14.06.2015 Aufrufe

DIE GERECHTIGKEIT DES DRITTEN KONTUREN EINES PROBLEMS

DIE GERECHTIGKEIT DES DRITTEN KONTUREN EINES PROBLEMS

DIE GERECHTIGKEIT DES DRITTEN KONTUREN EINES PROBLEMS

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

O.Neumaier/C.Sedmak/M.Zichy (Hg.): Philosophische Perspektiven. Beiträge zum VII.<br />

Österreichischen Kongress für Philosophie. Frankfurt/M.–Lancaster 2005: Ontos, 50–55.<br />

<strong>DIE</strong> <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>DES</strong> <strong>DRITTEN</strong><br />

<strong>KONTUREN</strong> <strong>EINES</strong> <strong>PROBLEMS</strong><br />

Thomas Bedorf (Hagen)<br />

Von wo aus spricht ein Theoretiker der Gerechtigkeit? Welche Position nimmt<br />

er oder sie ein, wenn Gleichheitsforderungen abgewägt, Vertragsinhalte normativ<br />

geprüft oder die Herkunft von Rechtsnormen prozedural nachvollzogen<br />

werden? Er oder sie handelt von gesellschaftlichen Zwängen, individuellen Anrechten,<br />

moralischen Imperativen. In der Rede von der Vermittlung von individuellem<br />

Glücksstreben und der gesellschaftlichen Vielfalt sich (durch-)kreuzender<br />

Interessen spricht er über sie. Es ist ein Blick auf eine Versuchsanordnung<br />

mit der Intention, diese nach einer spezifischen Maßgabe, nämlich »gerecht«,<br />

auszurichten. Die Ordnungen unterscheiden sich danach, was jeweils<br />

»gerecht« heißen soll. Vorausgesetzt ist aber ein Begriff vom Subjekt, der in der<br />

Theorie selbst unbefragt fungiert. Anders gesagt: eine Theorie der Gerechtigkeit<br />

impliziert eine Theorie des Subjekts, die in der Regel nicht explizit wird.<br />

Ließe sich – so die Leitidee der folgenden Überlegungen – die Überzeugungskraft<br />

der Gerechtigkeit dadurch stärken, dass diese Implikation expliziert<br />

würde? Müsste sich eine Theorie der Gerechtigkeit nicht der Frage stellen, wie<br />

das Subjekt zu den normativen Ansprüchen auf Gerechtigkeit kommt, mit denen<br />

es sich konfrontiert sieht? Die daran anschließende zweite Frage lautet: Wie<br />

muss die Relation zum Anderen gedacht werden, damit der normative Impetus,<br />

der uns zu Überlegungen zwingt, die Verhältnisse zwischen Menschen<br />

gerecht zu ordnen, nicht von außen hinzupostuliert werden muss, sondern in<br />

dieser Beziehung selbst verankert ist?<br />

1. Problemstellung – Die Figur des Dritten<br />

Jeder Form institutionalisierter Gerechtigkeit wohnt das Problem ihrer Stiftung<br />

inne. Formuliert wird dies in unterschiedlicher Weise bei Autoren wie Nietzsche,<br />

Husserl, Derrida und Levinas und besteht darin, dass die Legitimität<br />

einer Institution (heiße sie »Vertrag«, »Recht« oder anders) deren Gründung<br />

nicht einschließen kann, weil die institutionellen Prinzipien zum Zeitpunkt


THOMAS BEDORF: <strong>DIE</strong> <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>DES</strong> <strong>DRITTEN</strong> 51<br />

der Gründung noch nicht in Kraft gewesen sein können. »Stiftung« bedeutet<br />

dann, dass die Regeln der Institution nicht die Regeln ihrer Instituierung sind.<br />

Die Philosophie von Emmanuel Levinas 1 stellt einen Subjektbegriff bereit,<br />

der den Gedanken der Stiftung berücksichtigt. Levinas geht nicht von einem<br />

bereits konstituierten Ich aus, sondern von einer unabweisbaren Heimsuchung<br />

des Ichs durch den Anderen. Levinas’ emphatische Herausarbeitung der Radikalität<br />

der Andersheit gegenüber einer »andersheitsvergessenen« Tradition beruht<br />

darauf, dass die symmetrischen Relationen, die neuzeitliche Intersubjektivitätstheorien<br />

kennzeichnen, unterspült werden. Der entscheidende Zug besteht<br />

darin, nicht lediglich die Subjektzentrierung zugunsten des Anderen umzukehren,<br />

sondern die Gleichordnung zu einer asymmetrischen Beziehung umzubauen,<br />

die dem Appell des Anderen und nicht der Autonomie eines bewussten<br />

Ichs entspringt. So, wie Levinas die Relation konzipiert, ist der Andere<br />

der »ab-solut Andere« und d. h. im Wortsinne abgelöst (lat. »absolvere«) von<br />

den begrifflichen Erkenntnisversuchen des Subjekts als auch von Umfassungsbewegungen<br />

traditioneller Metaphysik. Überdies zwingt mich jede Begegnung<br />

mit dem Anderen in eine Nähe, die ich nicht selbst gewählt habe; sie nötigt<br />

mich, seine Ansprüche wahrzunehmen und auf sie zu reagieren.<br />

Diese fremdgenerierte Anspruchslogik erschließt keine dialogische Idylle,<br />

sondern bedeutet eine Steigerung der Verantwortlichkeit ins Unendliche: Wenn<br />

ich selbst auf die Ansprüche (und seien sie im herkömmlichen Sinne »unmoralisch«)<br />

meiner Verfolger zu antworten habe, ist diese Verantwortung prinzipiell<br />

unerfüllbar. Levinas intendiert also keine juridische oder eine nach Prinzipien<br />

der Vernunft zu übernehmende Verantwortung, sondern eine »elementarethische«<br />

oder »prä-normative«, zu der ich mich zu verhalten habe. In diesem<br />

»Sich-verhalten-Müssen« liegt sowohl die Offenheit als auch die Last menschlichen<br />

Handelns. Es bleibt offen, was ich auf den Appell des Anderen antworte,<br />

aber dass ich antworte, liegt nicht in meiner Macht. 2<br />

1. Ich stelle diese Theorie in der Ausarbeitungsstufe vor, die sie mit der Publikation von<br />

Autrement qu’être ou au-delà de l’essence (Levinas (1998)) erreicht hat. Andere Werketappen<br />

Levinas’ weisen z. T. erhebliche systematische Differenzen dazu auf. Ich unterstelle<br />

jedoch, dass erst mit Autrement qu’être das Programm einer Lösung von der identitätsgebundenen<br />

Ontologie, wie Levinas es postuliert, voll erfüllt ist.<br />

2. Diese Lesart Levinas’ verdankt der Interpretation von Bernhard Waldenfels ihre entscheidende<br />

Formalisierung und Säkularisierung, wie sie auch seiner Theorie responsiver<br />

Rationalität zugrunde liegt. Vgl. Waldenfels (1994).


52 SEKTION 1: <strong>GERECHTIGKEIT</strong><br />

Die pränormative Verantwortung, die Levinas als subjektkonstitutiv annimmt,<br />

führt die epistemologische und die ethische Ebene (Deskription und<br />

Präskription) parallel, insofern die Wahrnehmung des Anderen mit der Verpflichtung<br />

durch ihn verschmilzt. Diese Lösung des Stiftungsproblems wird<br />

dadurch plausibel, dass Levinas’ Konzeption den Anderen nicht zu einem bereits<br />

konstituierten Subjekt hinzutreten lässt, wodurch die Fragen ethischer<br />

Natur von jenen der Subjekt- oder Erkenntnistheorie separiert würden, sondern<br />

den Anderen bereits im Erkennen, Handeln und Sprechen eines dezentrierten<br />

Ichs beginnen lässt. 3<br />

Gerechtigkeitsrelevant wird die Unvergleichbarkeit der Singularität des Anderen,<br />

weil sich im sozialen Leben Fragen der Gleichheit, der Ein- und Unterordnung,<br />

der Prä- und Differenz von Ansprüchen, Anrechten und institutionellen<br />

Forderungen stellen. Levinas muss also mit der Schwierigkeit umgehen, wie<br />

das Unvergleichliche verglichen werden soll, wenn es verglichen werden muss.<br />

Dieses Hindernis wird vom Dritten repräsentiert (ausführlicher dazu Bedorf<br />

2003, 25–99), der dem Ich zugleich ein anderer Anderer ist, sowie die Präsenz<br />

der epistemischen, sozialen und symbolischen Ordnung, die in der Alteritätsrelation<br />

methodisch außer Kraft gesetzt war.<br />

Die Frage der Gerechtigkeit ist im Gegensatz zu der nach dem Ethischen<br />

überhaupt erst dann sinnvoll, wenn mehrere Andere einander widerstreitende<br />

Ansprüche stellen, die zum Abwägen und Hierarchisieren auffordern.<br />

Paradox gesagt: Der Widerstreit (durchaus im Sinne Lyotards) von Ansprüchen<br />

entsteht erst, wenn kein dritter Term diesen zu schlichten oder zu versöhnen<br />

in der Lage ist; und dennoch fordert der Widerstreit den Dritten,<br />

wenn denn die Frage des Ethischen auf das Politische hin überschritten werden<br />

soll (vgl. dazu Bedorf 2003a). Aus dieser Problemlage kann man schließen:<br />

Gerechtigkeit zu zweien gibt es nicht, erst der Dritte macht sie notwendig<br />

und möglich.<br />

2. Strukturmomente des triadischen Modells<br />

Man könnte nun zunächst einwenden, dass mit dieser Figur nicht viel Neues<br />

gedacht sei. Aus der Interaktion mit Anderen gesellschafts- und normen-<br />

3. Diese Konzeption ist so ungewöhnlich nicht: Gewährsleute für eine solche Erschütterung<br />

der Autonomie durch die Heimsuchung durch Anderes sind auch Nietzsche, Freud<br />

und Husserl.


THOMAS BEDORF: <strong>DIE</strong> <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>DES</strong> <strong>DRITTEN</strong> 53<br />

konstitutive Haltungen zu gewinnen, sei doch ein altbekannter Topos der Sozialwissenschaften<br />

und insbesondere der Rollentheorie. So rekonstruiert Habermas<br />

im Rückgriff auf Mead die Erweiterung der kommunikativen Rollen<br />

von Alter und Ego um ein Neuter, der in der »Position eines unbeteiligten<br />

Dritten« (Habermas (1988), 59) die an der Interaktion beteiligten Ego und Alter<br />

relativiert.<br />

Diese Beobachterperspektive ermöglicht wiederum den Beteiligten eine<br />

»objektivierende Einstellung« (ebd.), insofern der Rollenwechsel in die neutrale<br />

Position Alter und Ego zu ihren jeweiligen Rollen Distanz nehmen lässt.<br />

Darüber können Handlungsnormen als von individueller Willkür gelöst verstanden<br />

werden, über die man sich kommunikativ verständigen kann. Doch<br />

der Dritte, wie er eingangs skizziert wurde, ist gerade kein »generalized other«<br />

(vgl. Habermas 1989, 218–222) im Sinne Meads. Denn der Dritte taugt nicht<br />

zum distanzierten Beobachter, weil er in die ethische Ebene verwickelt ist. Er<br />

steht der intersubjektiven Dyade nicht äußerlich beobachtend und objektivierend<br />

gegenüber (ähnliches ließe sich für Rawls’ »unparteiischen Beobachter«<br />

zeigen; vgl. Rawls 1979, 211–217).<br />

Die Verflechtung des Ethischen mit dem Politischen zeigt sich darin, dass<br />

zwar die Vergleichbarkeit jeweils singulärer Ansprüche notwendig ist, aber der<br />

auf der Ebene des Dritten etablierte Vergleich stets rückgebunden bleibt an<br />

die Überschreitung durch den Anspruch des Anderen. Der Dritte kann daher<br />

nicht als universalisierter Anderer gelten, denn die Dialektik von Allgemeinem<br />

und Besonderem, die im »generalized other« virulent ist, bleibt eine Logik<br />

der Dyade.<br />

Auf welche Weise ist es nun zu verstehen, dass der Dritte mit Gerechtigkeit<br />

zu tun hat und damit normative Relevanz erhält? Die Theorie des Dritten in<br />

Form des psychoanalytischen Modells des Ödipuskomplexes und seiner Lacanschen<br />

Erweiterung kann dazu dienen, einen Begriff des Symbolischen zu entwickeln,<br />

der diese Frage beantworten hilft. Freud hatte gezeigt, wie der Dritte<br />

(nämlich der Vater) als jemand operiert, der die dyadischen Objektbeziehungen<br />

durchbricht, transformiert und für gesellschaftliche Ansprüche aufnahmebereit<br />

macht (vgl. Freud 1999, 262).<br />

Bekanntlich ist Freuds Modell nicht unwidersprochen geblieben. Jacques<br />

Lacans Umarbeitung der Freudschen Theorie trägt der Kritik von philosophischer,<br />

ethnologischer und feministischer Seite Rechnung. Seine strukturale<br />

Neuinterpretation bringt – vereinfacht gesagt – die symbolische Ordnung an<br />

die Stelle, die der Vater eingenommen hat. Nicht mehr der Vater, sondern die


54 SEKTION 1: <strong>GERECHTIGKEIT</strong><br />

als »Name-des-Vaters« (Lacan 1991, 89) bezeichnete Funktion übernimmt die<br />

Rolle des Normen implementierenden Dritten. Unabhängig davon, wie sich<br />

empirisch die Beziehungen bemessen, in denen das Verbot oder die Norm<br />

operiert, gilt universal, dass intersubjektive dyadische Relationen eines Dritten<br />

bedürfen.<br />

Die imaginäre Struktur intersubjektiver Beziehungen beruht auf Identifikationen,<br />

die dazu tendieren, den Dritten auszuschließen. Doch lässt sich<br />

eine reine dyadische Beziehung (etwa Mutter-Kind- oder Liebesbeziehungen)<br />

nicht ohne Schwierigkeiten wiedergewinnen. Denn der Ausschluss der »Drittposition<br />

[position tierce]« (Lacan 1991, 111) zugunsten der störungsfreien Intersubjektivität<br />

zwischen Zweien schafft nach Lacan keine dialogische Idylle,<br />

sondern im Gegenteil einen imaginären Wahn der Einheit und Verschmelzung,<br />

in der letztlich Subjektivität als solche aufgegeben wird. Lacan sieht also<br />

in der Exklusion des Dritten eine Gefahr, und umgekehrt die symbolische<br />

Ordnung des Dritten als Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität und<br />

Sozialität überhaupt.<br />

Die Normativität der Sprache, des Gesetzes und der kulturellen Kodierungen,<br />

die durch das Symbolische in die imaginäre dyadische Beziehung einbrechen,<br />

lassen sich nicht einfach künstlich aus dieser heraushalten, wenn denn<br />

eine Regression in Verschmelzungsphantasien und imaginäre Identifikationen<br />

vermieden werden soll. Das Symbolische als Drittes setzt die sprachlich organisierte<br />

Ordnung des Gesetzes durch und ermöglicht Gerechtigkeit, die die<br />

Dyade noch nicht kennt, weil sie nur als Identifikation oder Symbiose funktioniert.<br />

Bringt man nun die asymmetrische Intersubjektivität im Sinne Levinas’ mit<br />

der strukturalen Psychoanalyse Lacans überein, so lässt sich das Problem der<br />

Gerechtigkeit als die Einbettung der Verantwortung gegenüber dem Anderen<br />

in die symbolische Ordnung beschreiben. Gerechtigkeit zu üben, bedeutet<br />

dann, den Appell des Anderen in der Komplexität der Institutionen und des<br />

Rechts nicht untergehen zu lassen und zugleich der Maßlosigkeit dieses Appells<br />

Grenzen zu setzen. Denn der Dritte ist keine Funktion, die den Anderen ablöst,<br />

sobald die Ebene der Sozialität betreten wird, sondern eine, die im Anderen<br />

als dessen Bezug auf die symbolische Ordnung fungiert. Der Dritte bildet<br />

demnach eine Übergangsfigur, ein Scharnier, das zwischen der sozialen und der<br />

ethischen Ebene angesiedelt ist. Er löst den Konflikt nicht auf, der den Ausgangspunkt<br />

für die Frage nach Gerechtigkeit abgibt, sondern bildet jenen Ort,<br />

an dem er sich artikuliert.


THOMAS BEDORF: <strong>DIE</strong> <strong>GERECHTIGKEIT</strong> <strong>DES</strong> <strong>DRITTEN</strong> 55<br />

LITERATUR<br />

Bedorf, Th. (2003), Dimensionen des Dritten. Sozialphilosophische Modelle zwischen<br />

Ethischem und Politischem (Phänomenologische Untersuchungen 16).<br />

München: Fink.<br />

Bedorf, Th. (2003a), Hat der Widerstreit einen Dritten? Über Konsequenzen<br />

aus Inkommensurabilitäten, in: Liebsch, B./Straub, J., Hg. (2003), Lebensformen<br />

im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesellschaften.<br />

Frankfurt/M.–New York: Campus, 465–489.<br />

Freud, S. (1999), Gesammelte Werke. Bd. XIII. Frankfurt/M.: Fischer.<br />

Habermas, J. (1988), Theorie des kommunikativen Handelns (es 1502), Bd. 2,<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Habermas, J. (1989), Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. 3.Aufl.<br />

Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Lacan, J. (1991), Schriften II. 3.Aufl. Weinheim: Quadriga.<br />

Levinas, E. (1998), Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Übers. von<br />

Th. Wiemer. 2.Aufl. Freiburg–München: Alber.<br />

Rawls, J. (1979), Eine Theorie der Gerechtigkeit (stw 271). Frankfurt/M.: Suhrkamp.<br />

Waldenfels, B. (1994), Antwortregister. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!