweite der Rechtskraft erstreckung noch nicht einbezogen werden.<br />

Die aus § 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG folgende Minderungsquote ist<br />

auf die ganze Gegenforderung anzuwenden, nicht etwa nur auf die<br />

ersten 10.000 €.<br />

Um die Kostenentscheidung fällen zu können, muss zunächst der<br />

Gebührenstreitwert ermittelt werden. Aus der Höhe der Klageforderung<br />

folgt bereits ein Streitwert von 10.000 € (§§ 48 Abs. 1 S. 1 GKG,<br />

3 ZPO). Dem ist gemäß § 45 Abs. 3 GKG ein Betrag von 10.000 € hinzuzurechnen,<br />

weil insoweit gemäß § 322 Abs. 2 ZPO eine der Rechtskraft<br />

fähige Entscheidung über eine bestrittene Gegenforderung, mit<br />

der hilfsweise aufgerechnet wurde, ergeht – der Gebührenstreitwert<br />

beträgt also 20.000 €. Nun muss ermittelt werden, welche Partei wie<br />

viel davon verloren hat. Der K hat davon 7000 € (= 35 % von 20.000),<br />

der B 1<strong>3.</strong>000 € (= 65 % von 20.000 €) verloren, womit die Kostenquoten<br />

nun feststehen.<br />

Wenn man nicht vor dem Prozessrecht das materielle Recht prüft ,<br />

kann man zum falschen Ergebnis kommen, wie folgendes (falsches)<br />

Vorgehen zeigt: Die Betrachtung der Gegenforderung wird<br />

von vornherein auf ihren rechtskraft fähigen Teil (in diesem Beispiel<br />

10.000 €) beschränkt, und erst nach dieser Beschränkung wird die<br />

Minderungsquote angewandt. In Fall 4 käme man auf diese Weise<br />

dazu, dass von der Klageforderung nur 3333,33 €, nämlich ein Drittel<br />

(so hoch ist die Minderungsquote) von 10.000 € durch Aufrechnung<br />

erlöschen würden, und B würde zur Zahlung von 6666,67 € verurteilt.<br />

Somit wäre es dem B nicht möglich, die ihm zustehende Forderung<br />

in voller prozessual benötigter Höhe zu seiner Verteidigung<br />

einzusetzen.<br />

In einer Klausur empfi ehlt sich folgendes Vorgehen: Zuerst sind<br />

Forderung und Gegenforderung einzeln und ohne Rücksicht auf die<br />

prozessuale Situation und auf Vorschrift en zur Rechtskraft erstreckung<br />

rein materiellrechtlich zu prüfen. Eine Schadensersatzminderungsquote<br />

ist stets auf die volle (Gegen-)Forderung anzuwenden,<br />

ungeachtet der Frage, in welcher Höhe die (Gegen-)Forderung prozessual<br />

geltend gemacht wird. Dann ist zu prüfen, in welcher Höhe<br />

die Klageforderung nach § 389 BGB erlischt. Erst jetzt, wenn das<br />

materiellrechtliche Ergebnis feststeht, ist zu prüfen, inwieweit dieses<br />

in Rechtskraft erwächst und wie hoch der Gebührenstreitwert liegt.


I. EINLEITUNG:<br />

Das Rechtsgebiet des Wirtschaft sstrafrechts hat in der Praxis in den<br />

letzten Jahren einen Aufstieg sondergleichen erlebt. In Zeiten der<br />

Globalisierung wird das Wirtschaft sleben <strong>im</strong>merzu komplexer. Dies<br />

erhöht die Anzahl der Fehler der in der Wirtschaft tätigen Akteure<br />

erheblich. Zudem sind globale Finanzströme und der ungeahnte<br />

Austausch von Waren und Gütern mit dafür verantwortlich, dass die<br />

Anreizwirkung für Korruption, Untreue, Insiderhandel und andere<br />

wirtschaft sstrafrechtliche Delikte erheblich gestiegen ist. Schlagwörter<br />

wie das Siemens-Verfahren, Mannesmann, Volkswagen, MAN-<br />

Verfahren oder der Fall Zumwinkel haben die Öff entlichkeit aufh orchen<br />

lassen. Infolge dieser und anderer Verfahren ist ein gesteigertes<br />

Interesse an der Bekämpfung von Wirtschaft skr<strong>im</strong>inalität zu beobachten.<br />

Der Gesetzgeber, die Richterschaft und die Staatsanwaltschaft<br />

en haben reagiert. Immer schärfere Gesetze 1 , die Errichtung<br />

von Schwerpunktstaatsanwaltschaft en und auch die steigende Anzahl<br />

der Strafverteidiger auf diesem Gebiet lassen den ungehemmten<br />

Trend des Wirtschaft sstrafrechts erkennen.<br />

Dieser Beitrag will <strong>im</strong> Folgenden die Grundzüge des Wirtschaft sstrafrechts<br />

darlegen. Dabei haben sich die Verfasser auf den sog.<br />

„Allgemeinen Teil des Wirtschaft sstrafrechts“ beschränkt. Sein Verständnis<br />

ist grundlegende Voraussetzung, um die in den verschiedensten<br />

Gesetzen aufzufi ndenden Wirtschaft sdelikte zu verstehen. 2<br />

II. BEGRIFFSERKLÄRUNG –<br />

WAS IST WIRTSCHAFTSSTRAFRECHT?<br />

Der bloße Begriff Wirtschaft sstrafrecht erscheint zunächst recht<br />

ufer- oder zumindest konturenlos. Dieser Umstand wird durch das<br />

Fehlen einer gesetzlichen Defi nition noch zusätzlich befl ügelt. Um<br />

den Terminus mit Inhalt zu füllen und von anderen Gebieten des<br />

Strafrechts abzugrenzen, werden in der Literatur insgesamt drei wesentliche<br />

Standpunkte vertreten.<br />

<strong>1.</strong> EINE PROZESSUAL-KRIMINALISTISCHE SICHTWEISE<br />

Wirtschaftsstrafrecht in Deutschland-<br />

eine Einführung<br />

von Marc Selker (Oldenburg) und Christian Döpke (Hannover)<br />

Vorwiegend in der Vergangenheit wurde argumentiert, dass die das<br />

Wirtschaft sstrafrecht bildenden Wirtschaft sdelikte reine Vermögensdelikte<br />

mit prozessualen Beweisschwierigkeiten seien und daher<br />

der Vermögensschutz <strong>im</strong> Vordergrund stehe. Das wesentliche Ziel<br />

des Wirtschaft sstrafrechts sei also eine Verbesserung der Strafj ustiz<br />

durch eff ektive personelle, sächliche oder organisatorische Maßnahmen.<br />

3 Zur Erreichung des Ziels genüge es grundsätzlich auf den<br />

Betrugstatbestand aus § 263 StGB als zentrale Norm des Wirtschaft sstrafrechts<br />

zurückzugreifen. 4<br />

Diese Ansicht muss heute als veraltet und zu eng abgelehnt werden. 5<br />

Der Vermögensschutz ist zwar unbestreitbarer Bestandteil, aber lediglich<br />

ein Teilaspekt des Gesamtkomplexes Wirtschaft sstrafrecht,<br />

1 Vgl. z. B. die Verschärfung des § 371 AO n. F..<br />

2 Vgl. ohne Anspruch auf Vollständigkeit: § 82 GmbHG; § 399 AktG; §§331ff . HGB; § 38<br />

WpHG; § 49 BörsG; §§16f. UWG, §§370 AO; §§81 f. GWB; § 15a InsO.<br />

3 Vgl. Tiedemann, Wirtschaft sstrafrecht, <strong>3.</strong> Aufl age, § 1 Rn. 40.<br />

4 Ders., a.a.O.<br />

5 Vertreten aber noch von Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Teilband 1, 10.<br />

Aufl age, § 48 Rn. <strong>8.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

was schon der umfassende Charakter des § 74c Abs. 1 GVG deutlich<br />

aufzeigt. Diese Norm führt verschiedenste Straft atbestände auf, die<br />

zwar teilweise, wie etwa § 74c Abs. 1 Nr. 4 GVG mit Verweis auf das<br />

Lebensmittelrecht, keinerlei Vermögensbezug besitzen, aber dennoch<br />

die Zuständigkeit der Wirtschaft sstrafk ammern der Landgerichte<br />

begründen.<br />

Das Wirtschaft sstrafrecht allein anhand von Vermögensdelikten zu<br />

defi nieren, ist also zu kurz gegriff en.<br />

<strong>2.</strong> EINE KRIMINOLOGISCHE SICHTWEISE<br />

In der Literatur fi nden sich sodann verschiedene kr<strong>im</strong>inologische<br />

Defi nitionsansätze.<br />

Diese knüpfen weniger an positiv geltendes Recht, als vielmehr an<br />

soziale Tatsachen an.<br />

Einerseits wird sich einer Begriff sdefi nition über einen best<strong>im</strong>mten<br />

Tätertypus angenähert. Der klassische Wirtschaft sstraft äter sei<br />

männlich, genieße ein hohes soziales Ansehen, sei gut integriert, gebildet<br />

und berufl ich erfolgreich. 6 Demgemäß wird das Wirtschaft sstrafrecht,<br />

in Anlehnung an den von Edwin Sutherland geprägten<br />

Begriff des White-Collar-Cr<strong>im</strong>e als Deliktspool der White-Collar-<br />

Worker defi niert. 7<br />

Andererseits wird eine mehr unternehmensbezogene Defi nition vertreten.<br />

Diese zeichnet sich durch die besondere Motivlage des Täters<br />

bei Begehung der Straft at aus. Er handele danach entweder in<br />

Ausübung seiner berufl ichen Tätigkeit zu seinem eigenen Nutzen,<br />

sog. Occupational Cr<strong>im</strong>e 8 oder zum Nutzen des Unternehmens, sog.<br />

Corporate Cr<strong>im</strong>e. 9<br />

Schließlich wird mit Hilfe von § 30 Abs. 4 Nr. 5 lit. b AO argumentiert,<br />

wirtschaft sstrafrechtliche Delikte würden das institutionalisierte<br />

Vertrauen aller Marktteilnehmer schützen. Deren Vertrauen in<br />

einen juristisch und ethisch einwandfreien Wirtschaft sverkehr sei<br />

Grundvoraussetzung für das Funktionieren desselben. Ansatzpunkt<br />

für eine Defi nition von Wirtschaft sstrafrecht sei also die schädliche<br />

Auswirkung von Wirtschaft sdelikten. 10<br />

Die verschiedenen kr<strong>im</strong>inologischen Ansätze können aber ebenfalls<br />

nicht überzeugen.<br />

Gegen eine Begriff sdefi nition anhand eines Tätertypus spricht, dass<br />

die Wirtschaft sdelikte zwar teilweise, aber keinesfalls ausschließlich<br />

Sonderdelikte der White-Collar-Class sind, sondern auch von Angehörigen<br />

der Blue-Collar-Class, also Arbeitern, wie auch von einfachen<br />

Angestellten oder Scheinselbständigen begangen werden können.<br />

11 Auch ein solcher Ansatz greift zu kurz.<br />

Gegen eine Begriff sdefi nition anhand des Unternehmensbezugs<br />

spricht, dass Wirtschaft sstraft aten ohne weiteres auch außerhalb ei-<br />

6 Vgl. Schwind, Kr<strong>im</strong>inologie, 20. Aufl age, § 21 Rn. 2<strong>1.</strong><br />

7 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 2 Rn. <strong>8.</strong><br />

8 Vgl. Samson/Langrock, DB 2007, 1684.<br />

9 Vgl. Schünemann, wistra 1982, 4<strong>1.</strong><br />

10 Vgl. Kaiser, Kr<strong>im</strong>inologie, § 72 Rn. 6.<br />

11 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 2 Rn 10.<br />

27


28<br />

Ausbildung<br />

nes Unternehmens begangen werden können, sodass sich das Wirtschaft<br />

sstrafrecht gerade nicht auf ein zumindest so genanntes Unternehmensstrafrecht<br />

beschränkt.<br />

Eine an das Vertrauen anknüpfende Ansicht übersieht, dass Vertrauen<br />

nicht zwangsläufi g durch strafb ares Verhalten erschüttert werden<br />

muss und würde daher auch strafrechtlich erlaubte Verhaltensweisen<br />

erfassen, was dem fundamentalen Grundsatz nullum cr<strong>im</strong>en sine<br />

lege zuwiderlaufen würde.<br />

<strong>3.</strong> EINE RECHTSDOGMATISCHE SICHTWEISE<br />

Schließlich wird, nach Ansicht der Autoren auch vorzugswürdig, aus<br />

rechtsdogmatischer Sichtweise heraus argumentiert, die Besonderheit<br />

des Wirtschaft sstrafrechts bestehe darin, soziale oder kollektive<br />

Rechtsgüter oder Interessen der Allgemeinheit, als so genannte<br />

überindividuelle Rechtsgüter, zu schützen. 12 Als solche sind etwa die<br />

Wirtschaft sordnung und soziale Marktwirtschaft insgesamt, sowie<br />

deren einzelne Ausprägungen anzusehen. 13 Dabei darf es keine Rolle<br />

spielen, ob die jeweiligen Delikte ausschließlich oder nur auch dem<br />

Schutz solch überindividueller Rechtsgüter dienen. Erfasst werden<br />

daher nicht nur Normen des Kernstrafrechts, sondern auch Normen<br />

des Nebenstrafrechts.<br />

Dieser Ansicht soll schon alleine deshalb gefolgt werden, weil sich<br />

aus der Schutzrichtung der verschiedenen Straft atbestände leicht ermitteln<br />

lässt, ob diese dem Schutz der Wirtschaft sordnung dienen<br />

sollen oder nicht. So dienen Subventions- und Geldfälschungsdelikte<br />

etwa dem Schutz der Finanzwirtschaft , kartellrechtliche Delikte<br />

dem Schutz der Volkswirtschaft oder Insolvenz- und Umweltschutzdelikte<br />

dem Schutz des Verbrauchers. 14<br />

III. CHARAKTERISTIKA DES WIRTSCHAFTSSTRAFRECHTS<br />

Im Nachfolgenden werden einige für das Wirtschaft sstrafrecht bezeichnende<br />

Merkmale dargestellt welche auch <strong>im</strong> Allgemeinen Teil<br />

des Strafrechts ihre Gültigkeit besitzen, aber gerade bei Wirtschaft sstraft<br />

aten zu Tage treten. Aufgrund der Tatsache, dass das Wirtschaft<br />

sstrafrecht hier eine Anleihe be<strong>im</strong> Allgemeinen Teil des „normalen“<br />

Strafrechts n<strong>im</strong>mt, wird dieser Bereich auch von einigen Autoren<br />

als „Allgemeiner Teil des Wirtschaft sstrafrechts“ bezeichnet. 15<br />

<strong>1.</strong> WIRTSCHAFTSSTRAFTATEN SIND SONDERDELIKTE:<br />

Ein wesentliches Merkmal von vielen Wirtschaft sstraft aten ist ihre<br />

Ausgestaltung als Sonderdelikt. Danach kann nur Täter i. S. v. § 25<br />

StGB sein, wer best<strong>im</strong>mte Eigenschaft en aufweist. Erst diese Eigenschaft<br />

en qualifi zieren die natürliche Person zum Täter. 16<br />

So kann z. B. nur die Person Täter des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt<br />

nach § 266a StGB sein, die Arbeitgeber ist. Auch kann nur ein<br />

Schuldner sich nach §§ 283- 283c StGB (Insolvenzdelikte) strafb ar<br />

machen. Diese Dogmatik setzt sich auch bei § 266 StGB fort. Eine<br />

Untreuestraft at kann nur begehen, wer vermögensbetreuungspfl ichtig<br />

ist.<br />

12 Vgl. Tiedemann, Wirtschaft sstrafrecht, <strong>3.</strong> Aufl age, § 1 Rn. 4<strong>5.</strong><br />

13 Vgl. Schneider, in: JZ 1972, 463; Bottke, wistra 1991, 4.<br />

14 Vgl. dazu <strong>im</strong> Ganzen Witte, Wirtschaft sstrafrecht, § 2 Rn. 3<strong>1.</strong><br />

15 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, <strong>1.</strong> Aufl age, 2010, § 5; Tiedemann,<br />

Wirtschaft sstrafrecht AT, <strong>3.</strong> Aufl age, 2010.<br />

16 Vgl. Roxin, AT I, § 10, Rn.12<strong>9.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Bei den Sonderdelikten ist darüber hinaus zwischen echten und unechten<br />

Sonderdelikten zu unterscheiden:<br />

Bei den echten Sonderdelikten wird eine Strafb arkeit erst durch das<br />

Vorliegen von besonderen Tätereigenschaft en begründet (§§ 266,<br />

266a, 283-283c StGB). Die Wirtschaft sstraft aten sind wegen ihrer<br />

aus der Natur der Sache heraus gegebenen Verbundenheit zum Wirtschaft<br />

sleben prädestiniert dafür als echte Sonderdelikte ausgestaltet<br />

zu sein.<br />

Demgegenüber stehen die unechten Sonderdelikte, bei denen die<br />

Tätereigenschaft lediglich zu einer Strafschärfung führt (vgl. §§ 340,<br />

258a StGB).<br />

<strong>2.</strong> WIRTSCHAFTSSTRAFTATEN SIND ABSTRAKTE GEFÄHR-<br />

DUNGSDELIKTE:<br />

Des Weiteren fällt auf, dass eine Vielzahl von Wirtschaft sstraft aten<br />

als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet ist. Dabei sind dies insbesondere<br />

Delikte, die (auch) das Vermögen schützen (vgl. §§ 264,<br />

264 a, 265b StGB).<br />

Setzt der Betrug gem. § 263 StGB für seine Vollendung den Eintritt<br />

eines Vermögensschadens voraus, bedarf es zur Vollendung der<br />

abstrakten Gefährdungsdelikte nur einer abstrakten Gefährdung des<br />

geschützten Rechtsguts. 17<br />

So wird bspw. be<strong>im</strong> Kreditbetrug i. S. v. § 265b StGB nur auf die<br />

Vorlage eines unrichtigen Kreditantrags abgestellt. Auf einen Irrtum,<br />

eine Kreditgewährung oder gar einen Vermögensschaden- wie bei<br />

§ 263 StGB notwendig- kommt es in diesem Zusammenhang nicht<br />

an. 18<br />

Diese Ausgestaltung von Wirtschaft sdelikten dient v. a. der Umgehung<br />

von Beweisschwierigkeiten. Andererseits wird somit zu einem<br />

sehr frühen Stadium der Tat eine Handlung kr<strong>im</strong>inalisiert, obwohl<br />

es tatsächlich noch nicht einmal zu einer konkreten Gefährdung des<br />

Vermögens gekommen ist ( sog. Vorfeldkr<strong>im</strong>inalisierung 19 ).<br />

Zur Legit<strong>im</strong>ation für einen derart frühen Ansatzpunkt <strong>im</strong> Rahmen<br />

des Tatbestandes eines Wirtschaft sdeliktes wird das Institut<br />

des „überindividuellen Rechtsgutes“ angeführt. Demnach könne<br />

dem komplexen Wirtschaft sleben mit all seinen kr<strong>im</strong>inalen Erscheinungsformen<br />

nur eff ektiv begegnet werden, indem man abstrakte<br />

Gefährdungsdelikte als „die angemessene Reaktionsform des<br />

Strafrechts (zum) Schutz überindividueller Rechtsgüter“ 20 einsetze.<br />

Als besonders anschauliches Beispiel für ein solch überindividuelles<br />

Rechtsgut mag hier der Subventionsbetrug dienen, denn § 264<br />

StGB schützt das „allgemeine Interesse an der Funktionsfähigkeit des<br />

Subventionswesens“. 21<br />

<strong>3.</strong> BLANKETTTATBESTÄNDE:<br />

Eine weitere Charaktereigenschaft von Wirtschaft sdelikten ist ihre<br />

Ausgestaltung als Blanketttatbestände. Dies meint Sanktionsnormen,<br />

die die Voraussetzungen der Sanktionierung selbst nicht abschließend<br />

regeln, sondern diesbezüglich auf andere Normen verweisen. 22<br />

17 Vgl. ebd., Rn.123f..<br />

18 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 6, Rn.9f..<br />

19 Vgl. Hassemer, ZRP 1992, 381; Roxin, AT I, § 2, Rn.6<strong>9.</strong><br />

20 Vgl. Tiedemann, Wirtschaft sstrafrecht AT, Rn.60.<br />

21 Vgl. Wohlers, MüKO, § 264, Rn.<strong>7.</strong><br />

22 Vgl. BGHSt 6, 40; Roxin, AT I, § 5, Rn.40; Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, §6, Rn.14.


Aufgrund dieser Verweistechnik kann hier von einer Akzessorietät<br />

zu außerstrafrechtlichen Normen gesprochen werden.<br />

Mag diese Technik auf den ersten Blick für den Rechtsanwender<br />

äußerst fl exibel wirken, so wirkt sie unter verfassungsrechtlichen<br />

Gesichtspunkten doch befremdlich. Zwar kann durch den Rückgriff<br />

auf außerstrafrechtliche Normen der Anwendungsbereich von<br />

Wirtschaft sdelikten erheblich ausgedehnt werden, jedoch wirft dies<br />

bzgl. des Best<strong>im</strong>mtheitsgrundsatzes aus Art. 103 Abs, 2 GG erhebliche<br />

Probleme auf. 23<br />

Zum besseren Verständnis kann man die Blanketttatbestände noch<br />

unterteilen: 24<br />

Zum Einen können für die Verweisungsnorm und die Ausfüllungsnorm<br />

verschiedene Normsetzungsinstanzen zuständig sein. So stellt<br />

§ 34 Abs. 1 AWG eine Verweisungsnorm dar, die erst durch die Ausfuhrliste<br />

Anlage AL zur Außenwirtschaft sverordnung präzisiert wird<br />

(Blanketttatbestände <strong>im</strong> weiteren Sinne).<br />

Demgegenüber gibt es aber auch Blanketttatbestände, die zur Ausfüllung<br />

der Verweisungsnorm auf weitere Akte derselben Normsetzungsinstanz<br />

verweisen (Blanketttatbestände <strong>im</strong> engeren Sinne), wie<br />

das bei § 38 WpHG der Fall ist. Diese Blankettnorm verweist zur weiteren<br />

Ausfüllung auf § 14 WpHG (Verbot des Insiderhandels) und<br />

auf § 20a WpHG (Verbot der Marktmanipulation).<br />

4. KAUSALITÄT:<br />

Im Strafrecht wird zur Ermittlung einer zurechenbaren Handlung<br />

von der ständigen Rechtsprechung auf die Äquivalenztheorie zurückgegriff<br />

en. 25 Jedem Studenten ist dabei die „Condicio-sine-quanon-Formel“<br />

geläufi g, wonach jede Ursache kausal ist, die nicht<br />

hinweggedacht werden kann, ohne dass der konkrete Erfolg entfi ele.<br />

Aufgrund der Weite dieser Formel wurde einschränkend auf das Institut<br />

der objektiven Zurechnung zurückgegriff en.<br />

Im Wirtschaft sstrafrecht hat der BGH jedoch die Grenzen der Kausalität<br />

noch weiter gefasst als es die Äquivalenztheorie ohnehin macht:<br />

a) Lederspray- Entscheidung:<br />

In der berühmten Lederspray- Entscheidung des BGH 26 konnte dem<br />

Hersteller von Ledersprays nicht eindeutig nachgewiesen werden,<br />

welche Substanz genau Lungenödeme bei den Konsumenten ausgelöst<br />

hatten. Es stand nur zur Überzeugung des Gerichts fest, dass<br />

irgendeine Substanz des Ledersprays für die Gesundheitsschäden<br />

verantwortlich gewesen sein musste. Dies ließ der BGH für die Bejahung<br />

der Kausalität ausreichen. Dabei ging der Strafsenat des BGH<br />

hier nach dem Ausschlussprinzip vor, indem er andere in Betracht<br />

kommende Ursachen ausschließen konnte. Folglich musste eine Substanz<br />

des Sprays für die Schäden verantwortlich gewesen sein, denn<br />

andere Ursachen kamen nicht mehr in Betracht.<br />

23 Vgl. zum Ganzen: Tiedemann, Wirtschaft sstrafrecht AT, Rn. 101 ff ..<br />

24 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 6, Rn.14ff ..<br />

25 Vgl. BGHSt 1, 332(333); 45, 270(294); 49,1(4).<br />

26 Vgl. BGHSt 37, 106(111ff .).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

b) Holzschutzmittel- Entscheidung:<br />

In der Holzschutzmittel- Entscheidung27 lockerte der BGH die Anforderungen<br />

an die Kausalität noch weiter, als bereits in der Lederspray- Entscheidung<br />

geschehen:<br />

Der BGH ließ hier für den Nachweis der Kausalität eine Mitursächlichkeit<br />

des Holzschutzmittels für die Gesundheitsschädigung ausreichen.<br />

Wenn diese Mitursächlichkeit zweifelsfrei feststeht, konnte<br />

nach Ansicht des BGH also sogar auf das Ausschlussprinzip verzichtet<br />

werden. Der BGH konnte dabei weder die schädliche Wirkung<br />

des Mittels nachweisen, noch konnte er- dem Ausschlussprinzip<br />

folgend- alle anderen Ursachen bis auf eine ausschließen. Lediglich<br />

stand für das Gericht zweifelsfrei fest, dass zumindest auch das Holzschutzmittel<br />

mitursächlich für die Gesundheitsschädigung der Konsumenten<br />

gewesen sein musste.<br />

An dieser Rechtsprechung ist aber v. a. zu kritisieren, dass sie zu einer<br />

Annährung an die aus dem Zivilrecht bekannte, verschuldensunabhängige<br />

Produkthaft ung führt. 28 Zudem würde der Grundsatz „in<br />

dubio pro reo“ aufgeweicht, wenn bereits eine Mitursächlichkeit den<br />

Anforderungen der Kausalität genügen solle. 29<br />

c) Gremienentscheidungen:<br />

Schwierigkeiten bereitet auch der Nachweis der Kausalität von Gremienentscheidungen,<br />

die typischerweise bei Vorstands- und Aufsichtsratssitzungen<br />

einer AG bzw. bei Geschäft sführersitzungen<br />

einer GmbH stattfi nden. Problematisch ist hier die Feststellung der<br />

Ursächlichkeit einzelner St<strong>im</strong>men bei Mehrheitsentscheidungen<br />

bzw. die Situation der St<strong>im</strong>menthaltung.<br />

Die Kausalität wird jedenfalls bei nur einer St<strong>im</strong>me Mehrheit bejaht.<br />

Dann liege nämlich ein Fall der sog. kumulativen Kausalität vor. 30<br />

Denn denkt man sich auch nur eine St<strong>im</strong>me weg, so wäre keine St<strong>im</strong>menmehrheit<br />

mehr gegeben. Somit ist das Abst<strong>im</strong>mverhalten eines<br />

jeden Einzelnen kausal für die Herbeiführung des Abst<strong>im</strong>mungsergebnisses<br />

geworden. 31<br />

Wenn jedoch eine Mehrheit von mehr als einer St<strong>im</strong>me vorliegt, ist<br />

der Fall nicht mehr so eindeutig. Denn denkt man sich eine St<strong>im</strong>me<br />

hinweg, so könnte u. U. <strong>im</strong>mer noch eine St<strong>im</strong>menmehrheit<br />

zustande kommen. Die ganz h. M. n<strong>im</strong>mt aber auch für diesen Fall<br />

eine Kausalität an. 32 Zur Begründung wird angeführt, dass sich jeder<br />

beteiligte St<strong>im</strong>mberechtigte als Mittäter nach § 25 Abs. 2 StGB strafbar<br />

gemacht habe, indem jedem Beteiligten das Verhalten des anderen<br />

zugerechnet wird. 33 Diese Ansicht weiß zu überzeugen, da aus<br />

wirtschaft srechtlicher Sicht jeder Beteiligte für das Zustandekommen<br />

einer rechtmäßigen Abst<strong>im</strong>mung erforderlich ist.<br />

Bei St<strong>im</strong>menthaltungen i. R. v. Gremienentscheidungen stellt sich<br />

auch die Frage der Kausalität, die von allen Meinungen <strong>im</strong> Ergebnis<br />

bejaht wird. Als Bespiel mag hier das bekannte Mannesmann- Verfahren<br />

34 dienen, bei welchem sich ein Aufsichtsratsmitglied i. R. d.<br />

Abst<strong>im</strong>mung über sog. Anerkennungsprämien der St<strong>im</strong>me enthalten<br />

hatte.<br />

27 Vgl. BGHSt 41,206(214ff .).<br />

28 Vgl. Hassemer, Produktverantwortung <strong>im</strong> modernen Strafrecht, <strong>2.</strong> Aufl age, 1996, S.44f..<br />

29 Vgl. Puppe, in: NK, Vor § 13, Rn.84.<br />

30 Vgl. Wessels/Beulke, Strafrecht AT, Rn.158a; Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 6, Rn.46.<br />

31 Vgl. Ebd., Rn.4<strong>7.</strong><br />

32 Vgl. Ebd.; Walter, in: LK, Vor § 13, Rn.8<strong>2.</strong><br />

33 Vgl. BGHSt 37,107(129); Beulke/ Bachmann, JuS 1992, 73<strong>7.</strong><br />

34 Vgl. BGHSt 50,33<strong>1.</strong><br />

29


30<br />

Ausbildung<br />

Diese St<strong>im</strong>menthaltung habe nach Ansicht des BGH objektiv und<br />

subjektiv einer St<strong>im</strong>menthaltung entsprochen, weswegen hier eine<br />

Kausalität zu bejahen sei. 35 In diese Richtung geht auch eine andere<br />

Ansicht, welche die St<strong>im</strong>menthaltung als ein Unterlassen verstanden<br />

wissen will, denn durch eine Nein-St<strong>im</strong>me hätte der Beschluss verhindert<br />

werden können. 36<br />

Der Ansatz über eine Mittäterschaft i. S. v. § 25 Abs. 2 StGB geht hier<br />

fehl, da bei einer St<strong>im</strong>menthaltung gerade nicht mit Ja gest<strong>im</strong>mt wurde.<br />

Vielmehr will der so Abst<strong>im</strong>mende damit zum Ausdruck bringen,<br />

dass er die Entscheidung so nicht mittragen will. 37<br />

<strong>5.</strong> TÄTERSCHAFT UND TEILNAHME:<br />

Gerade das moderne Wirtschaft sleben ist geprägt von Arbeitsteilung<br />

und verschiedensten Hierarchieebenen innerhalb eines Unternehmens.<br />

Dabei steht das Strafrecht- wie sonst auch bei Personenmehrheiten-<br />

vor der Frage, wer als Täter einer Tat und wer als Teilnehmer<br />

zu bestrafen ist. Gerade weil es in Deutschland keine Strafb arkeit von<br />

Unternehmen gibt, muss hier ein wohl austariertes System gefunden<br />

werden, welches genau beantworten kann, wer von den natürlichen<br />

Personen zu bestrafen ist. 38<br />

a) Zurechnung über § 14 StGB, § 9 OWiG:<br />

Wenn ein Unternehmen selbst Adressat eines Straf- oder Bußgeldtatbestandes<br />

ist, kann es sich selbst nicht strafb ar machen. Den für<br />

die juristische Person handelnden, natürlichen Personen fehlt hingegen<br />

das persönliche Merkmal. Diese Merkmale (z. B. Eigenschaft als<br />

Arbeitgeber, Unternehmer, Hersteller, Gemeinschuldner etc.) besitzt<br />

nur das Unternehmen. Somit würde dies <strong>im</strong>mer zu einer Strafl osigkeit<br />

der natürlichen Personen führen. Um diesem Umstand zu begegnen<br />

hat der Gesetzgeber die § 14 StGB und § 9 OWiG entwickelt,<br />

welche in ihrer tatbestandlichen Struktur identisch sind. Diese „wälzen“<br />

die besonderen persönlichen Merkmale der juristischen Personen<br />

auf die handelnden natürlichen Personen des betreff enden Unternehmens<br />

ab und begründen so deren Täterschaft . Als handelnde<br />

natürliche Personen i. S. v. § 14 StGB, § 9 OWiG kommen dabei folgende,<br />

eigenverantwortlich handelnde Personengruppen in Betracht:<br />

aa) Gesetzlicher Vertreter i. S. v. § 14 Abs. 1 StGB, § 9 Abs. 1 OWiG:<br />

Als wichtigste Gruppe derer, denen eine solche persönliche Eigenschaft<br />

zugerechnet werden kann gilt der gesetzliche Vertreter von<br />

Unternehmen i. S. v. § 14 Abs. 1 StGB, § 9 Abs. 1 OWiG. Dabei erfassen<br />

§ 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG das (gesetzlich)<br />

vertretungsberechtigte Organ von juristischen Personen wie der AG<br />

oder einer GmbH.<br />

Zu beachten ist in diesem Kontext für den Rechtsanwender, dass<br />

neben der Zitation von § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB und § 9 Abs. 1 Nr.<br />

1 OWiG auch die wirtschaft srechtlichen Normen, die gesetzlich die<br />

Vertretung vorschreiben, angeführt werden. So sollte für die AG,<br />

welche durch den Vorstand vertreten wird <strong>im</strong>mer §§ 76, 78 AktG<br />

zitiert werden. Für die GmbH gilt mit § 35 GmbHG entsprechendes.<br />

39 Hieran wird das Zusammenspiel von strafrechtlichen/ bußgeldrechtlichen<br />

Normen mit denen des Wirtschaft srechts deutlich,<br />

was für das Wirtschaft sstrafrecht typisch ist. Für die Vertretung von<br />

Personengesellschaft en kann § 14 Abs. 1 Nr. 2 StGB, § 9 Abs. 1 Nr.<br />

35 Ebd..<br />

36 Vgl. Hanft , in: Jura 2007,58 (61).<br />

37 Vgl. Ransiek, in: NJW 2006, 814(816).<br />

38 Guter Überblick bei: Achenbach, in: Achenbach/Ransiek, Kap. I 3, Rn.1ff ..<br />

39 Für die KGaA: § 278 AktG, §§ 161 Abs. 2, 125 HGB; rechtsfähiger Verein: §§ 26, 29 BGB.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

2 OWiG angeführt werden. Danach sollte hier für eine OHG nicht<br />

§ 125 HBG vergessen werden, der die Vertretung der OHG durch die<br />

Gesellschaft er statuiert. Entsprechend ist der Komplementär einer<br />

KG über §§ 161 Abs. 2, 125 HGB gesetzlich zur Vertretung berufen. 40<br />

Geht es um eine „Abwälzung“ in Fällen, bei denen eine GmbH &<br />

Co. KG beteiligt ist, so muss folgendes beachtet werden: Die GmbH<br />

ist als Komplementärin der KG gem. §§ 161 Abs. 2, 125 HGB zur<br />

Vertretung berechtigt und es erfolgt eine Zurechnung über § 14 Abs.<br />

1 Nr. 2 StGB. Da die GmbH aber nicht bestraft werden kann, erfolgt<br />

hier eine weitere Zurechnung über § 14 Abs. 1 Nr.1 StGB i. V. m.<br />

§ 35 S. 1 GmbHG auf den Geschäft sführer der GmbH (sog. doppelte<br />

Zurechnung). 41<br />

bb) Beauft ragter i. S. v. § 14 Abs. 2 StGB, § 9 Abs. 2 OWiG:<br />

Die § 14 Abs. 2 StGB und § 9 Abs. 2 OWiG erfassen den durch<br />

Rechtsgeschäft bestellten Vertreter eines Betriebes 42 . Dabei ist diejenige<br />

Person mit der Leitung beauft ragt, die nach innen und außen<br />

verantwortlich ist und selbstständig an Stelle des Betriebsinhabers<br />

Leitungsaufgaben wahrn<strong>im</strong>mt. 43 Der Bestellungsakt selbst erfolgt<br />

ausdrücklich durch den Betriebsinhaber. Folglich reicht eine stillschweigende<br />

Beauft ragung nicht aus für § 14 Abs. 2 StGB, § 9 Abs.<br />

2 OWiG. 44<br />

cc) Faktische Organe/ Vertreter i. S. v. § 14 Abs. 3 StGB, § 9 Abs. 2 OWiG:<br />

Außerdem werden auch Organe und Vertreter erfasst, bei denen ein<br />

Bestellungsakt erfolgt ist, aber sich <strong>im</strong> Nachhinein als unwirksam heraus<br />

gestellt hat, § 14 Abs. 3 StGB, § 9 Abs. 3 OWiG. Eine in diesem<br />

Kontext für die Praxis zu beachtende Unterscheidung ist die des sog.<br />

„faktischen Geschäft sführers“. Dieser ist aufgrund seiner tatsächlichen<br />

Aufgabenwahrnehmung und Kompetenzen <strong>im</strong> Unternehmen<br />

<strong>im</strong> Rang eines Geschäft sführers, ohne dass es eines Bestellungsaktes<br />

gegeben hat. Da § 14 Abs. 3 StGB und § 9 Abs. 3 OWiG aber einen<br />

Bestellungsakt- wenn auch unwirksam- voraussetzen, ist dieser Fall<br />

gerade nicht von § 14 Abs. 3 StGB, § 9 Abs. 3 OWiG erfasst. 45 Vielmehr<br />

muss dann auf § 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB, § 9 Abs. 1 Nr. 1 OWiG<br />

zurückgegriff en werden, der keine ausdrückliche Beauft ragung voraussetzt.<br />

46<br />

b) Zurechnung über § 130 OWiG:<br />

Neben die Zurechnungsnormen der § 14 StGB und § 9 OWiG tritt<br />

die Norm des § 130 OWiG. Sie wird erforderlich, da § 14 StGB und<br />

§ 9 OWiG nur die Delegation von Aufgaben an eigenverantwortliche<br />

handelnde Personen in einem Unternehmen erfassen. Der<br />

Betriebsinhaber überträgt aber auch Aufgaben an andere, nicht eigenverantwortlich<br />

handelnde Unternehmensangehörige, sodass eine<br />

Strafb arkeitslücke entstehen würde, wenn diese Personen nicht erfasst<br />

werden könnten. Über § 130 Abs. 3 OWiG kann deswegen der<br />

Inhaber eines Betriebes mit einem Bußgeld belangt werden, wenn er<br />

seine Aufsichtspfl icht i. S. v. § 130 Abs. 1 S. 2 OWiG verletzt. Welche<br />

konkreten Aufsichtsmaßnahmen zur Vermeidung eines Bußgeldes<br />

zu treff en sind, hängt von der Größe, Organisation und den<br />

40 Für die Partnerschaft sgesellschaft : § 7 Abs. 3 PartGG i. V. m. § 125 HGB.<br />

41 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 6, Rn. 90.<br />

42 Die Begriff e Unternehmen und Betrieb sind deckungsgleich.<br />

43 Vgl. BGH, NJW- RR 1989, 1185; Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 6, Rn. 96.<br />

44 Vgl. Lenckner/Perron, in: Schönke/Schröder, § 14, Rn. 34.<br />

45 Vgl. Hellmann/ Beckemper, Fälle zum Wirtschaft sstrafrecht, <strong>2.</strong> Aufl age, 2010,<br />

Rn. 920ff ..<br />

46 Ebd..


verschiedenen Überwachungsmöglichkeiten des Unternehmens ab. 47<br />

So gehört es z. B. zu einer erforderlichen Aufsichtsmaßnahme, dass<br />

ein Unternehmen ab einer gewissen Größenordnung eine eigene<br />

„Compliance-Abteilung“ einrichtet, welche die Einhaltung der betriebsbezogenen<br />

Pfl ichten überwacht. 48 Auch die Auswahl geeigneter<br />

und zuverlässiger Mitarbeiter fällt darunter. 49 Hat der Betriebsinhaber<br />

derartige Aufsichtsmaßnahmen unterlassen und begeht infolgedessen<br />

eine nicht eigenverantwortlich handelnde Person des Unternehmens<br />

(z. B. Hausmeister) eine Straft at, ist nach § 130 Abs. 3 S.<br />

1 OWiG die Verhängung einer Geldbuße bis zu € 1 Mio. möglich!<br />

Begeht der Mitarbeiter aber lediglich eine Ordnungswidrigkeit, so<br />

gilt § 130 Abs. 3 S. 2 OWiG. Folglich kann hier von einer Akzessorietät<br />

der Betriebsinhaberhaft ung zur Pfl ichtverletzung des Mitarbeiters<br />

gesprochen werden.<br />

IV. SANKTIONEN:<br />

Gerade <strong>im</strong> Bereich des Wirtschaft sstrafrechts muss das Motto „cr<strong>im</strong>e<br />

does not pay“ 50 gelten. Es sind daher spezifi sche Sanktionen erforderlich,<br />

um die aus den Wirtschaft sstraft aten resultierenden wirtschaft -<br />

lichen Vorteile wieder entziehen zu können.<br />

Es ist dabei zunächst zu unterscheiden zwischen Sanktionen gegen<br />

natürliche Personen und gegen Unternehmen.<br />

<strong>1.</strong> SANKTIONEN GEGEN NATÜRLICHE PERSONEN:<br />

Gegen natürliche Personen kommt natürlich die Verhängung einer<br />

Freiheitsstrafe gem. §§ 38 ff . StGB oder Geldstrafe gem. §§ 40 ff . StGB<br />

in Betracht. Aber das Strafrecht hält auch Maßregeln der Besserung<br />

und Sicherung, § 61 StGB und v. a. Berufsverbote, § 70 StGB für den<br />

typischen Wirtschaft sstraft äter“ bereit.<br />

Im Ordnungswidrigkeitsrecht ist die Geldbuße nach § 1 OWiG die<br />

gängige Sanktion. Die Höhe der Geldbuße best<strong>im</strong>mt sich nach § 17<br />

OWiG.<br />

Die für Wirtschaft sstraft aten äußerst wichtige Sanktion der Gewinnabschöpfung<br />

wird durch verschiedene Arten der Abschöpfung sichergestellt:<br />

Zunächst kann die Staatsanwaltschaft den Verfall gem. §§ 73 ff . StGB,<br />

29a OWiG erklären und die Einziehung von Tatprodukten oder Tatmitteln<br />

nach den §§ 74 ff . StGB, §§ 22 ff . OWiG beantragen. Auch ist<br />

eine Gewinnabschöpfung nach § 30 Abs. 3 OWiG möglich.<br />

Eine in der Praxis häufi g anzutreff ende Variante ist die Einstellung<br />

des Verfahrens nach § 153a StPO gegen Aufl agen oder Weisungen,<br />

welche zwar keine Kr<strong>im</strong>inalstrafe ist aber ebenfalls Sanktionscharakter<br />

entfaltet. 51<br />

<strong>2.</strong> SANKTIONEN GEGEN UNTERNEHMEN:<br />

Da es- wie oben bereits aufgezeigt- kein Unternehmensstrafrecht in<br />

Deutschland gibt, hat der Gesetzgeber quasi „durch die Hintertür“<br />

eine Sanktionierung von Unternehmen eingeführt. Mittels des Ordnungswidrigkeitsrechts<br />

hat der Gesetzgeber durch § 30 OWiG eine<br />

Norm geschaff en, welche eine Verbands- oder Unternehmensgeldbuße<br />

bis zu € 1 Mio. zulässt. Dienen die § 14 StGB und § 9 OWiG<br />

der „Abwälzung“ von persönlichen Merkmalen des Unternehmens<br />

47 Vgl. Többens, in: NStZ 1999,1 (5).<br />

48 Vgl. BGH, NJW 2009, 3173 (3175); Hauschka, Corporate Compliance, 200<strong>7.</strong><br />

49 Zum Ganzen: Achenbach, in: Achenbach/Ransiek, Kap. I 3, Rn. 5<strong>2.</strong><br />

50 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, § 8, Rn.4.<br />

51 Vgl. Ebd.; Dannecker, in: LK, § 1, Rn.42<strong>1.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Ausbildung<br />

auf ihre Organe oder Vertreter, so führt § 30 OWiG dazu,<br />

dass dem Unternehmen Pfl ichtverletzungen ihrer Leitungsorgane<br />

zugerechnet werden.<br />

Begeht ein solches Leitungsorgan i. S. v. § 30 Abs. 1 Nr.1-5 StGB eine<br />

tatbestandsmäßige, rechtswidrige und schuldhaft e bzw. vorwerfb are<br />

Straft at oder Ordnungswidrigkeit und verstößt dabei gegen betriebsbezogen<br />

Pfl ichten i. S. v. § 30 Abs. 1 OWiG, so liegt eine für § 30<br />

Abs. 1 OWiG erforderliche Bezugstat durch ein Leitungsorgan des<br />

Unternehmens vor.<br />

Wichtig zu wissen ist in diesem Zusammenhang, dass die Bezugstat gem.<br />

§ 30 Abs. 4 OWiG weder geahndet werden noch geahndet worden sein muss,<br />

weswegen man hier auch von einer sog. „anonymen Verbandsgeldbuße“ 52<br />

spricht.<br />

V. REGELUNGSZUSAMMENHANG VON § 14 STGB, § 9 OWIG, § 130<br />

OWIG, § 30 OWIG:<br />

Nachdem wir nunmehr einen allgemeinen Überblick über das Haftungssystem<br />

des Wirtschaft sstrafrechts bekommen haben, wird<br />

nunmehr der Regelungszusammenhang der verschiedenen Zurechnungsnormen<br />

erläutert: 53<br />

Die §14 StGB und § 9 OWiG erlauben die Zurechnung von persönlichen<br />

Eigenschaft en des Unternehmens auf die natürlichen, handelnden<br />

Personen des Unternehmens. Erst durch diese Zurechnung wird<br />

eine Strafb arkeit der natürlichen Personen begründet. Diese Strafbarkeit<br />

stellt aber gleichsam auch eine Bezugstat i. S. v. § 30 OWiG<br />

dar. Somit kann gleichzeitig gegen das Unternehmen eine Geldbuße<br />

nach § 30 Abs. 3 OWiG verhängt werden. § 130 OWiG statuiert<br />

wiederum eine Aufsichtspfl icht, die bei Verhängung einer Geldbuße<br />

nach § 30 OWiG verletzt ist. Folglich stellt § 30 OWiG eine für § 130<br />

OWiG erforderliche Anknüpfungstat dar.<br />

VI. FAZIT:<br />

Als Ergebnis der Einführung bleibt festzuhalten, dass der „Allgemeine<br />

Teil des Wirtschaft sstrafrechts“ vielerorts die gängigen Lehren aus<br />

dem Strafrecht AT modifi ziert. Am prägnantesten wird dies an der<br />

Aufweichung der Kausalitätslehre sichtbar, bei der sogar die Mitursächlichkeit<br />

ausreichend sein soll.<br />

Das Strafrecht als Reaktion auf Wirtschaft skr<strong>im</strong>inalität stößt aber<br />

auch zuweilen an seine Grenzen. Wer das höchst interessante Rechtsgebiet<br />

als Schwerpunkt i. R. d. Studiums wählen möchte bzw. sich<br />

als Referendar auf diesem Terrain bewegt, dem hat dieser Beitrag<br />

die Grundstrukturen des Wirtschaft sstrafrechts hoff entlich näher<br />

gebracht.<br />

52 Achenbach, in: Achenbach/ Ransiek, Kap. I 2, Rn.1<strong>8.</strong><br />

53 Vgl. Wittig, Wirtschaft sstrafrecht, §12, Rn.<strong>9.</strong><br />

31


32<br />

Titelthema<br />

WER AUF SCHLECHTE VERTRÄGE SETZT,<br />

HAT HINTERHER VIEL UM DIE OHREN…<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong>


<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

DJP DEUTSCHE JURISTENPOLICE.<br />

DIE ERSTE WAHL FÜR JURISTEN.<br />

Die DJP Deutsche Juristenpolice bietet eine speziell auf die<br />

Bedürfnisse von Juristen und Studierenden abgest<strong>im</strong>mte Auswahl<br />

von Versicherungslösungen und beinhaltet für die Sparten<br />

BERUFSUNFÄHIGKEITSVERSICHERUNG<br />

PRIVATE KRANKENVERSICHERUNG<br />

ALTERSVORSORGE<br />

jeweils eines der Top-Produkte des Marktes. Mit der DJP<br />

haben Sie <strong>im</strong>mer Recht – das Recht auf erstklassige Leistungen,<br />

engagierte Beratung und hervorragende Konditionen.<br />

DJP Deutsche Juristenpolice<br />

Schopenstehl 20 · 20095 Hamburg · Tel. 040 / 20 90 765 - 54<br />

Fax 040 / 20 90 765 - 60 · DJP@juristenpolice.de<br />

WWW.JURISTENPOLICE.DE<br />

Die DJP Deutsche Juristenpolice ist ein Spezialkonzept der<br />

33


34<br />

Schwerpunkt<br />

Das Gaddafi-Reg<strong>im</strong>e vor Gericht? Der Internationale Strafgerichtshof:<br />

Erfahrungen, Herausforderungen und Probleme<br />

von Mayeul Hiéramente, (Hamburg)<br />

A. EINLEITUNG<br />

Mayeul Hiéramente, Jahrgang 1983, war Doktorand<br />

in der „Research School on Retaliation, Mediation and<br />

Punishment“ am Max-Planck-Institut für ausländisches<br />

und internationales Strafrecht, Freiburg, und promovierte<br />

auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts.<br />

Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Hamburg<br />

und Université Paris-X Nanterre und ist derzeit Referendar<br />

in Hamburg.<br />

Das internationale Strafrecht rückt mit der Verhaft ung von Karadzic<br />

und Mladic sowie dem Haft befehl gegen den mittlerweile verstorbenen<br />

libyschen „König der Könige“ Muhammar Gaddafi erneut in<br />

den Fokus der Weltöff entlichkeit. Wissenschaft ler und Journalisten<br />

befassen sich mehr und mehr mit einer juristischen Materie, die stark<br />

von der Strafrechtswissenschaft geprägt ist, aber ebenso die Entwicklung<br />

des Völkerrechts und der politikwissenschaft lichen Lehre der<br />

Internationalen Beziehungen beeinfl usst hat. Dieser komplexen und<br />

für Lehre und Forschung an Bedeutung gewinnenden Materie soll<br />

sich dieser Beitrag annähern. Der Fokus soll auf dem Fall Libyen<br />

liegen. Dies liegt zum einen in der Aktualität begründet. Zum anderen<br />

kann aufgrund der Medienberichterstattung der letzten Monate<br />

ein gewisses Faktenwissen vorausgesetzt werden. Schließlich sah<br />

und sieht sich der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) bei der<br />

Aufarbeitung der libyschen Unruhen paradigmatischen Problemen<br />

ausgesetzt, weshalb durch die skizzenhaft e Darstellung des Libyen-<br />

Falles auch ein verallgemeinerungsfähiger Eindruck vermittelt werden<br />

kann. Zunächst soll jedoch ein kurzer Blick in die Vergangenheit<br />

und auf die Entstehung des IStGH geworfen werden.<br />

B. EIN KURZER BLICK IN DIE VERGANGENHEIT<br />

Die strafrechtliche Sanktionsbefugnis galt lange Zeit als ein Kernbereich<br />

staatlicher Souveränität. Während sich das Zivilrecht bereits<br />

früh den Globalisierungsbestrebungen der Wirtschaft anpasste und<br />

das internationale Privatrecht das Zusammenspiel verschiedener<br />

staatlicher Regelungssysteme koordinierte, blieb das Strafrecht lange<br />

Zeit weitgehend in staatlicher Hand. Einzig das Völkerstrafrecht hat<br />

mit der Durchführung der Nürnberger und Tokioter Prozesse zur<br />

Aburteilung der Verbrechen der Achsenmächte eine frühe Internationalisierung<br />

erfahren. Das Inkraft treten der Völkermordkonvention<br />

am 1<strong>2.</strong><strong>1.</strong>1951 folgte alsbald. Doch war diesen ersten Internationalisierungsansätzen<br />

aufgrund des Kalten Krieges zunächst keine rasche<br />

Fortentwicklung beschert. Erst mit Ende der Ost-West-Konfrontation<br />

fl ammte erneut die Hoff nung auf, dass schwerste Verbrechen<br />

fortan zur Anklage gebracht werden und die Täter mit einer strafrechtlichen<br />

Sanktion zu rechnen haben. Erstes Anzeichen für eine<br />

derartige Entwicklung lieferte die Einrichtung der ad hoc- Tribunale<br />

ICTY und ICTR.<br />

Das Jugoslawientribunal (ICTY) diente der strafrechtlichen Aufarbeitung<br />

der durch die verschiedenen Konfl iktparteien <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens begangenen<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Taten. Das vom UN-Sicherheitsrat per Resolution 827 (1993) in<br />

Den Haag errichtete Tribunal ist noch heute tätig, soll jedoch gemäß<br />

den Vorgaben des UN-Sicherheitsrats zeitnah seine Tore schließen.<br />

Mit der Festnahme Mladics <strong>im</strong> Mai 2011 konnte das Gericht aller<br />

wichtigen Angeklagten habhaft werden und hat bislang Verfahren<br />

gegen 126 Personen abgeschlossen. Damit hat das Gericht dazu beigetragen,<br />

dass heutzutage niemand mehr ernsthaft argumentieren<br />

kann, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und<br />

schwere Formen von Kriegsverbrechen eine rein innerstaatliche Angelegenheit<br />

darstellen. Neben Lobpreisungen hat das ICTY jedoch<br />

von verschiedenen Seiten auch Kritik ertragen müssen. Von serbischer<br />

Seite wurde moniert, dass schwerpunktmäßig serbische bzw.<br />

bosnisch-serbische Taten zur Anklage gebracht wurden, während<br />

kroatische und bosnische Taten in geringerem Maße und mögliche<br />

Kriegsverbrechen der NATO gar nicht vor Gericht landeten. Einem<br />

derartigen Vorwurf sollte sich auch die Zwillingsinstitution ICTR<br />

ausgesetzt sehen. So wurde dem Ruandatribunal (ICTR) vorgeworfen,<br />

dass nur die Taten der militanten Hutumilizen <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

mit dem ruandischen Völkermord zur Anklage gebracht<br />

wurden. Racheakte der Rwandan Patriotic Front unter Führung des<br />

heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame haben die Richter<br />

des ICTR bedauerlicherweise nicht untersucht. Eine derart selektive<br />

Strafverfolgung führt, wie es die historischen Beispiele zeigen, oft<br />

zum Vorwurf der Siegerjustiz.<br />

ICTY und ICTR sahen sich allerdings nicht nur von „Täterseite“ Kritik<br />

ausgesetzt. Opfer beklagten die langwierigen und kostenintensiven<br />

Verfahren. So sind internationale Strafverfahren hochgradig<br />

komplex und räumen den Angeklagten ein hohes und daher nicht<br />

unumstrittenes Maß an Verfahrensrechten ein. Das Milosevic-Verfahren<br />

war in dieser Hinsicht paradigmatisch, erlaubten die Richter<br />

diesem sich selbst zu verteidigen und somit das Verfahren in die<br />

Länge zu ziehen. 1 Verfahren vor internationalen Strafgerichten bieten<br />

zudem wenig Gelegenheit, die Opfer gemäß deren Vorstellung<br />

einzubinden. So liegt der Schwerpunkt der Beweiserhebung zumeist<br />

nicht auf der von den Opfern durchlebten Tat, sondern widmet sich<br />

der Verantwortlichkeit des militärischen oder politischen Vorgesetzten,<br />

der oft mals aus dem Hintergrund heraus agiert hat. Bei der<br />

Errichtung des ICTY wurde zudem in Frage gestellt, ob der UN-Sicherheitsrat<br />

zur Errichtung einer gerichtlichen Institution befugt ist.<br />

Diese Kritik ist allerdings mittlerweile weitgehend verstummt. Zwar<br />

ist die Legalität einer Einrichtung von Tribunalen durch den Sicherheitsrat<br />

heute weitgehend akzeptiert. Ob eine derartige jedoch opportun<br />

ist, steht auf einem anderen Blatt. So bedarf es zur Errichtung<br />

stets der Zust<strong>im</strong>mung bzw. Enthaltung aller Vetomächte <strong>im</strong> Sicherheitsrat.<br />

Viele Täter dürft en sich so sicher sein, vor Strafverfolgung<br />

verschont zu bleiben.<br />

All diese Unzulänglichkeiten von ad hoc Tribunalen, und das Tätigwerden<br />

einer aktiven Zivilgesellschaft , haben bewirkt, dass <strong>im</strong> Sommer<br />

1998 die Rom-Konferenz zur Errichtung des IStGH einberufen<br />

wurde. Produkt der Konferenz ist das Gründungsstatut des IStGH,<br />

das sog. Rom-Statut, welches bereits vier Jahre später von über 60<br />

Staaten ratifi ziert wurde und so <strong>im</strong> Juli 2002 in Kraft treten konnte.<br />

1 Er verstarb noch während des Verfahrens, so dass dieses eingestellt werden musste.


C. DIE ERSTEN SCHRITTE DES ISTGH<br />

Jede internationale Organisation braucht Zeit, um sich als funktionsfähiger<br />

Akteur auf dem internationalen Parkett zu etablieren. Daher<br />

ist es durchaus beeindruckend, dass der IStGH innerhalb kürzester<br />

Zeit 119 Mitgliedstaaten hinter sich versammeln konnte und offi zielle<br />

Ermittlungen in sieben Konfl iktsituationen aufgenommen hat. 2<br />

Kehrseite der Medaille ist, dass einfl ussreiche Staaten wie die USA,<br />

China, Russland, Indien und fast sämtliche arabische Staaten eine<br />

Ratifi kation des Rom-Statuts bis dato verweigert haben. Ebenso zu<br />

bedauern ist, dass innerhalb der ersten neun Jahre noch keine einzige<br />

Verurteilung zu verbuchen ist. Die Mühlen der internationalen<br />

Justiz mahlen nach wie vor langsam. Derzeit befasst sich der IStGH<br />

offi ziell mit Konfl ikten in sieben Ländern: Demokratische Republik<br />

Kongo, Elfenbeinküste, Kenia, Libyen, Sudan (Darfur), Uganda und<br />

Zentralafrikanische Republik.<br />

Drei dieser Ermittlungen (Kongo, Uganda, Zentralafrikanische Republik)<br />

wurden durch den betroff enen Staat initiiert. Gem. Art. 13<br />

(a) kann jeder Mitgliedstaat eine Situation, d.h. vereinfacht gesagt ein<br />

kr<strong>im</strong>inelles Gesamtgeschehen, zur Ermittlung an den Gerichtshof<br />

verweisen. Ursprünglich ging man davon aus, dass eine solche Initiative<br />

nicht durch den betroff enen Staat, sondern einen unbeteiligten<br />

Mitgliedstaat erfolgt. Eine Initiativbefugnis durch den betroff enen<br />

Staat ist zwar vom Wortlaut des Art. 13 (a) gedeckt, rechtspolitisch<br />

hingegen nicht unbedenklich. So zeigt die bisherige Praxis, dass derart<br />

initiierte Ermittlungen zwar nicht de jure, doch aber de facto Taten<br />

von opponierenden Rebellen in den Blick genommen haben. Taten<br />

der verweisenden Regierung wurden ausgespart. 3 Der Eindruck<br />

der Instrumentalisierung des IStGH durch die verweisenden Staaten<br />

ist kaum von der Hand zu weisen.<br />

Im Fall Kenia hat der Chefankläger des IStGH, Luis Moreno-Ocampo,<br />

von seiner sog. proprio mutu-Kompetenz (Kompetenz, aus eigenem<br />

Antrieb Ermittlungen einzuleiten) Gebrauch gemacht und<br />

nach Genehmigung durch die Vorverfahrenskammer gem. Art. 15<br />

(4) Ermittlungen gegen kenianische Politiker wegen mutmaßlicher<br />

Verbrechen gegen die Menschlichkeit <strong>im</strong> Zusammenhang mit den<br />

Wahlen zum Jahreswechsel 2007/2008 aufgenommen. Ebenso verfahren<br />

ist der Chefankläger <strong>im</strong> Fall der Elfenbeinküste. Eine derart<br />

weitgehende Befugnis des Chefanklägers war bei der Römischen<br />

Konferenz besonders umstritten und wurde von der US-Administration<br />

unter George W. Bush als ein Grund für die Verweigerungshaltung<br />

der USA hervorgehoben. Die politische Unabhängigkeit der<br />

Anklage wurde insbesondere von der Bundesrepublik Deutschland<br />

und den sog. „like-minded states“ jedoch zu einer Kernforderung in<br />

den Verhandlungen gemacht und ist so ein bedeutendes Element des<br />

Statuts geworden. 4<br />

Die Situationen <strong>im</strong> Sudan und in Libyen wurden gem. Art. 13 (b)<br />

i.V.m. Kap. VII der UN-Charta durch den UN-Sicherheitsrat an<br />

den IStGH verwiesen. Durch die Verweisung ist es dem IStGH<br />

ausnahmsweise möglich, Taten zu verfolgen, die weder auf dem<br />

Territorium noch durch Staatsangehörige eines Mitgliedstaats begangen<br />

wurden. Eine derartige Ausweitung der Zuständigkeit ist<br />

völkerrechtlich unumstritten, politisch allerdings heikel. So sind drei<br />

2 Aktuelle Informationen zu den Entwicklungen fi nden sich auf www.iccnow.org.<br />

3 Dazu Akhavan, in: Cr<strong>im</strong>inal Law Forum 2010, 103 (104); Müller/Stegmiller, in: Journal of International<br />

Cr<strong>im</strong>inal Justice 2010, 1267 (1285). Positivere Einschätzung bei Gallavin, in: Cr<strong>im</strong>inal Law Forum<br />

2006, 43 (50).<br />

4 Dazu Brubacher, in: Journal of International Cr<strong>im</strong>inal Justice 2004, 71 (73).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Schwerpunkt<br />

ständige Mitglieder des Sicherheitsrats befugt, Verfahren vor dem<br />

IStGH mitzuinitiieren, obwohl sie selbst das Gericht nicht anerkennen.<br />

Prominenteste Beschuldigte sind Omar al-Bashir, amtierender Präsident<br />

des Sudans, Joseph Kony, Anführer der Rebellengruppe Lords’<br />

Resistance Army, Jean-Pierre Bemba, ehemaliger Präsidentschaft skandidat<br />

<strong>im</strong> Kongo, Laurent Gbagbo, ehemaliger Präsident der Elfenbeinküste<br />

sowie Saif al-Islam Gaddafi , Sohn des verstorbenen<br />

libyschen „Revolutionsführers“ Muhammar Gaddafi . Mit Ausnahme<br />

von Jean-Pierre Bemba und Laurent Gbagbo ist bis dato keiner der<br />

prominenten Verdächtigen den Richtern des IStGH vorgeführt worden.<br />

D. DER ISTGH UND DER „ARABISCHE FRÜHLING“<br />

Das derzeit prominenteste Anschauungsbeispiel liefert das Verfahren<br />

gegen Gaddafi s Sohn Saif al-Islam. Am 26.<strong>2.</strong>2011 erließ der UN-Sicherheitsrat<br />

Res. 1970 (2011) und verwies die Situation in Libyen an<br />

den IStGH. Dieser sollte ermitteln, ob und inwiefern <strong>im</strong> Rahmen der<br />

Revolution gegen den „Revolutionsführer“ Muhammar Gaddafi von<br />

den Konfl iktparteien Straft aten <strong>im</strong> Sinne des Rom-Statuts begangen<br />

wurden. Nicht einmal drei Monate später beantragte der Chefankläger<br />

Haft befehl. Am 2<strong>7.</strong> Juni 2011 erließ die Vorverfahrenskammer I<br />

Haft befehle gegen Muhammar Gaddafi und seinen Sohn wegen der<br />

mutmaßlichen Begehung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. 5<br />

Im Folgenden soll zunächst die aktuelle Lage und das Verfahren gegen<br />

Saif al-Islam in den Blick genommen werden. Dann soll eine<br />

kurze Rückblende gewagt werden, um die Probleme des geplanten<br />

Verfahrens gegen dessen Vater, Muhammar Gaddafi , zu erläutern,<br />

die typisch für die Probleme internationaler Strafverfolgung gewesen<br />

sind.<br />

I. SAIF AL-ISLAM UND DER GRUNDSATZ DER<br />

KOMPLEMENTARITÄT<br />

Die Position der <strong>neuen</strong> Machthaber in Tripoli ist eindeutig: Saif<br />

al-Islam soll für seine Taten haft bar gemacht und vor ein libysches<br />

Gericht gestellt werden. Die Verantwortlichen des IStGH machten<br />

jedoch schnell deutlich, dass sie nicht ohne Weiteres bereit sind, den<br />

libyschen Machthabern das Feld zu überlassen. Schließlich wurde<br />

vor dem IStGH bereits ein Verfahren angestrengt. 6 Stellt sich nun die<br />

Frage: Vor welches Gericht sollte Saif al-Islam gestellt werden? Das<br />

Rom-Statut gibt die Richtung vor. Die Präambel proklamiert: „{...}<br />

nachdrücklich darauf hinweisend, dass der aufgrund dieses Statuts<br />

errichtete Internationale Strafgerichtshofs die innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit<br />

ergänzt {...}“. Auch in Artikel 1 des Rom-Statuts wird<br />

der Grundsatz der Komplementarität ausdrücklich erwähnt. Art. 17<br />

regelt, dass nationale Strafverfahren grundsätzlich dem Verfahren<br />

vor dem IStGH vorgehen. Art. 17 schränkt die Zuständigkeit allerdings<br />

nur dann ein, wenn tatsächlich ein formelles Verfahren durch<br />

nationalstaatliche Strafverfolgungsorgane eingeleitet wird. Reine,<br />

auch ernst gemeinte, Absichtsbekundungen seitens der siegreichen<br />

Rebellen sind damit nicht ausreichend, um dem IStGH das Verfahren<br />

zu entziehen. Zudem trägt der verfolgungswillige Staat die Beweislast<br />

für die Existenz eines Strafverfahrens. So hat die Berufungskammer<br />

des IStGH festgestellt, dass ein Staat darlegen muss, welche Schritte<br />

5 Warrant of Arrest for Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi , v. 2<strong>7.</strong>6.2011 (ICC-01/11-13).<br />

Warrant of Arrest for Saif al-Islam Gaddafi , v. 2<strong>7.</strong>6.2011 (ICC-01/11-14).<br />

6 Siehe Presserklärung v. 2<strong>3.</strong>1<strong>1.</strong>2011, abrufb ar unter www.icc-cpi.int.<br />

35


36<br />

Schwerpunkt<br />

er zur Strafverfolgung konkret untern<strong>im</strong>mt. 7<br />

Angesichts der unübersichtlichen Situation <strong>im</strong> Post-Gaddafi -Libyen<br />

sicherlich kein einfaches Unterfangen. So wird der Gaddafi -Sohn<br />

derzeit von lokalen Machthabern als Faustpfand <strong>im</strong> internen Kampf<br />

um die Machtverteilung genutzt. Zudem gibt es nach dem Zusammenbruch<br />

des alten Reg<strong>im</strong>es noch keine funktionsfähigen Strafverfolgungsinstitutionen.<br />

Es wird demnach nicht einfach sein, die Haager<br />

Richter von der Realisierbarkeit eines nationalen Strafverfahrens<br />

zu überzeugen. Dementsprechend läuft derzeit das Verfahren gegen<br />

Saif al-Islam vor dem IStGH weiter. 8 Dabei sprechen viele gute Gründe<br />

für ein Verfahren vor Ort: Die leichtere und kostensparende Beweisaufnahme,<br />

die Vertrautheit des Angeklagten mit Sprache und<br />

Rechtsordnung sowie zu erwartende Vorteile bei der Bekanntmachung<br />

des Verfahrens und der Einbindung der Bevölkerung bei der<br />

Aufarbeitung von Systemunrecht. Und ein weiterer Punkt scheint gegen<br />

ein Verfahren in Den Haag zu sprechen. Saif al-Islam und möglicherweise<br />

entscheidende Beweismittel befi nden sich in den Händen<br />

der libyschen Übergangsregierung.<br />

II. FESTNAHME UND BEWEISGEWINNUNG<br />

Damit ist ein Problem der internationalen Strafverfolgung bereits<br />

benannt. Der IStGH verfügt über keine Polizei und nur begrenzte<br />

Ermittlungskapazitäten. Das Gericht ist auf die Kooperation der<br />

Staaten oder internationaler Organisationen dringend angewiesen.<br />

Während die Beweisgewinnung <strong>im</strong> Fall Libyen aufgrund medialer<br />

Dauerberichterstattung und kooperationswilliger Informanten sich<br />

sicher einfacher darstellen dürft e als in den „vergessenen Konfl ikten“<br />

in Uganda und Kongo 9 steht der IStGH bei der Frage der Festnahme<br />

und Überstellung vor ernstzunehmenden Problemen. Zwar ist<br />

die neue Regierung nach wie vor zur Kooperation mit dem IStGH<br />

verpfl ichtet, die der UN-Sicherheitsrat Libyen in Res. 1970 auferlegt<br />

hat. Erzwingen lässt sich diese jedoch nicht so einfach und eine<br />

Überstellung an den IStGH scheint derzeit nicht absehbar. Vor einem<br />

ähnlichem Problem steht der IStGH <strong>im</strong> Verfahren gegen den sudanesischen<br />

Präsidenten Omar al-Bashir und den ehemaligen kongolesischen<br />

Rebellenführer Bosco Ntaganda, wenn auch in diesen Fällen<br />

nicht einmal der Wille eigener nationaler Strafverfolgungsmaßnahmen<br />

besteht. Wie geht man also mit Schwerstkr<strong>im</strong>inellen um, die<br />

(völkerrechtswidrig) nicht an den IStGH ausgeliefert werden? Israel<br />

scheint mit der „Festnahme“ Eichmanns in Argentinien eine mögliche,<br />

wenn auch politisch und völkerrechtlich äußerst problematische,<br />

Blaupause geliefert zu haben. So sahen israelische Richter <strong>im</strong><br />

Kidnapping Eichmanns kein Verfahrenshindernis. Eichmann wurde<br />

für sein Mitwirken am Holocaust verurteilt. Die Berufungskammer<br />

des IStGH hat allerdings bereits angedeutet, dass sie in einem derartigen<br />

Fall, anders als die israelischen Richter, durchaus geneigt wäre,<br />

ein Strafverfahren wegen eines „abuse of process“ scheitern zu lassen.<br />

10 Bleibt also einzig diplomatischer Druck und möglicherweise<br />

Sanktionen durch den UN-Sicherheitsrat – oder Geduld.<br />

7 Judgment on the appeal of the Republic of Kenya against the decision of the Pre-Trial Chamber II of<br />

30 May 2011 entitled „Decision on the Application by the Government of Kenya Challenging the Admissibility<br />

of the Case Pursuant to Article 19(2)(b) of the Statute“, Entscheidung der Berufungskammer<br />

v. 30.<strong>9.</strong>2011 (ICC-01/09-01/11-307), para. 6<strong>2.</strong><br />

8 Der IStGH könnte allerdings theoretisch gem. Art. 3(3) des Rom-Statuts die Verhandlung auf libyschem<br />

Territorium abhalten. Die logistischen Probleme eines derartigen „Umzugs“ lassen eine derartige<br />

Option jedoch unrealistisch erscheinen.<br />

9 Zu den daraus resultierenden Problemen siehe Hiéramente, in: Humanitäres Völkerrecht – Informationsschrift<br />

en 2010, 32-3<strong>9.</strong><br />

10 Judgment on the Appeal of Mr. Th omas Lubanga Dyilo against the Decision on the Defence Challenge<br />

to the Jurisdiction of the Court pursuant to article 19 (2) (a) of the Statute of 3 October 2006,<br />

Entscheidung der Berufungskammer v. 14.1<strong>2.</strong>2006 (ICC-01/04-01/06-772), para. 2<strong>9.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

III. EINE RÜCKBLENDE – DER FALL MUHAMMAR GADDAFI<br />

Muhammar Gaddafi ist bedauerlicherweise <strong>im</strong> Zuge seiner Festnahme<br />

ohne gerichtliches Verfahren hingerichtet worden. Das gegen<br />

ihn eingeleitete IStGH-Verfahren ist demnach <strong>im</strong> Sande verlaufen.<br />

Es soll an dieser Stelle allerdings gedanklich wieder aufl eben, da sich<br />

anhand eines derartigen Verfahrens relevante völkerrechtliche und<br />

rechtspolitische Problemstellungen verdeutlichen lassen.<br />

<strong>1.</strong> IMMUNITÄT FÜR STAATSOBERHÄUPTER<br />

Muhammar Gaddafi bezeichnete sich stets als Revolutionsführer,<br />

ein offi zielles Amt bekleidete er hingegen nicht. Dennoch hatte die<br />

Vorverfahrenskammer I festgestellt, dass Muhammar Gaddafi „{is}<br />

acting as the Libyan Head of State“. 11 Diese Feststellung ist nicht besonders<br />

erstaunlich, hat dieser doch die Libyan Arab Jamahirya stets<br />

auf internationaler Bühne repräsentiert. 12 Damit folgten die Richter<br />

zum damaligen Zeitpunkt nicht der (vorschnellen) Anerkennung der<br />

Rebellen in Bengasi, die u.a. von Frankreich <strong>im</strong> Zuge der militärischen<br />

Auseinandersetzung betrieben wurde. Damit hatten die Richter<br />

nicht die heikle und juristisch hochinteressante Frage zu klären,<br />

welchen Einfl uss Reg<strong>im</strong>ewechsel auf die Immunität von Staatschefs<br />

haben und wann vom Ende der Amtszeit auszugehen ist. Erstaunen<br />

muss hingegen, dass die Richter in der Entscheidung keine Worte zur<br />

möglichen Immunität Muhammar Gaddafi s verloren haben. So ist<br />

die Strafverfolgung von amtierenden Staatschefs grundsätzlich völkergewohnheitsrechtlich<br />

verboten. Bereits der Erlass eines Haft befehls<br />

kann, wie der Internationale Gerichtshof (IGH) <strong>im</strong> Fall Kongo<br />

vs. Belgien festgestellt hat, gegen geltendes Völkerrecht verstoßen. 13<br />

Teilweise andere Regeln gelten jedoch, wenn der IStGH strafverfolgend<br />

tätig wird. Jedenfalls <strong>im</strong> Falle einer Sicherheitsratsverweisung<br />

ist anerkannt, dass Strafverfolgungsmaßnahmen gegen Amtsträger<br />

von Nichtmitgliedstaaten völkerrechtskonform sind und Art. 27 (2)<br />

des Rom-Statuts volle Geltung beanspruchen kann. 14 Die Immunitätsfrage<br />

<strong>im</strong> Haft befehl gänzlich unerwähnt zu lassen dürft e hingegen<br />

nicht <strong>im</strong> Interesse der Rechtsklarheit gewesen sein. 15<br />

<strong>2.</strong> DIE RELATIVITÄT DER UNSCHULDSVERMUTUNG<br />

Jeder Jurist kennt die Regel, die auch Art. 66 (1) des Rom-Statuts<br />

niederlegt: „Jeder gilt als unschuldig, solange seine Schuld nicht in<br />

Übereinst<strong>im</strong>mung mit dem anwendbaren Recht vor dem Gerichtshof<br />

nachgewiesen ist.“ An der formellen Gültigkeit dieser Regel und<br />

Beachtung seitens des IStGH bestehen keine Bedenken. Dennoch<br />

sollte auch <strong>im</strong> Völkerstrafrecht stets <strong>im</strong> Hinterkopf behalten werden,<br />

welche Auswirkungen der Erlass von Haft befehlen haben kann. So ist<br />

ein Haft befehl gegen amtierende Staats- oder Regierungschef nichts<br />

anderes als ein Aufruf zum Reg<strong>im</strong>ewechsel. So lässt sich auch das<br />

Medienecho erklären, welches den Haft befehl als Meilenstein für die<br />

Isolierung des libyschen Machthabers begrüßt hatte. Ähnlich wurde<br />

und wird es als Erfolg gefeiert, dass der sudanesische Präsident Omar<br />

al-Bashir durch den gegen ihn erlassenen Haft befehl in seiner Reisefreiheit<br />

eingeschränkt wird. Doch muss man sich dabei Folgendes<br />

fragen: Stellt die Beschränkung der Reisefreiheit einen Schritt in<br />

11 Warrant of Arrest for Muammar Mohammed Abu Minyar Gaddafi , v. 2<strong>7.</strong>6.2011 (ICC-01/11-13), S. <strong>7.</strong><br />

12 Decision on the „Prosecutions Application pursuant to Article 58 as to Muammar Mohammed Abu<br />

Minyar GADDAFI, Saif Al-Islam GADDAFI and Abdullah Al-Senussi“, Entscheidung der Vorverfahrenskammer<br />

II v. 2<strong>7.</strong>6.2011 (ICC-01/11-12), para. 1<strong>7.</strong><br />

13 IGH( Congo v. Belgium), Urteil v. 14.<strong>2.</strong>2002, para. 5<strong>8.</strong><br />

14 Akande, in: Journal of International Cr<strong>im</strong>inal Justice 2009, 333 (342); Kreicker, in: Humanitäres<br />

Völkerrecht-Informationsschrift en 2008, 157 (161); Pichon, Internationaler Strafgerichtshof, <strong>1.</strong> Aufl .<br />

S. 249ff .<br />

15 Bereits <strong>im</strong> Verfahren gegen den sudanesischen Präsidenten al-Bashir fand bedauerlicherweise keine<br />

ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Frage statt.


Richtung Verhaft ung Omar al-Bashirs dar oder wirkt der Haft befehl<br />

vielmehr als eigenständige Sanktionierung der sudanesischen Führung?<br />

Ist es nicht bedenklich, dass der Haft befehl gegen Muhammar<br />

Gaddafi als Verhandlungsmasse mit der libyschen Führung genutzt<br />

wurde? Unproblematisch für die Akzeptanz internationaler Strafverfolgung<br />

ist es jedenfalls nicht, wenn der Eindruck entsteht, Haft befehle<br />

würden (einzig) als politisches Druckmittel verwendet.<br />

<strong>3.</strong> VERHANDELN MIT MENSCHHEITSVERBRECHERN?<br />

Weiterhin stellt sich eine heikle politische Frage, die sich <strong>im</strong> Fall Libyen<br />

aufgrund der erfolgreichen Revolution nunmehr erledigt hat.<br />

Darf man mit Menschheitsverbrechern verhandeln? Man nehme an,<br />

Muhammar Gaddafi hätte sich länger an der Macht halten können:<br />

Hätten die Vereinten Nationen <strong>im</strong> Interesse ihrer humanitären Mission<br />

zu Verhandlungen mit Muhammar Gaddafi bereit sein sollen? So<br />

hat das Beispiel Sudan gezeigt, dass die Unterstützung der Regierung<br />

sine qua non für die Tätigkeit der UN vor Ort ist. Eine Friedensmission<br />

gegen den Willen der Regierung ist schließlich ein hoff nungsloses<br />

Unterfangen. Die Neutralität von UN-Personal gehört zudem zu den<br />

Grundsätzen der internationalen Friedensschaff ung seitens der Vereinten<br />

Nationen. Die UN-Diplomaten befi nden sich daher in einem<br />

Dilemma. Wie weit darf man bei der Zusammenarbeit mit kr<strong>im</strong>inellen<br />

Eliten gehen und wie „verkauft “ man derartige Kooperationen<br />

der Weltöff entlichkeit. Doch nicht nur die UN-Friedensmissionen<br />

befi nden sich in einer schwierigen Situation. Hätte sich die Weltgemeinschaft<br />

<strong>im</strong> Falle eins Versagens der NATO-Luft angriff e bereit erklären<br />

sollen, Muhammar Gaddafi und seinen engsten Verbündeten<br />

die Ausreise in einen Drittstaat (etwa Saudi-Arabien) zu erlauben,<br />

in dem diese vor Strafverfolgung sicher sind? Die USA haben Medienberichten<br />

zufolge jedenfalls bereits <strong>im</strong> Zeitpunkt des Erlasses<br />

des Haft befehls eine solche Option geprüft . Schließlich stehen auch<br />

die Organe des IStGH vor schwerwiegenden Entscheidungen. Hätte<br />

etwa der Chefankläger das Verfahren gem. Art. 53 (2) (c) einstellen<br />

sollen, wenn sich der Haft befehl als schädlich für Verhandlungen mit<br />

Muhammar Gaddafi herausgestellt hätte und durch eine Einstellung<br />

weiteres Blutvergießen hätte vermieden werden können? Eine Verfahrenseinstellung<br />

aus präventiven Gründen ist zwar vom Wortlaut<br />

der Norm gedeckt. Sie muss jedoch die gut begründete Ausnahme<br />

bleiben. Der derzeitige Chefankläger, dessen Mandat <strong>im</strong> nächsten<br />

Jahr ausläuft , hat sich jedenfalls in der Vergangenheit ablehnend zu<br />

möglichen Verfahrenseinstellungen aus präventiven Gründen geäußert.<br />

Es ist kaum zu erwarten, dass sich daran etwas ändern wird.<br />

IV. SELEKTIVITÄT DER STRAFVERFOLGUNG<br />

Die resolute Haltung des Chefanklägers in der Vergangenheit ließe<br />

vermuten, der IStGH habe die „Kinderkrankheiten“ der ad hoc-<br />

Tribunale überwunden und eine emanzipierte, apolitische und universelle<br />

Institution sei ins Leben gerufen worden. Diesem Selbstverständnis<br />

scheint die Anklage allerdings nicht <strong>im</strong>mer vollkommen<br />

gerecht zu werden. So häufen sich die Vorwürfe der Selektivität gegen<br />

das Gericht. Die Kritik an der Einseitigkeit der Strafverfolgung<br />

<strong>im</strong> Falle der Staateneigenüberweisungen wurde bereits erwähnt. Des<br />

Weiteren wirft die Afrikanische Union der Anklage vor, nur Fälle in<br />

Afrika zu untersuchen. Dieser Vorwurf greift in der Allgemeinheit<br />

hingegen zu kurz. So sind dem Ankläger durch die beschränkte Mitgliedschaft<br />

und territoriale Zuständigkeit weitgehend die Hände gebunden.<br />

Selbst <strong>im</strong> Fall Libyen ist die Zuständigkeit des IStGH durch<br />

den UN-Sicherheitsrat beschränkt worden. So enthält der operative<br />

Teil der Res. 1970 folgenden Zusatz: „Decides that nationals, current<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Schwerpunkt<br />

or former offi cials or personnel from a State outside the Libyan Arab<br />

Jamahiriya which is not party to the Rome Statute of the International<br />

Cr<strong>im</strong>inal Court shall be subject to the exclusive jurisdiction of<br />

that State {...}“. Der Fokus auf Afrika kann dem Chefankläger daher<br />

nur schwer zum Vorwurf gemacht werden. Dennoch muss verwundern,<br />

dass best<strong>im</strong>mte Konfl iktherde weitgehend ignoriert werden.<br />

Exemplarisch hierfür ist Afghanistan. Afghanistan ist 2003 Mitglied<br />

des IStGH geworden. Die UN und die Medien berichten in steter<br />

Regelmäßigkeit über Taten des afghanischen Widerstands. Zivilisten<br />

werden gezielt getötet, auf Märkten gehen Bomben hoch und<br />

Sprengsätze am Straßenrand verbreiten Angst und Schrecken. Wie<br />

kann es dann sein, dass der Chefankläger niemals offi zielle Ermittlungen<br />

eingeleitet hat? Sind etwa die afghanischen Gerichte selber<br />

in der Lage die Taten fair abzuurteilen? Oder mangelt es etwa an Beweisen<br />

für schwerwiegende Taten? Es scheint wohl eher, dass kein<br />

Interesse der internationalen Gemeinschaft besteht, die schwierige<br />

Situation in Afghanistan mit internationalen Strafverfahren zu belasten.<br />

Mit der Talibanführung wird verhandelt, eine Streichung von<br />

der UN-Sanktionsliste fi ndet Unterstützung der Konfl iktparteien<br />

und die Bildung einer gemeinsamen Regierung mit den Taliban wird<br />

diskutiert. So verständlich dies auch ist: Selektive Strafverfolgung ist<br />

politisierte (nicht zwangsläufi g instrumentalisierte) Strafverfolgung.<br />

E. SCHLUSSBEMERKUNGEN<br />

Der IStGH und sein Chefankläger stehen vor richtungsweisenden<br />

Entscheidungen. Sollte man Fälle an sich ziehen, die Ressourcen<br />

der Institution verschlingen und womöglich nie zu einem Verfahren<br />

in Den Haag führen? Sollte die Anklage in derart weitem Umfang<br />

„<strong>im</strong> Auft rag“ von Staaten und des UN-Sicherheitsrats agieren oder<br />

stärker aus Eigeninitiative handeln? Ist es für die Akzeptanz der Institution<br />

förderlich ein Strafverfahren gegen Individuen einzuleiten,<br />

die sich in einer militärischen Auseinandersetzung mit der NATO<br />

befi nden? Nach welchen Kriterien erfolgt die Fallauswahl: Schwere<br />

der Tat, Festnahmeaussichten, Potential zur Friedensförderung?<br />

Die Beantwortung der Fragen kann nicht leicht fallen. Sie sollten<br />

jedoch auch außerhalb der Völkerrechtswissenschaft und des IStGH-<br />

Gebäudes debattiert und publik gemacht werden. Dieser Debatte<br />

haben sich die Staaten durch einen nebulösen Kompromiss bei der<br />

Römischen Konferenz entzogen. Sie haben eine Institution geschaffen,<br />

es dabei jedoch versäumt (oder vermieden) klare Zielbest<strong>im</strong>mungen<br />

festzulegen. Das Festlegen von Prioritäten wurde vielmehr<br />

dem Chefankläger und seiner Entourage überantwortet. Es wird Zeit,<br />

dass die Debatte in der bundesrepublikanischen Politik, Gesellschaft<br />

und Medienwelt nachgeholt wird und eine kritische Würdigung des<br />

internationalen Strafrechtssystems erfolgt.<br />

��������������������������������������������������������������������<br />

����������������������������������������������������������������<br />

���������������������������������������������<br />

����������������������������������������<br />

������������������ ������������ � ��� � ����������������������������� � �����������<br />

�����������������������������������������������������������������������������<br />

���������������������������������� ������� ������������������������������������<br />

�������������������������������������������������������������������������<br />

�������������������������������������������������������������������������<br />

��������������������������������������� ��������������������������������<br />

�������� � �� ��������������������������������������� ���� � ���������<br />

��������������<br />

�����������������������������������������������������<br />

37


38<br />

Fallbearbeitung<br />

ASSESSOREXAMENSKANDIDATEN IM ÖFFENTLICHEN RECHT:<br />

„Die neue Hausnummer“ 1<br />

von VRiVG Raphael Murmann-Suchan (Köln)<br />

1 Hinweis: Die Aufgabenstellung und die Lösung sind auf das Landesrecht von Nordrhein-Westfalen<br />

zugeschnitten. Für andere Bundesländer ergeben sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede.<br />

AKTE 1<br />

Rechtsanwalt Z X-Stadt, den 10. Dezember 2011<br />

An Frau Rechtsreferendarin R, <strong>im</strong> Hause<br />

Liebe Frau R,<br />

heute habe ich ein neues Mandat übernommen. Herr NN hat Probleme mit der X-Stadt, da seine Hausnummer „2“ in „2a“ geändert werden<br />

soll. Er hat be<strong>im</strong> Verwaltungsgericht bereits ein Verfahren deswegen anhängig gemacht. Den Schrift verkehr hat er mitgebracht; den beiliegenden<br />

Unterlagen können Sie den Streitstand und den prozessualen Stand entnehmen. Da ich ihm zugesagt habe, mich morgen, am 1<strong>1.</strong><br />

Dezember wegen der weiteren Vorgehensweise wieder bei ihm zu melden, wäre es schön, wenn Sie sich heute noch der Sache annehmen<br />

könnten. Bitte machen Sie neben der Begutachtung in der Sache auch einen Vorschlag, wie weiter verfahren werden soll; schön wäre es, wenn<br />

Sie den oder die entsprechenden Schrift sätze (je nach Ergebnis an Gericht oder Mandanten) entwerfen könnten.<br />

Vielen Dank,<br />

Z<br />

___________________________________<br />

Michael NN X Stadt, den 2<strong>5.</strong> November 2011<br />

Hauptstraße 2<br />

00000 X Stadt<br />

An das<br />

Verwaltungsgericht X-Stadt<br />

Platz 1<br />

00000 X-Stadt<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Hiermit erhebe ich eine Eilklage gegen die Stadt X.<br />

Raphael Murmann-Suchan, Jahrgang 1963, Studium der Rechtswissenschaft in Bonn.<br />

Der Autor nahm 1993 die Tätigkeit als Richter be<strong>im</strong> Verwaltungsgericht Köln auf, seit 2010 ist er Vorsitzender Richter am<br />

Verwaltungsgericht.<br />

Er ist seit 1996 Arbeitsgemeinschaftsleiter, prüft in der Ersten Prüfung und in der <strong>2.</strong> juristischen Staatsprüfung und war<br />

mehrere Jahre an das Justizministerium Nordrhein-Westfalen (insbesondere Tätigkeit <strong>im</strong> Landesjustizprüfungsamt) abgeordnet.<br />

Ich bin Eigentümer des Grundstückes Hauptstraße 2 in der Stadt X. Auf diesem Grundstück habe ich <strong>im</strong> Jahr 1975 ein Einfamilienhaus gebaut,<br />

in dem ich mit meiner Familie lebe. Außerdem befi nden sich auf dem Grundstück das Büro und die Lagerhalle meines Dachdeckerbetriebes.<br />

Als ich damals das Haus bezogen habe, hieß es von Seiten des Oberbürgermeisters der Stadt X, das Grundstück habe die Hausnummer<br />

<strong>2.</strong> Da in Kürze auf dem bislang unbebauten Nachbargrundstück ein Wohnhaus gebaut werden soll, hat mich der Oberbürgermeister mit<br />

Schreiben vom 1<strong>8.</strong> November 2011, das mir gestern vom Brieft räger ausgehändigt wurde, aufgefordert, die Hausnummer „2a“ zu akzeptieren<br />

und an meinem Haus anzubringen. Das Schreiben habe ich in der Anlage beigefügt.<br />

1 Hinweis: Die Aufgabenstellung und die Lösung sind auf das Landesrecht von Nordrhein-Westfalen zugeschnitten. Für andere Bundesländer ergeben sich jedoch keine wesentlichen Unterschiede.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong>


Das kann und will ich nicht hinnehmen. Schließlich wohne ich jetzt schon über 35 Jahre unter der Hausnummer „2“ in der Hauptstraße. Diese<br />

Hausnummer ist schon Teil des Namens meiner Familie geworden. Vor allem ist aber auch der Dachdeckerbetrieb unter dieser Hausnummer<br />

bekannt und eingeführt. Zudem haben wir gerade noch neue Briefb ögen mit „meiner Hausnummer 2“ drucken lassen. Ich sehe nicht<br />

ein, dass meine Hausnummer geändert wird, schließlich ist es doch der neue Nachbar, der die Veränderung in der Straße verursacht hat.<br />

Ich bitte Sie daher, das Notwendige zu veranlassen und die Stadt X anzuweisen, mich mit ihrem Ansinnen zu verschonen.<br />

Hochachtungsvoll,<br />

NN<br />

___________________________________<br />

Stadt X, Der Oberbürgermeister X Stadt, Rathaus, den 16. November 2011<br />

Amt für öff entliche Ordnung<br />

AZ: ABCD 12345<br />

An Herrn<br />

NN<br />

Hauptstraße 2<br />

00000 X-Stadt<br />

O r d n u n g s v e r f ü g u n g<br />

Sehr geehrter Herr NN,<br />

Hiermit verfüge ich das Folgende:<br />

Ich weise Ihrem Grundstück (Flur A, Flurstück 1234, bisherige postalische Bezeichnung „Hauptstraße 2“) ab dem 1<strong>5.</strong> Dezember 2011 die<br />

Hausnummer „2a“ zu.<br />

Ich fordere Sie auf, die Hausnummer „2a“ ab dem 1<strong>5.</strong> Dezember 2011 von der Straße aus gut sichtbar an dem Haus auf Ihrem Grundstück<br />

anzubringen.<br />

Hiermit ordne ich die sofortige Vollziehung der Ziff ern <strong>1.</strong> und <strong>2.</strong> dieser Ordnungsverfügung an.<br />

Sollten Sie der Verpfl ichtung unter Ziff er <strong>2.</strong> bis zum 1<strong>5.</strong> Dezember 2011 nicht nachgekommen sein, drohe ich jetzt bereits die Festsetzung<br />

eines Zwangsgeldes in Höhe von 500,00 EUR an.<br />

Begründung:<br />

Sie sind Eigentümer des oben genannten zu Wohnzwecken und zu gewerblichen Zwecken genutzten Grundstücks. Dieses Grundstück hat<br />

bislang die postalische Bezeichnung „Hauptstraße 2“. Wie Ihnen bekannt ist, wird das benachbarte Flurstück Flur A, Flurstück 1233 in Kürze<br />

bebaut werden; der Baubeginn steht unmittelbar bevor. Von der Stadtmitte aus gesehen, handelt es sich bei diesem Grundstück um das erste<br />

Grundstück auf der rechten Straßenseite der Hauptstraße; Ihr Grundstück ist das Zweite. Im gesamten Stadtgebiet ist es üblich, dass jeweils<br />

das erste auf der rechten Straßenseite stadtauswärts gelegene Grundstück die Hausnummer „2“ trägt. Gründe, hiervon abzuweichen, sind<br />

nicht erkennbar. Dies gilt insbesondere deshalb, weil Sie auf mein Anhörungsschreiben vom 1<strong>5.</strong> Oktober 2011 nicht reagiert haben. Dies<br />

folgt insgesamt aus dem Gesetz, namentlich aus § 126 Abs. 3 BauGB. Dass die zugewiesene Hausnummer angebracht werden muss, versteht<br />

sich von selbst. Angesichts des überragenden öff entlichen Interesses an einer systematischen Nummerierung der Häuser muss Ihr privates<br />

Interesse am Beibehalt der Hausnummer zurückstehen, zumal die von Ihnen zu tätigen Investitionen überschaubar sind.<br />

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist aus Gründen der Gefahrenabwehr geboten. Es ist unerlässlich, dass die Grundstücke in der<br />

Hauptstraße mit Beginn der Baumaßnahme auf der Flurstück 1233 unzweifelhaft zu identifi zieren sind. Das angedrohte Zwangsgeld wird<br />

für den Fall, dass Sie der Verfügung nicht innerhalb der gesetzten Frist nachkommen, zum Zwecke der Verwaltungsvollstreckung angedroht.<br />

Unterschrift<br />

(Dem Bescheid ist eine ordnungsgemäße Rechtsmittelbelehrung beigefügt, von deren Abdruck abgesehen wurde.)<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Fallbearbeitung<br />

39


40<br />

Fallbearbeitung<br />

Stadt X, Der Oberbürgermeister X Stadt, Rathaus, den 0<strong>1.</strong> Dezember 2011<br />

Rechtsamt<br />

AZ: ABCD 12345<br />

An<br />

das Verwaltungsgericht X-Stadt<br />

Platz 1<br />

00000 X-Stadt<br />

5 K 6824/11<br />

Im Verfahren NN ./. X-Stadt erwidere ich auf die Klage wie Folgt:<br />

Die Klage ist bereits unzulässig. Der Kläger hat auf mein Anhörungsschreiben vom 1<strong>5.</strong> Oktober 2011, das dem Bescheid vom 16. November<br />

2011 vorausging, nicht reagiert; damit hat er ein Vorgehen gegen den Bescheid verwirkt. Im Übrigen ist nicht erkennbar, welche Rechte der<br />

Kläger an „seiner Hausnummer“ haben sollte. Die Vergabe von Hausnummern erfolgt alleine <strong>im</strong> öff entlichen Interesse.<br />

Darüber hinaus ist die Änderung der Hausnummer schon aus Gründen der Gefahrenabwehr dringend notwendig.<br />

Hochachtungsvoll,<br />

Y (Stadtrechtsdirektor)<br />

___________________________________<br />

Michael NN X Stadt, den <strong>5.</strong> Dezember 2011<br />

Hauptstraße 2<br />

00000 X Stadt<br />

An das<br />

Verwaltungsgericht X-Stadt<br />

Platz 1<br />

00000 X-Stadt<br />

5 K 6824/11<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Es ist mir völlig unverständlich, dass der Beklagte meine Argumente nicht versteht und auf seinem Standpunkt beharrt. Im Übrigen ist mir<br />

nicht klar, auf welche Ziff er der Ordnungsverfügung sich die Zwangsgeldandrohung bezieht. Da in wenigen Tagen die Frist für das Akzeptieren<br />

und Anbringen der Hausnummer abläuft , hoff e ich, dass das Gericht bald über meine Eilklage entscheidet und dem Treiben der<br />

Beklagten Einhalt gebietet.<br />

Hochachtungsvoll<br />

NN<br />

___________________________________<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong>


Verwaltungsgericht X-Stadt, 0<strong>8.</strong> Dezember 2011<br />

<strong>5.</strong> Kammer<br />

Der Berichterstatter<br />

An<br />

Herrn NN<br />

Hauptstraße 2<br />

00000 X-Stadt<br />

In dem verwaltungsgerichtlichen Verfahren<br />

NN ./. X-Stadt<br />

(5 K 6824/11)<br />

Wegen: Hausnummer<br />

wird der Kläger auf Folgendes hingewiesen: Bislang versteht die Kammer die „Eingabe“ des Klägers als Klage, d.h. als Verfahren des Rechtsschutzes<br />

in der Hauptsache. Als Verfahren des vorläufi gen Rechtsschutzes dürft e sich die „Eingabe“ aufgrund des eindeutigen Wortlautes<br />

(„Klage“) wohl nicht auslegen lassen. Daher wurde bislang auch nur ein Aktenzeichen eines Hauptsacheverfahrens („K“) vergeben. In diesem<br />

Verfahren werden der Kläger und die Beklagte zum Erlass eines Gerichtsbescheides nach § 84 VwGO angehört.<br />

Mit freundlichen Grüßen,<br />

B (Richter am Verwaltungsgericht)<br />

___________________________________<br />

BEARBEITERVERMERK<br />

Begutachten Sie die Rechtslage umfassend aus anwaltlicher Sicht<br />

unter Berücksichtigung des Arbeitsauft rages des Ausbilders Herrn<br />

Rechtsanwalt Z und nach Maßgabe des Mandantenauft rags. Zeitpunkt<br />

der Begutachtung ist der 10. Dezember 201<strong>1.</strong> Das Gutachten<br />

soll Überlegungen zur Zweckmäßigkeit des Vorgehens enthalten.<br />

Eine Sachverhaltsdarstellung ist <strong>im</strong> Gutachten entbehrlich. Sollte<br />

eine weitere Sachverhaltsaufk lärung für erforderlich gehalten werden,<br />

so ist davon auszugehen, dass dies unergiebig ist. Kommt die<br />

Bearbeitung ganz oder teilweise zur Unzulässigkeit eines oder mehrerer<br />

Rechtsbehelfe, so ist die Begründetheit in einem Hilfsgutachten<br />

zu prüfen.<br />

Soweit die Einleitung/Weiterführung gerichtlicher Verfahren für erfolgversprechend<br />

erachtet wird, ist ein Schrift satz an das Gericht zu<br />

entwerfen, welcher der prozessualen Situation und dem <strong>im</strong> Gutachten<br />

gefundenen Ergebnis entspricht. Andernfalls ist in einem Schreiben<br />

an den Mandanten zu erläutern, aus welchen Gründen das<br />

gerichtliche Verfahren nicht (weiter-)betrieben werden sollte.<br />

LÖSUNG<br />

A. MANDANTENBEGEHREN<br />

Der Mandant hat bereits ein gerichtliches Verfahren eingeleitet, mit<br />

dem er möglichst umgehend Rechtsschutz gegen die Zuweisung einer<br />

<strong>neuen</strong> Hausnummer und die Verpfl ichtung, diese am Haus anzubringen,<br />

sucht. Ferner muss er auf die Anfrage des Gerichts reagieren.<br />

Es ist daher geboten, zunächst zu erörtern, was für ein Verfahren<br />

der Mandant in Gang gesetzt hat, ob das eingeleitete Verfahren<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

ausreicht und ob vorläufi ger Rechtsschutz und/oder ein Klageverfahren<br />

Aussicht auf Erfolg haben.<br />

B. GUTACHTEN<br />

I. AUSLEGUNG DES VOM MANDANTEN EINGELEITETEN VERFAH-<br />

RENS 2<br />

Fallbearbeitung<br />

Zunächst ist das Schreiben des Mandanten vom 2<strong>5.</strong> November 2011<br />

an das Verwaltungsgericht auszulegen. Denn der Mandant hat nicht<br />

ausdrücklich ausgeführt, ob eine Klage oder Verfahren des vorläufi<br />

gen Rechtsschutzes eingeleitet werden sollte. Das Gericht ist, wie<br />

die Vergabe eines „K“ Aktenzeichens und die Anfrage vom 0<strong>8.</strong> Dezember<br />

2011 zeigen, off enbar davon ausgegangen, dass der Mandant<br />

ausschließlich eine Klage erheben wollte.<br />

Hierfür spricht in der Tat die vom Mandanten benutzte Formulierung<br />

„Klage“. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass der Mandant<br />

off enbar nicht rechtlich gebildet ist und zudem auch nicht anwaltlich<br />

vertreten war. Unter Berücksichtigung des Rechtsgedankens der<br />

§§ 86 Abs. 3 und 88 VwGO ist jedoch das tatsächliche Rechtsschutzziel<br />

des Mandanten zu ermitteln. Aus dem Schreiben des Mandanten<br />

lässt sich entnehmen, dass er nicht nur dauerhaft die Zuweisung<br />

einer <strong>neuen</strong> Hausnummer begehrt, sondern mit der Einleitung des<br />

gerichtlichen Verfahrens auch vermeiden will, dass er den ausgesprochenen<br />

Verpfl ichtungen überhaupt nachkommen muss. Dass<br />

der Mandant auch ein Verfahren des vorläufi gen Rechtsschutzes<br />

einleiten wollte, ergibt sich insbesondere aus der Zusammenschau<br />

der Klageschrift /Antragsschrift mit der weiteren Begründung vom<br />

2 Bearbeitervermerk: Unabhängig vom „klassischen“ Aufb au eines Gutachtens – Zulässigkeit/Begründetheit<br />

– ist es angebracht, vorab das Schreiben des Mandanten an das Gericht auszulegen.<br />

41


42<br />

Fallbearbeitung<br />

0<strong>5.</strong> Dezember 201<strong>1.</strong> Denn hier hat der Mandant eindeutig zu verstehen<br />

gegeben, dass er mithilfe des gerichtlichen Verfahrens eine Entscheidung<br />

vor der in der Ordnungsverfügung gesetzten Frist erreichen<br />

wollte – dies geht nur <strong>im</strong> Wege des vorläufi gen Rechtsschutzes.<br />

Da der vorläufi ge Rechtsschutz – gleich ob nach § 80 Abs. 5 VwGO<br />

oder § 123 Abs. 1 VwGO zur – vorläufi gen – Sicherung der <strong>im</strong><br />

Hauptsacheverfahren verfolgten Rechte dient, ist davon auszugehen,<br />

dass der Mandant sowohl ein Verfahren des vorläufi gen Rechtsschutzes<br />

als auch ein Hauptsache-/ Klageverfahren anhängig gemacht hat.<br />

II. ZULÄSSIGKEIT EINES ANTRAGS AUF GEWÄHRUNG<br />

VORLÄUFIGEN RECHTSSCHUTZES<br />

<strong>1.</strong> ERÖFFNUNG DES VERWALTUNGSRECHTSWEGS<br />

Der Verwaltungsrechtsweg ist nach § 40 Abs. 1 VwGO eröff net. Die<br />

Antragsgegnerin ist gegenüber dem Mandanten <strong>im</strong> Über-/Unterordnungsverhältnis<br />

tätig geworden und hat die Handlungsform eines<br />

Bescheides gewählt. Zudem kommen als streitentscheidende Normen<br />

§ 126 BauGB oder § 14 OBG NRW in Betracht. Daher liegt eine<br />

öff entlich-rechtliche Streitigkeit vor. 3<br />

<strong>2.</strong> STATTHAFTIGKEIT<br />

Für den vorläufi gen Rechtsschutz kommen Anträge nach § 123 Abs.<br />

1 VwGO oder § 80 Abs. 5 VwGO in Betracht. Dabei best<strong>im</strong>mt § 123<br />

Abs. 5 VwGO, dass die Absätze 1 bis 3 dieser Regelung nicht für die<br />

Fälle der §§ 80 und 80 a VwGO gelten. Hieraus ergibt sich ein Vorrang<br />

des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO, soweit es um vorläufi -<br />

gen Rechtsschutz hinsichtlich der Vollziehbarkeit eines Verwaltungsaktes<br />

geht. 4 Daher ist vorrangig zu prüfen, ob das Verfahren nach<br />

§ 80 Abs. 5 VwGO statthaft ist.<br />

a) Voraussetzung ist, dass der Mandant einen Rechtsbehelf gegen einen<br />

ihn belastenden Verwaltungsakt eingelegt hat und, dass dieser<br />

Rechtsbehelf entgegen der Grundregel des § 80 Abs. 1 VwGO keine<br />

aufschiebende Wirkung hat.<br />

Mit der Klage vom 2<strong>5.</strong> November 2011 hat der Mandant einen<br />

Rechtsbehelf eingelegt, dem grundsätzlich nach § 80 Abs. 1 VwGO<br />

aufschiebende Wirkung zukommen könnte. Dieser Rechtsbehelf<br />

müsste sich gegen einen belastenden Verwaltungsakt richten.<br />

aa) Ob der Mandant sich gegen einen Verwaltungsakt zur Wehr<br />

setzt, ist für die einzelnen Regelungen des Bescheides gesondert zu<br />

untersuchen.<br />

(1) Zunächst könnte es sich bei der Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer<br />

um einen Verwaltungsakt handeln. Verwaltungsakt ist nach<br />

§ 35 Satz 1 VwVfG NRW jede hoheitliche Maßnahme, die eine Behörde<br />

zur Regelung eines Einzelfalls auf dem Gebiet des öff entlichen<br />

Rechts trifft und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet<br />

ist. Problematisch ist hier bereits das Merkmal der Regelung.<br />

Denn die Zuweisung einer Hausnummer zu einem Grundstück enthält<br />

– anders als die Verpfl ichtung zum Anbringen der Hausnummer<br />

(siehe unten) – kein unmittelbares Ge- oder Verbot; auch ist sie nicht<br />

3 Bearbeiterhinweis: Da bei der Eröff nung des Verwaltungsrechtswegs off enkundig kein Schwerpunkt<br />

der Aufgabenstellung liegt, sollte hierzu möglichst wenig geschrieben werden; insbesondere sind keine<br />

Ausführungen zur „nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeit“ geboten.<br />

4 Kopp/Schenke, VwGO, 1<strong>3.</strong> Aufl age, § 123 Rn. 4.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

unmittelbar darauf gerichtet, die Rechtsstellung des Grundstückseigentümers<br />

zu verbessern oder zu verschlechtern. Damit scheidet die<br />

Annahme eines Verwaltungsaktes nach § 35 Satz 1 VwVfG NRW aus.<br />

(2) Allerdings könnte eine dingliche Allgemeinverfügung <strong>im</strong> Sine<br />

des § 35 Satz 2, <strong>2.</strong> Alt. VwVfG NRW gegeben sein. Die Zuweisung<br />

einer Hausnummer dient jedenfalls auch dem ordnungsrechtlichen<br />

Zweck, eine Individualisierung der Grundstücke zu ermöglichen<br />

und damit das Auffi nden eines Grundstückes (etwa zum Zweck von<br />

Zustellungen oder zur Gefahrenabwehr durch Feuerwehr, Rettungsdienste,<br />

Polizei, Feststellung der melderechtlichen Anforderungen)<br />

zu erleichtern. Damit wird durch die Zuteilung einer Hausnummer<br />

eine ordnungsrechtliche Eigenschaft der Sache (Grundstück) festgelegt.<br />

5<br />

Die Anordnung, die neue Hausnummer anzubringen, beinhaltet ein<br />

Handlungsgebot und ist unproblematisch ein Verwaltungsakt <strong>im</strong><br />

Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG NRW.<br />

Auch die Androhung des Zwangsgeldes stellt einen Verwaltungsakt<br />

dar. Maßnahmen zur Vollstreckung von Verwaltungsakten sind<br />

selbst Verwaltungsakte, soweit sie selbständig über die Art und Weise<br />

der Vollstreckung oder über Einwendungen gegen die Vollstreckung<br />

entscheiden; zu den Vollstreckungsmaßnahmen, die einen Verwaltungsakt<br />

darstellen, zählt daher u.a. die Zwangsmittelandrohung. 6<br />

Da alle drei Maßnahmen Verwaltungsakte darstellen, ist ein Antrag<br />

nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft .<br />

bb) Hinsichtlich der Zuweisung der Hausnummer und der Verpfl ichtung<br />

zum Anbringen der Hausnummer hat die Klage des Mandanten<br />

aufgrund der Anordnung der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende<br />

Wirkung; insoweit ist ein Antrag auf Wiederherstellung der<br />

aufschiebenden Wirkung statthaft . Hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung<br />

entfällt die aufschiebende Wirkung nach § 80 Abs. 2 Nr. 3<br />

VwGO, § 112 JustG NRW.<br />

b) Der von dem Mandanten eingelegte Rechtsbehelf richtet sich gegen<br />

einen belastenden Verwaltungsakt und hat aufgrund der Anordnung<br />

der sofortigen Vollziehung keine aufschiebende Wirkung.<br />

<strong>3.</strong> ANTRAGSBEFUGNIS ANALOG § 42 ABS. 2 VWGO<br />

Der Mandant ist schon als Adressat des Bescheides antragsbefugt.<br />

Selbst dann, wenn man die Zuweisung der Hausnummer als adressatenlose<br />

Allgemeinverfügung ansieht, ist die Antragsbefugnis<br />

zu bejahen. Ein Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb<br />

(Art. 14 Abs. 1 GG) ist nicht unter jedem denkbaren<br />

Gesichtspunkt ausgeschlossen. Eine Verletzung des aus dem Persönlichkeitsrecht<br />

(Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) folgenden<br />

Namensrechts 7 ist hingegen nicht erkennbar. Anders als ausdrückliche<br />

Namenszusätze, wie etwa ein Doktortitel, ist eine Adresse oder<br />

gar nur eine Hausnummer nicht Bestandteil des Namens.<br />

5 vgl. hierzu insgesamt OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 2<strong>5.</strong> Oktober 1991 – 4 L 56/91 – zitiert<br />

nach Juris, OVG NRW, Beschluss vom 1<strong>5.</strong> Januar 1987 – 15 A 563/84 – NJW 1987, 2695; BayVGH,<br />

Urteil vom 0<strong>8.</strong> September 1982 – 4 B 81 A/513 –, NVwZ 1983, 352; VG Oldenburg, Urteil vom 2<strong>8.</strong> März<br />

2002 – 2 A 3210/01 –NdsVBl. 2003, 6<strong>2.</strong><br />

6 Kopp/Ramsauer, VwVfG, <strong>7.</strong> Aufl age, § 35 Rn. 6<strong>7.</strong><br />

7 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, Rn. 374.


4. RICHTIGER ANTRAGSGEGNER<br />

Richtiger Antragsgegner ist nach § 78 Abs. 1 VwGO die Stadt X als<br />

Rechtsträgerin. 8<br />

<strong>5.</strong> BETEILIGTEN- UND PROZESSFÄHIGKEIT<br />

Die Beteiligten- und Prozessfähigkeit des NN und der Stadt X sind<br />

unproblematisch gegeben.<br />

6. RECHTSSCHUTZINTERESSE<br />

Dem Mandanten fehlt nicht das Rechtsschutzinteresse. Insbesondere<br />

hat er nicht dadurch, dass er auf das Anhörungsschreiben der Antragsgegnerin<br />

nicht reagiert hat, auf seine Rechte verzichtet. Die nach<br />

§ 28 VwVfG NRW erforderliche Anhörung dient der Wahrung des<br />

rechtlichen Gehörs des von einer behördlichen Maßnahmen Betroffenen.<br />

Die Anhörung begründet jedoch keine Pfl icht zur Stellungnahme.<br />

ZWISCHENERGEBNIS:<br />

Der gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig.<br />

III. BEGRÜNDETHEIT DES ANTRAGS AUF GEWÄHRUNG<br />

VORLÄUFIGEN RECHTSSCHUTZES<br />

Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist begründet, wenn die sofortige<br />

Vollziehung nicht ordnungsgemäß angeordnet wurde oder wenn das<br />

private Interesse des NN an der Anordnung bzw. Wiederherstellung<br />

der aufschiebenden Wirkung der erhobenen Klage das öff entliche<br />

Interesse an der sofortigen Vollziehung überwiegt. Letzteres ist vor<br />

allem dann der Fall, wenn sich die angegriff enen Verwaltungsakte<br />

bei summarischer Prüfung als off ensichtlich rechtswidrig erweisen.<br />

<strong>1.</strong> ORDNUNGSGEMÄßE ANORDNUNG DER SOFORTIGEN VOLL-<br />

ZIEHUNG<br />

Nach § 80 Abs. 3 VwGO ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung<br />

schrift lich zu begründen. Ob der Vollzugsanordnung eine<br />

Anhörung vorausgehen muss, hängt davon ab, ob man die Vollzugsanordnung<br />

als Verwaltungsakt auff asst. Dies wird nach ganz<br />

herrschender Meinung verneint. 9 Die nach § 80 Abs. 3 VwGO erforderliche<br />

schrift liche Begründung darf nicht nur formelhaft sein,<br />

sondern muss auf den konkreten Fall abstellen. Dem genügt die<br />

Begründung des Bescheides vom 16. November 201<strong>1.</strong> Der Hinweis<br />

auf die Gefahrenabwehr (Sicherstellung von Rettungseinsätzen) gilt<br />

zwar für alle Fälle der Zuweisung einer Hausnummer, angesichts der<br />

gegebenenfalls gefährdeten Rechtsgüter und der Bezugnahme auf die<br />

anstehenden Bauarbeiten ist die knappe Begründung aber in jedem<br />

Fall ausreichend.<br />

<strong>2.</strong> ERMÄCHTIGUNGSGRUNDLAGE FÜR DIE ZUWEISUNG EINER<br />

HAUSNUMMER<br />

§ 126 Abs. 3 Satz 1 BauGB kommt entgegen der Auff assung der Beklagten<br />

als Ermächtigungsgrundlage für die Zuweisung der Hausnummer<br />

nicht in Betracht. Denn nach seinem Wortlaut verpfl ichtet<br />

diese Norm den Grundstückseigentümer nur, die bereits festgesetz-<br />

8 Bearbeiterhinweis: Eine § 5 Abs. 2 AGVwGO NRW a.F. entsprechende Regelung, wonach die Behörde<br />

selbst Beklagter/Antragsgegner sein kann, enthält das JustG NRW nicht mehr. Es gilt das Rechtsträgerprinzip.<br />

9 vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 1<strong>3.</strong> Aufl age, § 80, Rn. 8<strong>2.</strong> Bearbeiterhinweis: Dies sollte nicht vertieft<br />

problematisiert werden, da hier off enkundig kein Schwerpunkt des Falles liegt.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

te Hausnummer anzubringen; damit setzt der Anwendungsbereich<br />

dieser Best<strong>im</strong>mung bereits die vorausgehende Zuweisung einer<br />

Hausnummer voraus.<br />

Mangels anderer spezieller Ermächtigungsgrundlagen kommt daher<br />

nur § 14 OBG NRW in Betracht.<br />

<strong>3.</strong> FORMELLE RECHTMÄßIGKEIT<br />

Fallbearbeitung<br />

Hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit bestehen keine Bedenken.<br />

Die Beklagte ist nach §§ 3, 4 und 5 OBG NRW sachlich und<br />

örtlich zuständig und die nach § 28 VwVfG NRW erforderliche Anhörung<br />

hat stattgefunden. Ein Formerfordernis besteht nicht, weil<br />

hinsichtlich der Allgemeinverfügung „Zuweisung der Hausnummer“<br />

der Anwendungsbereich des § 20 OBG NRW nicht eröff net ist<br />

(<strong>im</strong> Übrigen wäre die Schrift form auch beachtet).<br />

4. MATERIELLE RECHTMÄßIGKEIT DER ZUWEISUNG EINER<br />

NEUEN HAUSNUMMER<br />

a) Der Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer könnte schon die Zuweisung<br />

der Hausnummer „2“ <strong>im</strong> Jahr 1975 entgegenstehen. Ebenso<br />

wie die jetzige Zuweisung einer Hausnummer stellt auch die damalige<br />

Zuweisung der Hausnummer eine Allgemeinverfügung dar. Diese<br />

ist in Bestandskraft erwachsen. Es fragt sich, welche Konsequenzen<br />

hieraus für die Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer folgen. Als Abweichungsverbot<br />

<strong>im</strong> weiteren Sinne erweist sich die aus der Gesetzmäßigkeit<br />

der Verwaltung und der Rechtsprechung folgende Pfl icht<br />

aller rechtsanwendenden Instanzen, die durch einen (bestandskräftigen)<br />

Verwaltungsakt bewirkten Rechtsänderungen zu beachten.<br />

Solche ergeben sich namentlich bei den gestaltenden Verwaltungsakten,<br />

die ein Rechtsverhältnis begründen, beenden oder verändern. 10<br />

Durch ein solches Abweichungsverbot wird der Rechtssicherheit gedient<br />

und die Existenz divergierender behördlicher Entscheidungen<br />

verhindert.<br />

b) Aufgrund der Bestandskraft der Hausnummerzuweisung aus dem<br />

Jahr 1975 war die Beklagte daher zunächst gehindert, dem Grundstück<br />

des Mandanten eine neue Hausnummer zuzuweisen. Vielmehr<br />

bedurft e es zunächst der Aufh ebung der früheren Zuteilung der<br />

Hausnummer „2“.<br />

aa) Eine ausdrückliche Aufh ebung (Rücknahme oder Widerruf)<br />

ist nicht erfolgt. Denkbar ist jedoch, dass die Aufh ebung konkludent<br />

ausgesprochen wurde. Dies liegt <strong>im</strong>mer dann nahe, wenn der<br />

ursprüngliche Verwaltungsakt teilweise geändert oder durch einen<br />

<strong>neuen</strong> Verwaltungsakt - ohne ausdrückliche Aufh ebung - ganz ersetzt<br />

wird. Maßgeblich ist daher, ob ein Aufh ebungswille der Antragsgegnerin<br />

erkennbar ist und ob die Voraussetzungen für eine<br />

Aufh ebung gegeben waren. 11<br />

Die Zuweisung der Hausnummer „2a“ durch die Antragsgegnerin<br />

kann nur so verstanden werden, dass die bisherige Zuweisung der<br />

Hausnummer „2“ keinen Bestand mehr haben soll. Daher kann der<br />

erforderliche Aufh ebungswille der Antragsgegnerin ohne weiteres<br />

angenommen werden. Auch die weiteren Voraussetzungen für einen<br />

Widerruf der ursprünglichen Zuweisung einer Hausnummer sind<br />

gegeben. Dieser Widerruf ist an § 49 Abs. 1 VwVfG NRW zu messen.<br />

Dabei kann die Frage, ob die Zuweisung aus dem Jahr 1975 rechtmäßig<br />

oder rechtswidrig war, dahin stehen, weil nach allgemeiner Auf-<br />

10 vgl. Seibert, Die Bindung von Verwaltungsakten, S. 87 ff ; Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl age,<br />

§ 43 VwVfG, Rn. 16/17, 129 ff .<br />

11 vgl. hierzu insgesamt Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl age, § 35, Rn. 49, § 48 Rn. 243-24<strong>5.</strong><br />

43


44<br />

Fallbearbeitung<br />

fassung auch rechtswidrige Verwaltungsakte unter den – gegenüber<br />

§ 48 VwVfG NRW strengeren – Voraussetzungen auch nach § 49<br />

VwVfG widerrufen werden können. 12<br />

bb) Für die Aufh ebung der Zuweisung einer Hausnummer ist § 49<br />

Abs. 1 VwVfG NRW und nicht Abs. 2 maßgeblich. Denn für die<br />

dinglichen Allgemeinverfügungen <strong>im</strong> Sinne des § 35 Satz 2 VwVfG<br />

NRW passen die Begriff e des belastenden oder begünstigenden Verwaltungsakts<br />

grundsätzlich nicht, da mit der Allgemeinverfügung<br />

Rechte oder rechtlich erhebliche Vorteile weder unmittelbar zugesprochen<br />

noch unmittelbar abgesprochen werden. Sie sind insoweit<br />

neutral, fallen als solche jedoch auch unter die Bezeichnung „nicht<br />

begünstigender Verwaltungsakt“, so dass sie nach § 49 Abs. 1 aufhebbar<br />

sind. 13 Dies gilt auch für die Zuweisung der Hausnummer <strong>im</strong><br />

Jahr 1975, weil die Zuweisung der Hausnummer ein Verwaltungsakt<br />

ist, der eine öff entlich-rechtliche Eigenschaft des Grundstücks regelt.<br />

cc) Nach § 49 Abs. 1 VwVfG steht der Widerruf <strong>im</strong> Ermessen der Behörde;<br />

die danach von der Antragsgegnerin zu treff ende Ermessensentscheidung<br />

musste – wie jede Ausübung behördlichen Ermessens<br />

– nach § 39 VwVfG NRW begründet werden. Die Frage, in welchem<br />

Ausmaß die Behörde ihre Ermessenserwägungen dem Adressaten in<br />

der Begründung des Verwaltungsakts mitteilen muss, ist dabei nach<br />

den konkreten Umständen des Einzelfalles zu beurteilen; entscheidend<br />

ist vor allem, dass ein sachlicher Grund für den Widerruf mitgeteilt<br />

wird. 14<br />

Die Antragsgegnerin hat in der Begründung des Bescheides vom<br />

16. November 2011 dargelegt, dass das öff entliche Interesse an der<br />

geordneten Vergabe von Hausnummern nach einem einheitlichen<br />

Muster der Gefahrenabwehr, der Stadtplanung und der postalischen<br />

Zustellung dient. Damit liegt eine gemessen an § 39 VwVfG NRW<br />

genügende Begründung vor. Weitergehende Gesichtspunkte des<br />

Vertrauensschutzes sind bei dem Widerruf nach § 49 Abs. 1 VwVfG<br />

NRW nicht zu beachten. Ob die Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG NRW<br />

beachtet ist, kann dahinstehen, weil § 49 Abs. 2 Satz 2 VwVfG NRW<br />

nur für den Widerruf begünstigender Verwaltungsakte auf § 48 Abs.<br />

4 VwVfG NRW verweist.<br />

c) Die Voraussetzungen des § 14 OBG NW sind gleichfalls gegeben.<br />

In der – bei Beibehaltung der bisherigen Nummerierung liegenden –<br />

Verletzung der Systematik der Hausnummerzuweisung in der Stadt<br />

X liegt eine Gefahr <strong>im</strong> Sinne des § 14 OBG NRW. Dies ergibt sich<br />

schon daraus, dass Einsatzkräft e wie etwa Polizei, Rettungsdienst<br />

oder Feuerwehr auf die übliche Reihenfolge der Hausnummern vertrauen,<br />

so dass ein Abweichen von dieser Reihenfolge jedenfalls zu<br />

einer Verzögerung bei Einsätzen führen kann.<br />

d) Die Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer ist auch verhältnismäßig.<br />

Insbesondere ist keine Verletzung von Grundrechten des D zu<br />

erkennen.<br />

Der eingerichtete und ausgeübte Gewerbetrieb des Mandanten wird<br />

jedenfalls in seinem sachlichen Bestand durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützt.<br />

15 Zu diesem sachlichen Bestand des Gewerbebetriebes zählt<br />

die Zuweisung einer Hausnummer, die für den Grundstückseigentümer<br />

und damit auch für den Gewerbetreibenden weder belastend<br />

noch begünstigend ist, jedoch nicht.<br />

12 vgl. Stelkens/Bonk/Sachs, 6. Aufl age, § 49, Rn. 6.<br />

13 Stelkens/Bonk/Sachs, 6. Aufl age, § 49, Rn. 2<strong>1.</strong><br />

14 vgl. BVerwG, Beschluss vom 2<strong>7.</strong> Juni 1990 - 7 B 9<strong>3.</strong>90 -, NVwZ-RR 1991, 6<strong>3.</strong><br />

15 vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, 2<strong>1.</strong> Aufl age, Rn. 90<strong>5.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

ZWISCHENERGEBNIS:<br />

Die Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer für das Grundstück des<br />

Mandanten ist off ensichtlich rechtmäßig. Die gebotene Interessenabwägung<br />

fällt daher zulasten des Mandanten aus; der Antrag nach<br />

§ 80 Abs. 5 VwGO ist nicht begründet.<br />

<strong>5.</strong> RECHTMÄßIGKEIT DER ANORDNUNG, DIE ZUGEWIESENE<br />

HAUSNUMMER AM GRUNDSTÜCK ANZUBRINGEN<br />

a) Rechtsgrundlage für diese Anordnung ist § 126 Abs. 3 BauGB.<br />

b) Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin ist (erneut) gegeben. Dabei<br />

kann off en bleiben, ob sich die Zuständigkeit erneut aus §§ 3 bis<br />

5 OBG NRW als allgemeiner Ordnungsbehörde oder aus § 60 Abs. 1<br />

Nr. 3 BauO NRW als Bauordnungsbehörde ergibt. Auch <strong>im</strong> Übrigen<br />

bestehen hinsichtlich der formellen Rechtmäßigkeit keine Bedenken.<br />

Eine Anhörung ist erfolgt und das hier nach § 20 OBG NRW gegebene<br />

Schrift formerfordernis ist beachtet.<br />

c) Die Anordnung ist auch materiell rechtmäßig. Einzige tatbestandliche<br />

Voraussetzung ist nach § 126 Abs. 3 BauGB, dass von der Gemeinde<br />

eine Hausnummer festgesetzt wurde; dies ist durch die Verfügung<br />

vom 16. November 2011 gerade erfolgt.<br />

d) Bedenken hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit bestehen angesichts<br />

des geringen Aufwandes zur Kennzeichnung des Grundstückes<br />

und der erheblichen Gefahren, die drohen, nicht.<br />

6. RECHTMÄßIGKEIT DER ZWANGSGELDANDROHUNG<br />

Die Androhung des Zwangsgeldes beruht auf §§ 55 Abs. 1, 57 Abs.<br />

1 Nr. 2, 60, 63 Abs. 1, 2, 3, 5 und 6 VwVG NRW. Bedenken, namentlich<br />

hinsichtlich der Best<strong>im</strong>mtheit und der Höhe des angedrohten<br />

Zwangsgeldes, bestehen nicht. Unproblematisch ist auch, dass nicht<br />

ausdrücklich ausgeführt wird, ob sich die Zwangsgeldandrohung auf<br />

Ziff er 1 oder 2 des Bescheides bezieht. Da Ziff er 1 rechtsgestaltend<br />

wirkt, ist dieser Teil der Ordnungsverfügung nicht vollstreckbar; die<br />

Zwangsgeldandrohung kann sich daher alleine auf Ziff er 2 beziehen.<br />

IV. ERGEBNIS: ERFOLGSAUSSICHTEN DER ERHOBENEN KLAGE<br />

Da die streitigen Verwaltungsakte nach den obigen Ausführungen<br />

insgesamt off ensichtlich rechtmäßig sind, ist auch die erhobene Klage<br />

nicht begründet. 16<br />

V. ZWECKMÄßIGKEITSÜBERLEGUNGEN<br />

Dem Mandanten ist zu raten, der streitigen Ordnungsverfügung<br />

nachzukommen und rechtzeitig bis zum 1<strong>5.</strong> Dezember 2011 die neue<br />

Hausnummer „2a“ an seinem Haus anzubringen.<br />

Die erhobene Klage sollte aus Kostengründen zurückgenommen<br />

werden. Dabei sollte das Gericht möglichst nicht über das eigene<br />

Auslegungsergebnis in Kenntnis gesetzt werden. Bislang hat das<br />

Gericht nur ein Klageverfahren und noch kein vorläufi ges Rechtsschutzverfahren<br />

angelegt. Daher ist es für den Mandanten kostengünstig,<br />

wenn es bei dem Klageverfahren bleibt.<br />

Der Mandant ist über das Ergebnis des Gutachtens und die Vorschläge<br />

zum weiteren Vorgehen zu informieren.<br />

16 Bearbeiterhinweis: Mehr muss an dieser Stelle zu den Erfolgsaussichten der Klage nicht mehr geschrieben<br />

werden.


C. MANDANTENSCHREIBEN<br />

Rechtsanwalt Z X-Stadt, den 10. Dezember 2011<br />

An<br />

Herrn NN<br />

Hauptstraße 2,<br />

00000 X-Stadt<br />

Sehr geehrter Herr NN,<br />

wie wir bei Ihrem Besuch in meiner Kanzlei vereinbart hatten, möchte ich Sie hiermit über das Ergebnis meiner Prüfung Ihrer Angelegenheit<br />

in Sachen „Hausnummer“ unterrichten. Ich bin zu dem Ergebnis gelangt, dass der Bescheid der Stadt X vom 16. November 2011 insgesamt,<br />

d.h. hinsichtlich der Zuweisung einer <strong>neuen</strong> Hausnummer, der Verpfl ichtung zur Anbringung der Hausnummer und der Zwangsgeldandrohung,<br />

rechtmäßig ist.<br />

(vgl. Gutachten, Ziff er 3)<br />

Ich rate Ihnen daher, die bereits erhobene Klage zurückzunehmen, um weitere Kosten zu vermeiden. Ferner sollten Sie der Ordnungsverfügung<br />

nachkommen, d.h. am 1<strong>5.</strong> Dezember 2011 die neue Hausnummer „2a“ anbringen.<br />

Mit freundlichen Grüßen,<br />

Z, Rechtsanwalt<br />

Preiswerte Flüge weltweit<br />

Kreuzfahrten | Sport- und Aktivreisen<br />

Pauschal- und Wellnessreisen<br />

Jugend- und Studententarife<br />

Ferienwohnungen und Fähren<br />

Interessante Studienreisen<br />

Mietwagen und Hotels<br />

Reisebüro kleine fluchten | Rohrteichstraße 33 | 33602 Bielefeld | fon 052<strong>1.</strong>6 61 99 | fax 052<strong>1.</strong>6 75 80 | www.kleinefluchten.de<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

REISEN soll begeistern.<br />

Wir sorgen dafür – seit 25 Jahren.<br />

Reisebüro<br />

Fallbearbeitung<br />

Besonderes<br />

bewusst erleben<br />

45


46<br />

Fallbearbeitung<br />

EXAMENSKANDIDATEN IM STRAFRECHT „Der untreue Director“ 1<br />

von Dr. Manuel Ladiges, LL.M. (Edinburgh), Dr. Nicolas Kneba (Universität Göttingen)<br />

1 * Die Klausur wurde <strong>im</strong> Examensklausurenkurs der Georg-August-Universität Göttingen gestellt. Die Probleme rund um die Strafb arkeit des director einer in Deutschland ansässigen englischen private l<strong>im</strong>ited<br />

company sind Studierenden weitgehend unbekannt, können aber mit dem notwendigen Problembewusstsein herausgearbeitet werden.<br />

Dr. Manuel Ladiges, Jahrgang 1979, hat Rechtswissenschaften in Greifswald studiert und promovierte 2006 bei Prof. Dr. Wolfgang<br />

Joecks zum Thema „Die Bekämpfung nicht-staatlicher Angreifer <strong>im</strong> Luftraum“. Von 2006 bis 2007 absolvierte er ein LL.M.-<br />

Studium in Edinburgh und von 2007 bis 2010 das Referendariat mit einer Wahlstation be<strong>im</strong> (damaligen) Vizepräsidenten des<br />

BVerfG Prof. Dr. Andreas Voßkuhle. Zurzeit ist er Akademischer Rat a.Z. und Habilitand an der Universität Göttingen.<br />

Dr. Nicolas Kneba, Jahrgang 1984, hat Rechtswissenschaften in Tübingen studiert und war von 2009 bis 2011 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. Kristian Kühl. Zurzeit ist er Rechtsreferendar am Oberlandesgericht<br />

Braunschweig und als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Uwe Murmann<br />

an der Universität in Göttingen tätig.<br />

SACHVERHALT 1<br />

A betreibt einen Handwerksbetrieb in Göttingen. Da er das persönliche<br />

Haft ungsrisiko <strong>im</strong> Fall eines wirtschaft lichen Misserfolges des<br />

Betriebes vermeiden will, gründet er unter dem Namen A-l<strong>im</strong>ited<br />

eine private l<strong>im</strong>ited company in England. Die Gesellschaft ist ordnungsgemäß<br />

in England registriert; die Geschäft stätigkeit fi ndet jedoch<br />

ausschließlich in Deutschland statt. A bestellt seinen Freund D<br />

zum director der A-l<strong>im</strong>ited, da A nur wenig von Betriebswirtschaft<br />

versteht und mit der Geschäft sführung nichts zu tun haben möchte.<br />

Als director fungiert D als Geschäft sführer und Vertreter der A-l<strong>im</strong>ited.<br />

Zu seinen Pfl ichten nach englischem Gesellschaft srecht gehört<br />

u.a. die Pfl icht, den Erfolg der Gesellschaft zu Gunsten der Gesamtheit<br />

der Gesellschaft er zu fördern. Vertragliche Regelungen über die<br />

Pfl ichten und Befugnisse des D existieren nicht. Die A-l<strong>im</strong>ited erwirtschaft<br />

et hohe Gewinne und D beschließt, einen Teil des Geldes<br />

zur Finanzierung seines luxuriösen Lebensstils abzuzweigen. Um die<br />

Entnahme des Geldes zu verschleiern, überredet D seinen Freund<br />

B, Rechnungen an die A-l<strong>im</strong>ited zu stellen, obwohl B überhaupt<br />

keine Leistungen erbracht hat. Innerhalb von mehreren Monaten<br />

schreibt B zehn Scheinrechnungen mit einer Rechnungssumme von<br />

insgesamt 30.000 €. D veranlasst jeweils nach Rechnungseingang die<br />

Überweisungen vom Firmenkonto der A-l<strong>im</strong>ited auf das Konto des<br />

B. Dieser zahlt die Beträge sodann bar an D aus.<br />

Einige Monate später verschlechtert sich die Auft ragslage der A-l<strong>im</strong>ited<br />

erheblich, so dass sie Insolvenz anmelden muss. A kontrolliert<br />

nun genauer die Buchhaltung und ihm fallen die Scheinrechnungen<br />

auf. A ärgert sich sehr über B und D, insbesondere weil A seinen<br />

Firmenwagen verloren hat und nun gezwungen ist, den öff entlichen<br />

Nahverkehr zu benutzen. A kauft sich eine personengebundene<br />

Monatskarte für die U-Bahn. Als er mit der U-Bahn zu seinem<br />

Rechtsanwalt fahren will, stellt er am Drehkreuz, das den Zugang<br />

zur U-Bahnstation sichert, fest, dass er die Karte zu Hause vergessen<br />

hat. Obwohl ihm bekannt ist, dass bei Vergessen einer gültigen Monatskarte<br />

nach den Beförderungsbedingungen ein Einzelfahrschein<br />

gelöst werden muss, springt er einfach über das Drehkreuz und nutzt<br />

die U-Bahn. Dabei geht er davon aus, wegen des Verstoßes gegen die<br />

Beförderungsbedingungen den Betreiber der U-Bahn zu schädigen<br />

und sich strafb ar zu machen.<br />

1 Die Klausur wurde <strong>im</strong> Examensklausurenkurs der Georg-August-Universität Göttingen gestellt. Die<br />

Probleme rund um die Strafb arkeit des director einer in Deutschland ansässigen englischen private<br />

l<strong>im</strong>ited company sind Studierenden weitgehend unbekannt, können aber mit dem notwendigen Problembewusstsein<br />

herausgearbeitet werden.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Wegen der Insolvenz der A-l<strong>im</strong>ited beschließt A, sich an B und D<br />

zu rächen. A entführt den 10-jährigen Sohn S des B gewaltsam und<br />

sperrt diesen in den Keller eines abgelegenen Ferienhauses. Sodann<br />

n<strong>im</strong>mt er – wie von Anfang an geplant – Kontakt mit B auf und<br />

droht, er werde S qualvoll verhungern lassen, wenn B nicht dem D<br />

zur Strafe für den „Diebstahl“ beide Hände abhackt und die Reifen<br />

des Sportwagens des D zersticht. B ist völlig verzweifelt, da er eine<br />

derart schreckliche Tat nicht begehen, aber unbedingt seinen Sohn<br />

retten will. B erkennt zutreff end, dass Hilfe von Seiten der Polizei<br />

nicht zu erwarten ist, sondern er selbst handeln muss, um die Gefahr<br />

für S abzuwehren. Daher begibt sich B zum D und vollzieht mit einem<br />

Samuraischwert die beiden Forderungen des A, wobei weder A<br />

noch B mit einem Tod des D rechnen. Als A erfährt, dass die Rache<br />

an D vollbracht ist, lässt er S frei. A war sich zwar der Lebensgefahr<br />

für S durch das Einsperren bewusst, ging jedoch davon aus, dass S<br />

nicht sterben würde, da A sicher war, dass B den Forderungen nachkommen<br />

werden würde.<br />

Wie haben sich A, B und D nach dem StGB, mit Ausnahme von<br />

§§ 239a, 239b, 261 StGB, strafb ar gemacht? Ggf. erforderliche Strafanträge<br />

sind gestellt.<br />

LÖSUNG<br />

Erster Tatkomplex: Die A-l<strong>im</strong>ited<br />

A. STRAFBARKEIT DES D<br />

I. § 266 I.V.M. § 263 III 2 NR. 1, <strong>1.</strong> ALT. STGB<br />

D könnte sich durch das Begleichen der Scheinrechnungen wegen<br />

Untreue in einem besonders schweren Fall gem. § 266 i.V.m. § 263 III<br />

2 Nr. 1, <strong>1.</strong> Alt. StGB in 10 Fällen strafb ar gemacht haben.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND 2<br />

§ 266 I StGB enthält zwei Alternativen: Den sogenannten Missbrauchs-<br />

und den Treuebruchtatbestand. 3 Zunächst ist der speziellere<br />

Missbrauchstatbestand 4 zu prüfen.<br />

2 Bearbeiterhinweis: Eine Prüfung der Anwendung des deutschen Strafrechts ist überfl üssig, da der<br />

Tatort eindeutig <strong>im</strong> Inland liegt. Falls eine solche Prüfung vorgenommen wird, so sollte sie <strong>im</strong> ersten<br />

Tatbestand erörtert werden; eine losgelöste Prüfung vor der ersten Tatbestandsprüfung sollte unterbleiben.<br />

3 Zur Untreue in der Klausurbearbeitung siehe Mitsch, JuS 2011, 97 ff .<br />

4 OLG Hamm NJW 1968, 1940.


a) Missbrauchstatbestand<br />

D hat als director die Befugnis, über fremdes Vermögen (nämlich<br />

das Vermögen der A-l<strong>im</strong>ited) zu verfügen und die A-l<strong>im</strong>ited zu verpfl<br />

ichten. Er ist damit tauglicher Täter des § 266 I, <strong>1.</strong> Alt. StGB. Auch<br />

müsste die A-l<strong>im</strong>ited als rechtsfähige Person anzusehen sein. Denn<br />

bei Nichtigkeit der Gesellschaft wäre auch die Bestellung als director<br />

nicht wirksam. Nach der Rechtsprechung des EuGH – und mittlerweile<br />

auch des BGH – ist anerkannt, dass in einem Mitgliedsstaat der<br />

EU gegründete Gesellschaft en ihre Rechtsfähigkeit nicht verlieren,<br />

wenn sie ihren tatsächlichen Sitz in einen anderen Mitgliedsstaat<br />

verlegen, selbst wenn sie ausschließlich dort geschäft lich tätig werden<br />

(sog. Gründungstheorie). 5 Ausnahmen werden gemacht, wenn<br />

die <strong>im</strong> Ausland gegründete Gesellschaft zu rechtsmissbräuchlichen<br />

Zwecken genutzt werden soll 6 . Hinweise darauf bestehen nicht, denn<br />

A will lediglich das persönliche Haft ungsrisiko min<strong>im</strong>ieren.<br />

Be<strong>im</strong> Missbrauchstatbestand muss der Täter rechtsgeschäft lich handeln<br />

7 und dabei die rechtlichen Grenzen des Dürfens (Innenverhältnis)<br />

unter Wahrung des rechtlichen Könnens (Außenverhältnis)<br />

überschreiten. 8,9 Im Allgemeinen stellen Verfügungen, wie z.B. der<br />

Ausgleich einer Rechnung durc h eine Banküberweisung, ein rechtsgeschäft<br />

liches Handeln dar. 10 Allerdings muss die Verfügung auch<br />

rechtlich wirksam sein, 11 um den Missbrauchstatbestand zu erfüllen.<br />

Grundsätzlich kann D kraft seiner Stellung als director rechtlich<br />

wirksam er das Geschäft skonto der A-l<strong>im</strong>ited verfügen. Allerdings<br />

wirkt D hier mit B kollusiv zusammen, um die A-l<strong>im</strong>ited zu schädigen,<br />

so dass die Verfügung nach zivilrechtlichen Maßstäben, § 138<br />

BGB, unwirksam ist. 12 Streitig ist, ob in Fällen der Kollusion dennoch<br />

der Missbrauchstatbestand einschlägig ist.<br />

aa) Die h.M. verneint bei einem kollusiven Zusammenwirken zwischen<br />

dem Vertreter und der anderen Person den Missbrauchstatbestand<br />

aufgrund der fehlenden rechtlichen Wirksamkeit. 13 Der Missbrauchstatbestand<br />

habe die eigenständige Funktion, den Treugeber<br />

vor den rechtlichen Gefahren einer pfl ichtwidrigen (und wirksamen)<br />

Ausübung einer rechtlichen Stellung zu schützen. Eine strafrechtsautonome<br />

Best<strong>im</strong>mung der Missbrauchsalternative würde diese<br />

Tatbestandsalternative von der Befugnisorientierung lösen und dadurch<br />

ein Delikt für die vorsätzliche Schädigung fremden Vermögens<br />

schaff en. 14 Demnach wäre der Missbrauchstatbestand wegen der<br />

Unwirksamkeit der Verfügungen nicht gegeben.<br />

bb) Dagegen argumentieren einige, auch bei Kollusion könne man<br />

vom Missbrauch der Vertretungsmacht sprechen, denn auch bei<br />

rechtlicher Unwirksamkeit des Rechtsgeschäft s habe der Täter<br />

zumindest seine Befugnis missbraucht. Zudem komme es durch<br />

den Missbrauch der Verfügungsbefugnis tatsächlich zu einem<br />

5 EuGH NJW 2002, 3614 (Überseering); NJW 2003, 3331 (Inspire Art); BGHZ 154, 185; 164, 14<strong>8.</strong><br />

6 EuGH NJW 2003, 3331, 3334 (Inspire Art.)<br />

7 Seier/ Martin, JuS 2001, 874, 87<strong>5.</strong><br />

8 BGHSt 5, 61, 63; BGH wistra 1988, 191; Fischer, Kommentar zum StGB, 5<strong>9.</strong> Aufl . <strong>2012</strong>, § 266 Rn. <strong>9.</strong><br />

9 Vgl. BGH wistra 1993, 225, 226; OLG Hamm wistra 1999, 350, 35<strong>3.</strong><br />

10 BGHSt 50, 299 (313); BGH NStZ 2007, 579, 580; Saliger, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, Kommentar<br />

zum StGB, <strong>1.</strong> Aufl . 2009, § 266 Rn. 21 m.w.N.<br />

11 Vgl. zur Nichtigkeit bei Kollusion Ellenberger, in: Palandt, Kommentar zum BGB, 7<strong>1.</strong> Aufl . <strong>2012</strong>,<br />

§ 164 Rn. 1<strong>3.</strong><br />

12 BGHSt 50, 299 (313 f.); Kindhäuser, in: Nomos Kommentar zum StGB, <strong>3.</strong> Aufl . 2010, § 266 Rn. 90;<br />

Perron, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 2<strong>8.</strong> Aufl . 2010, § 266 Rn. 17; Saliger (Fn. 9), §<br />

266 Rn. 21 m.w.N.; Dierlamm, in: Münchener Kommentar zum StGB, <strong>1.</strong> Aufl . 2006, § 266 Rn. 119 ff .;<br />

Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 2<strong>7.</strong><br />

13 Saliger (Fn. 9), § 266 Rn. 2<strong>1.</strong><br />

14 Arzt, in: Festschrift für Hans-Jürgen Bruns zum 70. Geburtstag, 1978, S. 365, 372 f.; ebenso Geff ers,<br />

Die Bedeutung des § 134 BGB für die Tathandlungen der Vermögensdelikte <strong>im</strong> Strafgesetzbuch, 2004,<br />

S. 8<strong>8.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Fallbearbeitung<br />

Schadenseintritt, auch wenn die Verfügung unwirksam sein sollte. 15<br />

Die h.M. sei widersinnig, indem sie gerade den besonders groben<br />

Missbrauch durch Kollusion nicht unter den Missbrauchstatbestand<br />

subsumiere, und dadurch u.U. Strafb arkeitslücken verursache. 16<br />

Denkbar ist es auch zu argumentieren, dass das Wirksamkeitserfordernis<br />

ohnehin absurd ist, da ein Rechtsgeschäft , das eine strafb are<br />

Untreue begründet, ohnehin zivilrechtlich nichtig ist. 17 Demnach<br />

würde die Kollusion den Missbrauchstatbestand nicht ausschließen.<br />

cc) Für die h.M. spricht vor allem, dass bei einer rechtlichen Unwirksamkeit<br />

mangels rechtlicher Bindung kein Missbrauch der<br />

Vertretungsmacht, 18 sondern lediglich ein treuwidriges Verhalten<br />

vorliegt.<br />

Bearbeiterhinweis: Der Streit musste nicht in dieser Ausführlichkeit<br />

dargestellt werden. Wer den Missbrauchstatbestand weiter prüft ,<br />

muss kurz auf den Streit um das Erfordernis einer Vermögensbetreuungspfl<br />

icht eingehen. Auf einen Streitentscheid kommt es jedoch<br />

nicht an, da nach den einschlägigen gesellschaft srechtlichen Regelungen<br />

D als director verpfl ichtet war, die Vermögensinteressen der<br />

A-l<strong>im</strong>ited zu betreuen.<br />

b) Treubruchtatbestand<br />

Das kollusive Zusammenwirken zwischen D und B könnte aber den<br />

Treubruchtatbestand erfüllen 19 . Dazu müsste D zunächst eine Vermögensbetreuungspfl<br />

icht gegenüber der A-l<strong>im</strong>ited gehabt haben.<br />

Gem. § 266 I StGB kann die Betreuungspfl icht durch Gesetz, behördlichen<br />

Auft rag oder Rechtsgeschäft eingeräumt werden. Eine Vermögensbetreuungspfl<br />

icht liegt vor, wenn fremde Vermögensinteressen<br />

von einiger Bedeutung eigenverantwortlich wahrgenommen werden<br />

sollen, dies <strong>im</strong> Interesse des Geschäft sherrn geschieht 20 und den wesentlichen<br />

Inhalt des Vertragsverhältnisses ausmacht. 21 Da vertragliche<br />

Vereinbarungen zwischen A und D er die Befugnisse des D nicht<br />

existieren, kommt allein eine Pfl icht kraft Gesetzes in Betracht.<br />

Problematisch ist dabei, dass ein Rückgriff auf das deutsche Gesellschaft<br />

srecht nicht zulässig ist, da nach der Gründungstheorie das Gesellschaft<br />

srecht des Gründungsortes (also hier England) anwendbar<br />

ist. 22 Dadurch hängt die Strafb arkeit des D wegen Untreue maßgeblich<br />

von einem Rückgriff auf englisches Gesellschaft srecht ab.<br />

aa) In der Literatur werden gegen einen solchen Rückgriff Bedenken<br />

erhoben: Es widerspreche dem Best<strong>im</strong>mtheitsgebot und dem<br />

Parlamentsvorbehalt, wenn sich eine Strafb arkeit gem. § 266 I StGB<br />

erst durch die Heranziehung ausländischen Rechts ergeben würde.<br />

Insbesondere sei ein Rückgriff auf ausländisches Gesellschaft srecht<br />

unzulässig, wenn es keine vergleichbaren Regelungen <strong>im</strong> deutschen<br />

Recht gebe. Eine „Lückenfüllung“ durch ausländisches Recht verstoße<br />

gegen Art. 103 II GG. 23<br />

15 Arzt (Fn. 13), S. 365, 374 f.; ähnlich auch Schünemann, in: Leipziger Kommentar zum StGB, Band 7,<br />

1<strong>1.</strong> Aufl . 2005, § 266 Rn. 32 ff ., der den Missbrauchstatbestand auf jedes rechtsgeschäft liche Handeln –<br />

unabhängig ob es wirksam oder unwirksam ist – anwendet.<br />

16 Vgl. Geff ers (Fn. 13), S. 81 f.<br />

17 BGH bei Holtz, MDR 1983, 92; Lampe, GA 1987, 241, 24<strong>7.</strong><br />

18 Vgl. BGHSt 50, 299 (314); Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 27; Lampe, GA 1987, 242, 24<strong>8.</strong><br />

19 Vgl. BGHSt 50, 299; 314; Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 27; Lampe, GA 1987, 242, 24<strong>8.</strong><br />

20 BGHSt 24,386, 38<strong>7.</strong><br />

21 BGHSt 33, 244, 250.<br />

22 Rönnau, ZGR 2005, 832, 840; Schlösser, wistra 2006, 81, 88; Mosiek, StV 2008, 94, 98; a.A. etwa<br />

Hinderer, Insolvenzstrafrecht und EU-Niederlassungsfreiheit, 2010, S. 155 f.<br />

23 BGH NStZ 2010, 632, 634.<br />

47


48<br />

Fallbearbeitung<br />

bb) Der BGH ist dieser Auff assung nicht gefolgt, sondern hat entschieden,<br />

dass sich aus dem Untreuetatbestand „noch vollständige<br />

abstrakt-generelle Verhaltensnormen“ ableiten ließen. 24 Über das<br />

normative Tatbestandsmerkmal der Pfl ichtwidrigkeit werde die<br />

Möglichkeit einer einfachgesetzlichen oder sogar privatautonomen<br />

Konkretisierung ermöglicht. Die konkretisierenden Regelungen (wie<br />

hier das englische Gesellschaft srecht) würden daher nicht über den<br />

tatbestandlichen Erfolg und die Tathandlung entscheiden, sondern<br />

lediglich die Grundlage für eine untreuespezifi sche Präzisierung<br />

schaff en. Somit bestünden keine Bedenken vor dem Hintergrund<br />

des Best<strong>im</strong>mtheitsgebots, denn Bedeutung und Tragweite der hinreichend<br />

best<strong>im</strong>mten Strafvorschrift blieben durch diesen zur Pfl ichtenbest<strong>im</strong>mung<br />

heranzuziehenden Maßstab unberührt. 25<br />

cc) Es sprechen gewichtige Argumente für die Ansicht des BGH: Für<br />

die Fragen der Best<strong>im</strong>mtheit von ausländischen Regelungen ist zu<br />

beachten, dass es jedem freisteht, eine ausländische Gesellschaft zu<br />

gründen und sich damit den jeweiligen ausländischen gesellschaft srechtlichen<br />

Vorschrift en zu unterwerfen. 26 Zudem sind die Pfl ichten<br />

eines director durch den Companies Act 2006 kodifi ziert worden 27<br />

und daher für jedermann nachvollziehbar. Im Übrigen ist ein Rückgriff<br />

auf ausländische Rechtsvorschrift en zur Best<strong>im</strong>mung von Tatbestandsmerkmalen<br />

dem deutschen Strafrecht nicht fremd. So kann<br />

es etwa erforderlich sein, die Fremdheit einer Sache nach ausländischem<br />

Recht zu best<strong>im</strong>men, da es insoweit auf die Rechtsordnung<br />

ankommt, in der sich die Sache befi ndet. 28<br />

Folgt man dem BGH, hat D durch Bezahlung der Scheinrechnungen<br />

treuwidrig gehandelt, da keine Verpfl ichtung der A-l<strong>im</strong>ited bestand,<br />

die Rechnungen zu bezahlen.<br />

Es liegt auch ein Vermögensschaden in Höhe von 30.000 € vor und<br />

D handelte vorsätzlich.<br />

<strong>2.</strong> RECHTSWIDRIGKEIT UND SCHULD<br />

D handelte auch rechtswidrig und schuldhaft .<br />

<strong>3.</strong> BESONDERS SCHWERER FALL GEM. § 266 II I.V.M. § 263 III 2 NR.<br />

1, <strong>1.</strong> ALT. STGB<br />

D handelte grundsätzlich gewerbsmäßig, da er wiederholt über einen<br />

Zeitraum von mehreren Monaten handelte und durch das Begleichen<br />

der Scheinrechnungen seinen Lebensunterhalt mitfi nanzieren<br />

wollte.<br />

Allerdings wird der Verweis auf § 263 III 2 Nr. 1, <strong>1.</strong> Alt. StGB in der<br />

Literatur teilweise als nichtig angesehen 29 oder nur eine beschränkte<br />

Anwendung für zulässig erachtet. 30 Es wird argumentiert, eine gewerbsmäßige<br />

Begehung dürfe keinen besonders schweren Fall der<br />

Untrue nach § 266 II i.V.m. § 263 III 2 Nr. 1 StGB dürfe keinen besonders<br />

schweren Fall der Untreue begründen, denn typischerweise<br />

werde die für die Untreue maßgebliche Treuepfl icht aus<br />

24 BGH NStZ 2010, 632, 634; zust<strong>im</strong>mend Beckemper, ZJS 2010, 554 ff .; Mankowski/Bock, GmbHR<br />

2010, 822 f.; Schramm/Hinderer, ZIS 2010, 494, 497 ff .<br />

25 Ransiek/Hüls, ZGR 2009, 157, 178; Radtke, GmbHR 2008, 729, 734 f..<br />

26 Siehe dazu <strong>im</strong> Einzelnen Ladiges/Pegel, DStR 2007, 2069, 2070 ff .; Steff ek, GmbHR 2007, 810 ff .<br />

27 BGH NStZ 2010, 632, 634; Mankowski/Bock, ZStW 120 (2008), 704, 744 f..<br />

28 Schünemann (Fn. 14), § 266 Rn. 17<strong>7.</strong><br />

29 Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 189; Perron (Fn. 11), § 266 Rn. 53; Wessels/Hillenkamp, Strafrecht Besonderer<br />

Teil, II, 34. Aufl . <strong>2012</strong>, Rn. 786.<br />

30 Dierlamm (Fn. 11), § 266 Rn. 258; Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 18<strong>9.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

einer gewerbsmäßigen Pfl ichtenstellung hergeleitet. 31 Anderenfalls<br />

werde gegen das Doppelverwertungsverbot gem. § 46 III StGB verstoßen.<br />

Nach dem BGH steht es dem Gesetzgeber dagegen grundsätzlich<br />

frei, besondere persönliche Merkmale sowohl zur Strafb egründung<br />

als auch zur Strafschärfung heranzuziehen. 32 Hinsichtlich der Gewerbsmäßigkeit<br />

ist zu beachten, dass die Tatsache, dass der Täter des<br />

Missbrauchstatbestands häufi g ein Gewerbe ausübt oder führt, zu<br />

trennen ist von der Absicht des Täters, sich durch einen wiederholten<br />

Missbrauch seiner Befugnisse eine nicht nur vorübergehende Einnahmequelle<br />

zu verschaff en. Im Ergebnis ist ein besonders schwerer<br />

Fall gem. § 266 II i.V.m.§ 263 III 2 Nr. 1, <strong>1.</strong> Alt StGB zu bejahen.<br />

4. ERGEBNIS<br />

D hat sich durch das Begleichen der Scheinrechnungen der Untreue<br />

<strong>im</strong> besonders schweren Fall gem. § 266 I, II i.V.m. § 263 III 2 Nr. 1, <strong>1.</strong><br />

Alt. StGB in 10 Fällen in Tatmehrheit, § 53 StGB, strafb ar gemacht.<br />

B. STRAFBARKEIT DES B<br />

II. §§ 266 I, 25 II STGB<br />

Obwohl B einen gewichtigen Tatbeitrag leistete, ist er nicht Mittäter<br />

der Untreue, denn § 266 I StGB ist ein Sonderdelikt. 33 Nur derjenige,<br />

der selbst eine entsprechende Pfl ichtenstellung hat, kann Täter sein.<br />

B hat jedoch keinerlei Pfl ichten gegenüber der A-l<strong>im</strong>ited.<br />

III. §§ 266 I, 27 I STGB<br />

Durch das Erstellen der Scheinrechnungen und die Zurverfügungstellung<br />

des Kontos hat B in 10 Fällen vorsätzlich zur jeweiligen Untreuetat<br />

des D Hilfe geleistet gem. § 27 I StGB. Eine Beihilfe zum<br />

besonders schweren Fall der Untreue kommt allerdings nicht in<br />

Betracht, denn hinsichtlich der Gewerbsmäßigkeit, die ein besonderes<br />

persönliches Merkmal ist, 34 wird § 28 II StGB entsprechend angewandt,<br />

so dass B selbst gewerbsmäßig handeln müsste. Dafür ist<br />

jedoch nichts ersichtlich, da B keine fi nanziellen Vorteile erlangte.<br />

Fraglich ist, ob die Strafe gem. §§ 27 II, 28 I i.V.m. § 49 I StGB doppelt<br />

gemildert wird. Dies ist nicht der Fall, wenn der Teilnehmer nur<br />

aufgrund des Fehlens eines besonderen persönlichen Merkmals i.S.d.<br />

§ 28 I StGB, also hier aufgrund der fehlenden Vermögensbetreuungspfl<br />

icht, als Mittäter ausscheidet, obwohl er eigentlich einen täterschaft<br />

lichen Beitrag geleistet hat. 35 Hier dürft e der Beitrag des B als<br />

mittäterschaft lich einzustufen sein, wenn man das Fehlen der Vermögensbetreuungspfl<br />

icht ausblendet. 36 Zwar erhält er kein Geld für<br />

seine Tätigkeit, sodass er allenfalls ein geringes eigenes Tatinteresse<br />

hat. Jedoch hat er durch das Ausstellen der Rechnungen sowie durch<br />

das Auszahlen des Geldes von seinem Konto an D das Geschehen mit<br />

in den Händen. Ihm kommt daher Tatherrschaft zu. Somit entfällt<br />

eine Mittäterschaft allein aufgrund der fehlenden Vermögensbetreuungspfl<br />

icht. Die Strafe des B ist daher nur einmal nach § 27 II i.V.m.<br />

§ 49 I StGB zu mildern.<br />

31 BGH NStZ 2000, 59<strong>2.</strong><br />

32 Vgl. Lackner/Kühl, Kommentar zum StGB, 2<strong>7.</strong> Aufl . 2011, § 266 Rn. <strong>2.</strong><br />

33 Vgl. BGH NStZ 2009, 95; Fischer (Fn. 7), § 28 Rn. 6.<br />

34 BGHSt 26, 53; Fischer (Fn. 7), § 266 Rn. 186.<br />

35 Zur Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme bei Allgemeindelikten siehe Kühl, Strafrecht Allgemeiner<br />

Teil, 6. Aufl . 2008, § 20 Rn. 17 ff .<br />

36 Joecks, Studienkommentar zum StGB, <strong>9.</strong> Aufl . 2010, § 267 Rn. 56.


IV. § 263 I STGB<br />

B hat sich nicht wegen Betrugs durch das Erstellen der Scheinrechnungen<br />

strafb ar gemacht. Den Rechnungen lag zwar keine Leistungserbringung<br />

zugrunde, allerdings fehlt es an der Täuschung,<br />

denn die Rechnungen konnten be<strong>im</strong> eingeweihten D keinen Irrtum<br />

hervorrufen. Es ging zwar um eine Verschleierung der Entnahme des<br />

Geldes, gleichwohl genügt es nicht, dass A allgemein getäuscht werden<br />

sollte, denn Täuschung und Irrtum müssen be<strong>im</strong> Verfügenden,<br />

also bei D, vorliegen.<br />

V. § 267 I STGB<br />

Möglicherweise hat sich B aber durch das Erstellen der Scheinrechnungen<br />

wegen Urkundenfälschung strafb ar gemacht. Die Rechnungen<br />

sind Urkunden gem. § 267 I StGB, da sie eine menschliche<br />

verkörperte Willenserklärung darstellen, die zum Beweis <strong>im</strong> Rechtsverkehr<br />

geeignet und best<strong>im</strong>mt sind, und ihren Aussteller erkennen<br />

lassen. Die Rechnung ist jedoch nicht unecht, denn sie stammt von<br />

B, der als Aussteller der Urkunde erkenntlich ist. § 267 I StGB schützt<br />

nicht vor „schrift lichen Lügen“, 37 also Schrift stücken, deren Inhalt<br />

zwar unwahr ist, aber die vom angegebenen Aussteller herrühren.<br />

Somit hat sich B nicht wegen Urkundenfälschung gem. § 267 I StGB<br />

strafb ar gemacht.<br />

VI. § 257 I STGB<br />

Eine Strafb arkeit wegen Begünstigung gem. § 257 I StGB durch das<br />

Auszahlen des Geldes an D scheidet ebenfalls aus. B hat D durch das<br />

Auszahlen des Geldes zwar geholfen, die Vorteile aus den Untreuehandlungen<br />

zu sichern. Allerdings ist B selbst wegen Beteiligung an<br />

der Vortat strafb ar, so dass er gem. § 257 III 1 StGB nicht wegen Begünstigung<br />

bestraft wird.<br />

Bearbeiterhinweis: Betrug, Urkundenfälschung und Begünstigung<br />

sollten <strong>im</strong> ersten Tatkomplex allenfalls kurz geprüft werden. Falsch<br />

wäre es, ausführlicher Diebstahl, Unterschlagung sowie Hehlerei<br />

hinsichtlich der Überweisungen bzw. des abgehobenen Geldes zu<br />

prüfen. Eigentumsdelikte scheitern bereits auf den ersten Blick am<br />

fehlenden Tatobjekt, da ein Bankguthaben keine Sache ist, sondern<br />

eine Forderung.<br />

ZWEITER TATKOMPLEX: DIE U-BAHNFAHRT<br />

A. STRAFBARKEIT DES A<br />

I. § 265A I, <strong>3.</strong> VAR. STGB<br />

A könnte sich durch die U-Bahnfahrt wegen Beförderungserschleichung<br />

gem. § 265a I, <strong>3.</strong> Var. StGB strafb ar gemacht haben.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND<br />

A hat zweifelsfrei durch die U-Bahnfahrt die Beförderung durch<br />

ein Verkehrsmittel in Anspruch genommen. Dadurch, dass er einen<br />

Kontrollmechanismus, nämlich das Drehkreuz, umging, hat er sich<br />

die Leistung auch erschlichen. 38 Das Erschleichen muss sich auf eine<br />

entgeltliche Leistung beziehen. Dies setzt der Tatbestand zwar nicht<br />

explizit voraus. Hierfür spricht aber die dort verlangte Absicht, das<br />

Entgelt nicht zu entrichten und dass § 265a StGB das Vermögen des<br />

37 Da ein Kontrollmechanismus umgangen wird, kommt es auf den Streit, ob schlichtes Schwarzfahren<br />

ein Erschleichen darstellt, off ensichtlich nicht an.<br />

38 Fischer (Fn. 7), § 265a Rn. 8, 2, 2<strong>7.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Fallbearbeitung<br />

Leistungserbringers schützt. 39 Da A hier eine gültige Monatskarte<br />

und damit das Entgelt für den Zeitraum entrichtet hatte, erlangt er<br />

keine entgeltliche Leistung. 40 Dass er entgegen der Beförderungsbedingungen<br />

keinen Einzelfahrschein löste, führt zu keinem anderen<br />

Ergebnis, da diese lediglich der Beweiserleichterung dienen. 41<br />

<strong>2.</strong> ERGEBNIS<br />

A hat sich durch die U-Bahnfahrt zum Rechtsanwalt nicht wegen<br />

Beförderungserschleichung gem. § 265a I, <strong>3.</strong> Var. StGB strafb ar gemacht.<br />

II. §§ 265A I, <strong>3.</strong> VAR., II, 22, 23 I STGB<br />

A könnte sich durch die U-Bahnfahrt zum Rechtsanwalt wegen versuchter<br />

Beförderungserschleichung gem. §§ 265a I, <strong>3.</strong> Var., II, 22, 23<br />

I StGB strafb ar gemacht haben. Die Tat ist nicht vollendet. Der Versuch<br />

ist strafb ar gem. § 265a II StGB.<br />

<strong>1.</strong> TATENTSCHLUSS<br />

Fraglich ist, ob A den Tatentschluss zur Erschleichung der Beförderungsleistung<br />

gefasst hatte. Immerhin ging er davon aus, dass er sich<br />

durch den Nichterwerb einer Einzelfahrkarte strafb ar machen würde.<br />

Hier könnte jedoch ein Wahndelikt vorliegen. Dazu müsste A die<br />

maßgeblichen tatsächlichen Umstände kennen und diese lediglich<br />

falsch subsumieren. 42 A irrte nicht über Tatsachen, sondern darüber,<br />

dass eine strafb are Handlung auch vorliege, wenn er entgegen den<br />

Beförderungsbedingungen keinen Einzelfahrschein löst. As Irrtum<br />

bezog sich also nicht auf Tatsachen, sondern auf die rechtliche Wertung,<br />

dass ein bloßer Verstoß gegen die Beföderungsbedingungen<br />

eine Strafb arkeit begründen kann. Es liegt ein als strafl oses Wahndelikt<br />

einzustufender umgekehrter Verbotsirrtum vor. 43<br />

Bearbeiterhinweis: Eine andere Ansicht ist hier vertretbar, wenn<br />

man argumentiert, es liege ein rechtlicher Vorfeldirrtum vor, und<br />

zum Ergebnis kommt, dass ein solcher Irrtum einen untauglichen<br />

Versuch begründe, weil der Täter das strafrechtliche Tatbestandsmerkmal<br />

richtig erfasse. 44 Immerhin geht A fälschlicherweise davon<br />

aus, er verursache wegen des Verstoßes gegen die Beförderungsbedingungen<br />

einen Vermögensschaden und nutze die U-Bahn unentgeltlich.<br />

<strong>2.</strong> ERGEBNIS<br />

A hat sich durch die U-Bahnfahrt nicht wegen versuchter Beförderungserschleichung<br />

gem. §§ 265a I, <strong>3.</strong> Var., II, 22, 23 I StGB strafb ar<br />

gemacht.<br />

39 Nach Lackner/Kühl (Fn. 32), § 265a Rn. 7 entfällt erst die Absicht, das Entgelt nicht zu entrichten.<br />

40 BayObLG NJW 1986, 1504; OLG Koblenz NJW 2000, 86, 87; Bearbeiterhinweis: Etwas anderes<br />

könnte gelten, wenn es sich um eine übertragbare Zeitkarte handelt, da dann stets die Gefahr einer<br />

anderweitigen Nutzung der Karte besteht, vgl. dazu Kudlich, NStZ 2001, 90 ff ., der jedoch auch in einem<br />

solchen Fall eine Strafb arkeit ablehnt.<br />

41 Siehe zur Abgrenzung zwischen Wahndelikt und untauglichem Versuch Murmann, Grundkurs<br />

Strafrecht, <strong>1.</strong> Aufl . 2011, § 28 Rn. 45 ff .; Schmitz, Jura 2003, 593 ff .<br />

42 Vgl. BayObLG NJW 1986, 1504 (1505); OLG Koblenz NJW 2000, 86, 87; Fischer (Fn. 7), § 265a Rn.<br />

26.<br />

43 Herzberg, JuS 1980, 469 ff .; diff erenzierend aber nun ders., Gedächtnisschrift für Ellen Schlüchter,<br />

2002, S. 189 ff .; dagegen etwa Eser, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 2<strong>8.</strong> Aufl . 2010, § 22<br />

Rn. 89 m.w.N.<br />

44 Fischer (Fn. 7), § 123 Rn. <strong>8.</strong><br />

49


50<br />

Fallbearbeitung<br />

III. § 123 I STGB<br />

A könnte sich durch das Betreten der U-Bahnstation wegen Hausfriedensbruchs<br />

gem. § 123 I StGB strafb ar gemacht.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND<br />

A müsste in befriedetes Besitztum eingedrungen sein. Befriedetes<br />

Besitztum ist ein abgegrenzter, einer berechtigten Person zugeordneter,<br />

räumlicher Bereich. 45 Hier war die U-Bahnstation durch ein<br />

Drehkreuz gesichert, sodass ein befriedetes Besitztum vorliegt.<br />

Eindringen ist das Betreten des geschützten Raums gegen den Willen<br />

des Berechtigten. 46 Durch das Überwinden des Drehkreuzes hat sich<br />

A zur U-Bahnstation Zutritt verschafft . Fraglich ist, ob dies auch gegen<br />

den Willen des U-Bahn-Unternehmens geschah. Einerseits hat<br />

das Unternehmen ein Interesse daran, dass Fahrgäste ordnungsgemäß<br />

das Drehkreuz passieren, andererseits ist A tatsächlich Inhaber<br />

einer Monatskarte, sodass er als Karteninhaber die Erlaubnis hatte,<br />

die U-Bahnstation zu betreten. Letzteres spricht gegen ein Eindringen,<br />

sodass demnach kein Hausfriedensbruch vorliegt.<br />

Bearbeiterhinweis: Es lässt sich allerdings auch vertreten, dass die<br />

Erlaubnis zum Betreten unter der Bedingung stand, dass die Karte<br />

tatsächlich mitgeführt wird, 47 sodass dann § 123 I StGB nicht erfüllt<br />

wäre.<br />

<strong>2.</strong> ERGEBNIS<br />

A hat sich durch das Betreten der U-Bahnstation nicht wegen Hausfriedensbruchs<br />

gem. § 123 I StGB strafb ar gemacht.<br />

DRITTER TATKOMPLEX: ENTFÜHRUNG DES S<br />

STRAFBARKEIT DES A<br />

I. § 234 I STGB<br />

A könnte sich durch das Entführen des S wegen Menschenraubs<br />

nach § 234 I StGB strafb ar gemacht haben.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND<br />

A hat sich des S durch Gewalt bemächtigt, da er durch das Einsperren<br />

eine physische Herrschaft über S erlangte. Auch liegt Vorsatz<br />

hinsichtlich der Tathandlung vor. Zusätzlich müsste A in der Absicht<br />

handeln, das Opfer in hilfl oser Lage auszusetzen (vgl. § 221 I Nr. 1<br />

StGB), es also in eine Lage bringen, in der es zur Selbsthilfe unfähig,<br />

auf fremde Hilfe angewiesen und konkret an Leib oder Leben gefährdet<br />

ist. A ging es darum, durch das Einsperren <strong>im</strong> Keller eine Lebensgefahr<br />

für den S zu begründen. Die Tatsache, dass dieser Erfolg<br />

lediglich ein Zwischenziel des A darstellte, um sodann B zu nötigen,<br />

ist für den Absichtsbegriff unbeachtlich. 48 Somit ist die erforderliche<br />

Absicht gegeben.<br />

45 Lackner/Kühl (Fn. 32), § 123 Rn. 5; Ostendorf, in: Nomos Kommentar zum StGB, <strong>3.</strong> Aufl . 2010, § 123<br />

Rn. 2<strong>9.</strong><br />

46 Vgl. Lenckner/Sternberg-Lieben, in: Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB, 2<strong>8.</strong> Aufl . 2010, § 123<br />

Rn. 2<strong>3.</strong><br />

47 Vgl. Fischer (Fn. 7), § 15 Rn. 6.<br />

48 Fischer (Fn. 7), § 235 Rn. 10.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

<strong>2.</strong> RECHTSWIDRIGKEIT UND SCHULD<br />

A handelte auch rechtswidrig und schuldhaft .<br />

<strong>3.</strong> ERGEBNIS<br />

A hat sich wegen Menschenraubs gem. § 234 I StGB strafb ar gemacht.<br />

Die tateinheitlich (§ 52 StGB) verwirklichten Tatbestände der<br />

Freiheitsberaubung gem. § 239 I StGB und Nötigung gem. § 240 I<br />

StGB treten dahinter zurück.<br />

II. § 235 I NR. 2, IV NR. 1 STGB<br />

Der 10-jährige S ist taugliches Tatobjekt des § 235 I Nr. 2 StGB und A<br />

hat ihn durch die Entführung seinen Eltern entzogen, da er S diesen<br />

durch räumliche Trennung von einer gewissen Dauer weggenommen<br />

hat. Der Anwendung der in § 235 I Nr. 1 StGB genannten Tatmittel<br />

bedurft e es nicht. 49 Auch die für die Qualifi kation des § 235 IV Nr. 1<br />

StGB erforderliche Lebensgefahr für S ist laut Sachverhalt gegeben.<br />

A hat sich daher wegen Entziehung Minderjähriger gem. § 235 I Nr.<br />

2, IV Nr. 1 StGB strafb ar gemacht. Die Tat steht in Idealkonkurrenz<br />

zu § 234 I StGB .50<br />

III. § 221 NR. 1 STGB<br />

A hat S durch das Einsperren <strong>im</strong> Ferienhaus in eine hilfl ose Lage<br />

versetzt. Laut Sachverhalt bestand eine Lebensgefahr für S. A hat sich<br />

somit auch der Aussetzung gem. § 221 Nr. 1 StGB strafb ar gemacht.<br />

Die Tat steht in Idealkonkurrenz zum Menschenraub gem. § 234 I<br />

StGB, da § 221 I Nr. 1 StGB einen Aussetzungserfolg voraussetzt und<br />

nicht nur wie § 234 StGB die darauf zielende Absicht. 51<br />

VIERTER TATKOMPLEX: RACHE AN D<br />

A. STRAFBARKEIT DES B<br />

I. §§ 223 I, 224 I NR. 2 UND 5, 226 I NR. 2, 3, II STGB52 B könnte sich durch das Abhacken der Hände wegen schwerer Körperverletzung<br />

gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und 5, 226 I Nr. 2, 3 StGB 53<br />

strafb ar gemacht haben.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND<br />

Der objektive Tatbestand des § 223 I StGB ist erfüllt. Auch ist das<br />

Samuraischwert eine Waff e gem. § 224 I Nr. 2 StGB, da es best<strong>im</strong>mungsgemäß<br />

zur Tötung bzw. Verletzung von Menschen dient. Fraglich<br />

ist, ob B auch den Tatbestand des § 224 I Nr. 5 StGB erfüllt hat.<br />

Es ist umstritten, ob hierfür eine konkrete Lebensgefährdung eingetreten<br />

sein muss 54 oder ob es ausreicht, dass die Körperverletzung abstrakt<br />

geeignet ist, das Leben des Opfers zu gefährden. 55 Hier braucht<br />

der Streit jedoch nicht entschieden zu werden, da das Abhacken beider<br />

Hände angesichts der damit verbundenen Gefahr des Verblutens<br />

49 Vgl. Fischer (Fn. 7), § 235 Rn. 2<strong>2.</strong><br />

50 Vgl. Wieck-Noodt, in: Münchener Kommentar zum StGB, <strong>1.</strong> Aufl . 2003, § 234 Rn. 66.<br />

51 Bearbeiterhinweis: Tötungsdelikte mussten hier nicht geprüft werden, da dem B ersichtlich Tötungsvorsatz<br />

fehlte. Trotz des Problemschwerpunktes bei der Rechtfertigung und Entschuldigung wird nicht<br />

nur der Grundtatbestand des 223 I StGB geprüft , da §§ 224, 226 StGB bei der folgenden Prüfung der<br />

Strafb arkeit des A eine Rolle spielen.<br />

52 Zum Verhältnis von § 224 StGB zu § 226 StGB siehe BGHSt 53, 23; Lackner/Kühl (Fn. 31), § 224 Rn.<br />

12; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 16.<br />

53 Zum Verhältnis von § 224 StGB zu § 226 StGB siehe BGHSt 53, 23; Lackner/Kühl (FN. 32), § 224 Rn.<br />

12; Fischer (Fn. 7), § 224 Rn. 16.<br />

54 BGH NStZ 2004, 618; NStZ 2007, 33<strong>9.</strong><br />

55 BGH NJW 1991, 990.


zu einer konkreten Lebensgefahr führt. Zudem ist die schwere Folge<br />

des § 226 I Nr. 2 StGB erfüllt, da der Verlust der Hände das Verlieren<br />

wichtiger Glieder des Körpers darstellt. 56 Auch ist der D durch<br />

das Abhacken der Hände in erheblicher Weise dauernd entstellt i.S.v.<br />

§ 226 I Nr. 3 StGB, weil eine ins Gewicht fallende, die Proportionen<br />

verzerrende Verunstaltung vorliegt.<br />

B handelte auch vorsätzlich hinsichtlich der Tatumstände des § 223<br />

I StGB und des § 224 I Nr. 2 StGB. Ebenfalls hatte B Vorsatz hinsichtlich<br />

der Variante des § 224 I Nr. 5 StGB, da hierfür ausreicht,<br />

dass der Täter Kenntnis von den konkreten Umständen aus denen<br />

sich die Lebensgefährdung ergibt, hat, ohne dass er sein Verhalten<br />

für lebensgefährlich halten muss. 57 Der Umstand, dass B tatsächlich<br />

keinen Täuschungsvorsatz hatte, schließt daher den Vorsatz hinsichtlich<br />

der Qualifi kation des § 224 I Nr. 5 StGB nicht aus.<br />

Auch verursachte B die schweren Folgen nach § 226 I Nr. 2, 3 StGB<br />

absichtlich gem. § 226 II StGB, da es ihm gerade darum ging, durch<br />

die Verletzung eine Forderung des A zu erfüllen.<br />

<strong>2.</strong> RECHTSWIDRIGKEIT<br />

B könnte jedoch durch rechtfertigenden Notstand gem. § 34 StGB<br />

gerechtfertigt sein.<br />

a) Eine gegenwärtige Lebensgefahr liegt vor, denn es bestand die<br />

Wahrscheinlichkeit, dass S sterben würde, wenn B nicht die Forderung<br />

des A erfüllen würde.<br />

b) Auch müsste eine Notstandshandlung vorliegen. Das Abhacken<br />

der Hände war geeignet und das mildeste Mittel zur Gefahrabwendung,<br />

denn da polizeiliche Hilfe nicht zu erlangen war, musste B dem<br />

Willen des A nachkommen, um die Rettung des S ermöglichen, um<br />

S zu retten.<br />

c) Die Notstandshandlung müsste aber auch verhältnismäßig sein.<br />

Nach einer Gesamtwürdigung aller Umstände muss das beeinträchtigte<br />

Interesse wesentlich überwiegen, d.h. nach objektiven Maßstäben<br />

muss sich ein deutliches Übergewicht des vom Täter verfolgten<br />

Interesses ergeben. 58 Dabei muss tatsächlich in quantitativer Hinsicht<br />

ein wesentliches Übergewicht vorliegen, 59 es ist nicht ausreichend,<br />

dass ein Überwiegen eindeutig feststeht. 60<br />

Gem. § 34 S. 1 StGB sind namentlich die betroff enen Rechtsgüter<br />

und der Grad der ihnen drohenden Gefahren bei der Abwägung zu<br />

berücksichtigen. In der Regel wird der Schutz des Lebens eine Verletzung<br />

der körperlichen Unversehrtheit überwiegen, 61 jedoch ist der<br />

Rang der betroff enen Güter nicht alleiniger Gesichtspunkt der Interessenabwägung.<br />

Wenn sich die Notstandshandlung gegen jemanden<br />

richtet, der für die Gefahr nicht verantwortlich ist, liegt ein überwiegendes<br />

Interesse nur vor, wenn das gerettete Gut unverhältnismäßig<br />

mehr Schutz verdient. 62 Daraus folgt, dass bei der Verletzung der<br />

Gesundheit eines Dritten trotz der Rettung eines Menschenlebens<br />

kein wesentliches Überwiegen vorliegt. 63 Ein Vorrang des Lebens des<br />

S lässt sich auch nicht erzeugend mit der Erwägung begründen, das<br />

56 BGHSt 19, 352; NStZ 2004, 618; a.A. Lackner/Kühl (Fn. 32), § 224 Rn. <strong>9.</strong><br />

57 Fischer (Fn. 7), § 34 Rn. 1<strong>2.</strong><br />

58 Hoyer, in: Festschrift für Wilfried Küper zum 70. Geburtstag, 2007, S. 173 ff .; Neumann, in: Nomos<br />

Kommentar zum StGB, <strong>3.</strong> Aufl . 2010, § 34 Rn. 67; Kühl (Fn. 35), § 8 Rn. 9<strong>8.</strong><br />

59 So aber Küper, GA 1983, 289 ff .<br />

60 Joecks (Fn. 36), § 34 Rn. 24.<br />

61 Perron (Fn. 11), § 34 Rn. 3<strong>8.</strong><br />

62 Zieschang, in: Leipziger Kommentar zum StGB, 1<strong>2.</strong> Aufl . 2006, § 34 Rn. 5<strong>3.</strong><br />

63 BVerfGE 39, 1 (42).<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Fallbearbeitung<br />

Leben stelle nach dem BVerfG einen „Höchstwert 64 dar. Diese Formulierung<br />

bedeutet <strong>im</strong> Rahmen des § 34 StGB lediglich, dass niemand<br />

<strong>im</strong> Grundgesetz zur Aufopferung seines Lebens gezwungen<br />

werden kann, nicht jedoch, dass das Leben stets bei der Interessabwägung<br />

am Schwersten wiegt. 65 Das Abhacken der Hände stellt eine<br />

schwere Körperverletzung und einen ganz erheblichen Eingriff in die<br />

körperliche Unversehrtheit des an der Gefahrschaff ung für S unbeteiligten<br />

D dar. Die Tatsache, dass es ohne die Untreuetaten des D<br />

nicht zur Entführung des S gekommen wäre, reicht nicht aus, um D<br />

als Verursacher der Lebensgefahr anzusehen, denn zum einen genügt<br />

nicht jeder Kausalbeitrag und zum anderen ist die Gefahr für S auf<br />

das eigenverantwortliche kr<strong>im</strong>inelle Handeln des A zurückzuführen.<br />

Daher liegt kein wesentliches Überwiegen 66 gem. § 34 S. 1 StGB vor.<br />

Somit ist die Tat nicht durch Notstand gerechtfertigt.<br />

<strong>3.</strong> SCHULD<br />

B könnte nach § 35 StGB entschuldigt sein. Es lag eine gegenwärtige<br />

Gefahr für das Leben eines Angehörigen vor. Diese war auch<br />

nicht anders abwendbar, da hoheitliche Hilfe nicht zum Erfolg führen<br />

konnte. B handelte auch mit dem Ziel, die Gefahr abzuwenden.<br />

Ein Ausschluss des Entschuldigungsgrundes nach § 35 I 2 StGB liegt<br />

nicht vor. Der Umstand, dass B an der Untreue zu Lasten des A beteiligt<br />

war, genügt nicht, da nicht jeder Kausalbeitrag ausreicht, sondern<br />

die Gefahrschaff ung vorhersehbar sein muss. 67 Somit ist B hinsichtlich<br />

der schweren Körperverletzung gem. § 35 I StGB entschuldigt.<br />

4. ERGEBNIS<br />

B hat sich durch das Abhacken der Hände nicht wegen schwerer Körperverletzung<br />

gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2 und 5, 226 I Nr. 2, 3 StGB<br />

strafb ar gemacht.<br />

II. § 303 I STGB<br />

B könnte sich durch das Zerstechen der Reifen wegen Sachbeschädigung<br />

gem. § 303 I StGB strafb ar gemacht haben.<br />

<strong>1.</strong> TATBESTAND<br />

Der Tatbestand der Sachbeschädigung ist erfüllt, da B die Reifen vorsätzlich<br />

zerstochen und damit zerstört hat.<br />

<strong>2.</strong> RECHTSWIDRIGKEIT<br />

In Betracht kommt eine Rechtfertigung durch Notstand gem. § 904<br />

BGB, der bei der Beschädigung von Sachwerten vorrangig zu § 34<br />

StGB zu prüfen ist. 68 Die Interessenabwägung fällt hier eindeutig zu<br />

Gunsten des Lebens des S aus, denn das Leben überwiegt Sachwerte<br />

wesentlich auch wenn diese Sachwerte einem Unbeteiligten gehören.<br />

64 Neumann (Fn. 60), § 34 Rn. 3; Erb, in: Münchener Kommentar zum StGB, I, <strong>1.</strong> Aufl . 2011, § 34 Rn.<br />

116; Otto, Jura 2005, 474; zu Ausnahmen siehe jüngst ausführlich Z<strong>im</strong>mermann, Rettungstötungen,<br />

200<strong>9.</strong><br />

65 Zum Streit über die Bedeutung des Merkmals „wesentliches Überwiegen“ siehe Zieschang (Fn. 64),<br />

§ 34 Rn. 76; Perron (Fn. 11), § 34 Rn. 45: lediglich „Klarstellungsfunktion“.<br />

66 Vgl. Hörnle, JuS 2009, 873, 87<strong>9.</strong><br />

67 So die h.M. Wessels/Beulke, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4<strong>1.</strong> Aufl . 2011, Rn. 287; Fahl, JuS 2005,<br />

808, 809; a.A. Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe <strong>im</strong> Strafrecht,<br />

1987, S. 106 ff .<br />

68 Bearbeiterhinweis: In der Fallbearbeitung ist nicht erforderlich, die eigenständige Einordnung der<br />

Angemessenheitsklausel zu begründen. Diese ergibt sich bereits aus dem Aufb au, vgl. Rengier, Strafrecht<br />

AT, <strong>2.</strong> Aufl . 2010, § 19 Rn. 4<strong>9.</strong><br />

51


52<br />

Fallbearbeitung<br />

Nach § 34 S. 2 StGB muss die Tat ein angemessenes Mittel sein, um<br />

die Gefahr abzuwenden. 69 Die Angemessenheitsklausel ist auch bei<br />

§ 904 BGB zu berücksichtigen, denn § 904 BGB ist ein Unterfall des<br />

strafrechtlichen Notstands. 70<br />

Vorliegend ist fraglich, ob die von A geschaff ene Zwangslage zur<br />

Rechtfertigung führen kann, denn dadurch würde dem unbeteiligten<br />

Dritten eine Duldungspfl icht auferlegt und damit das Notwehrrecht<br />

gegenüber B genommen. Zur Lösung dieses unter dem Stichwort<br />

„Nötigungsnotstand“ diskutierten Problems werden <strong>im</strong> Wesentlichen<br />

drei Meinungen vertreten. 71<br />

a) Die sog. Rechtfertigungslösung lehnt eine Einschränkung des<br />

Notstandsrechts ab. Auch ein genötigter Notstandstäter verdiene die<br />

Solidarität der Rechtsgemeinschaft und damit die Opferbereitschaft<br />

unbeteiligter Dritter. 72 Demnach würde die Tatsache, dass B von A<br />

genötigt worden ist, nicht zur Unangemessenheit führen.<br />

b) Die wohl überwiegend vertretene sog. Entschuldigungslösung<br />

verwehrt dem Notstandstäter die Rechtfertigung und verweist ihn<br />

auf die Möglichkeit der Entschuldigung nach § 35 StGB. Zum einen<br />

trete der Genötigte bewusst auf die Seite des Unrechts und zum anderen<br />

dürfe das Notwehrrecht des Opfers nicht aufgehoben werden. 73<br />

Somit wäre die Notstandshandlung unangemessen.<br />

c) Andere diff erenzieren nach der Wertigkeit des betroff enen Rechtsgutes<br />

des Unbeteiligten und der Intensität des Angriff s. 74 Es sei nicht<br />

überzeugend, eine Rechtfertigung selbst dann zu verneinen, wenn<br />

der Genötigte z.B. eine Sachbeschädigung begehe, um dadurch eine<br />

Lebensgefahr abzuwenden. Andererseits dürfe auch nicht pauschal<br />

eine Rechtfertigung bejaht werden, denn diese belaste den Unbeteiligten<br />

ggf. über Gebühr. 75 Demnach wäre angesichts der Gefahr für<br />

das Leben des S die Angemessenheit nicht aufgrund der Nötigung<br />

ausgeschlossen.<br />

d) Hier spricht angesichts der widerstreitenden Rechtsgüter, nämlich<br />

der Unversehrtheit des Eigentums an den Autoreifen einerseits und<br />

dem Leben des S andererseits, viel für eine Rechtfertigung auf Basis<br />

der diff erenzierenden Lösung. Der kategorische Ausschluss einer<br />

Rechtfertigung des Genötigten mit dem Argument, dieser stelle sich<br />

auf die Seite des Unrechts, überzeugt nicht, denn, sollte der Genötigte<br />

gerechtfertigt sein – was ja gerade zunächst zu klären ist –, 76<br />

könnte man ihm kaum vorwerfen, dass der Hintermann deliktische<br />

Ziele verfolgt. Eine unterschiedliche Bewertung hinsichtlich der<br />

Rechtmäßigkeit des Handelns des Genötigten und des Nötigenden<br />

wird nicht durch das Schlagwort Еinheit der Rechtsordnung ausgeschlossen.<br />

Denn auch bei der mittelbaren Täterschaft ist anerkannt,<br />

dass es rechtmäßig handelnde Werkzeuge geben kann. 77 Dies schließt<br />

es nicht aus, in Fällen, in denen es nicht um Sachbeschädigung und<br />

Menschenleben geht, den Gesichtspunkt des Nötigungsnotstandes<br />

bei der Interessenabwägung zu Lasten des Erhaltungsguts zu berücksichtigen.<br />

Zu beachten ist weiterhin, dass dem Angegriff enen das<br />

69 Neumann (Fn. 66), § 34 Rn. 124; Erb (Fn. 66), § 34 Rn. 15; Bünemann/Hömpler, Jura 2010, 184, 185;<br />

<strong>im</strong> Ergebnis auch die Falllösung von Kühl, JuS 2007, 742, 747; a.A. Joecks (Fn. 36), § 34 Rn. 3<strong>9.</strong><br />

70 Zum Ganzen siehe Bünemann/Hömpler, Jura 2010, 184 ff .<br />

71 Frister, Strafrecht Allgemeiner Teil, 4. Aufl . 2009, § 17 Rn. 18 ff .; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht<br />

Allgemeiner Teil, 6. Aufl . 2011, § 9 Rn. 105; Küper, Jura 1983, 206, 21<strong>5.</strong><br />

72 Perron (Fn. 11), § 34 Rn. 41b; Wessel/Beulke (Fn. 69), Rn. 443; Arzt, JZ 2001, 1054 ff .; Lenckner, Der<br />

rechtfertigende Notstand, 1965, S. 11<strong>7.</strong><br />

73 Zieschang (Fn. 64), § 34 Rn. 69a; Neumann, JA 1988, 329, 335; Zieschang, JA 2007, 679, 683; Britz/<br />

Müller-Dietz, JuS 1998, 237, 24<strong>2.</strong><br />

74 Rengier (Fn. 70), § 19 Rn. 54.<br />

75 Vgl. Kühl (Fn. 35), § 8 Rn. 12<strong>9.</strong><br />

76 Vgl. Joecks (Fn. 36), § 25 Rn. 2<strong>3.</strong><br />

77 RGSt 64, 30; Fischer (Fn. 7), § 25 Rn. 5a; Murmann (Fn. 42), § 27 Rn. 36; Kühl, JuS 2007, 742, 74<strong>8.</strong><br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Notwehrrecht nicht gänzlich genommen wird, sondern dieses gegenüber<br />

dem Nötigenden weiter gilt. Die Tatsache, dass B von A zur<br />

Sachbeschädigung genötigt worden ist, schließt daher das wesentliche<br />

Überwiegen des Schutzes des Lebens des S gegen er der Erhaltung<br />

der Autoreifen nicht aus. Somit ist B gem. § 904 BGB gerechtfertigt.<br />

<strong>3.</strong> ERGEBNIS<br />

B hat sich durch das Zerstechen der Reifen nicht wegen Sachbeschädigung<br />

strafb ar gemacht.<br />

B. STRAFBARKEIT DES A<br />

I. §§ 223 I, 224 I NR. 2 UND 5, 226 I NR. 2 UND 3, II, 25 I, <strong>2.</strong> ALT STGB<br />

A könnte die schwere Körperverletzung als mittelbarer Täter begangen<br />

haben. Dazu müsste er den B als Werkzeug der Tat benutzt haben.<br />

In Betracht kommt hier mittelbare Täterschaft kraft Nötigungsherrschaft<br />

. Dies liegt insbesondere dann vor, wenn der Hintermann eine<br />

Zwangslage schafft , durch die der unmittelbare Täter in eine Lage des<br />

entschuldigenden Notstands kommt. 78 Dies ist hier erfüllt, denn B<br />

war gem. § 35 I StGB entschuldigt. Somit hat sich A wegen schwerer<br />

Körperverletzung in mittelbarer Täterschaft gem. §§ 223 I, 224 I Nr. 2<br />

und 5, 226 I Nr. 2 und 3, II, 25 I, <strong>2.</strong> Alt StGB strafb ar gemacht.<br />

II. §§ 303 I, 25 I, <strong>2.</strong> ALT. STGB<br />

Hier liegt ebenfalls eine von A geschaff ene Zwangslage für B vor. B<br />

handelte aufgrund dieser Zwangslage gerechtfertigt gem. § 904 BGB,<br />

so dass eine Nötigungsherrschaft des A gegeben ist. 79 Somit ist A<br />

auch strafb ar wegen Sachbeschädigung in mittelbarer Täterschaft<br />

gem. §§ 303 I, 25 I, <strong>2.</strong> Alt. StGB. Der nach § 303c StGB erforderliche<br />

Strafantrag ist gestellt.<br />

III. § 240 I STGB<br />

A hat den B durch die Drohung mit dem Tod des S auch zum Angriff<br />

auf D genötigt, so dass er sich auch wegen Nötigung gem. § 240<br />

I StGB strafb ar gemacht. Die Bedrohung gem. § 241 StGB mit der<br />

Begehung eines vorsätzlichen Tötungsdelikts gegen S tritt dahinter<br />

zurück.<br />

GESAMTERGEBNIS<br />

D hat sich wegen Untreue <strong>im</strong> besonders schweren Fall in 10 Fällen in<br />

Tatmehrheit, § 53 StGB, strafb ar gemacht.<br />

B hat sich wegen Beihilfe zur Untreue in 10 Fällen in Tatmehrheit,<br />

§ 53 StGB, strafb ar gemacht.<br />

A hat sich wegen Menschenraubs, Entziehung Minderjähriger und<br />

Aussetzung in Tateinheit sowie in Tatmehrheit dazu der tateinheitlichen<br />

schweren Körperverletzung und Sachbeschädigung in mittelbarer<br />

Täterschaft und Nötigung strafb ar gemacht. § 224 I Nr. 5 StGB<br />

steht zur schweren Körperverletzung zur Klarstellung der Gefährlichkeit<br />

der Handlung in Tateinheit. 78 Die Variante des § 224 I Nr. 2<br />

StGB tritt hingegen hinter § 226 StGB zurück.<br />

Bearbeitervermerk: Falls man eine Strafb arkeit des A nach § 123 I<br />

StGB bejaht, steht diese Tat in Tatmehrheit zu den übrigen verwirklichten<br />

Delikten.<br />

78 Vgl. BGHSt 3, 6; 20, 30<strong>7.</strong><br />

79 Vgl. BGHSt 53, 2<strong>3.</strong>


STUDENT<br />

meets<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

PRACTICE<br />

Das Praktikantenprogramm<br />

Vom 20. August bis 2<strong>8.</strong> September <strong>2012</strong> veranstaltet Shearman & Sterling an allen deutschen<br />

Standorten zum sechsten Mal das sechswöchige Praktikantenprogramm „Student meets Practice“.<br />

Unser Motto lautet: „Mittendrin statt nur dabei.“ Entsprechend werden Sie täglich aktiv in unsere<br />

spannende Mandatsarbeit einbezogen und können sich außerdem auf folgende Highlights freuen:<br />

- Besuch eines überörtlichen Seminars <strong>im</strong> Rahmen unseres Aus- und Weiterbildungs-<br />

programms „Project Brain“<br />

- Teilnahme an den wöchentlich stattfindenden lokalen „Project Brain“-Veranstaltungen<br />

- Gemeinsamer Moot Court aller Praktikanten<br />

Haben wir Ihr Interesse geweckt? Dann bewerben Sie sich bitte bis zum 3<strong>1.</strong> März <strong>2012</strong> und beachten<br />

Sie, dass nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen verfügbar ist. Mehr Informationen finden Sie unter:<br />

www.studentmeetspractice.de<br />

Wir freuen uns auf Sie!<br />

Shearman & Sterling LLP<br />

Lizete da Costa I Human Resources I Breite Straße 69 I 40213 Düsseldorf<br />

T +4<strong>9.</strong>21<strong>1.</strong>1788<strong>8.</strong>345 I lizete.dacosta@shearman.com<br />

53


54<br />

012<br />

Die Zahl der Umweltzonen in Deutschland steigt <strong>2012</strong><br />

. auf rund 50. In Heidelberg, Tübingen, Ulm, Freiburg <strong>2.</strong><br />

<strong>3.</strong><br />

<strong>7.</strong><br />

<strong>9.</strong><br />

<strong>Wissenswerte</strong> <strong>Änderungen</strong> <strong>im</strong> <strong>neuen</strong> Jahr<br />

Wie in jedem Jahr gibt es auch in <strong>2012</strong> in den verschiedensten Bereichen des alltäglichen und juristischen Lebens Neuerungen,<br />

auf die sich die Bürger einstellen müssen. An dieser Stelle soll ein Überblick über die wichtigsten <strong>Änderungen</strong><br />

gegeben werden, um in so manchem Fall eine böse Überraschung zu vermeiden. Denn wie so oft gilt auch hier nicht<br />

selten die alte Weisheit: „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“.<br />

oder Heilbronn beispielsweise dürfen Autofahrer nunmehr<br />

nur noch mit gelber und grüner Plakette einfahren.<br />

In Osnabrück, Frankfurt am Main und Stuttgart ist<br />

<strong>im</strong> <strong>neuen</strong> Jahr nur noch die grüne Plakette erwünscht.<br />

Es ist daher ratsam, sich vor der Fahrt in eine fremde<br />

Stadt über das Vorhandensein von Umweltzonen zu<br />

informieren, um dem Bußgeld in Höhe von EUR 40,00<br />

und einem Punkt in Flensburg zu entgehen.<br />

<strong>5.</strong><br />

Das Guthaben auf Girokonnten ist ab dem <strong>1.</strong> Januar nicht mehr automatisch vor Pfändungen<br />

geschützt. Um einen Schutz zu erhalten, muss der Kontoinhaber bei der Bank die<br />

Umwandlung in ein „Pfändungsschutzkonto“ beantragen. Auf diesem Konto ist dann das<br />

Existenzmin<strong>im</strong>um von monatlich EUR <strong>1.</strong>028,89 sicher. Es soll Schuldnern einen unbürokratischen<br />

Weg bieten, am Wirtschaft sleben teilzunehmen. Diese Konten sind allerdings<br />

wegen des höheren Verwaltungsaufwands häufi g teurer als ein normales Girokonto.<br />

Glutenfreie Lebensmittel müssen in der EU einheitlich gekennzeichnet<br />

werden. „Glutenfrei“ dürfen sie genannt<br />

werden, wenn sie höchstens 20 Milligramm Gluten je<br />

Kilogramm enthalten. Bei max<strong>im</strong>al 100 Milligramm<br />

lautet die Aufschrift „mit sehr niedrigem Glutengehalt“.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Aufgrund technischer Schwierigkeiten in der Verwaltung<br />

verschiebt sich die Einführung des <strong>neuen</strong> Verfahrens<br />

der elektronischen Lohnsteuerabzugsmerkmale<br />

(ELStAM – Elektronische Lohnsteuerabzugsmerkmale)<br />

auf den <strong>1.</strong> Januar 201<strong>3.</strong> Die Lohnsteuerkarte des Jahres<br />

2010 ist auch <strong>2012</strong> weiter gültig. Wer <strong>2012</strong> eine neue<br />

Karte benötigt, erhält eine Ersatzbescheinigung.<br />

Bereits am 1<strong>9.</strong> Dezember 2011 trat das Fürstentum Liechtenstein dem Schengener Abkommen zum freien Personenverkehr<br />

bei. Damit entfallen nunmehr die Passkontrollen. Da bei Polizeikontrollen grundsätzlich Ausweispfl icht besteht, sollten Reisende<br />

aber stets gültige Ausweispapiere bei sich haben.<br />

Nach den Glühbirnen mit 100 Watt, 75 Watt<br />

und 60 Watt wird <strong>im</strong> Laufe des <strong>neuen</strong> Jahres<br />

auch die 40-Watt-Birne aus den Regalen<br />

verbannt. Vom <strong>1.</strong> September an dürfen sie nicht<br />

mehr produziert werden, vorher ausgelieferte Birnen<br />

dürfen aber noch verkauft werden.<br />

Ab dem <strong>1.</strong> April <strong>2012</strong> können Personen, die ihren Abschluss<br />

<strong>im</strong> Ausland erworben haben, diesen erstmals<br />

auf Gleichwertigkeit mit einem entsprechenden deutschen<br />

Abschluss überprüfen lassen. Zur Erfüllung der<br />

mit dem Berufsqualifi kationsfeststellungsgesetz verbundenen<br />

Aufgaben gründen 77 von 80 IHKs einen<br />

öff entlich-rechtlichen Zusammenschluss (IHK-FOSA)<br />

mit Sitz in Nürnberg. Die IHK-FOSA überprüft die Abschlüsse,<br />

bescheinigt die Gleichwertigkeit oder stellt die<br />

<strong>im</strong> Vergleich zum deutschen Abschluss noch fehlenden<br />

Qualifi kationen fest.<br />

Die Novelle des Telekommunikationsgesetzes (TKG) verspricht zahlreiche Besserungen für Verbraucher,<br />

die voraussichtlich <strong>im</strong> zweiten Quartal in Kraft treten. So sollen u.a. Wartezeiten bei Servicenummern kostenlos<br />

werden, bei Wechsel des Telefon- oder Internetanbieters darf die Verbindung künft ig höchstens für<br />

einen Kalendertag unterbrochen werden und die Mitnahme der Rufnummer soll stets gewährleistet sein.<br />

<strong>8.</strong><br />

Wer eine Renten- oder Lebensversicherung<br />

zur privaten<br />

Altersvorsorge neu abschließt,<br />

muss sich mit einem<br />

Garantiezins von nur noch<br />

1,75 statt bisher 2,25 Prozent<br />

zufriedengeben.


Schadensersatzpfl icht bei unfreiwilligem<br />

Fallschirmsprung einer<br />

mitfl iegenden Begleitperson<br />

Wer als Zuschauer an einem von einer Fallschirmsprungschule<br />

durchgeführten Flug teiln<strong>im</strong>mt<br />

und <strong>im</strong> Zuge dessen selbst unfreiwillig<br />

einen Fallschirmsprung absolviert, hat einen<br />

Anspruch auf Schadensersatz sowohl gegenüber<br />

der Fallschirmsprungschule als auch dem Piloten.<br />

Im vorliegenden Fall hatte der Kläger die Freundin<br />

seines Sohnes bei ihrem ersten Sprung begleiten und<br />

von oben den Sprung anschauen wollen. Hierzu trug er aus Sicherheitsgründen<br />

einen Fallschirm. Bei diesem war jedoch die Automatik<br />

nicht ausgestellt, so dass sich der Schirm be<strong>im</strong> Landeanfl ug aufgrund<br />

des Druckabfalles öff nete. Dadurch wurde der Kläger aus der<br />

Maschine gezogen. Er landete auf einem Acker, wodurch er zahlreiche<br />

Knochenbrüche, Bänderrisse und Platzwunden davontrug. Der<br />

Leiter der Fallschirmspringschule haft et hierfür in seiner Eigenschaft<br />

als Luft frachtführer nach dem Luft verkehrsgesetz. Der Pilot haft et<br />

wegen Verletzung seiner Verkehrssicherungspfl ichten aufgrund des<br />

Nicht-Überprüfens der Abschaltung der Fallschirmautomatik. Über<br />

die Höhe des Schadensersatzes wird in einem gesonderten Termin<br />

entschieden, wenn das Urteil rechtskräft ig geworden ist.<br />

Landgericht Münster, Urteil v. 30.1<strong>2.</strong>2011, 2 O 269/11<br />

„Und schon wieder wird der Fall Barschel aufgewärmt…“ Das mag<br />

mancher gedacht haben, der vom Erscheinen von Heinrich Willes<br />

„Ein Mord, der keiner sein durft e – Der Fall Uwe Barschel und die<br />

Grenzen des Rechtsstaates“ gehört hat. Weit gefehlt. Mit Heinrich<br />

Wille hat endlich mal jemand den „Fall Barschel“ gründlich aufgearbeitet,<br />

der ein int<strong>im</strong>er Kenner der Materie ist. Heinrich Wille,<br />

früher Leitender Oberstaatsanwalt in Lübeck, hat damals die<br />

staatsanwaltlichen Ermittlungen geleitet. Seine dort gewonnenen<br />

Erfahrungen, Kenntnisse und Erlebnisse schrieb Wille bereits 2007<br />

nieder, durft e das Buch jedoch nicht veröff entlichen. Die Veröff entlichung<br />

wurde durch die Schleswig-Holsteinische Generalstaatsanwaltschaft<br />

nicht gestattet. Nun ist das Buch aber zum Glück auf<br />

dem Markt, liest sich passagenweise wie ein hochspannender Polit-<br />

„Ein Mord, der keiner sein durft e“<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Mord auf dem Weg zum<br />

Arbeitsplatz ist kein Wegeunfall<br />

Findet ein Mord aus familiären Gründen (hier: seit Jahren aufgestauter<br />

Hass) auf dem Weg zur Arbeit durch ein Familienmitglied statt,<br />

so existiert kein Unfallversicherungsschutz. Vorliegend begehrt die<br />

Klägerin Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung nach<br />

der Ermordung ihres Ehemannes durch den gemeinsamen Sohn.<br />

Nach § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VII haben Hinterbliebene zwar einen<br />

Anspruch auf Hinterbliebenenrente, Voraussetzung hierfür ist<br />

jedoch, dass der Tod infolge eines Versicherungsfalles eingetreten ist.<br />

Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten. Auch<br />

der Weg zur Arbeit und zurück ist gem. § 8 Abs. 1 i.V.m. § 8 Abs. 2<br />

SGB VIII hiervon umfasst. Das Gericht hat jedoch festgestellt, dass es<br />

für einen Überfall als Arbeitsunfall wesentlich auf die Beweggründe<br />

des Angreifers bei der Tat ankommt und sich der innere Zusammenhang<br />

zwischen dem Überfall als Unfallereignis und der versicherten<br />

Tätigkeit verliert, wenn die Beweggründe des Angreifers dem persönlichen<br />

Bereich der Beteiligten zuzurechnen sind. Ein betrieblicher<br />

Zusammenhang bestand nicht; vielmehr hat ein vor dem Tattag<br />

gründlich vorbereitetes und planvoll durchgeführtes Verbrechen auf<br />

Grund familiärer Zerwürfnisse und nicht etwa eine durch einen betrieblichen<br />

Streit veranlasste und auf einem Spontanbeschluss beruhende<br />

Handlung vorgelegen.<br />

Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg<br />

v. 2<strong>2.</strong> 1<strong>1.</strong>2011, L 2 U 5633/10.<br />

thriller/Kr<strong>im</strong>i ohne jedoch den Boden der Sachlichkeit zu verlassen.<br />

Wille, der laut Klappentext in Sachen Barschel „wiederholt mit<br />

seinen Vorgesetzten in Konfl ikt geriet, da er zu anderen Schlüssen<br />

kam, als man es von ihm erwartete“, gelingt es dabei, Ungere<strong>im</strong>theiten<br />

herauszustellen. Dabei scheut er nicht davor zurück, auch<br />

„unangenehme Aspekte“ deutlich anzusprechen.<br />

Die Lektüre, die auch und gerade für diejenigen, die vom „Fall Barschel“<br />

noch nicht viel gehört haben, interessant ist, kann uneingeschränkt<br />

empfohlen werden.<br />

Heinrich Wille, Ein Mord der keiner sein durft e – Der Fall Uwe Barschel<br />

und die Grenzen des Rechtsstaates, Rotpunktverlag, ISBN 978-<br />

3-85869-462-1<br />

55


56<br />

Interview<br />

„Die Konsolidierung der Haushalte schlägt schon<br />

auf die Realwirtschaft durch“<br />

Ein Interview mit Prof. Dr. Kai-Oliver Knops von Dr. Dirk Veldhoff (Referendar)<br />

: Die Europäische Schuldenkrise ist derzeit in aller Munde und<br />

bereitet nicht nur den verantwortlichen Politikern schlafl ose Nächte. Was<br />

sind die Ursachen?<br />

KNOPS: In Abgrenzung zu der globalen Finanzkrise, die seit 2008<br />

besteht, ist die sog. Schuldenkrise augenscheinlich eine Folge unsolider<br />

Staatsfi nanzen. Missstände aufgedeckt haben die Kapitalmärkte<br />

über den Renditedruck der Zinsmax<strong>im</strong>ierung ohne Zweifel. Doch<br />

hat der Einfl uss der Ratingagenturen auf das Zinsniveau, das insbesondere<br />

auch die Refi nanzierung von Staaten stark beeinfl usst, ein<br />

gefährliches Maß angenommen. Dass nun auch noch Deutschland<br />

und Frankreich, als ökonomische Schwergewichte und politische<br />

Lokomotiven einer Konsolidierung in Europa eine Abwertung um<br />

eine bzw. zwei Stufen angedroht wird, ist – freundlich ausgedrückt -<br />

unverantwortlich. Dabei hat sich bereits bei der Lehman-Pleite überdeutlich<br />

gezeigt, was teilweise von der Qualität der Ratings etwa von<br />

Standard & Poors zu halten ist. Gleichwohl ist deren St<strong>im</strong>me seitdem<br />

<strong>im</strong>mer noch mehr Gewicht beigemessen worden. Doch es zeigen<br />

sich erste Tendenzen, dass die Anleger die zum Teil kaum nachvollziehbaren<br />

Bewertungen zunehmend ignorieren. Trotz schlechtem<br />

Rating hatte Spanien zum Ende des vergangenen Jahres kaum Probleme,<br />

sich zu einem erträglichen Zins am Markt zu refi nanzieren.<br />

: Welche Konsequenzen erwarten Sie angesichts der<br />

europäischen Schuldenkrise für die Realwirtschaft und die europäischen<br />

Finanzmärkte?<br />

KNOPS: Die Konsolidierung der Haushalte und damit das Sinken<br />

der Staatsausgaben schlägt schon auf die Realwirtschaft durch. Best<strong>im</strong>mte<br />

Sektoren wie etwa die Baubranche sind und werden davon<br />

mittelfristig stark betroff en sein. Diese sind auf die Investitionen<br />

öff entlicher Haushalte angewiesen, weil der Anteil der Staatsgelder<br />

dort traditionell besonders hoch ist. Davon könnten konkret Bereiche<br />

betroff en sein, die jetzt noch durch Konjunkturpakete gefördert<br />

oder gar getragen werden. Beispielhaft genannt seien hier Infrastrukturausgaben<br />

(Ausbau und Sanierung von Bundesverkehrswegen,<br />

Lärmschutz, energetische Gebäudesanierung, moderne Breitbandnetze,<br />

Förderung regionaler Wirtschaft sstruktur, insbesondere<br />

Kai-Oliver Knops wurde am 3<strong>1.</strong> Mai 1966 in Viersen geboren und entstammt einer angesehenen<br />

Anwaltsfamilie. Nach dem Jurastudium in Köln, Trier und Heidelberg sowie dem Referendariat in<br />

Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz war er zunächst als Rechtsanwalt in Köln und später<br />

in Hamburg als Fachanwalt für Bank- und Kapitalmarkrecht tätig. In den Jahren 1999 und 2007<br />

wurde er jeweils an der Universität Bremen mit einer Dissertation über den Immobiliarkredit promoviert<br />

sowie mit einer Schrift über das Thema „Die Personalität des Vertrages“ habilitiert. Im<br />

Jahr 2008 wurde er auf den Lehrstuhl für Zivil- und Wirtschaftrecht, insbesondere Bank- und Kapitalmarkt-<br />

und Verbraucherrecht der Universität Hamburg berufen. Von 2007 bis 2010 war er als<br />

Forschungsdirektor am Institut für Finanzdienstleistungen e.V. in Hamburg und als Schriftleiter<br />

der Zeitschrift „Verbraucher und Recht“ tätig. Neben zahlreichen Veröff entlichungen ist Kai-Oliver<br />

Knops verantwortlich für das von ihm konzipierte und in Mitherausgeber- und Autorenschaft in<br />

zweiter Aufl age erschienene „Handbuch zum deutschen europäischen Bankrecht“.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

schwacher Gebiete oder Krankenhäusersanierungen, Kl<strong>im</strong>aschutz-<br />

und Energieeffi zienzmaßnahmen), aber auch Forschungsprogramme,<br />

wobei hoff entlich bei der Förderung der Bildungsinfrastruktur,<br />

für den Ausbau oder die Sanierung von Kindergärten, Schulen oder<br />

Hochschulen die wenigsten Abstriche gemacht werden. Auch gehen<br />

vermutlich etwaige Kürzungen gerade zulasten derjenigen Personen<br />

und Institutionen, die auf staatliche Förderung angewiesen sind und<br />

die die Kaufk raft erheblich beeinfl ussen. Staaten sind eben keine auf<br />

Gewinnerzielung ausgerichteten Unternehmen, sondern verfolgen<br />

mit ihren Haushalten gerade auch lang- und mittelfristige Ziele, die<br />

sich niemals „rechnen“ werden. Der Einfl uss der Märkte auf die Politik<br />

und Gesellschaft ist deutlich zu hoch.<br />

: Sollten die Ratingagenturen stärker reguliert werden<br />

oder würde dies - wie <strong>im</strong> alten Rom - bedeuten, statt des Verursachers<br />

der Krise den Boten schlechter Nachrichten zu bestrafen?<br />

KNOPS: Schon 2006 wurden <strong>im</strong> Rahmen des Aktionsplans der<br />

Europäischen Kommission für Finanzdienstleistungen (FSAP) drei<br />

Richtlinien verabschiedet, u.a. um Rating-Agenturen besser in den<br />

Griff zu bekommen. Doch haben die Marktmissbrauchsrichtlinie<br />

nebst Durchführungsverordnung, die Eigenkapitalrichtlinie und die<br />

Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente die bestehenden Defi -<br />

zite nicht beseitigen können, die schon damals vor allem in der fehlenden<br />

Ratingqualität, der zum Teil bestehenden Abhängigkeit und<br />

der Subjektivität der Agenturen, der Intransparenz der Bewertungsmethoden<br />

und in dem hohen Konzentrationsgrad der Branche und<br />

dessen potenziell wettbewerbsschädlichen Auswirkungen erkannt<br />

wurden. Vor allem fehlt <strong>im</strong>mer noch eine klare Regelung, dass Rating-Agenturen<br />

für ihre Urteile wie jeder andere Experte schadensrechtlich<br />

voll einzustehen haben. Erst dann wird die Qualität steigen<br />

und Schnellschüsse, die ganze Märkte verunsichern und <strong>im</strong>mense<br />

Kosten verursachen, zu einem echten Risiko für die Agenturen.<br />

: Insbesondere die Situation in Griechenland spitzt sich <strong>im</strong>mer<br />

mehr zu. Welche Folgen hätte eine Staatspleite für Europa und speziell für<br />

Deutschland?


KNOPS: Es wäre ökonomisch, vor allem aber (europa)politisch<br />

nicht verantwortbar, einen Bankrott eines der Euroländer hinzunehmen,<br />

insbesondere <strong>im</strong> Hinblick auf unsere gemeinsame Währung,<br />

die sich stabiler als die D-Mark in ihren letzten 10 Jahren und auch<br />

als der US-Dollar, als der wichtigsten Währung überhaupt, erwiesen<br />

hat. Solidarität gehört seit den Anfängen der europäischen Einigung<br />

zum unverzichtbaren Wesensmerkmal der Gemeinschaft . Allerdings<br />

können auch ohne Staatsbankrott etwa durch einen Schuldenschnitt<br />

hiesige Unternehmen betroff en sein, bis hin zu notwendigen Sanierungen<br />

oder gar Insolvenzen. Jedenfalls werden ausfallende Forderungen<br />

einen Kapitalbedarf auslösen, der herkömmlich nur <strong>im</strong> Kredit-<br />

oder Kapitalmarkt beispielsweise durch Anleihen zu befriedigen<br />

ist. Dann ist es auch Aufgabe der nationalen Banken und der Zentralbank,<br />

Hilfen zu geben, etwa durch zinsgünstige Kredite oder durch<br />

Platzierungsunterstützung auch kleinerer Emissionen.<br />

: Besteht auf rechtlicher Ebene Ihrer Ansicht nach<br />

Handlungsbedarf?<br />

Knops: Auf nationaler Ebene herrscht unter Verweis auf supranationale<br />

Vereinbarungen seit nunmehr einigen Jahren mehr oder<br />

weniger Stillstand. Doch sind die zahlreichen, <strong>im</strong>mer wieder neu<br />

beschworenen Vereinbarungen der G20 über bloße Absichtserklärungen<br />

bislang kaum hinausgekommen. Allein die EU hat systematisch<br />

damit begonnen, auf fast allen Ebenen eine stärkere und bessere<br />

Regulierung in Angriff zu nehmen; allerdings ist die EU auch wie<br />

ein großer Tanker, der erst langsam Fahrt aufn<strong>im</strong>mt. Das Vereinigte<br />

Königreich erleichtert mit seiner Sorge um den Finanzplatz London<br />

und die dortigen Arbeitsplätze die dringend notwendigen Reformen<br />

zumindest nicht. Teilweise werden die wahren Ursachen wie<br />

etwa die überaus schädlichen Verbriefungstransaktionen lobbyseits<br />

kleingeredet, womit eine Regulierung (in diesem Fall über lediglich<br />

einen mäßigen Selbstbehalt) kaum noch echte Eff ekte erzielt. Nach<br />

einer Schuldenbremse in den Nationalhaushalten müssen vor allem<br />

die außerbörslichen Geschäft e (beispielsweise OTC-Derivate) an<br />

die kontrollierten Börsen geholt werden, also endlich einer Aufsicht<br />

unterstellt werden, reine Wetten wie Leerverkäufe unterbunden und<br />

unverantwortliche Kreditvergaben verhindert werden. Dazu bedarf<br />

es keiner weltweiten oder europaweiten Regelung. Vieles ließe sich<br />

leicht <strong>im</strong> BGB oder in den Bank- und Börsengesetzen verankern und<br />

damit schnell zu einer deutlichen Stabilisierung führen.<br />

: Welche konkreten Gesetzesänderungen schweben Ihnen vor?<br />

KNOPS: Beispielsweise könnten außerbörsliche Spekulationsgeschäft<br />

e als unverbindliches Spiel oder Wette eingeordnet werden, was<br />

nicht nur <strong>im</strong> BGB sondern bis in das römische Recht hinein Tradition<br />

hat, um best<strong>im</strong>mte unerwünschte Entwicklungen zu stoppen. Ein<br />

anders Beispiel ist das Verbot sog. Leerverkäufe, bei denen jemand<br />

die Lieferung best<strong>im</strong>mter Wertpapiere zu einem festen Preis zusagt,<br />

die er selbst aber gar nicht besitzt und darauf setzt, diese Papiere zum<br />

vereinbarten Lieferzeitpunkt zu einem geringeren Preis beschaff en<br />

zu können, womit er auf fallende Kurse spekuliert. Verboten ist in<br />

Deutschland seit gut einem Jahr lediglich die Variante der sog. „ungedeckten<br />

Leerverkäufe“, bei denen die Anbieter nicht einmal über<br />

geliehene Papiere verfügen. Belgien, Frankreich, Griechenland, Italien,<br />

Spanien haben dagegen bereits sämtliche Leerverkäufe verboten,<br />

wenn auch mit unterschiedlichen Fristen. In Deutschland fehlt der<br />

herrschenden politischen Klasse zu diesen wie zahlreichen anderen<br />

notwendigen Maßnahmen bedauerlicherweise aber off ensichtlich<br />

der Wille oder die Kraft . Diese steht off enbar unter dem starken Ein-<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Interview<br />

fl uss von Lobbyisten, von denen <strong>im</strong>mer wieder vorgetragen wird,<br />

dass das Kapital dann in andere Länder abwandern würde und man<br />

so den Finanzplatz Deutschland erheblich schwächen würde.<br />

: Sie glauben also, dass dies nicht der Fall sein wird?<br />

KNOPS: Diese Gefahr besteht abstrakt, ist aber den Akteuren zum<br />

Teil gar nicht möglich; vielmehr werden sich schnell diejenigen Handelsplätze<br />

desavouieren, die reinen Zockern einen Bühne bieten.<br />

Selbst Großbritannien hat nun zum Schutz der he<strong>im</strong>ischen Wirtschaft<br />

kurz vor Weihnachten angekündigt, bis zum Ende der dortigen<br />

Legislaturperiode das risikoreiche Investmentbankinggeschäft<br />

stark vom normalen Bankgeschäft zu trennen. So sollen etwa wichtige<br />

Bankdienstleistungen - insbesondere die Aufnahme der Einlagen<br />

von Privatkunden - nur durch „zweckgebundende Banken“ zur Verfügung<br />

gestellt werden und zugleich diesen Banken die Durchführung<br />

best<strong>im</strong>mter Investment Banking-Aktivitäten untersagt werden.<br />

Derartige Pläne sind aus Berlin nicht einmal ansatzweise zu hören.<br />

: Ihr Fachgebiet ist in erster Linie das Bank- und<br />

Kapitalmarktrecht. Wo sehen sie für junge Juristen in berufl icher<br />

Hinsicht interessante Perspektiven?<br />

KNOPS: Das Bankrecht gehört mittlerweile zu einem Kernfach<br />

des Zivilrechts und des Wirtschaft srechts. Nach Begründung eines<br />

für Bankrecht zuständigen Senates be<strong>im</strong> Bundesgerichtshof bereits<br />

Ende der 80er-Jahre des vorigen Jahrhunderts und der schon lange<br />

begonnenen Herausbildung ebensolcher Senate bei den Oberlandesgerichten,<br />

setzt sich zunehmend auch bei den Landgerichten eine<br />

Konzentration auf das Bank- und Kapitalmarktrecht in best<strong>im</strong>mten<br />

Senaten durch. Neben der richterlichen Perspektive ist das Potenzial<br />

für Berufseinsteiger in der Anwaltschaft natürlich ungleich höher.<br />

Allein die <strong>im</strong>mensen Fallzahlen, die die wenigen wirklich auf das<br />

Kapitalmarktrecht spezialisierten Kanzleien vorweisen können, indizieren<br />

einen erheblichen Nachholbedarf. Die vor einigen Jahren<br />

herausgebildete Fachanwaltschaft für Bank- und Kapitalmarktrecht<br />

verzeichnet nach wie vor vergleichsweise hohe Zuwächse. Trotzdem<br />

ist es nach wie vor nicht leicht, in diesem Bereich qualifi zierte<br />

Rechtsanwälte zur Anstellung oder als Partner zu fi nden; der Bedarf<br />

an guten Juristen übersteigt das Angebot auch von Banken, Versicherungen<br />

und sonstigen Finanzdienstleistern bei weitem. Neben diesen<br />

klassischen Berufsfeldern sind Juristen mit entsprechenden Kenntnissen<br />

aber auch in ganz anderen Sektoren gefragt. Beispielsweise<br />

sind ohne Spezialkenntnisse <strong>im</strong> Kredit- und Kreditsicherungsrecht<br />

und anderen Sektoren des Bankrechts erfolgreiche Sanierungen und<br />

Umstrukturierungen heute kaum noch durchführbar. Effi ziente Lösungen<br />

sind hier etwa oft nur <strong>im</strong> Zusammenspiel von Handels- und<br />

Gesellschaft srecht, Bank- und Kapitalmarktrecht und Insolvenzrecht<br />

möglich. Lediglich Lehrstühle zum Bank- und Kapitalmarktrecht<br />

sind gegenüber solchen zum Handels- und Gesellschaft srecht heute<br />

noch deutlich in der Minderzahl, was der mittlerweile enorm gestiegenen<br />

ökonomischen und gesellschaft lichen Bedeutung des Bankund<br />

Börsensektors kaum noch entspricht. Insgesamt betrachtet sind<br />

die Berufsaussichten von jungen Juristinnen und Juristen, die sich in<br />

diesem Bereich spezialisieren wollen, ggf. auch mit einer Promotion,<br />

als hervorragend anzusehen; zudem handelt es sich um ein äußerst<br />

dynamisches Rechtsgebiet. Sich damit zu beschäft igen, macht nicht<br />

zuletzt auch deshalb Spaß.<br />

: Herr Knops, wir danken Ihnen für das Gespräch.<br />

57


58<br />

Praxis & Karriere<br />

Tagungsraum bei der Veranstaltung in Münster<br />

m <strong>2.</strong> und <strong>3.</strong> November 2011 wurde das von Baker & McKenzie<br />

Aund der Universität Münster ins Leben gerufene Women’s Law<br />

Forum an der Universität Münster weitergeführt und erstmalig auch<br />

an der Universität Passau veranstaltet. Zum Ziel dieser Tagungen<br />

haben sich die Veranstalter Baker & McKenzie und die rechtswissenschaft<br />

liche Fakultät der Universität Münster den Austausch über<br />

berufl iche Perspektiven und Karrierewege gesetzt. Zu diesem Zweck<br />

wurden zu beiden Veranstaltungen erfolgreiche Juristinnen eingeladen,<br />

die nicht nur ihren Lebensweg beschrieben, sondern auch wertvolle<br />

Tipps gaben. Während es in Münster nach Veranstaltungen zu<br />

den Berufsfeldern Kanzlei, Wissenschaft , Wirtschaft und Unternehmen,<br />

um Möglichkeiten in der Justiz ging, gaben die Referentinnen<br />

in Passau Tipps zu Karriemöglichkeiten in Großkanzleien sowie zur<br />

Selbstvermarktung.<br />

PASSAU:<br />

Women’s Law Forum –<br />

wie erfolgreiche Juristinnen ihren Karriereweg gestalten<br />

Ein Bericht von Susanne Bettendorf und Vivien Eckhoff<br />

Mit dieser Veranstaltung zum Selbstmarketing am 0<strong>2.</strong> November fand<br />

in Passau der Veranstaltungsauft akt statt. Frau Anna Viola Glöckner,<br />

die stellvertretende Frauenbeauft ragte der Juristischen Fakultät der<br />

Universität Passau, die die Veranstaltung moderierte, zeigte sich erfreut<br />

über die rege Beteiligung der angehenden Juristinnen der Universität<br />

Passau. Circa 70 Frauen, von Studentinnen <strong>im</strong> <strong>1.</strong> Semester<br />

bis hin zu Referendarinnen, hatten sich <strong>im</strong> International House der<br />

Universität eingefunden, um ihre Fragen an die Partnerinnen von<br />

Baker & McKenzie und Noerr sowie an die Buchautorin Frau Barbara<br />

Schneider zu stellen. Zu Beginn der Veranstaltung konnte Frau<br />

Glöckner sogleich vom <strong>neuen</strong> Gleichstellungskonzept der Universität<br />

Passau berichten, wonach sich die Zahl der Doktorandinnen an<br />

der Zahl der Studentinnen, die Zahl der wissenschaft lichen Mitarbeiterinnen<br />

sich an der Zahl der Doktorandinnen – bis hin zur Zahl der<br />

Habilitandinnen und Professorinnen – orientieren soll. Nach dieser<br />

positiven Meldung begann Frau Dr. Barbara Schneider mit ihrem<br />

Initiativreferat, das den Inhalt ihres Buches „Fleißige Frauen arbeiten,<br />

schlaue steigen auf “ kurz zusammenfasste. So seien sich Frauen<br />

ihrer drei großen Defi zite in der Arbeitswelt durchaus bewusst – viel-<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

fach fehle aber der Antrieb, daran etwas zu ändern. Diese Defi zite<br />

sind zum einen das „networking“, Frauen falle es schwerer als Männern,<br />

über ihre Erfolge und Vorzüge zu reden; vielmehr ließen sie<br />

sich von Fehlern und Misserfolgen verunsichern. Ein weiterer Punkt,<br />

der viele Frauen in der Karriereplanung behindert, sei zudem die Organisation<br />

von Arbeit und dem Wunsch nach Familie. Frau Schneider<br />

betonte zwar, dass dieser Punkt eine individuelle Entscheidung<br />

voraussetze und verschiedene Frauen sich bewusst gegen die Karriere<br />

und für Kinder entscheiden – dass sich beide Wünsche aber nicht<br />

ausschließen, bewiesen die anwesenden Partnerinnen von Baker &<br />

McKenzie und Noerr, die beide verheiratete Mütter sind. Der letzte<br />

Hemmschuh, dem Frauen aber bewusst entgegenarbeiten können, ist<br />

das fehlende Selbstmarketing bzw. das schlechte Selbstmanagement.<br />

Frauen überschätzten oft die Fachlichkeit und seien zu bescheiden,<br />

anstatt einfach „zuzuschnappen statt zu zögern“.<br />

Nachdem Frau Schneider den Teilnehmerinnen diese Defi zite aufgezeigt<br />

hatte, an deren Verbesserung jede individuell arbeiten muss,<br />

schloss sie ihren Vortrag aber durchaus positiv: Für Frauen sei es<br />

heute kein Problem mehr, in die Unternehmen „reinzukommen“ –<br />

lediglich das „hochkommen“ gestalte sich noch <strong>im</strong>mer schwierig.<br />

Man dürfe aber auch nicht übersehen, dass die Anzahl an weiblichen<br />

Führungskräft en noch nie so hoch war wie heute. Mit dem richtigen<br />

Mix aus Beziehungen, Image und einer positiven Einstellung sowie<br />

einer gewissen Hartnäckigkeit stünden Frauen heute alle Türen off en.<br />

Diesen Trend konnten auch die beiden Partnerinnen von Noerr und<br />

Baker & McKenzie, Frau Dr. Sabine Klett und Frau Katharina Spenner<br />

in der anschließenden Diskussion bestätigen: So bewerben sich<br />

vermehrt Frauen, die in den großen Kanzleien oder Unternehmen<br />

auch fl exible Arbeitszeitmöglichkeiten wie Umstellung auf Teilzeit<br />

oder eines „Sabbaticals“ hätten. Auch das Th ema „Work-Life-Balance“<br />

wurde angesprochen, von den Juristinnen aber als durchaus<br />

machbar beschrieben: So müsse man sich zwar entscheiden, ob man<br />

sich eine an festen Arbeitszeiten orientierte Teilzeit wünscht oder<br />

– ggf. in Teilzeit aber mit mehr Flexibilität – auch herausfordernde<br />

spannende Aufgabenfelder mit viel Potenzial zur Entwicklung, <strong>im</strong>mer<br />

auch mit der Möglichkeit, international zu arbeiten. Beide Modelle<br />

sind in Kanzleien wie Baker & McKenzie oder Noerr möglich<br />

und hängen von den individuellen Wünschen und Bedürfnissen des<br />

einzelnen Anwalts ab.<br />

Be<strong>im</strong> anschließenden Get-Together standen die Referentinnen den<br />

Teilnehmern nochmals in einem ungezwungenerem Rahmen Rede<br />

und Antwort.<br />

MÜNSTER:<br />

Mit der für den Abend des 0<strong>3.</strong>1<strong>1.</strong>2011 beliebt gewordenen Begrüßung<br />

„Sehr geehrte Damen, sehr geehrter Herr“ empfi ng Frau Prof.<br />

Dr. Petra Pohlmann (Professorin und Inhaberin des Lehrstuhls für<br />

bürgerliches Recht, Wirtschaft srecht und Zivilverfahrensrecht, Institut<br />

für internationales Wirtschaft srecht, Universität Münster) die ca.<br />

80 angehenden Juristinnen und einen Juristen <strong>im</strong> Kettlerschen Hof<br />

in Münster.


Nach einer kurzen Einführung und Vorstellung der beiden Referentinnen<br />

übernahm Frau Marion Harsdorf-Gebhardt (Richterin am<br />

Bundesgerichtshof) das Wort und führte die Teilnehmerinnen durch<br />

die Geschichte der Frauen in Studium und Justiz. „Die Stellung der<br />

Frau in der Justiz, wie wir sie heute kennen, war vor nur 100 Jahren<br />

noch nicht selbstverständlich“ erklärte sie und zeichnete den langen<br />

Weg von der ersten Frau nach, die <strong>im</strong> Jahr 1896 das Abitur bestand,<br />

jedoch keine Zulassung zum Studium bekam, über die Gründung<br />

des deutschen Juristinnenbundes 1914, das dunkle Kapitel des Dritten<br />

Reiches bis hin zur Gleichstellung durch Art. 3 GG. Herzlich<br />

amüsiert war die gesamte Runde als sie einige Zitate aus der (zum<br />

Glück) vergangenen Zeit vortrug, in denen sich Politiker und Richter<br />

darüber ausließen, warum Frauen für den Justizdienst nicht geeignet<br />

seien. Insbesondere die Ausführungen zur „naturgegebenen männlichen<br />

Dominanz“ und der Angst vor „Verweichlichung und Verteufelung“<br />

der Justiz trugen zu großer Erheiterung bei.<br />

Neben vielen unterschiedlichen Möglichkeiten für Frauen, die Familie<br />

und Karriere durch z.B. Teilzeitarbeit unter einen Hut bringen<br />

möchten, wurde aber auch das <strong>im</strong>mer noch bestehende Problem der<br />

Doppelbelastung angesprochen und diskutiert. Dies sei ein Problem,<br />

welches sich auch durch die vielen Erleichterungen für die Frau<br />

heutzutage nicht völlig ausgleichen ließe. Weiterhin beschrieb Frau<br />

Harsdorf-Gebhardt ihren eigenen Lebensweg durch die verschiedenen<br />

Stationen und gab somit einen Einblick in die Karriereleiter, wie<br />

er sonst in Bezug auf die Justiz nur selten möglich ist.<br />

Frau Dr. Anders zum Thema Einstellungsvoraussetzungen für das Richteramt.<br />

Im zweiten Vortrag des Abends stellte Frau Dr. Monika Anders (Präsidentin<br />

des Landgerichts Essen) die Herausforderungen und Anforderungen<br />

für den Justizdienst vor. Dabei konzentrierte sie sich<br />

vornehmlich auf drei Bereiche: Zuerst auf die Einstellung von Volljuristen<br />

in den Richterdienst, weiterhin auf den Werdegang einer Richterin<br />

ohne Verwaltungstätigkeiten und letztlich auf den Werdegang<br />

einer Richterin mit Führungsposition mit Verwaltungstätigkeiten.<br />

Sie stellte jeweils die Einstellungsvoraussetzungen und zu erfüllenden<br />

Tätigkeiten dar. Abschließend stellte sie den Grad der Gleichstellung<br />

von Mann und Frau in den jeweiligen Feldern vor und zeigte<br />

Handlungsbedarf auf. Anschließend thematisierte sie Maßnahmen<br />

zur Frauenförderung, wie beispielsweise die Teilzeitbeschäft igung<br />

oder die Teilnahme von Frauen an Fortbildungsmaßnahmen. Auch<br />

Frau Dr. Anders beschrieb zum Schluss ihren eindrucksvollen Lebenslauf.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Praxis & Karriere<br />

BEIDE FRAUEN WAREN SICH EINIG: „RICHTERIN IST EIN TRAUM-<br />

BERUF“ UND DAS UNABHÄNGIG VON DER FAMILIENPLANUNG.<br />

Frau Dr. Barbara Deilmann (Baker & McKenzie) zusammen mit<br />

Frau Dr. Monika Anders (Präsidentin des Landgerichts Essen).<br />

In der sich anschließenden Diskussion mit den Teilnehmerinnen<br />

beantworteten die Referentinnen sämtliche Fragen, plauderten aus<br />

dem Nähkästchen und gaben wertvolle Karrieretipps. Beide konnten<br />

aus ihrem unmittelbaren Umfeld von Erfahrungen vieler Kolleginnen<br />

mit Familien und Kindern berichten und so die Vereinbarkeit<br />

von Familie und Beruf schildern. Bei dem anschließenden „Get-Together“<br />

konnten dann weitere persönliche Fragen der Teilnehmerinnen<br />

mit den Referentinnen erörtert werden.<br />

Abschließend lässt sich festhalten, dass die Veranstaltung den Teilnehmerinnen<br />

einen guten Einblick in Karrieremöglichkeiten gegeben<br />

hat und zudem die reine „Frauenatmosphäre“ für Diskussionen<br />

und Gespräche gesorgt haben, die ansonsten mit männlichen Kollegen<br />

<strong>im</strong> Publikum, wahrscheinlich nicht möglich gewesen wären.<br />

<strong>Iurratio</strong> bei facebook<br />

Unterstützt unser <strong>Iurratio</strong>-Projekt auch bei Facebook!<br />

Aktuelle Informationen rund um die<br />

juristische Nachwuchsförderung<br />

und unsere Zeitung jetzt auch unter:<br />

www.facebook.de/iurratio.<br />

59


60<br />

Interview<br />

„Hier gibt es Licht und Schatten.“<br />

Ein Interview mit Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger<br />

von stv. Chefredakteurin Hanna Furlkröger<br />

: Seitdem die Generalbundesanwaltschaft in der Mordserie<br />

der Mitglieder des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) ermittelt,<br />

werden die St<strong>im</strong>men, die aufgrund der Verbindungen zur NPD einen<br />

<strong>neuen</strong> Anlauf für ein NPD-Verbotsverfahren fordern, <strong>im</strong>mer lauter.<br />

Ein Verbot scheiterte bisher daran, dass nicht genau abgegrenzt werden<br />

konnte, in welchem Ausmaß einerseits Parteifunktionäre und andererseits<br />

Mitarbeiter des Verfassungsschutzes Einfl uss auf die politische Willensbildung<br />

der Partei genommen hatten. Frau Ministerin, welche Chancen<br />

sehen Sie für ein solches erneutes Verbotsverfahren?<br />

MINISTERIN: Ein neuer Verbotsantrag sollte nur dann vorangetrieben<br />

werden, wenn er wirklich auch Erfolg hätte. Alles andere wäre<br />

ein Desaster, auch aus dem Grund, weil es der NPD Munition für<br />

ihren Wahlkampf geben und sie am Ende stärken würde. Angestrebt<br />

werden kann der Verbotsantrag nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts<br />

aus dem Jahr 2003 nur, wenn es keine V-Leute<br />

in den Führungsgremien der NPD mehr gibt. Das würde die Bundes-<br />

und die vielen Landesvorstände der NPD betreff en, nicht die<br />

gesamte Mitgliederschaft . Zusätzlich müsste nachgewiesen werden,<br />

dass die NPD aktiv-kämpferisch und mit Aggressivität versucht, die<br />

freiheitlich-demokratische Grundordnung zu bekämpfen. Das sind<br />

die Kriterien, die das Bundesverfassungsgericht für ein Parteienverbot<br />

entwickelt hat. Die Gewalttaten der NSU sind für einen Verbotsantrag<br />

nur verwertbar, wenn sie vollumfänglich der NPD zugerechnet<br />

werden können. Dann hätten wir eine neue Lage. So weit sind wir<br />

noch nicht. Die Ermittlungsverfahren sind erst begonnen worden, so<br />

dass dazu noch keine Bewertung abgegeben werden kann. Jetzt muss<br />

zuerst gründlich weiter ermittelt und aufgeklärt werden.<br />

: Die Europäische Kommission hat der Bundesrepublik<br />

Ende des letzten Jahres eine Frist von zwei Monaten für die Umsetzung<br />

der Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Daten gesetzt. Diese Richtlinie<br />

schreibt unter anderem Telekommunikationsdienstleistern und Betreibern<br />

von Internetservern vor, Verbindungs- und Standortdaten für<br />

die Strafverfolgung zu speichern. Das Bundesverfassungsgericht hatte<br />

mit seinem Urteil vom 0<strong>2.</strong>0<strong>3.</strong>2010 (NJW 2010, 833) zwar keine völlige<br />

Unvereinbarkeit dieser Vorgaben mit Art. 10 GG festgestellt, aber hohe<br />

Anforderungen an eine verhältnismäßige gesetzliche Ausgestaltung der<br />

Regelungen formuliert. Wie soll Ihrer Meinung nach ein Gesetz aussehen,<br />

dass gleichzeitig den europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Vor-<br />

Vorratsdatenspeicherung, Sicherungsverwahrung, NPD-Verbotsverfahren – Bundesjustizministerin<br />

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zieht Bilanz und spricht zu Beginn des <strong>neuen</strong> Jahres über<br />

die Herausforderungen, die <strong>2012</strong> Wissenschaft und Praxis gleichermaßen beschäftigen werden.<br />

Sabine Leutheusser Schnarrenberger, Jahrgang 1951, hat Rechtswissenschaften in Göttingen und<br />

Bielefeld studiert und war zuletzt Leitende Regierungsdirektorin be<strong>im</strong> Deutschen Patentamt in<br />

München, bevor sie 1990 zum Mitglied des Deutschen Bundestages gewählt wurde. Nachdem<br />

sie 1992 zum ersten Mal das Bundesjustizministerium übernommen hatte, trat sie nach dem Mitgliederentscheid<br />

der FDP zum sog. großen Lauschangriff 1996 zurück. Danach war sie als Rechtsanwältin<br />

in München tätig bis sie 2009 erneut zur Bundesministerin der Justiz ernannt wurde.<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

gaben gerecht wird?<br />

MINISTERIN: Ich habe dazu mit dem Vorschlag zu Quick Freeze<br />

bereits einen Kompromissvorschlag auf den Tisch gelegt und<br />

gehe davon aus, dass wir innerhalb der Bundesregierung auf dieser<br />

Grundlage verhandeln. In der europäischen Öff entlichkeit gibt es<br />

eine intensive Debatte über die Vorratsdatenspeicherung. Und natürlich<br />

auch in Deutschland: Zwei Drittel der Deutschen lehnen die<br />

anlasslose Vorratsdatenspeicherung ab, weil sie eine pauschale Überwachung<br />

aller Telekommunikationsverbindungsdaten für falsch halten.<br />

Auch die CSU diskutiert jetzt kritisch und intensiv ihre Haltung<br />

zur Vorratsdatenspeicherung. Das ist ein wichtiger Beitrag in der<br />

Debatte über die Vorratsdatenspeicherung insgesamt. Die Debatte,<br />

die europaweit geführt wird, lässt auch die Kommission nicht unberührt.<br />

Sie hat angekündigt, die Richtlinie zu überarbeiten. In die<br />

Überarbeitung fl ießt auch der Vorschlag der FDP – die anlassbezogene<br />

Speicherung bei konkreten Verdachtsmomenten – ein. Die Kommission<br />

holt derzeit ein Gutachten zu Quick Freeze ein.<br />

: Nachdem das Bundesverfassungsgericht am 04.0<strong>5.</strong>2011 (NJW<br />

2011, 1931) die Regelungen zur Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig<br />

erklärt hat, haben Sie nun einen Entwurf für eine Neuregelung vorgelegt.<br />

Das Bundesverfassungsgericht verlangt eine strikte Einhaltung des<br />

Abstandsgebots zwischen Strafh aft und Sicherungsverwahrung. Wie soll<br />

die Neuregelung <strong>im</strong> Kern aussehen?<br />

MINISTERIN: Das Gericht hat den Bundesgesetzgeber verpfl ichtet,<br />

Leitlinien für den Vollzug der Sicherungsverwahrung vorzugeben.<br />

Schwerpunkt der Gerichtsentscheidung war die unzureichende Beachtung<br />

des Abstands zwischen Strafh aft und Sicherungsverwahrung<br />

<strong>im</strong> Vollzug. Es ging darum, diesen Abstand zwischen Strafh aft und<br />

Sicherungsverwahrung durch ausreichende gesetzliche Grundlagen<br />

zu garantieren. Die Leitlinien enthalten insbesondere klare Vorgaben<br />

zu Th erapie und anderen Maßnahmen, die die Gefährlichkeit<br />

der Verurteilten reduzieren können. Die Richter haben hier übrigens<br />

sehr detaillierte Vorgaben gemacht, die das Bundesjustizministerium<br />

in enger Abst<strong>im</strong>mung mit den Ländern eins zu eins in konkrete Regelungsentwürfe<br />

gegossen hat. Das ist notwendig gewesen, denn nur,<br />

wenn diese Vorgaben korrekt und konsequent umgesetzt werden,<br />

kann es das Instrument der Sicherungsverwahrung auch nach der<br />

Übergangsfrist, die das Bundesverfassungsgericht gesetzt hat – also<br />

über 2013 hinaus – geben. Die Sicherungsverwahrung ist unverzichtbar.


: Seit Anfang letzten Jahres (2011) besteht die Möglichkeit,<br />

statt Untersuchungshaft oder einer kurzen Haft strafe das Tragen einer<br />

elektronischen Fußfessel anzuordnen. In anderen EU-Mitgliedsstaaten<br />

und den USA ist diese Form des Vollzugs schon längst üblich. Welches Fazit<br />

können Sie nach einem Jahr ziehen?<br />

MINISTERIN: Mit der Reform, die vor einem Jahr in Kraft getreten<br />

ist, wurde die Führungsaufsicht maßvoll ausgebaut. Damit gibt es<br />

mehr Möglichkeiten einer intensiven Betreuung und Überwachung<br />

von weiterhin rückfallgefährdeten Straft ätern, die aus rechtlichen<br />

Gründen entlassen werden mussten oder müssen. Zu diesen <strong>neuen</strong><br />

Möglichkeiten gehört auch die elektronische Aufenthaltsüberwachung,<br />

auch elektronische Fußfessel genannt. Damit können zum<br />

Beispiel die Einhaltung von Weisungen, sich best<strong>im</strong>mten Orten wie<br />

Kindergärten oder Schulen nicht zu nähern, besser kontrolliert werden.<br />

: Welche Erfahrungen wurden bisher bei der Umsetzung der<br />

Neuregelung gemacht?<br />

MINISTERIN: Umgesetzt werden muss das operativ und rechtlich<br />

in den Bundesländern. Mehrere Länder wollen sich zusammenschließen,<br />

und einige von ihnen haben einen Staatsvertrag abgeschlossen<br />

und eine gemeinsame elektronische Überwachungsstelle<br />

in Hessen errichtet, die Anfang <strong>2012</strong> ihre Arbeit aufnehmen soll. Der<br />

Testbetrieb hat bereits angefangen. Ein erster Test in Bayern hat nach<br />

meinen Informationen gezeigt, dass das Instrument gut funktioniert.<br />

: Frau Ministerin, auf dem Online-Medientreff der FDP-Bundestagsfraktion<br />

haben Sie angekündigt, stärker gegen den „ausufernden<br />

Abmahnmissbrauch“ von Händlern auf Online-Plattformen vorgehen zu<br />

wollen. Mit welchen Mitteln wollen Sie dieses Ziel zu erreichen?<br />

MINISTERIN: Missbräuchliche und überzogene Abmahnungen<br />

sind ein großes Ärgernis, gerade für Kleinunternehmer, die auf der<br />

eigenen Internetseite oder über Plattformen wie Ebay und Amazon<br />

Handel treiben. Um dagegen vorzugehen, werden wir gleich an<br />

mehreren Punkten ansetzen: Zunächst werden die Abmahnkosten<br />

durch <strong>Änderungen</strong> <strong>im</strong> Gebührenrecht niedriger. Auch die bisherige<br />

Möglichkeit, Existenzgründer vor Gerichten weit weg von ihrer Niederlassung<br />

oder ihrem Wohnsitz zu verklagen - also das sogenannte<br />

„forum shopping“ bei der Gerichtswahl - wird beendet werden.<br />

Schließlich sollen missbräuchlich Abgemahnte einen eigenen Anspruch<br />

auf Kostenersatz gegen den Abmahner erhalten. Aber dabei<br />

wird es nicht bleiben: Auch <strong>im</strong> Bereich der Urheberrechtsverletzungen<br />

arbeiten wir an gesetzlichen Maßnahmen, um gegen unseriösen<br />

Abmahnmissbrauch vorzugehen.<br />

: In der Bevölkerung ist die Ansicht weit verbreitet, das Internet<br />

stelle einen „rechtsfreien Raum“ dar. So seien beleidigende Einträge<br />

aus sozialen Netzwerken oder Internetforen schwer wieder zu entfernen<br />

und der Schutz personenbezogener Daten nicht ausgereift . Hinkt das<br />

deutsche Rechtssystem dem technischen Fortschritt hinterher?<br />

MINISTERIN: Dass das Internet ein „rechtsfreier Raum“ sei, ist natürlich<br />

Quatsch – selbstverständlich gelten die Normen der realen<br />

auch in der digitalen Welt. Richtig ist aber, dass der technische Forschritt<br />

es erforderlich macht, auch das Recht den <strong>neuen</strong> Herausfor-<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Interview<br />

derungen anzupassen. Ich denke da insbesondere an den Bereich des<br />

Datenschutzes, für den der Bundesinnenminister zuständig ist.<br />

: Um be<strong>im</strong> Th ema Fortschritt zu bleiben: Das deutsche Rechtssystem<br />

wird <strong>im</strong>mer wieder als eines der besten der Welt gepriesen und in<br />

Länder wie China „exportiert“. Welche Herausforderungen sehen Sie für<br />

die Zukunft ? Ist das deutsche Rechtssystem für diese Herausforderungen<br />

gewappnet?<br />

MINISTERIN: Eine der wichtigsten Herausforderungen wird sein,<br />

dass wir uns auch international in der Netzpolitik verständigen und<br />

gemeinsame Standards schaff en. Da Sie China ansprechen: Ich war<br />

<strong>im</strong> September in China zum Rechtsstaatsdialog, den es seit zwölf<br />

Jahren gibt. Hier gibt es Licht und Schatten. Bei unseren Gesprächen<br />

über das chinesische Strafverfahren haben wir zum Beispiel über<br />

Ausnahmeregelungen gesprochen, die die Staatssicherheit oder Terrorismus<br />

betreff en. Solche Gespräche zeigen auch, dass Deutschland<br />

hier mit gutem Beispiel vorangehen muss und auch in Zeiten, in denen<br />

es selbst von Terrorismus bedroht ist, bei allen Gesetzesänderungen<br />

möglichst grundrechtsschonend vorgehen muss. Sonst können<br />

wir die Einhaltung der Menschenrechte in anderen Ländern kaum<br />

glaubhaft anmahnen.<br />

: Die traditionelle deutsche Juristenausbildung sieht bekanntlich<br />

jeweils das Studium und das Referendariat abschließende Examina<br />

vor und dauert daher mindestens sechs Jahre. Daneben treten zunehmend<br />

auch (Wirtschaft s-) Juristen mit Bachelor- oder Masterabschluss. Wie wird<br />

sich diese Entwicklung auf die klassische Juristenausbildung auswirken?<br />

MINISTERIN: Gerade das Jurastudium kann doch als erfolgreiche<br />

Alternative zu Bachelor und Master gelten. In vielen anderen Studienfächern<br />

steht schon wieder ein Fragezeichen hinter Bologna.<br />

Durch die Alternativen, die es zur klassischen Juristenausbildung<br />

gibt, entsteht aber ein Reformdruck. Das deutsche Studienmodell<br />

wird fortlaufend an neue Anforderungen angepasst, insbesondere<br />

bei der internationalen Ausrichtung.<br />

: Welchen Rat können Sie heutigen Studenten in Bezug auf<br />

(Zusatz-) Qualifi kationen geben?<br />

MINISTERIN: Wichtige Zusatzqualifi kationen sind heute in einer<br />

global vernetzten Welt insbesondere Sprachenkenntnisse und das<br />

Verständnis von wirtschaft lichen Abläufen. Auch mit Technik umgehen<br />

zu können, insbesondere mit IT, ist heute von großer Bedeutung.<br />

: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wir danken Ihnen für<br />

dieses interessante Gespräch.<br />

61


62<br />

Rechtsprechung<br />

GERICHT<br />

OLG<br />

Hamburg<br />

AG<br />

München<br />

ART DER ENT-<br />

SCHEIDUNG<br />

DATUM AKTENZEICHEN THEMEN-STICHWORTE RECHTSGEBIET<br />

Urteil 1<strong>1.</strong>04.2011 5 U 45/07 Betreiber-Prüfungspfl ichten bei Verkaufsangeboten in<br />

Internetauktionshäusern<br />

Urteil 16.06.2011 275 C 7022/11 Hauseigentümer sind grundsätzlich nicht verpfl ichtet, Dritte durch<br />

spezielle Maßnahmen vor Dachlawinen zu schützen<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Zivilrecht<br />

Zivilrecht<br />

BAG Urteil 1<strong>2.</strong>0<strong>8.</strong>2011 6 AZR 354/10 Kündigung gegenüber minderjährigem Auszubildenden Zivilrecht/<br />

Arbeitsrecht<br />

LAG<br />

Hessen<br />

Urteil 2<strong>9.</strong>0<strong>8.</strong>2011 7 Sa 248/11 Schwere Pfl ichtverletzung rechtfertigt fristlose Kündigung auch bei<br />

freigestelltem Arbeitnehmer<br />

Zivilrecht/<br />

Arbeitsrecht<br />

LAG Köln Urteil 14.0<strong>9.</strong>2011 3 Sa 597/11 Ärztliches Attest schon ab dem ersten Arbeitstag Zivilrecht/<br />

Arbeitsrecht<br />

BAG Urteil 1<strong>1.</strong>10.2011 8 AZR 277/10 Frist für Widerspruch des Arbeitnehmers gegen Betriebsübergang Zivilrecht/<br />

Arbeitsrecht<br />

BGH Urteil 1<strong>8.</strong>10.2011 VI ZR 17/11 Werksangehörigenrabatt bei Schadensabrechnung nach<br />

Verkehrsunfall<br />

Zivilrecht<br />

OLG<br />

Düsseldorf<br />

Beschluss 1<strong>8.</strong>10.2011 I-24 U 50/10 Keine Minderung der Anwaltsvergütung wegen Mängeln Zivilrecht<br />

BGH Urteil 2<strong>9.</strong>10.2011 XI ZR 370/10 Haft ung des Karteninhabers bei missbräuchlicher Abhebung von<br />

Bargeld an Geldautomaten<br />

OLG<br />

Hamm<br />

OLG<br />

Oldenburg<br />

OLG<br />

Stuttgart<br />

Zivilrecht<br />

Urteil 1<strong>5.</strong>1<strong>1.</strong>2011 I-21 U 167/10 Generalunternehmen haft et für fehlerhaft programmierten Aufzug Zivilrecht<br />

Urteil 24.1<strong>1.</strong>2011 2 U 98/11 Zerstörung von Daten auf einer Festplatte ist Eigentumsverletzung<br />

gemäß § 823 Abs. 1 BGB wegen Verkörperung des Datenbestandes<br />

Urteil 1<strong>2.</strong>1<strong>2.</strong>2011 10 U 106/11 Kein Zutritt zur Diskothek bei dunkler Hautfarbe ist Verstoß gegen<br />

AGG<br />

Zivilrecht<br />

Zivilrecht<br />

BAG Urteil 1<strong>5.</strong>1<strong>2.</strong>2011 7 ABR 65/10 Sozialauswahl und Altersdiskr<strong>im</strong>inierung Zivilrecht/<br />

Arbeitsrecht<br />

BGH<br />

VGH Mainz<br />

Urteil 2<strong>1.</strong>1<strong>2.</strong>2011 VIII ZR 70/08 Richtlinienkonforme Auslegung des § 439 Abs. 1 BGB: Nacherfüllung<br />

durch “Lieferung einer mangelfreien Sache” erfasst Ausbau und<br />

Abtransport der mangelhaft en Kaufsache<br />

Zivilrecht/<br />

Kaufrecht<br />

Beschluss 2<strong>5.</strong>10.2011 3 L 995/1<strong>1.</strong>MZ Widerruf der Fahrlehrererlaubnis bei Spielsucht des Fahrlehrers Öff entl. Recht<br />

BVerfG Urteil 1<strong>1.</strong>0<strong>9.</strong>2011 2 BvC 4/10, 2 BvC<br />

6/10, 2 BvC 8/10<br />

BVerwG Urteil 1<strong>5.</strong>1<strong>1.</strong>2011 1 C 1<strong>5.</strong>10<br />

OVG<br />

Rheinland<br />

Pfalz<br />

OVG<br />

NRW<br />

Urteil 16.1<strong>1.</strong>2011 6 A 10584/1<strong>1.</strong>OVG<br />

Urteil 2<strong>3.</strong>1<strong>1.</strong>2011 11 A 2325/10, 11 A<br />

2511/11<br />

BVerwG Urteil 30.1<strong>1.</strong>2011 6 C 20.10<br />

BVerwG 1<strong>3.</strong>1<strong>2.</strong>2011 1 C 14.10<br />

OLG Celle Beschluss 1<strong>3.</strong>0<strong>9.</strong>2011 1 Ws 355/11<br />

BGH Beschluss 1<strong>9.</strong>10.2011 1 StR 233/11<br />

BGH Urteil 1<strong>1.</strong>0<strong>2.</strong>2011 2 StR 375/11<br />

OLG Köln Urteil 1<strong>5.</strong>1<strong>1.</strong>2011 15 U 62/11, 15 U<br />

61/11, 15 U 60/11<br />

BGH Urteil 2<strong>2.</strong>1<strong>1.</strong>2011 2 StR 509/10<br />

Ausbildungsrelevante Entscheidungen<br />

5%-Sperrklausel, die Parteien bei Wahlen zum Europaparlament<br />

überwinden müssen, ist verfassungswidrig<br />

Öff entl. Recht<br />

Kein Schengen-Visum bei Zweifeln an Rückkehrbereitschaft Öff entl. Recht<br />

Flohmärkte nur an verkaufsoff enen Sonntagen Öff entl. Recht<br />

Betrieb von Bierbikes und Partybikes auf öff entlichen Straßen ist<br />

erlaubnispfl ichtig, da Sondernutzung<br />

Öff entl. Recht<br />

Kein Recht auf islamisches Gebet an Berliner Gymnasium Öff entl. Recht<br />

Erstmalige Ermessensausübung <strong>im</strong> Prozess gegen Ausweisung Öff entl. Recht<br />

Fragen des notwendigen Mitgewahrsams und Näheverhältnisses bei<br />

der Dreieckserpressung<br />

Strafrecht<br />

Aussetzung nach § 221 StGB ist echtes Unterlassungsdelikt Strafrecht<br />

Bundesgerichtshof entscheidet über irrtümliche Notwehr<br />

bei Tötung eines Polizeibeamten<br />

Strafrecht<br />

Zulässige Berichterstattung <strong>im</strong> Strafverfahren gegen Kachelmann? Strafrecht<br />

Unverwertbarkeit von polizeilich abgehörten Selbstgesprächen aus<br />

Pkw<br />

Strafrecht/<br />

Strafprozessrecht


<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

Titelthema<br />

63


64<br />

Titelthema<br />

MIT DEN BESTEN. FÜR DIE BESTEN.<br />

Rechtsanwälte (m/w) Referendare (m/w) Praktikanten (m/w)<br />

Qualität und Klasse zeichnen nicht nur unsere Juristinnen und Juristen aus. Auch unsere Mandanten<br />

gehören zu den Besten ihrer Bereiche. Ihre Ansprüche sind ebenso hoch wie individuell. Darum<br />

verfügen wir über ein vielfältiges Angebot an Fachbereichen und suchen dafür starke, teamfähige<br />

Persönlichkeiten. Wir bieten Ihnen exzellente Mandate, internationale Projekte und ein kollegiales<br />

Miteinander.<br />

Wenn Sie also für Ihr Talent das ganz besondere Umfeld suchen, sollten wir uns unterhalten.<br />

Robert Krywalski, T +49 30 20360 1204, E robert.krywalski@cms-hs.com<br />

Berlin | Dresden | Düsseldorf | Frankfurt/Main | Hamburg | Köln | Leipzig | München | Stuttgart | Brüssel | Moskau | Shanghai<br />

<strong>Iurratio</strong><br />

Ausgabe 1 / <strong>2012</strong><br />

www.cms-hs.com/career

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!