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'Zeitzeugenberichte': eine Grundlage für historische Darstellungen

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<strong>'Zeitzeugenberichte'</strong>: <strong>eine</strong> <strong>Grundlage</strong> fÄr <strong>historische</strong> <strong>Darstellungen</strong>?<br />

Beispiel: Nachkriegszeit<br />

Udo Engbring-Romang<br />

„Fortgesetztes Unrecht“ heiÇt das Oberthema. Das will zunÉchst heiÇen, dass es<br />

nach dem VÑlkermord an den Sinti und Roma weiterhin Diskriminierungen und<br />

Ausgrenzungen in der Tradition des alten, aber auch des rassistischen<br />

Antiziganismus in Deutschland und Europa gab und gibt.<br />

„Zeitzeugenberichte“ sind mein Thema, und die Frage nach der Relevanz lÉsst<br />

sich eigentlich leicht beantworten. Sie kÑnnen <strong>eine</strong> wichtige, ergÉnzende<br />

Quellengrundlage fÖr die zeit<strong>historische</strong> Antiziganismusforschung sein.<br />

In m<strong>eine</strong>n kurzen AusfÖhrungen mÑchte ich mich ausschlieÇlich auf Deutschland<br />

und auf die deutschen Sinti und Roma beziehen. Es lassen sich auf den<br />

verschiedensten Gebieten Diskriminierungen und Ausgrenzungen in der<br />

Nachkriegszeit feststellen. FÖr den Historiker steht dabei auch hier nicht so sehr<br />

die unmittelbare Gegenwart im Vordergrund. Deshalb mÑchte ich eher sprechen<br />

Öber das, was in das Arbeitsgebiet der Historiker fÉllt: das ist die jÖngere<br />

Vergangenheit zwischen 1945 und etwa Mitte der 1970er Jahre.<br />

Der Ausgangspunkt<br />

Bei <strong>eine</strong>r ausfÄhrlichen Interviewkampagne mit Sinti und Roma, die zwischen<br />

1915 und 1933 geboren waren, die ihre Leidensgeschichten wÅhrend der NS-Zeit<br />

schilderten, kam auch immer wieder das Thema auf die Nachkriegszeit auf.<br />

In der aus den Interviews entstandenen - im Dezember 2005 ersch<strong>eine</strong>nden -


Publikation von Josef Behringer, Mitarbeiter des Landesverbandes Hessen beim<br />

Verband Deutscher Sinti und Roma steht aber die Zeit des Nationalsozialismus<br />

im Vordergrund, nicht die Lebensgeschichte an sich. Bei den Interviews, die ich<br />

gefilmt und transkribiert habe, und bei Interviews, die ich fÄr den Landesverband<br />

Baden-WÄrttemberg des Verbands Deutscher Sinti und Roma, durchgefÄhrt<br />

habe, wurde mir aber die groÇe Bedeutung, die die Nachkriegsjahre auch fÄr die<br />

Betroffenen hatten, klar. Jede BeschÅftigung mit der Lage der deutschen Sinti<br />

und Roma oder der in Deutschland lebenden Roma ist unzureichend, wenn sie<br />

sich ausschlieÇlich auf die Auswertung der Akten oder Zeitungen verlÅsst und<br />

nicht die Stimmen der Betroffenen wahrnimmt. Das betrifft die Fragen der<br />

EntschÅdigung, der Anerkennung des VÉlkermordes; das betrifft aber nicht<br />

zuletzt die Wohnsituation, die Bildung, die Ausbildung und die Arbeit.<br />

Ein paar allgem<strong>eine</strong> Bemerkungen zur Wiedergutmachung<br />

Zwischen 1945 und 1947 verfestigte sich der Gedanke auch in der deutschen<br />

Gesellschaft, dass die Verfolgten des NS-Regimes <strong>eine</strong> EntschÅdigung erhalten<br />

sollten. So mussten die Verfolgten zum Beispiel in Hessen – in der<br />

amerikanischen Zone - einheitliche FragebÉgen ausfÄllen, um AnsprÄche geltend<br />

zu machen. Je mehr die Kriterien des Grades und der Art der Verfolgung in den<br />

Mittelpunkt rÄckten, desto negativer wirkte sich das fÄr Kommunisten,<br />

Zwangssterilisierte, nicht zuletzt fÄr Sinti und Roma aus.<br />

Nach der Verabschiedung des BundesentschÅdigungsgesetzes (BEG)<br />

verÅnderten sich die gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen weiter zu<br />

Ungunsten der als „Zigeuner” verfolgten Menschen. Sie galten wie vor und<br />

wÅhrend des Nationalsozialismus als „Asoziale“. Deshalb mussten Sinti und<br />

Roma immer grÉÇere Hindernisse Äberwinden, um ihre berechtigten AnsprÄche<br />

durchzusetzen. Dies gelang ihnen zum Teil erst in den 60er, zum Teil sogar erst<br />

in den 80er Jahren. HÉchstrichterliche Entscheidungen erklÅrten bis Anfang der<br />

60er Jahre, dass Sinti und Roma nicht aus rassistischen, sondern aus<br />

sogenannten kriminalprÅventiven GrÄnden von den Nationalsozialisten verfolgt<br />

gewesen wÅren. Somit galten sie lange Zeit nicht als „rassisch“ Verfolgte.<br />

Beispiel:<br />

BegrÄndung zur Ablehnung <strong>eine</strong>s Wiedergutmachungsanspruchs aus dem<br />

Jahre 1951, wie er in Varianten den Betroffenen immer wieder zugestellt<br />

wurde.<br />

Die Antragstellerin macht als Zigeunerin <strong>eine</strong> Verfolgung und SchÄdigung aus<br />

GrÅnden der Rasse geltend und beantragt Wiedergutmachung <strong>eine</strong>s Schadens<br />

an KÇrper und Gesundheit, sowie im wirtschaftlichen Fortkommen.<br />

Diese AnsprÅche mÅssen jedoch mangels der Voraussetzungen des É 1 Abs. EG<br />

abschlÄgig beschieden werden. Aufgrund amtlicher Feststellungen und nach der<br />

stÄndigen Gerichtspraxis der Wiedergutmachungskammern sind die Zigeuner<br />

durch die Nationalsozialisten nicht wegen ihrer Rasse verfolgt worden und nicht<br />

den kollektiven VerfolgungsmaÑnahmen ausgesetzt gewesen, wie etwa die


Juden. Erst im Jahre 1943 wurden durch die nationalsozialistischen BehÇrden<br />

KZ-Einweisungen von Zigeunern vorgenommen. Diese MaÑnahme betraf aber<br />

nur Zigeunermischlinge, wÄhrend die reinstÄmmige Zigeuner von dieser Aktion<br />

verschont bleiben. Daraus ergibt sich, dass <strong>eine</strong> Verfolgung der Zigeuner aus<br />

GrÅnden der Rasse nicht geplant war. Tatsache ist vielmehr, dass aufgrund<br />

kriminalpolizeilicher Erfahrung Zigeunermischlinge von den Nationalsozialisten im<br />

allgem<strong>eine</strong>n fÅr Straftaten besonders anfÄllig angesehen und in Kriegszeiten vor<br />

allen Dingen auch wegen Fehlens fester Wohnsitze als besonders gefÄhrlich<br />

betrachtet worden sind. Die Nationalsozialisten erachteten Zigeunermischlinge an<br />

sich als asozial und setzten sie deshalb fest. Dabei wurden selbstverstÄndlich<br />

auch Personen erfaÑt, auf die diese Bezeichnung in k<strong>eine</strong>r Weise zutrifft.<br />

Trotzdem ist hier <strong>eine</strong> Verfolgung aus GrÅnden der Rasse nicht gegeben, dass<br />

WiedergutmachungsansprÅche nicht zur Entstehung kommen.<br />

Deutlich ist,<br />

• dass Sinti und Roma - anders als Juden - nach 1946/47 nicht mehr in jedem<br />

Fall als rassisch Verfolgte anerkannt wurden;<br />

dass sie nach 1946/47 wieder verstÅrkt mit Diskriminierungen zu leben<br />

hatten,dass BehÉrden bis in die 50er Jahre bei der Erfassung und Abschiebung<br />

auf Gesetze zurÄckgreifen konnten, die vor oder wÅhrend des Nationalsozialismus<br />

formuliert worden waren.<br />

Was zunÅchst noch im Einzelfall als traditionell antiziganistische Diskriminierung<br />

bezeichnet werden kann, weitete sich in der EntschÅdigungs- und<br />

Wiedergutmachungsfrage nach 1952 zum Skandal aus, weil zum Beispiel die<br />

PolizeimaÇnahmen gegen Sinti und Roma wÅhrend des Nationalsozialismus<br />

ihres rassistischen Gehalts beraubt wurden. Das heiÇt, Sinti und Roma galten als<br />

zu Recht - wenn auch hart – bestraft. Der Skandal wurde noch grÉÇer, weil<br />

Gutachter im medizinischen Bereich zum Teil identisch waren mit denen, die vor<br />

1943 mitgeholfen hatten, Sinti und Roma zu erfassen. Entsprechendes gilt fÄr die<br />

Kriminalbeamten.<br />

Gesellschaftlicher Antiziganismus verhinderte <strong>eine</strong> EntschÅdigung, die den<br />

Namen verdient hÅtte.<br />

Folgen<br />

Welche Folgen das fÄr die deutschen und die in Deutschland lebenden Sinti und<br />

Roma hatte, ist bisher fast immer nur auf der Ebene der Auswertung von Akten<br />

und Éffentlicher Darstellung analysiert worden.<br />

Dass die âberlebendenden des VÉlkermords traumatisiert waren, ist mehrfach<br />

beschrieben worden. Dass sie kein Vertrauen in den ihnen gegenÄber stehenden<br />

demokratischen „Staat“ in Form von Verwaltung, Polizei und Schule fassen<br />

konnten, liegt auf der Hand. Dass sie ihre Erfahrungen an Kinder und Eltern<br />

weitergaben und geben, ist anzunehmen.<br />

Vor allem die Verfolgungserfahrungen der âberlebenden des Volkesmordes<br />

wirkte und wirkt sich auf deren Kinder und Enkel aus. Selbst die psychosozialen<br />

SpÅtfolgen kÉnnen auf sie Äbertragen werden. Entsprechende Befunde Äber die


generationenÄbergreifende Transmission psychischer Symptome gibt es seit den<br />

1960er Jahren. Diese Personengruppe wurde seit dem Ersch<strong>eine</strong>n des Buches<br />

von Helen Epstein im Jahre 1979 aus als „Kinder des Holocaust“ bezeichnet, die<br />

<strong>eine</strong> ganz besondere Sozialisierung durchgemacht haben. Die oft<br />

langandauernde Sprachlosigkeit der Eltern wurde vielfach als deren Leiden<br />

wahrgenommen. Im Gegensatz zu den Äberlebenden Juden wurden viele, die<br />

meisten Sinti und Roma von BehÉrden vielfach nicht als Verfolgte behandelt;<br />

sondern sie blieben diskriminiert und ausgegrenzt. Und das gilt auch fÄr die<br />

Kinder.<br />

Das heiÇt, in <strong>eine</strong>r Interviewsituation, in der es um die wirtschaftliche und soziale<br />

Entwicklung und Lage geht und auch um Ausgrenzungserfahrung geht, spielen<br />

die Erinnerung an den VÉlkermord und die Nachwirkungen des VÉlkermordes<br />

<strong>eine</strong> nicht unwesentliche Rolle. Ausgrenzungserfahrung, vermittelte Erinnerung<br />

an die Verfolgung wÅhrend des Nationalsozialismus und die lange Zeit versagte<br />

Anerkennung der Verfolgung haben Nachwirkungen Äber Generationen bewirkt.<br />

In <strong>eine</strong>m Projekt in Baden-WÄrttemberg sollte die Wirkung all der schon oben<br />

angedeuteten Formen des Antiziganismus auf Lebensplanung, Schul- und<br />

Berufsleben von sehr jungen VÉlkermordÄberlebenden und nachgeborenen Sinti<br />

und Roma untersucht werden. AktenvorgÅnge, scheinbar objektive Daten gaben<br />

<strong>eine</strong>n Rahmen. Es fehlten die Wahrnehmungen der Betroffenen.<br />

Seit 2002 wurden einige Interviews durchgefÄhrt. Sie sollten <strong>Grundlage</strong> fÄr <strong>eine</strong><br />

filmische Dokumentation werden Bislang gibt es nur wenige gefilmte Interviews.<br />

SpÅtestens als darum ging, dass Teile der Interviews verÉffentlicht werden<br />

kÉnnten und nicht nur fÄr das Archiv des Verbandes gesammelt werden sollten,<br />

wuchsen die ängste bzw. Vorbehalte. Einige der angesprochenen Personen<br />

signalisierten, dass sie nach weiteren VorgesprÅchen bereit wÅren, sich ggf.<br />

filmen zu lassen. Es spricht ein hohes MaÇ an Misstrauen aus dieser Haltung, die<br />

– sicherlich mit Recht – mit dem Vorgehen einzelner Reporter etwas zu tun hat,<br />

die immer wieder vor allem jugendliche Sinti mit laufender Kamera befragen,<br />

recht freimÄtig Antworten erhalten und dann quasi „vorfÄhren“, wenn nur<br />

Kernaussagen, schlimmer verfÅlschte Aussagen dann gesendet werden.<br />

Ergebnisse<br />

Personen aus der Gruppe, die den VÉlkermord Äberlebten, berichteten vor allem<br />

Äber ihre Erlebnisse und Erfahrungen, die sie als Jugendliche und Kinder im<br />

Nationalsozialismus gemacht hatte. Aussagen zur Nachkriegsgeschichte der<br />

vierziger bis sechziger Jahre beschreiben die erneute Diskriminierung, zum Teil<br />

Ausgrenzung und nicht zuletzt auch die Diskriminierung ihrer Kinder.<br />

Bei der Generation der JahrgÅnge zwischen 1950 bis 1960, die zur sogenannten<br />

„zweiten Generation“ zÅhlen, lassen sich aus den aufgezeichneten Interviews wie<br />

noch mehr aus den nicht aufgezeichneten GesprÅchen, ein hohes MaÇ an<br />

Verletzlichkeit und Verletztheit heraushÉren.<br />

Ein Interviewpartner hat in knapp 7 Zeilen fast alles zusammengefasst:<br />

„Und wir haben selber sehr viel mitgemacht. Von Schule wussten wir nicht sehr


viel. Die Stadt hat sich wenig um uns gekÅmmert. Und weil ich viel weiÑ von<br />

m<strong>eine</strong>n Eltern, was sie mitgemacht haben, ist es an uns hÄngen geblieben. Und<br />

was ich weiÑ, kann ich nur vom HÇrensagen weitergeben, was m<strong>eine</strong> Eltern mir<br />

in den Jahrzehnten erzÄhlt haben, was sie in den 5 Jahren in Polen, als sie<br />

deportiert waren, mitgemacht haben. Die Angst werden wir wohl nicht verlieren.<br />

Das betrifft mich wie auch m<strong>eine</strong> Geschwister.“<br />

Angst ist etwas, was als Folge des Antiziganismus aus den Akten nicht zu<br />

ermitteln ist.<br />

Befragt man zweite und dritte Generation nach ErzÅhlungen der Eltern Äber den<br />

VÉlkermord, so gibt es unterschiedliche Antworten. Zwar gibt es<br />

notwendigerweise immer wieder Erinnerungen, die genannt wurden.<br />

BedrÄckender schien aber das Verschweigen, so zumindest ist das die<br />

Wahrnehmung des Interviewers.<br />

VernachlÅssigung und Ignoranz sind weitere Facetten des<br />

Nachkriegsantiziganismus. Der Satz, den Sinti und Roma zum Teil als Kinder von<br />

LehrkrÅften immer wieder hatten hÉren mÄssen, lautete: „Aus dir wird ja doch<br />

nichts.“ Dabei erlebten doch einige immer wieder auch Beispiele von<br />

UnterstÖtzung, die Regel war aber gerade in den frÖhen sechziger Jahre noch die<br />

Diskriminierung, ein Einzelfall das vÑllige Desinteresse der SchulbehÑrden an<br />

<strong>eine</strong>m Schulbesuch, obwohl die Befragten alle ihr Wollen, ihr Interesse an<br />

Bildung und Ausbildung, betonten. Lesen kÑnnen, noch mehr: Schreiben zu<br />

kÑnnen war – so Öbereinstimmend fast alle – ein wichtiges Ziel.<br />

Als wesentliche Ursache wird in der RÖckschau die Stigmatisierung als<br />

„Zigeuner“ gesehen. Das gilt fÖr die Schulzeit, das gilt fÖr die Ausbildungsjahre.<br />

Die FÉhigkeit, heute lesen und schreiben zu kÑnnen, wird als eigene Leistung<br />

angesehen, die man erworben hat - eher trotz der Schulsituation.<br />

Beigetragen zur Diskriminierung hat auch vielfach die sehr schlechte<br />

Wohnsituation in den sechziger und siebziger Jahren, der durch behÑrdliche<br />

WillkÖr hervorgerufen wurde. Beispiele lassen sich in der Studie von Peter<br />

Widmann Öber Freiburg nachlesen. Interviews mit Betroffenen bestÉtigten die<br />

AusfÖhrungen aus <strong>eine</strong>r anderen Perspektive.<br />

Es gilt grundsÉtzlich die Aussage von Heike Krokowski aus dem Jahre 2001,<br />

dass, „... anders als die Kinder jÖdischer áberlebender, die in der Bundesrepublik<br />

wie auch in ihren neuen HeimatlÉndern zumeist <strong>eine</strong>n – im Vergleich mit ihren<br />

nichtjÖdischen Altersgenossen – „typischen“ Verlauf von Kindheit und<br />

Ausbildungszeit erlebten, [dass] die Kinder der Öberlebenden Sinti weiterhin<br />

unterprivilegiert, ausgegrenzt und abgeschnitten von den jeweiligen Schul- und<br />

AusbildungsmÑglichkeiten.“ (S.163f)<br />

JÖngere Befragte (geboren nach 1970, zum Teil schon „dritte Generation“)<br />

stellten Wohnsituation, Schulsituation und auch die Ausbildung positiver dar.<br />

Ob das ein nachlassender Antiziganismus ist oder <strong>eine</strong> selbstbewusstere<br />

Grundhaltung der Betroffenen bedÖrfte <strong>eine</strong>r genaueren Analyse.<br />

Zu einzelnen Aussagen


Die Nachkriegssituation und die Angst vor BehÉrden beschreibt Juliane B., die<br />

als kl<strong>eine</strong>s Kind nach Polen deportiert war und als AchtjÅhrige zurÄck nach<br />

SÄdwestdeutschland kann:<br />

Als wir zurÅckgekommen sind, durfte ich k<strong>eine</strong> Schule besuchen von m<strong>eine</strong>m<br />

Vater aus. Denn der hatte immer gefÅrchtet, m<strong>eine</strong> Älteren Schwestern sind aus<br />

der ersten und der zweiten Klasse geholt worden, wie wir dann weggekommen<br />

sind. Und er hat immer gefÅrchtet, wenn wir in die Schule gehen und wir kÄmen<br />

wieder fort. Und wenn ich auf der StraÑe war, und wenn ich <strong>eine</strong>n Adler gesehen<br />

habe da vorne (an der MÅtze), bin ich heimgelaufen, bin ich blau geworden, ich<br />

war auf der StraÑe nicht mehr zu sehen.<br />

Wenn ich <strong>eine</strong>n Polizist gesehen, habe ich geschrieen, da waren wir schon ein<br />

paar Jahre in Deutschland. Noch lange ist mir das nachgegangen, als wir schon<br />

in Deutschland waren. [...] FÅr die zwei SÇhne hat er <strong>eine</strong>n anstÄndigen<br />

Strafzettel gekriegt, und dann ist der <strong>eine</strong> 11 oder 10, der andere 12, da sind sie<br />

in die Schule gekommen, da hat er <strong>eine</strong>n saftigen Strafzettel von der BehÇrde<br />

gekriegt. Aber wir waren schon in dem Alter, in dem wir k<strong>eine</strong> Schule mehr<br />

besuchen brauchten. [1] <br />

FÄr Frau B. bedeutete dies, dass sie Analphabetin blieb. Sie bedauert das, weil sie so<br />

vor allem bei BehÉrdengÅngen auf die Hilfe anderer Personen angewiesen ist.<br />

Die Informationen Äber die Diskriminierungen in den Schulen (und nach bei<br />

BehÉrden) sind nur schwer auÇer Äber die mÄndliche Aussage festzuhalten. Bei<br />

SchulbehÉrden fehlen die meisten der Angaben, die notwendig wÅren, um<br />

Diskriminierung nachzuweisen.<br />

Auch Frau R., die als SechsjÅhrige 1940 nach Polen deportiert wurde, blieb zu<br />

ihrem groÇen Bedauern Analphabetin. Sie war elf, als sie nach Deutschland<br />

zurÄckkehrte.<br />

Und wenn die Leute gefragt haben, warum wir nicht lesen konnten. Ich hab es<br />

versucht, aber dann hab ich der Mutter das erklÄren wollen. Ich habe immer so<br />

Kopfweh gehabt, wir haben viele SchlÄge bekommen. Wir haben aber immer<br />

<strong>eine</strong>n Schutzengel gehabt. Es hat sich vieles hier drinnen abgespielt, aber ich<br />

weiÑ nicht mehr, es fehlen <strong>eine</strong>m die ZusammenhÄnge. Man kann sich nicht alles<br />

merken. Man hÄtte es sich merken kÇnnen. Aber ich kann heute nicht lesen und<br />

schreiben. Vieles ist in Vergessenheit geraten. Ich kann k<strong>eine</strong> Adresse und<br />

StraÑennamen behalten, m<strong>eine</strong> Schwester ihre ist die einzige, die ich behalten<br />

habe. Aber ich muss sagen, Namen von StraÑen muss ich zehnmal fragen, wo<br />

ich hinmuss. Wenn ich in Mannheim zur Post, oder zum Rathaus muss, das<br />

kenne ich, da finde ich mich zurecht. Aber es ist schwer.<br />

Ich habe dann die Schule besucht und hab die SchulbehÇrde gefragt, ob sie mir<br />

das bezahlen, damals war ich noch jÅnger. Ich wollte das lernen. Dann haben sie<br />

Åber 100 DM verlangt fÅr <strong>eine</strong>n Monat und 1x die Woche. Das war zu wenig, ich<br />

hab es nicht gepackt. Und dann bin ich zum Sozialamt gegangen und zum<br />

Arbeitsamt. Ich habe mir <strong>eine</strong> Arbeit spÄter erlogen.[2] <br />

„Zweite Generation“


Geht man zur Gruppe der nach dem Krieg geborenen Sinti Äber, entsteht ein<br />

anderes Bild, das weniger von Traumata der unmittelbar erlebten Verfolgung<br />

geprÅgt ist, als von vermittelter Verfolgung und real erlebten Diskriminierung.<br />

Gemeinsam ist die Erfahrung, dass die Kinder der Verfolgten die sehr frÄh<br />

merkten, wie die Erwachsenen unter den Nachwirkungen des NS-VÉlkermord<br />

litten, selbst wenn nicht ausfÄhrlich darÄber geredet wurde.<br />

Zumindest in den GesprÅchen war es vielmehr die erlebten tagtÅglichen<br />

Diskriminierungen, die den Kinder Verletzungen beibrachten, die zum Teil bis<br />

heute nicht wirklich verheilt sind.<br />

Frau K., Jg. 1952, drei Kinder, sechs Enkel, die bei <strong>eine</strong>m Interview mit ihrer<br />

wÅhrend des Nationalsozialismus nach Polen deportierten Mutter eher zufÅllig<br />

anwesend war, tat ihren Unmut Äber die Diskriminierungspolitik in den 50er und<br />

60er Jahren kund. Sie beschrieb das Abschieben aus dem regulÅren<br />

Schulunterricht bei sich und ihren TÉchtern und das HinausdrÅngen aus<br />

Wohnungen. Ihr VerhÅltnis zur MehrheitsbevÉlkerung kann man als schlecht<br />

bezeichnen. Das Wort „ScheiÇdeutsche“ fiel nicht nur einmal. Zu den VerbÅnden<br />

der deutschen Sinti und Roma hat Frau K. ansonsten auch k<strong>eine</strong>n Kontakt. das<br />

war bei anderen GesprÅchspartnern anders.<br />

R.V., Jg. 1957, verheiratet drei Kinder, ein Enkelkind, der nicht gefilmt werden<br />

wollte, berichtete, dass s<strong>eine</strong> Schullaufbahn zunÅchst durchaus in geregelten<br />

Bahnen verlief, solange, bis die Familie an den Rand der Stadt umziehen musste.<br />

Dann begann, so s<strong>eine</strong> Wahrnehmung, der Versuch der Abschiebung in die<br />

„Zigeunerschule“, das war die Hilfsschule. S<strong>eine</strong> Klassenlehrerin hatte ihm<br />

unmissverstÅndlich gesagt, dass aus ihm „doch nichts“ werden wÄrde. Er<br />

bezeichnete viele s<strong>eine</strong> BemÄhungen im schulischen und beruflichen Bereich<br />

danach als <strong>eine</strong>n Versuch der „Rache“ an dieser Lehrperson, was eher als<br />

Versuch zu bewerten, dass er zu beweisen versuchte, dass er es doch zu<br />

„etwas“ bringen wÄrde. Die schulische Laufbahn und auch die Zeit der<br />

Ausbildung wurden danach ein Wechselspiel zwischen schwerster<br />

Diskriminierung und zum Teil aber von Anerkennung und FÉrderung. Als er die<br />

MÉglichkeit in der Schule begann, MÅrchen aufzuschreiben, fÉrderte das in ihm<br />

den Wunsch, Schriftsteller zu werden. Dieser Wunsch bestehe noch heute.<br />

Da dies aber kein Brotberuf war, hatte er als Jugendlicher <strong>eine</strong> kaufmÅnnische<br />

Lehre begonnen, die er nach zweieinhalb Jahren abgebrochen hatte, nachdem er<br />

fÅlschlicherweise <strong>eine</strong>s Diebstahls beschuldigt und vom Meister vor aller Augen<br />

deswegen geohrfeigt worden war. Dass s<strong>eine</strong> Unschuld bewiesen werden<br />

konnte, er quasi rehabilitiert wurde, spielte spÅter k<strong>eine</strong> Rolle: das LehrverhÅltnis<br />

war ohne Abschluss beendet.<br />

Damit waren viele BerufsmÉglichkeiten ausgeschlossen. Um den<br />

Lebensunterhalt zu bewerkstelligen, baute er sich <strong>eine</strong>n Kunst- und<br />

AntiquitÅtenhandel auf, der nach eigenen Angaben funktioniert. Diese<br />

BerufstÅtigkeit gibt ihm die MÉglichkeit, auch fÄr die am Ort lebenden Sinti<br />

ehrenamtlich tÅtig zu sein. Das sei immer wieder <strong>eine</strong> groÇe Herausforderung<br />

und auch manchmal <strong>eine</strong> Belastung, denn viele der „eigenen Leute“ zeigten nur


„wenig VerstÉndnis“ fÖr den Aufwand.<br />

Damit ist ein Punkt angesprochen, auf den Heike Krokowski in ihrer<br />

Untersuchung hingewiesen hatte. Viele der Interviewpartner sind<br />

gesellschaftspolitisch aktiv, vielfach in oder bei den VerbÉnden der Sinti und<br />

Roma oder kennen und schÉtzen zumindest deren Arbeit. Damit ist immer die<br />

Gefahr verbunden, dass aus der Analyse der GesprÉche nur ein Ausschnitt aus<br />

der Sinti- und Roma-BevÑlkerung gehÑrt worden ist.<br />

Bei weiteren Personen, die sich bereit erklÉrt hatten, interviewt zu werden und<br />

sich dabei auch filmen zu lassen, ist der Bezug zur BÖrgerrechtsarbeit und zur<br />

Lobbyarbeit fÖr die Sinti und Roma enger, sei es als Sprecher der von Sinti-<br />

Gruppen oder seien es Mitarbeiter von VerbÉnden und Initiativen.<br />

Es ging in den bisher gefÖhrten Interviews um die Komplexe die<br />

Schule/Ausbildung, VÑlkermord; Erinnerung und Gedenken.<br />

Die in den vierziger und fÖnfziger Geborenen bedauerten in der Regel, dass ihre<br />

Schulbildung eher schlecht sei. Das sei vor allem der Tatsache geschuldet, dass<br />

sich niemand um sie gekÖmmert hÉtte, als ob mangelhafte Schulbildung <strong>eine</strong><br />

SelbstverstÉndlichkeit fÖr Sinti sein mÖsse.<br />

Fazit<br />

Was erfahren wir aus Interviews Öber „fortgesetztes Unrecht“? Interviews,<br />

aufgezeichnete GesprÉche oder Filme sind einfach <strong>eine</strong> MÑglichkeit Öber den<br />

begrenzten Bereich der Familie, der Gruppe oder auch des Quartiers GehÑr<br />

finden zu kÑnnen. So wie die Zeitzeugenberichte Öber die NS-Zeit, die in den<br />

letzten Jahren erschienen sind, den Sinti und Roma <strong>eine</strong> Stimme oder viele<br />

Stimmen gegeben haben und nicht zuletzt der scheinbaren ObjektivitÉt der<br />

amtlichen Quellen <strong>eine</strong> subjektive Position gegenÖberstellt, so ist das auch fÖr die<br />

Nachkriegszeit mÑglich. Hier geht es um die Darstellung von Antiziganismus, wie<br />

er erfahren wurde, nicht wie er ausgeÖbt, ggf. ausgelebt wurde. Allein das<br />

rechtfertigt bzw. macht es notwendig, nicht beim Nationalsozialismus mit den<br />

ZeitzeugengesprÉchen zu enden, sondern sie fortzusetzen bis in die jÖngste<br />

Vergangenheit.<br />

[1] GesprÄch mit J. B., 2002<br />

[2] GesprÄch mit O. R, 2002

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