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Studium und Arbeitstechniken der Politikwissenschaft

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503 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?Nachdem zunächst das Umfeld <strong>und</strong> die Ressourcen von Studierenden allgemeindargestellt wurden, erreichen wir nun das Fach, das Sie studieren. In diesem Kapitelwollen wir Ihnen die Disziplin „<strong>Politikwissenschaft</strong>“ vorstellen. Das geschiehteinmal durch eine nähere Betrachtung, was Politik, Wissenschaft <strong>und</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong>überhaupt sind. Zum Zweiten werden wir erläutern, worin sichdie <strong>Politikwissenschaft</strong> von an<strong>der</strong>en Disziplinen unterscheidet. Daraufhin werdenwir auf das „Erkenntnisinteresse“ von Studierenden <strong>und</strong> WissenschaftlerInneneingehen, d. h. mit welcher Absicht <strong>und</strong> mit welchen Leitlinien sie dem <strong>Studium</strong>,<strong>der</strong> Forschung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Lehre nachgehen.3.1 Was ist <strong>Politikwissenschaft</strong>?Alltagsverständnisvon PolitikAufgabe von Politik in<strong>der</strong> gesellschaftlichenArbeitsteilungIm Alltagsverständnis erscheint es recht klar, was Politik ist. Diejenigen, dieabends in <strong>der</strong> Tagesschau erscheinen, <strong>der</strong> B<strong>und</strong>eskanzler, die B<strong>und</strong>estagsabgeordneten,ausländische Regierungsangehörige usw., sind Politiker, <strong>und</strong> was sie machen,ist Politik. Eine solche Alltagsdefinition wird zwar „Otto Normalverbraucher“ausreichen, aber an<strong>der</strong>erseits wird dadurch vieles nicht erfasst. Um einigeBeispiele zu geben: Kommunalpolitik taucht in den Hauptfernsehnachrichten eherselten auf, ebenso botswanische Innenpolitik o<strong>der</strong> die Programme <strong>der</strong> WelternährungsorganisationFAO. Was also umfasst <strong>der</strong> Begriff „Politik“, wenn wir ihn in<strong>der</strong> Bezeichnung unserer Disziplin verwenden?Hierbei ist ein Blick in die gesellschaftliche Arbeitsteilung sinnvoll. Die Wirtschaftz. B. versorgt die Konsumenten mit Waren, o<strong>der</strong> die Justiz spricht Recht,o<strong>der</strong> das Schulsystem sorgt für die Erziehung. Aber welch einen Bereich deckt diePolitik ab? Gehen wir zurück auf die Lehre von <strong>der</strong> Gewaltenteilung. Montesquieuunterscheidet die drei Gewalten Legislative (gesetzgebende Gewalt), Exekutive(ausführende Gewalt) <strong>und</strong> Judikative (rechtsprechende Gewalt). Als gesetzgebendeGewalt fungieren in Deutschland die Landesparlamente <strong>und</strong> <strong>der</strong>B<strong>und</strong>estag, wobei seit einiger Zeit die EU die Gesetzgebung stark mitbestimmt:Sie werden auch im allgemeinen Sprachgebrauch eindeutig dem Bereich „Politik“zugeordnet. Zur ausführenden Gewalt gehören die B<strong>und</strong>es- <strong>und</strong> Landesregierungen,aber auch die Kommunalverwaltungen. Diese geben u. a. Bescheide, Erlasse<strong>und</strong> Verordnungen heraus, die die Gesetze ergänzen <strong>und</strong> anwendbar machen. Indiesen beiden – in Deutschland miteinan<strong>der</strong> verschränkten – Gewalten wird aberauch bestimmt, welchen Weg die Politik in Zukunft nehmen soll. Sollen Atomkraftwerkeabgeschaltet werden, <strong>und</strong> wenn ja, wann? Bevor hierzu Gesetze verabschiedeto<strong>der</strong> Erlasse verfügt werden, gibt es Diskussionen, an denen nicht nur dieParlamentarier <strong>und</strong> die Regierungsmitglie<strong>der</strong> beteiligt sind, son<strong>der</strong>n auch weitereInteressierte, wie Umweltschutzorganisationen, Parteien, Industrieunternehmen<strong>und</strong> -verbände o<strong>der</strong> Gewerkschaften. Es wird darum gestritten, welcher Weg <strong>der</strong>


543 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?„die verschiedenen Formen <strong>und</strong> Bedingungen <strong>der</strong> Vergemeinschaftung (z. B.Familie, soziale Gruppe, soziales Umfeld) <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vergesellschaftung (z. B.Vereinigungen, Organisationen, Gesellschaften)“ <strong>und</strong> untersucht „dabei Regelmäßigkeiten,Strukturen <strong>und</strong> Abweichungen sozialen Handelns <strong>und</strong> sozialenWandels“ (Schubert/Klein 2006: 273).Abgrenzung <strong>der</strong><strong>Politikwissenschaft</strong> vonan<strong>der</strong>en DisziplinenJede Wissenschaftsdisziplin hat also ihren eigenen Fokus, was nicht heißt, dass esnicht auch starke Überschneidungen gibt, die sich dann auch in Bezeichnungenwie „Politische Soziologie“ ausdrücken. Denn insbeson<strong>der</strong>e in <strong>und</strong> durch Vereinigungen<strong>und</strong> Organisationen – man denke nur an Parteien, Gewerkschaften o<strong>der</strong>Bürgerinitiativen – wird Politik gestaltet <strong>und</strong> gemacht, <strong>und</strong> ihre Bildung <strong>und</strong> diein ihnen ablaufenden Willensbildungsprozesse sind sowohl unter politikwissenschaftlichenwie soziologischen Aspekten von Interesse. In <strong>der</strong> Abgrenzung zuan<strong>der</strong>en Disziplinen sieht es ähnlich aus. 14 Die Philosophie hat ihr eigenesThema, aber in <strong>der</strong> Schnittmenge mit <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong> gibt es die„Politische Philosophie“; die Wirtschaftswissenschaft hat mit <strong>der</strong><strong>Politikwissenschaft</strong> die „Politische Ökonomie“ gemeinsam etc. Jede Abgrenzungführt auch zur wichtigen Grenzüberschreitung <strong>und</strong> zur gegenseitigen Inspirationdurch an<strong>der</strong>e Denk- <strong>und</strong> Forschungsweisen. Daher umfasst jedespolitikwissenschaftliche <strong>Studium</strong> Elemente an<strong>der</strong>er Disziplinen, sei es alsNebenfächer, zweite Hauptfächer o<strong>der</strong> in Bachelor- bzw. Master-Studiengängeintegriert.3.2 Was unterscheidet <strong>Politikwissenschaft</strong> von <strong>der</strong>politischen Publizistik?Fragestellungdieses KapitelsWenn bei <strong>der</strong> Diskussion eines politikwissenschaftlichen Habilitationsvortragesvor den Professoren des Fachbereichs ein Vertreter <strong>der</strong> Soziologen die Frage aufwarf:„Werte Kollegen, ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir erläuternkönnten, worin sich dieser Vortrag, den wir gerade gehört haben, von einem interessantenZeitungsartikel z. B. in <strong>der</strong> Frankfurter Allgemeinen Zeitung o<strong>der</strong> in <strong>der</strong>Neuen Zürcher unterscheidet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwischen <strong>der</strong><strong>Politikwissenschaft</strong> <strong>und</strong> gutem politischen Journalismus kein Unterschied besteht“– dann wussten die Politologen des Gremiums, dass es um die Sache des zukünftigenKollegen <strong>und</strong> um die Ehre des eigenen Faches nicht gut stand. Der Vorwurf,ein potentieller Hochschullehrer im Fach <strong>Politikwissenschaft</strong> argumentiere wieein politischer Journalist – <strong>und</strong> sei das Blatt, für das er schreibt, auch noch so renommiert<strong>und</strong> verlässlich konservativ – trifft <strong>und</strong> for<strong>der</strong>t heraus. Entwe<strong>der</strong> ist dieKritik berechtigt, dann hat <strong>der</strong> Kandidat keine Chance, o<strong>der</strong> sie wird als fachpoli-14 Einen Überblick über die <strong>Politikwissenschaft</strong> <strong>und</strong> ihre Nachbardisziplinen gibt Alemann1994: 44 - 51.


583 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?senden von Studenten, Geschäftsleuten <strong>und</strong> Akademikern aus Malaysia, diemit <strong>und</strong> in den USA leben <strong>und</strong> arbeiten?“Beweggründe desAkteurs?Element Nr. 4Politische Brisanz desverschlossenen SubjektsAufgabe von<strong>Politikwissenschaft</strong>lernNoor fragt nach den Beweggründen eines Akteurs (hier: die Ulama Associationals kollektiver Akteur) <strong>und</strong> vermutet, dass diese Gruppe viele Dinge bei ihremAufruf nicht bedacht hat. Wissen kann er dies nicht. Denn <strong>der</strong> Autor war we<strong>der</strong>bei den Beratungen <strong>der</strong> Ulama dabei, noch hat er sie in einem methodisch kontrollierten<strong>und</strong> inhaltsanalytisch ausgewerteten Experteninterview dazu befragenkönnen, welche Motive ihrem Aufruf zugr<strong>und</strong>e liegen. Authentische Quellen könnenoftmals nicht herangezogen werden, da sie beispielsweise Interna betreffeno<strong>der</strong> schlicht <strong>und</strong> ergreifend nicht vorhanden sind. Statt dessen rekonstruiert <strong>der</strong>Verfasser aus dem für den Journalisten beobachtbaren Verhalten <strong>der</strong> Ulama <strong>der</strong>enMotive. Dem Leser bleibt überlassen, ob er diese Rückschlüsse für plausibel hälto<strong>der</strong> nicht. Wissenschaftlich ist dieser Analyseschritt bedenklich, obwohl er imBereich des Journalismus gang <strong>und</strong> gäbe ist. Dem Subjekt, hier <strong>der</strong> Ulama Association,werden aufgr<strong>und</strong> seines Handelns bestimmte Handlungsrationalitäten zugeschrieben.Inwieweit diese Unterstellung zutrifft, wird nicht untersucht <strong>und</strong>durch Quellenmaterial belegt. Also lässt sich das nächste Element wissenschaftlicherTexte folgen<strong>der</strong>maßen formulieren:Die wahren Absichten des untersuchten Subjekts bzw. des Akteurs bleiben verschlossen.Vor dem Problem, Motivationen <strong>und</strong> strategische Absichten von politischen Akteurenentschlüsseln zu müssen, stehen nicht nur Journalisten. Auch Politiker <strong>und</strong>ihre Stäbe versuchen die Absichten des politischen Gegners herauszufinden. Ständigsind sie damit beschäftigt, die Überlegungen hinter seinen Aktionen zu ergründen,um auf sie angemessen zu reagieren. Sofern sie mit ihrem Gegner kommunizieren<strong>und</strong> sich wechselseitig über ihre Motive verständigen, dürfte eineangemessene Interpretation zustande kommen. Je weniger aber mit dem Gegnerdas Gespräch gesucht wird, da dieser nicht aufgewertet werden soll o<strong>der</strong> als Feindbetrachtet wird, desto schwieriger ist eine realitätsgemäße Einschätzung von dessenAbsichten <strong>und</strong> politischen Zielen <strong>und</strong> desto wahrscheinlicher wird eine so genannte„realistische“ Interpretation, die die schlechteste <strong>der</strong> möglichen Absichtenunterstellt. Auf diese Weise können Feindfixierungen <strong>und</strong> Kriege entstehen.Für <strong>Politikwissenschaft</strong>ler gibt es hier eine wichtige Aufgabe. Sie haben sich umdie tatsächlichen <strong>und</strong> nicht um die unterstellten Handlungskalküle zu bemühen.Dazu müssen sie empirisch forschen, indem sie mit den Akteuren in Interviewskommunizieren, indem sie Reden, Aufsätze <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e schriftliche Äußerungeninterpretieren, indem sie die empirischen Untersuchungen an<strong>der</strong>er Wissenschaftlersorgfältig analysieren. Aber selbst methodisch überlegtes Vorgehen wird die wahrenMotive nicht o<strong>der</strong> nur unzulänglich erschließen können. Daher sollten <strong>Politikwissenschaft</strong>lerbei <strong>der</strong> Deutung von Motiven, Kalkülen, Situationsdefinitionen,von Stimmungen <strong>und</strong> Wertungen politischer Akteure immer äußerst sorgfältigvorgehen. Eng hiermit verknüpft ist das fünfte Merkmal:


3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 59Von wissenschaftlichen Arbeiten wird erwartet, dass zwischen Zielen, Normen<strong>und</strong> Werten auf <strong>der</strong> einen <strong>und</strong> nachprüfbaren Fakten auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite unterschiedenwird.Für Journalisten wie für Politologen ist <strong>der</strong> Umgang mit wertenden Aussagen einvielfach erörtertes 16 heikles Problem. Unser Journalist ist mit seinen Wertungennicht gerade zurückhaltend. Er schreibt vom „hochnotpeinlichen Verhör von TariqAli“ <strong>und</strong> nennt alle beschriebenen Vorfälle „hirnlose Aktionen“. Durch die wertendenAdjektive wird <strong>der</strong> Artikel farbig <strong>und</strong> damit gut lesbar; auch wird die vondem Autor vertretene Meinung über das politische Agieren dreier Akteure plastisch.Als wissenschaftlich lässt sich diese Form <strong>der</strong> Darstellung jedoch nicht bezeichnen.Es handelt sich um eine journalistische Aufbereitung <strong>der</strong> Ereignisse, dienicht davor zurückzuschrecken braucht, subjektive Charakterisierungen <strong>und</strong> dieeigene politische Meinung einfließen zu lassen.Der Verweis auf Wertungen in unseres Autors Interpretation von Handlungsstrategien,Einschätzung von Personen <strong>und</strong> Darstellung von Ereignissen sollte nichtals Auffor<strong>der</strong>ung verstanden werden, auf Wertungen (normative Aussagen) inwissenschaftlichen Arbeiten zu verzichten <strong>und</strong> nur die „objektiven“ Fakten sprechenzu lassen. Dies ist nicht möglich <strong>und</strong> sollte daher auch gar nicht erst versuchtwerden. Entscheidend ist, wie mit Werturteilen umgegangen wird. Ohne in dieserEinführung auf die wissenschaftstheoretischen Probleme normativer Aussagen inwissenschaftlichen Texten eingehen zu können, möchten wir auf drei einfacheRegeln verweisen, die auch für Anfänger gelten sollten:Element Nr. 5JournalistischeWertungenEntscheidend:Wie geht man mitWerturteilen um?• In jede wissenschaftliche Arbeit fließt bei <strong>der</strong> Themenwahl, <strong>der</strong> Wahl destheoretischen Bezugsrahmens sowie <strong>der</strong> Untersuchungsmethoden das subjektiveErkenntnisinteresse des Verfassers ein. Da politikwissenschaftliche Arbeitenimmer auch in einen politischen Zusammenhang gestellt werdenkönnen, ist es erfor<strong>der</strong>lich, das Erkenntnisinteresse, das sehr unterschiedlichsein kann – Neugier, Orientierungsbedürfnis, Aufklärung <strong>der</strong> Öffentlichkeit,Beratung etc. – darzustellen sowie die Themen-, Theorie- <strong>und</strong> Methodenwahlim Lichte des Erkenntnisinteresses zu begründen.• Im Untersuchungsteil einer wissenschaftlichen Arbeit sollte mit wertendenAussagen sparsam <strong>und</strong> vorsichtig umgegangen werden. Charakterisierungenvon Personen o<strong>der</strong> wertende Stellungnahmen über Handlungsstrategien kollektiverAkteure dürfen nur auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage nachprüfbarer empirischerFakten formuliert werden.16 Seit <strong>der</strong> Soziologe Max Weber zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in mehreren Aufsätzen die„Wertfreiheit“ (z. B. Weber 1973: 489 - 540) <strong>der</strong> Wissenschaften postulierte, ist einlangwieriger <strong>und</strong> intensiv geführter akademischer „Werturteilsstreit“ (gesammelt inAlbert/Topitsch 1971) ausgefochten worden. Patzelt (1997: 170 - 176) fasst die Ergebnisse,auf die <strong>Politikwissenschaft</strong> fokussiert, zusammen.


603 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?• Die politischen <strong>und</strong> normativen Konsequenzen vorgeschlagener politischstrategischerHandlungskonzepte sind darzulegen.Die Beachtung dieser drei Regeln soll davor bewahren, die persönliche Meinungvorschnell als wissenschaftlich begründete Analyse auszugeben. Soweit Wertungenvorgenommen werden, sind sie als solche zu kennzeichnen <strong>und</strong> zu begründen.Da <strong>der</strong> Zeitungsbericht politisches Handeln wertend charakterisiert <strong>und</strong> durch denBezug auf allgemeine Wertvorstellungen legitimiert, ohne die eigene Wertbasisdarzustellen <strong>und</strong> ohne empirische Aussagen durch den Verweis auf Fakten zu untermauern,verkündet er die Meinung seines Verfassers, nicht aber Ergebnisse, diewissenschaftlichen Kriterien standhalten. Eine Studienarbeit kann sich mit demPrädikat wissenschaftlich nur dann schmücken, wenn Werturteile auf Quellenmaterialberuhen o<strong>der</strong> durch den Verweis auf übergeordnete Normen unter Berücksichtigungmöglicher Folgen nachvollziehbar sind, also plausibel begründetwerden.In einem engen Zusammenhang mit <strong>der</strong> wertenden Sprache steht auch das letztezu untersuchende Element, dessen Formulierung sich zunächst tautologisch anhört:Element Nr. 6<strong>Politikwissenschaft</strong>liche Texte zeichnen sich durch die Verwendung <strong>der</strong> wissenschaftlichenSprache aus.In einem Text, <strong>der</strong> wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, müsste die zentraleThese sorgfältiger formuliert, besser begründet <strong>und</strong> belegt werden, als dies in demArtikel von Noor geschehen ist. Er argumentiert:„Solange wir nicht lernen, unsere stereotypen Klischees sowohl über die islamischeWelt als auch über den Westen über Bord zu werfen, wird es uns niegelingen, die Bedingungen zu schaffen, in denen sinnvoller Dialog <strong>und</strong> Koexistenzihren Platz haben. Und solange das nicht passiert, werden wir dastecken bleiben, wo wir sind, nämlich in einem Ghetto eingemauert, das wirmit eigener Hand erschaffen haben, <strong>und</strong> auf ewig im Krieg mit den Dämonen,die von niemand an<strong>der</strong>em als nur uns selbst auf den Plan gerufen wurden.“Diese These ist nicht eindeutig formuliert, da sie mehrere Aussagen miteinan<strong>der</strong>verbindet. Die Und-Koppelung im zweiten Satz ist mehrdeutig. Besteht zwischendem „Ghetto“ <strong>und</strong> den „Dämonen“ ein kausaler Zusammenhang, wird eine historischeEreigniskette angenommen, o<strong>der</strong> handelt es sich um zwei völlig unabhängige,einzeln zu bearbeitende Phänomene? Welche „Klischees“ meint <strong>der</strong> Autor?Denn ohne Klischees, ohne Vor-Urteile können Menschen nicht leben; sie müsstenjedes Phänomen einzeln betrachten, ohne auf ihre – selbst gemachten o<strong>der</strong>vermittelten – Erfahrungen zurückgreifen zu dürfen. Es sind also bestimmte Klischees,die hier gemeint, aber nicht explizit formuliert werden. Außerdem wirdsehr bildhaft („über Bord zu werfen“, „in einem Ghetto eingemauert“, „Krieg mitden Dämonen“) geschrieben. Dadurch spricht <strong>der</strong> Autor eher die Emotionen des


3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 61Lesers als die rationalen Folgen <strong>und</strong> <strong>der</strong>en mögliche Bearbeitung <strong>der</strong> untersuchtenVorfälle an.Im Rahmen dieses Einführungstextes ist es nicht erfor<strong>der</strong>lich, die logischenProbleme des zitierten Aussagesystems umfassend darzustellen. In einem publizistischenText mögen solche plakativen, bildhaften <strong>und</strong> mit ungeklärten Begriffenoperierenden Thesen akzeptabel sein. In einer wissenschaftlichen Arbeit jedochsollten die Begriffe eindeutig <strong>und</strong> die Wirkungszusammenhängeunmissverständlich bestimmt sein. Dadurch stellen wissenschaftliche Texte beson<strong>der</strong>eAnfor<strong>der</strong>ungen nicht nur an ihre Autoren, son<strong>der</strong>n auch an ihre Leser.Wie man sich politologische Texte erschließen kann, beschreiben wir daher imKapitel 4.In diesem Teil wurde in <strong>der</strong> kritischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit einem Zeitungsberichtdargestellt, dass zwischen <strong>Politikwissenschaft</strong> <strong>und</strong> politischem Journalismusgroße Unterschiede bestehen. Gleichzeitig wurden Kriterien entwickelt, die in politikwissenschaftlichenArbeiten erfüllt werden sollten. Eine politikwissenschaftlicheArbeit, auch schon die erste Hausarbeit, hat sich an den folgenden Standards,die als Kriterien <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit gelten können, zu orientieren:ZusammenfassungAbbildung 8: Kriterien <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit bei HausarbeitenKriterien <strong>der</strong> Wissenschaftlichkeit• Die Wissenschaft bearbeitet ungeklärte empirische o<strong>der</strong> theoretischeProbleme. Eine wissenschaftliche Abhandlung verlangt daher einegenaue Problemdefinition <strong>und</strong> begründete Lösungsstrategien.• Der Stand <strong>der</strong> Wissenschaft, das zu einem Problemkreis existierendegesicherte wissenschaftliche Wissen ist ebenso zu berücksichtigen, wiedie aktuelle wissenschaftliche Diskussion.• Ohne Quellenangaben darf we<strong>der</strong> wörtlich noch sinngemäß zitiertwerden. Es ist darauf zu achten, dass die Quellenangaben vollständig<strong>und</strong> nachprüfbar sind. Empirische Aussagen sind zu belegen.• Aussagen über die Handlungskalküle <strong>und</strong> die Situationsdefinitionen vonMenschen (politischen Akteuren) sind nur indirekt erschließbar; siebedürfen <strong>der</strong> methodischen Absicherung (Verweis auf Quellen <strong>und</strong><strong>der</strong>en Interpretation).• <strong>Politikwissenschaft</strong> ist nicht wertfrei. Doch ist mit Werturteilen sorgsamumzugehen; sie sind zu begründen. Die Bewertungsmaßstäbe sinddarzulegen.• Die Regeln <strong>der</strong> formalen Logik, d. h. vor allem die Sätze <strong>der</strong> Identität (Ableibt in allen Sachlagen <strong>und</strong> Zusammenhängen A; A = A), desWi<strong>der</strong>spruchs (des ausschließenden Gegensatzes zweier Urteile o<strong>der</strong>Begriffe), des ausgeschlossenen Dritten (von zwei entgegengesetztenBehauptungen über einen Gegenstand kann nur eine richtig sein <strong>und</strong>


623 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?keine dritte) <strong>und</strong> des zureichenden Gr<strong>und</strong>es (für jede Behauptung mussein ausreichen<strong>der</strong> Gr<strong>und</strong> vorliegen) 17 , gelten ebenso wie die <strong>der</strong>allgemeinen Methodologie (u. a. <strong>der</strong> Definition, <strong>der</strong> Distinktion, <strong>der</strong>Division, hierzu gr<strong>und</strong>legend: Menne 1984) <strong>und</strong> <strong>der</strong> fachspezifischenMethodologie (z. B. Methoden <strong>der</strong> Textinterpretation).Quelle: Eigene DarstellungÜbungsaufgabe 4:Suchen Sie sich aus einer Zeitung o<strong>der</strong> einem Wochenmagazin einen ausführlichenKorrespondentenbericht (Hintergr<strong>und</strong>artikel) heraus, analysieren <strong>und</strong> vergleichenSie diesen mit einem Aufsatz aus einer politikwissenschaftlichen Zeitschriftanhand <strong>der</strong> oben zusammen gestellten Kriterien zur Beurteilungpolitikwissenschaftlicher Texte.3.3 Gr<strong>und</strong>legende WissenschaftstheorieNachdem wir im Vergleich einer journalistischen mit einer wissenschaftlichenArbeit wesentliche Merkmale von Wissenschaftlichkeit herausgearbeitet haben,möchten wir dieses jetzt wissenschaftstheoretisch unterfüttern. Wenn wirWissenschaft, wie schon oben geschehen, „... als ein ausdifferenziertergesellschaftlicher Bereich, in dem arbeitsteilig <strong>und</strong> systematisch Wissen erzeugtwird“ (Pfetsch 1995: 19) definieren, fehlt noch <strong>der</strong> zweite Teil, die Theorie:„Eine Theorie bietet einen logifizierten Blick auf einen Ausschnitt <strong>der</strong> Welt.Sie kommt durch Reflexion zu Stande, ist also distanziert <strong>und</strong> ausgearbeitet.Sie besteht aus einem Bündel von Aussagen, die aufeinan<strong>der</strong> abgestimmt sind<strong>und</strong> eine stimmige Gesamtsicht bieten.“ (Schülein/Reitze 2005: 266)Wissenschaftstheorie hat also die Aufgabe, systematisch über daswissenschaftliche Wissen im allgemeinen <strong>und</strong> über das <strong>der</strong> Fachwissenschaftenwie <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong> im Beson<strong>der</strong>en nachzudenken (vgl. Ritsert 2003: 12)<strong>und</strong> <strong>der</strong>en Erkenntnisse <strong>und</strong> Theorien metatheoretisch abzusichern(Schülein/Reitze 2005: 9). Metatheorie bedeutet, es werden Theorien über eineo<strong>der</strong> mehrere Theorien gebildet. In unserem Fall werden also in <strong>der</strong>Wissenschaftstheorie Forschungen betrieben <strong>und</strong> Aussagen erstellt, wiepolitikwissenschaftlich geforscht werden soll.Als Referenzpunkt dient <strong>der</strong> Wissenschaftstheorie dabei häufig das – vermeintlich– exakte Vorgehen <strong>der</strong> Naturwissenschaften. Ein komplexes Phänomen wird inseine einzelnen Bestandteile zerlegt, <strong>und</strong> diese Bestandteile werden separat <strong>und</strong>unabhängig voneinan<strong>der</strong> untersucht. Das Ziel dabei ist, die gr<strong>und</strong>legendenEinheiten <strong>und</strong> Prozesse zu analysieren <strong>und</strong> zu verstehen <strong>und</strong> die Gesetze zu17 S. Schischkoff 1991: 323, 437 f., 781.


3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 63ergründen, die diese leiten. Newton beobachtete, wie <strong>der</strong> Apfel fällt, dies führte zueinem gr<strong>und</strong>legenden Verständnis <strong>der</strong> Erdanziehungskraft <strong>und</strong> später zuallgemeinerem Verständnis, wie sich die Erde um die Sonne bewegt (vgl. Steinmo2008: 120), an dem wir uns auch im folgenden orientieren).Hiervon ausgehend gab es dann seit <strong>der</strong> Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts vor allem in<strong>der</strong> US-amerikanischen <strong>Politikwissenschaft</strong> die For<strong>der</strong>ung, „wissenschaftlicher“zu werden. Bis dahin stützte sich die <strong>Politikwissenschaft</strong> hauptsächlich auf diehistorische Analyse, die von <strong>der</strong> neuen Denkschule zwar als interessant eingestuftwurde, aber wenn sie nicht zu leicht abprüfbaren <strong>und</strong> falsifizierbaren(= wi<strong>der</strong>legbaren) Ergebnissen führte, nicht als Wissenschaft angesehen wurde.Messbare Verhaltensweisen sollten untersucht werden. Die untersuchten Fällewurden als Gruppen von Variablen behandelt, die messbar, quantifizierbar,vergleichbar <strong>und</strong> analysierbar waren. Diese Position wird auch heute nochvertreten:„Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt für den Empiriker die Annahme: Jede tatsächlichvorhandene Qualität <strong>der</strong> Wirklichkeit lässt sich zumindest im Prinzip durchgeeignete Messverfahren abbilden, d. h. erfassen. Dabei spielt es keine Rolle,dass diese Messverfahren möglicherweise gar nicht existieren, o<strong>der</strong> (noch)nicht existieren, wichtig ist nur, dass sie zur Messung <strong>der</strong> betreffendenEigenschaften eingesetzt werden könnten, wenn es sie gäbe.“ (Behnke,Joachim/Nathalie Behnke 2008: 7)So wie Chemiker komplexe Phänomene so lange zerlegten, bis sie einPeriodensystem <strong>der</strong> Elemente erhielten, versuchte diese Richtung <strong>der</strong><strong>Politikwissenschaft</strong> – die Behavioristen –, die politischen Probleme so zudekonstruieren, dass schließlich ein „Periodensystem <strong>der</strong> Politik“ dabeiherauskommen sollte. Dem entgegen standen die „Großtheoretiker“ wieMarxisten, Systemtheoretiker o<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungstheoretiker, <strong>der</strong>enHauptanliegen es war, die gr<strong>und</strong>legenden Prozesse <strong>und</strong> Mechaniken zu verstehen,aus <strong>der</strong> sich die Politik zwischen Nationen, Kulturen o<strong>der</strong> historischenAbschnitten motiviert. Sie waren die „Physiker <strong>der</strong> Politik“ – sie suchten nach <strong>der</strong>„Theorie für alles“.Die beiden hier vorgestellten Ansätze haben durchaus ihre Berechtigung. DieWahlforschung erzielt z. B. mit den auf dem ersteren Ansatz basierenden,elaborierten quantitativen Methoden (s. später Kap. 5.3) vorzeigbare Ergebnisse,<strong>und</strong> auch Großtheorien können auf bestimmte Phänomene wie die krisenhafteEntwicklung des Kapitalismus (Marxismus) weiterhin angewandt werden. Aberbeide verfehlen ihre eigentlichen Ziele: We<strong>der</strong> ist alles messbar, noch gibt es eineeinzige Motivation für die politische Entwicklung.Der US-Politologe Sven Steinmo (2008) vertritt daher eine Sicht auf die<strong>Politikwissenschaft</strong>, die als „Historischer Institutionalismus“ benannt wird.Institutionalisten sind dabei Wissenschaftler, die ein beson<strong>der</strong>es Augenmerk auf


643 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?die Rolle von Institutionen legen. Geschichte wird dabei als ein analytischesInstrument verstanden.Definition: InstitutionenBeispiel:Europäische IntegrationInstitutionen sind Einrichtungen, die dem politischen Leben <strong>und</strong> VerhaltenStruktur geben: Normen, Gesetze <strong>und</strong> völkerrechtliche Vereinbarungen gehörendazu, aber auch Organisationen wie Staaten, Parteien o<strong>der</strong> die EU <strong>und</strong> die UNOkönnen daraus erwachsen. So konnte sich nach dem Zweiten Weltkrieg nach denGr<strong>und</strong>sätzen <strong>der</strong> Atlantik-Charta, die US-Präsident Roosevelt <strong>und</strong> <strong>der</strong> britischePremierminister Churchill 1941 beschlossen hatten, Westeuropa friedlichentwickeln. Zur Festigung <strong>der</strong> fre<strong>und</strong>schaftlichen Zusammenarbeit wurden ab1951 verschiedene Organisationen gegründet (Montanunion, EuropäischeGemeinschaft für Kohle <strong>und</strong> Stahl, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft,Europäische Atomgemeinschaft). Aber Institutionen sind nicht statisch – siewandeln sich o<strong>der</strong> werden von den inner- <strong>und</strong> außerhalb betroffenen Akteuren(Personen, kollektive Akteure wie Staaten) verän<strong>der</strong>t. Wurden die RömischenVerträge 1957 noch von sechs Staaten unterzeichnet, wuchs die EG/EU bis 2007auf 27 Staaten an, <strong>und</strong> die zu Beginn sehr begrenzte, vorwiegend wirtschaftlicheZusammenarbeit wurde unter an<strong>der</strong>em in die Bereiche Innere Sicherheit (z. B.Schengener Abkommen 1985) <strong>und</strong> Finanzen (gemeinsame Währung Euro) aus.Nun kann man innerhalb <strong>der</strong> riesigen, komplexen <strong>und</strong> schwer überschaubarenOrganisation EU auch Einzelteile wie das Schengener Abkommen als Institutionbetrachten. Dieses reicht weit in das Leben <strong>der</strong> EU- wie auch <strong>der</strong> Nicht-EU-Bürger hinein <strong>und</strong> strukturiert staatliches Handeln.Eine Institution <strong>und</strong> das Verhalten <strong>der</strong> Akteure in ihr zu untersuchen, kann dann jenach Fragestellung auf vielfältiger Weise geschehen. Die zu Gr<strong>und</strong>e liegendenTheorien sind we<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Mikro-Ebene wie bei den Behavioristen noch auf <strong>der</strong>Makro-Ebene wie bei den Großtheoretikern zu verorten, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> Meso-Ebene zu finden, d. h. sie haben eine mittlere Reichweite. HistorischeInstitutionalisten, so Steinmo, werden we<strong>der</strong> durch den Wunsch motiviert, einArgument o<strong>der</strong> eine Methodologie durchzudrücken, son<strong>der</strong>n dadurch, die in <strong>der</strong>realen politischen Welt auftretenden Probleme <strong>und</strong> Fragen zu beantworten. Ervergleicht diesen Ansatz mit dem von Umweltbiologen: Um das Verhalten <strong>und</strong>die Gestalt von bestimmten Organismen zu verstehen, müssen sie sowohl denOrganismus selbst als auch die Umweltbedingungen, in <strong>der</strong> er lebt, untersuchen.Dies impliziert, dass die angewendeten wissenschaftliche Methoden demstudierten Subjekt entsprechen sollen. Es wird also für einenMethodenpluralismus plädiert – sowohl die historische Analyse als auch diequantitativen (z. B. Statistik) <strong>und</strong> qualitativen (z. B. hermeneutische Verfahren <strong>der</strong>Textanalyse) Analysemethoden sollen je nach Fragestellung genutzt werden.Dabei muss die Wissenschaft, <strong>und</strong> das ist ein Hauptfeld <strong>der</strong> Wissenschaftstheorie,immer auch die Folgen ihres Tuns im Blick haben. Nicht umsonst werden inDeutschland am Wahltag erst nach Schließung <strong>der</strong> Wahllokale die Ergebnisse <strong>der</strong>Wählerbefragungen vor den Wahllokalen veröffentlich. Zwischenergebnisse, z. B.


3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 65gegen Mitte des Wahltages, könnten Wähler abschrecken o<strong>der</strong> motivieren,entgegen <strong>der</strong> ursprünglichen Absicht doch noch zur Wahl zu gehen <strong>und</strong> so dasErgebnis verän<strong>der</strong>n. Beson<strong>der</strong>s deutlich wurde die Verantwortlichkeit denPhysikern <strong>und</strong> Naturwissenschaftlern, die an <strong>der</strong> Kernspaltung arbeiteten <strong>und</strong>damit die Atombombe entwickelten. In <strong>der</strong> Göttinger Erklärung von 1957, die vonachtzehn prominenten Atomwissenschaftlern unterzeichnet wurden, heißt es,nachdem sie ihre Sorge über die Verbreitung von Atomwaffen zum Ausdruckgebracht haben:„... unsere Tätigkeit, die <strong>der</strong> reinen Wissenschaft <strong>und</strong> ihrer Anwendung gilt<strong>und</strong> bei <strong>der</strong> wir viele junge Menschen unserem Gebiet zuführen, belädt unsaber mit einer Verantwortung für die möglichen Folgen dieser Tätigkeit.Deshalb können wir nicht zu allen politischen Fragen schweigen.“(abgedruckt in: Koppe 2001: 334 - 335)<strong>Politikwissenschaft</strong> ist immer auch eine politische Wissenschaft. Wenn wirbeispielsweise über autokratische Herrschaftssysteme forschen <strong>und</strong> <strong>der</strong>enEntwicklungsleistungen positiv betrachten, gleichzeitig aber auch die Defizite inden Bereichen Menschenrechte <strong>und</strong> Pluralität ansprechen (wie in Elbers 2008),dann kann es durchaus sein, dass die positiven Ergebnisse von den dortHerrschenden zur Legitimation, die negativen aber verschwiegen werden. Aberum Verbesserungen einzufor<strong>der</strong>n, insbeson<strong>der</strong>e auch in <strong>der</strong> eigenen Gesellschaft,ist es notwendig, wissenschaftlich sowohl die Defizite aufzuarbeiten <strong>und</strong> auf diesehinzuweisen, als auch positive Ansätze zu loben <strong>und</strong> zum Weitermachen aufdiesem Wege anzuregen. Solche normativ begründeten Vorgehensweisen findensich in vielen Bereichen <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong>. So lehnt einDemokratietheoretiker wie Karl R. Popper zuallererst die Diktatur ab <strong>und</strong> stelltsich auf dieser normativen Basis die Frage:„Wie können wir politische Institutionen so organisieren, daß es schlechteno<strong>der</strong> inkompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schadenanzurichten?“ (Popper 1992: 145)Die Sicherung von Freiheit <strong>und</strong> Gerechtigkeit <strong>und</strong> die Kontrolle <strong>der</strong> Herrschendenspielen somit in <strong>der</strong> Demokratietheorie eine große Rolle. Ähnlich ist es in denInternationalen Beziehungen: Theoretikern unterschiedlicher Ausrichtung geht esals Gemeinsamkeit um die Sicherung des Friedens; ob dies am besten durchinternationale Kooperation, militärische Absicherung des eigenen Territoriumso<strong>der</strong> Abbau von Feindbil<strong>der</strong>n geschehen soll, darüber streiten die Gelehrten.Diese müssen sich aber darüber im Klaren sein, dass ihre Konzeptionen vonPolitikern aufgegriffen <strong>und</strong> umgesetzt werden. So gab es im Kalten Krieg sowohlPolitiker, die militärische Abschreckung für die geeignete Konzeption zurKriegsvermeidung hielten wie auch <strong>Politikwissenschaft</strong>ler, die ihnen eben dieseKonzeption lieferten <strong>und</strong> damit die nukleare Hochrüstung mit zu verantwortenhaben.


663 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?Als letztes Beispiel in diesem Feld mag die Umweltpolitologie, <strong>der</strong>en Vertreterdas Interesse an <strong>der</strong> Sicherung <strong>der</strong> für Menschen erträglichenUmweltbedingungen teilen, aber unterschiedliche Wege dorthin vorschlagen.Auch hier werden Expertisen, wie z. B. dem Klimawandel effektiv zu begegnensei, von Politikern aufgegriffen <strong>und</strong> in Politik umgewandelt. Erst in einigenDekaden werden wir sehen, ob die CO 2 -Reduktion ausreicht o<strong>der</strong> großeInvestitionen in die Speicherung von CO 2 sinnvoll waren <strong>und</strong> insgesamt das Zieleiner nachhaltigen Politik erreicht wurde (s. Simonis 2009).Ziele <strong>der</strong> ForschungAn den vorgebrachten Beispielen zeigt sich auch, dass <strong>Politikwissenschaft</strong>lerunterschiedliche Forschungsinteressen haben, nicht nur thematisch, son<strong>der</strong>n auchdamit, was sie mit ihrer Forschung erreichen möchten. Das Erklären <strong>und</strong>Verstehen von Politik, also das akademische Interesse, die wissenschaftlicheNeugier, schreiben wir den <strong>Politikwissenschaft</strong>lern als Gr<strong>und</strong>lage zu. Aber:Reicht das, o<strong>der</strong> gibt es nicht weitere Interessen? Dies kann, wie bei <strong>der</strong>Grün<strong>der</strong>generation <strong>der</strong> b<strong>und</strong>esdeutschen <strong>Politikwissenschaft</strong> in den 1950er Jahren,die kritisch-wissenschaftliche 18 Begleitung <strong>und</strong> Unterstützung eines gewünschtenPolitikprozesses, einer politischen Organisation wie dem Staat o<strong>der</strong> einer Parteio<strong>der</strong> politischer Programme sein (hier: <strong>der</strong> Durchsetzung demokratischerStrukturen in Deutschland). Eine zweite Möglichkeit ist, herrschende politischeVerhältnisse zu kritisieren <strong>und</strong> eine verän<strong>der</strong>te Politik o<strong>der</strong> sogar ein an<strong>der</strong>espolitisches System zu for<strong>der</strong>n, wie dies Wissenschaftlern aus <strong>der</strong> Dritten Weltwährend <strong>der</strong> Unabhängigkeitsbestrebungen taten. Sie wurden zum größten Teil inden Kolonialstaaten geschult, <strong>und</strong> ihnen wurde dabei die Unausweichlichkeitdieser Situation beigebracht. Davon emanzipierten sie sich, <strong>und</strong> sie entwickelteneigene Modelle, die auch politisch wirksam wurden <strong>und</strong> zur Unabhängigkeit ihrerLän<strong>der</strong> führten.Diese bedeutsame Frage stellt sich schon Studierenden: Was wollen Sie als<strong>Politikwissenschaft</strong>ler erreichen? Ist es für Sie ein Brotberuf wie je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e?Reicht es Ihnen, Politik verstehen <strong>und</strong> erklären zu können? O<strong>der</strong> möchten Siemitgestalten o<strong>der</strong> verän<strong>der</strong>n? Es ist eine Aufgabe <strong>der</strong> Studierenden <strong>der</strong><strong>Politikwissenschaft</strong> zu lernen, sich in dem Geflecht von theoretischen Positionen,den untersuchten Interessenlagen <strong>der</strong> Politik sowie <strong>der</strong>en Einwirkung auf dieEntwicklung <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong> orientieren zu können. Voraussetzung dafürist, dass die Studierenden sich ihrer eigenen politischen <strong>und</strong> politikwissenschaftlichenInteressen bewusst werden. Das <strong>Studium</strong> <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong>ist ohne Selbstaufklärung kaum möglich <strong>und</strong> verlangt die Entwicklungeiner eigenen politikwissenschaftlichen Position, die ihrerseits ohne eine reflektiertepolitische Position nicht zu gewinnen ist. Sie dürfen sich nicht <strong>der</strong> Illusionhingeben, dass das von <strong>der</strong> <strong>Politikwissenschaft</strong> erarbeitete Wissen, das Ihnen vonden Lehrenden didaktisch aufbereitet <strong>und</strong> versachlicht dargeboten wird, objektiver18 Die Begriffswahl orientiert sich an Habermas 1978: 155 ff.


3 Was sind politikwissenschaftliche Probleme? 67Natur sei. Immer steht dieses Wissen auf den Krücken von Interessen, Wertentscheidungen<strong>und</strong> Wahlprozessen, auch wenn diese nicht mehr erkennbar sind.Wenn Sie sich für eine Theorie <strong>und</strong> eine bestimmte theoretisch-methodische Herangehensweiseentscheiden, dann beziehen Sie sich immer auch auf bestimmteInteressen <strong>und</strong> Wertentscheidungen, zu denen Sie bewusst o<strong>der</strong> unbewusst Stellungbeziehen.Sie beschäftigen sich mit <strong>der</strong> Frage, welche Rolle die NATO bei <strong>der</strong>Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems nach demZusammenbruch des Warschauer Paktes übernommen hat <strong>und</strong> welche dasatlantische Bündnis spielen könnte. Zur Beantwortung dieser Frage müssenSie sich u. a. mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> NATO, ihrer Institutionen <strong>und</strong>strategischen Konzeptionen sowie mit ihrer institutionellen Lernfähigkeit <strong>und</strong>den unterschiedlichen Interessen <strong>und</strong> Positionen zur Reform <strong>der</strong> NATObefassen. Sie werden sich mit dem Begriff <strong>der</strong> Sicherheit, auf den sich dieNATO geeinigt hat, <strong>und</strong> mit unterschiedlichen Sicherheitskonzeptionen <strong>und</strong>mit den ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Interessen, Wertentscheidungen <strong>und</strong>Annahmen über politisches Handeln zu beschäftigen haben. DieseAuseinan<strong>der</strong>setzung kann nicht unabhängig von Ihrer Einstellung gegenüberdem möglichen Einsatz von Kernwaffen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>en Massenvernichtungswaffenerfolgen. Sie kommen nicht darum herum, Stellung zu <strong>der</strong>wertgeladenen Frage zu beziehen: Welche Rolle können <strong>und</strong> sollenMassenvernichtungswaffen in einem europäischen Sicherheitssystem nachdem Ende des Kalten Krieges noch spielen?Zur Beantwortung dieser Frage müssen Sie sich Ihre eigene Meinung überden angedrohten <strong>und</strong> daher möglichen Einsatz vonMassenvernichtungswaffen bilden. Mit <strong>der</strong> Konkretisierung <strong>und</strong>gleichzeitigen Rationalisierung (Begründung) Ihrer eigenen Position nehmenSie einen Standpunkt gegenüber politischen <strong>und</strong> politikwissenschaftlichenDebatten ein. Ihre Position – gewonnen in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung miteinem politischen Problem sowie den politischen <strong>und</strong> politikwissenschaftlichenDebatten – wird für Sie zum Maßstab <strong>der</strong> Kritik <strong>und</strong>zum Wegbereiter des Interesses an Politik <strong>und</strong> <strong>der</strong> politikwissenschaftlichenReflexion. Die <strong>Politikwissenschaft</strong> zwingt zum Nachdenken über die eigeneRolle im Geflecht von Politik <strong>und</strong> Wissenschaft. Für eine wissenschaftlicheArbeit ist es dabei unerlässlich, den Weg von <strong>der</strong> politischen Position überdie wissenschaftliche Reflexion schließlich zu einer politikwissenschaftlichbegründeten Position zu gehen.BeispielSelbständigesUrteilsvermögenNicht nur die Wissenschaft, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> individuelle Lebensweg wird von irreversiblenEntscheidungen geprägt. Die Entscheidung für ein bestimmtes Thema,für eine bestimmte theoretische Position <strong>und</strong> für eine bestimmte Wertkonzeptionstrukturiert den Rahmen zukünftiger Entscheidungen <strong>und</strong> reduziert die Wahlmöglichkeiten.Daher will es wohl bedacht sein, auf welche Probleme Sie sich einlassen<strong>und</strong> worauf Sie Ihr persönliches Erkenntnisinteresse während des <strong>Studium</strong>srichten. Die Erwartung, <strong>der</strong> angebotene Lernstoff <strong>und</strong> die Hochschule könnten Ihnendieses Entscheidungsproblem abnehmen, ist trügerisch. Wir machen Angebote<strong>und</strong> verlangen manches verbindlich; Sie jedoch haben auszuwählen <strong>und</strong> Ihrselbständiges Urteilsvermögen zu entwickeln.


683 Was sind politikwissenschaftliche Probleme?Übungsaufgabe 5:Definieren Sie Ihre erkenntnisleitenden Interessen (Warum studiere ich <strong>Politikwissenschaft</strong>?)<strong>und</strong> geben Sie einen o<strong>der</strong> mehrere Themenbereiche an, die Sieuntersuchen möchten. Begründen Sie Ihre Themenwahl.

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