Gisela Schwarze · Es war wie Hexenjagd . . .
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<strong>Gisela</strong> <strong>Sch<strong>war</strong>ze</strong> <strong>·</strong> <strong>Es</strong> <strong>war</strong> <strong>wie</strong> <strong>Hexenjagd</strong> . . .
<strong>Es</strong> <strong>war</strong> <strong>wie</strong><br />
<strong>Hexenjagd</strong> . . .<br />
Die vergessene Verfolgung ganz<br />
normaler Frauen im Zweiten Weltkrieg<br />
<strong>Gisela</strong> <strong>Sch<strong>war</strong>ze</strong><br />
Ardey-Verlag<br />
Münster 2009
Für<br />
Maria<br />
Anni<br />
Luzie
Inhalt<br />
1 Vorwort ................................................ 9<br />
2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft .................... 11<br />
2.1 Hitlers Arisierungsplan und der Verlust der Zivilgesellschaft . . . . . . . . . 11<br />
2.2 Die Gestapo als Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument zur SicherungdernationalsozialistischenMacht<br />
........................ 16<br />
2.3 NS-Jugendpolitik und „Erziehung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
2.4 FrauenimNS-System ................................... 34<br />
2.5 Ausländische Arbeitskräfte in der Kriegswirtschaft als „rassische Gefährdung“<br />
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />
3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden . 63<br />
3.1 Struktur und „Wirken“ der Gestapo in den NS-Gauen Westfalen-Nord und<br />
Westfalen-Süd ........................................ 63<br />
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich . . . . . . 93<br />
3.2.1 „Verworfen“ – Das Mädchenkonzentrationslager Uckermark . . . . 93<br />
Exkurs: Die Zerstörung einer Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95<br />
3.2.2 ImMädchen-KZUckermark ......................... 103<br />
3.3 „Rassenschande“ mit Slawen – Sonderbehandlung und KZ durch die Gestapo<br />
.............................................. 124<br />
3.4 „Wehrkraftzersetzung“ mit „Fremdvölkischen“ – das Wüten der Sondergerichte<br />
gegen deutsche Frauen . ............................. 151<br />
3.4.1 Sondergerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151<br />
3.4.2 Die verfolgten Frauen . . . ........................... 159<br />
3.4.3 Die Militärgefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172<br />
3.4.4 Die Urteile des Sondergerichtes Kiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178<br />
3.4.5 Strafhaft für Frauen . . . . ........................... 182<br />
4 Und es änderte sich nichts.<br />
Ächtung und Verfolgung der Opfer in einer postfaschistischen Gesellschaft 198<br />
5 Nachwort ............................................... 209
1 Vorwort<br />
„<strong>Hexenjagd</strong>“ vergiftete im 16. und 17. Jahrhundert die städtischen Gesellschaften Europas.<br />
Meist reichte die Verdächtigung aus, „mit dem Teufel im Bunde“ zu sein, um Männer und<br />
insbesondere Frauen jeden Alters der Folter zu unterziehen und anschließend ums Leben zu<br />
bringen. Die Motive, jemanden der Hexerei zu bezichtigen, <strong>war</strong>en vielfältig: Eifersucht unter<br />
Frauen, religiöser Wahn, in dem andere für den Ausbruch von Krankheiten bei Mensch oder<br />
Tier beschuldigt wurden; Neid auf die Besitztümer von Witwen; Konkurrenzkampf; unangepaßtes<br />
Leben der „Hexen“. Die Aufklärung vermochte diesem schauerlichen Spuk (Verbrennungen<br />
auf dem Marktplatz, Festmähler der richtenden Ratsherren während der Folter<br />
unbekleideter „Hexen“, die „Wasserprobe“ als Volksbelustigung) ein Ende zu bereiten. 1<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien es unvorstellbar, daß sich Derartiges in einer nunmehr<br />
„zivilisierten“ Gesellschaft <strong>wie</strong>derholen könne. Zwölf Jahre Verfolgungs- und Folterpraktiken<br />
des Nationalsozialismus jedoch, von denen auch das eigene Volk nicht verschont<br />
blieb, übertrafen die Zahl der Toten aus zwei Jahrhunderten <strong>Hexenjagd</strong> millionenfach.<br />
Im nationalsozialistischen Vernichtungswahn zum Zwecke der „Aufartung“ der „germanischen<br />
Herrenrasse“ gerieten unzählbar Männer, Frauen und Kinder in das System von Ausgrenzung,<br />
Folter und Mord. Die jahrzehntelange Verdrängung dieser Vorgänge im Nachkriegsdeutschland<br />
machte viele Unmenschlichkeiten vergessen <strong>wie</strong> die erst spät aufgearbeitete<br />
Versklavung von Millionen deportierter Frauen und ihrer Kinder.<br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong> das Schicksal von Maria K., auf das mich die Legdener Bürgermeisterin <strong>Sch<strong>war</strong>ze</strong>nbeck<br />
(†) mit der Bitte um Bearbeitung hin<strong>wie</strong>s, das mich auf das so gänzlich totgesch<strong>wie</strong>gene<br />
Kapitel der Verfolgung ganz normaler deutscher Frauen aufmerksam machte,<br />
deren Handeln und Schicksal bis heute lediglich im Zusammenhang mit dem Geschehen um<br />
Zwangsarbeiter Erwähnung findet. 2<br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong>en Frauen aller sozialen Schichten, die in einer fremdenfeindlichen, haßerfüllten Gesellschaft<br />
Menschlichkeit, Barmherzigkeit und Freundlichkeit gegenüber „Fremdarbeitern“<br />
und Kriegsgefangenen zeigten, in geringer Zahl sich wohl auch in einen dieser jungen Männer<br />
verliebten. Zu Tausenden wurden diese Frauen aufgrund von Denunziationen verhaftet,<br />
von der Gestapo zusammengeschlagen, je nach rassistischer Klassifizierung des ausländischen<br />
Mannes sofort in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück einge<strong>wie</strong>sen oder durch<br />
die Landgerichtsdirektoren der Sondergerichte mehrheitlich in Zuchthäuser geschickt. <strong>Es</strong> betraf<br />
minderjährige Mädchen und Frauen jeden Alters. Stets suchte man, ihnen – meist durch<br />
erprügelte „Geständnisse“ – sexuelle Beziehungen zu unterstellen.<br />
1 Literatur (Auswahl). Alfing, Sabine: <strong>Hexenjagd</strong> und Zaubereiprozesse in Münster. Vom Umgang mit Sündenböcken<br />
in den Krisenzeiten des 16. und 17. Jahrhunderts, Münster 2 1994. Arens, Anton (Hrsg.): Friedrich<br />
Spee im Lichte der Wissenschaften. Beiträge und Untersuchungen, Mainz 1984. Degn, Christian,<br />
Hartmut Lehmann, Dagmar Unverhau (Hrsg.): Hexenprozesse. Deutsche und skandinavische Beiträge,<br />
Neumünster 1983. Dülmen, Richard van: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der<br />
frühen Neuzeit, München 1985. Schormann, Gerhard: Hexenprozesse in Deutschland, Göttingen 1981.<br />
2 BerndBoll:„...dasgesunde Volksempfinden auf das Gröbste verletzt“. Die Offenburger Strafjustiz und<br />
der verbotene Umgang mit Kriegsgefangenen während des 2. Weltkrieges, in: Die Ortenau 71 (1991),<br />
S. 645–678. – Andreas Heusler: „Straftatbestand“ Liebe. Verbotene Kontakte zwischen Münchnerinnen<br />
und ausländischen Kriegsgefangenen, in: Sybille Krafft (Hrsg.): Zwischen den Fronten. Münchner Frauen<br />
in Krieg und Frieden 1900–1950, München 1995, S.324–341. – Robert Gellately: Die Gestapo und die<br />
deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933–1945, Paderborn 2 1994.
10 1 Vorwort<br />
Weil dieses meist konstruierte „sexuelle Vergehen“ auch nach 1945 in weiten Kreisen der<br />
deutschen Bevölkerung <strong>wie</strong> in Justiz und Verwaltung als „verfolgungswürdig“ galt, blieb<br />
eine realistische Wertung unter Einbeziehung der Rolle der Gestapo auf wenige regionale<br />
Darstellungen beschränkt. Der vermeintliche Schutz in der historischen Aufarbeitung in den<br />
Anfangsjahren der Bundesrepublik galt Frauen, „die gefehlt hatten“. Eine Rehabilitierung<br />
hat die Mehrheit der unschuldig im KZ Ravensbrück und in Zuchthäusern inhaftierten Frauen<br />
weder durch die deutsche Geschichtsschreibung, noch durch die deutsche Gesellschaft<br />
erfahren.<br />
Die Opfer sch<strong>wie</strong>gen aufgrund der 1945 fortbestehenden Ächtung bis heute – sofern sie<br />
noch leben. Da auch ihre Kinder unter der „<strong>Hexenjagd</strong>“ litten, ist eine Aufarbeitung ein Gebot<br />
der Menschlichkeit.<br />
Die Vernichtung der meisten schriftlichen Unterlagen der Gestapo und der Sondergerichte<br />
durch die Täter bei Kriegsende erschwerte z<strong>war</strong> die Forschung, <strong>war</strong> aber durch die Auswertung<br />
der kompletten Gestapo-Haftbücher der Steinwache Dortmund, der unterschiedlich<br />
vollständigen Aktenbestände dreier Sondergerichte (Dortmund, Bielefeld und Kiel) und der<br />
Strafhaftakten der Generalstaatsanwaltschaft Hamm soweit möglich, daß ein Bild der nationalsozialistischen<br />
„<strong>Hexenjagd</strong>“ gezeichnet werden konnte.<br />
Möge es den Opfern ihre Würde zurückgeben und in Deutschland für Entwicklungen sensibilisieren,<br />
die in folgenden Generationen verhindert werden müssen.
2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
2.1 Hitlers Arisierungsplan und der Verlust der Zivilgesellschaft<br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong> eine junge Demokratie nach einem verlorenen Krieg mit vielen Problemen, in der ein<br />
Österreicher in München große Reden hielt. <strong>Es</strong> er<strong>wie</strong>s sich als einfach, für den verlorenen<br />
Krieg, für Revolution und Parteienstreit, für die wirtschaftliche Not Sündenböcke zu nennen:<br />
Amerikaner und vor allem die Juden.<br />
Adolf Hitler, bereits in jungen Jahren Meister der populistischen Rede, fand schnell Anhänger<br />
in all den sektiererischen Gruppen und Grüppchen der zwanziger Jahre, die sich „völkisch“<br />
nannten, dem Antisemitismus, Antibolschewismus, dem Nationalismus und der „Rassenhygiene“<br />
anhingen, zum Teil seit dem 19. Jahrhundert. Sie alle sammelten sich in dieser<br />
neuen Partei, in der Hitler in der ungewöhnlichsten Karriere des Jahrhunderts zielstrebig seine<br />
Vormacht installierte. In seinem Buch „Mein Kampf“, während seiner Luxushaft 1925 in<br />
Landsberg Rudolf Heß diktiert, hieß es: „Die Bewegung vertritt im kleinsten <strong>wie</strong> im größten<br />
den Grundsatz einer germanischen Demokratie: Wahl des Führers, aber unbedingte Autorität<br />
desselben.“ 1 Und mit der bejubelten Autorität des „Führers“ predigte er einen jeder zivilisierten<br />
Gesellschaft Hohn sprechenden Sozialdarwinismus: „Die Natur kennt keine politischen<br />
Grenzen. Sie setzt die Lebewesen zunächst auf diesen Erdball und sieht dem freien Spiel<br />
der Kräfte zu. Der Stärkste an Mut und Fleiß erhält als ihr liebstes Kind das Herrenrecht des<br />
Daseins zugesprochen.“ 2 Dieses „Herrenrecht“ forderte Hitler als „Führer“ vorrangig für sich<br />
ein und sprach es dann der „arischen Rasse“ zu. Ihr Schicksal sei der Kampf um Lebensraum,<br />
gegen Juden, gegen alle, die sich der „nationalsozialistischen Revolution“ entgegenstellten.<br />
Und „Kampf“ bedeutete Vernichtung: des „unwerten Lebens“, der Juden und aller Andersdenkenden.<br />
„Menschenrechte“, „Humanität“ und „Freiheit des Individuums“ <strong>war</strong>en für Hitler<br />
Unworte. Hitlers Schrift wurde bereits in der sogenannten „Kampfzeit“, d. h. vor der Machtübernahme<br />
1933, mit ca. 250 000 Exemplaren verkauft 3 ; es sollten später an die 6 Millionen<br />
werden.<br />
Die Gesellschaft der Weimarer Republik <strong>war</strong> mit den Verkrustungen der Kaiserzeit und<br />
dem Trauma des verlorenen Krieges keine Zivilgesellschaft nach unserem heutigen Verständnis.<br />
Eine nicht unbeträchtliche Zahl der Bürger sehnte sich den Kaiser zurück. Die stärksten<br />
demokratischen Bestrebungen gingen von der Sozialdemokratie aus, dem gemäßigten Teil<br />
der sich emanzipierenden Arbeiterbewegung, verstärkt durch einen liberaldemokratischen<br />
Bürgerflügel und den linken Teilen des Zentrums. Nach den wirtschaftlichen Katastrophen<br />
der zwanziger Jahre mit einer hohen Arbeitslosigkeit <strong>war</strong>en viele Menschen ängstlich, sie<br />
trauten dem Vielparteiensystem nicht. „Freiheit“ der Demokratie empfanden viele Menschen<br />
als Bedrohung. Hitler geriet zu einem „von der Vorsehung gesandten“ Ersatz für den Kaiser.<br />
Die so unterschiedlichen Prägungen und Verhaltensweisen im deutschen Volk blieben auch<br />
innerhalb der NS-Diktatur erkennbar. Die von Leitfiguren abhängigen Menschen wandten<br />
sich mit Begeisterung Hitler und seiner „nationalsozialistischen Revolution“ zu, begleitet<br />
1 Adolf Hitler: Mein Kampf, 1925, S.364.<br />
2 ebd., S. 147.<br />
3 Hans Ulrich Thamer: Verführung und Gewalt, Deutschland 1933–1945, Berlin 1986,S.118.
12 2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
von fast ebenso vielen Wendehälsen, die ihren Vorteil suchten. Die Vertreter der Sozialdemokratie<br />
und des liberaldemokratischen Bürgertums gingen in die innere oder äußere Emigration.<br />
Die meisten kommunistischen Funktionäre hielten vor allem in den ersten Jahren<br />
ihren opferreichen Widerstand aufrecht und blieben bis zum Kriegsende Verfolgte. Ein Teil<br />
ihrer Anhängerschaft lief in der frühen, „sozialistisch“ geprägten NS-Phase zu den Nationalsozialisten<br />
bzw. zur SA über.<br />
Hitlers Thesen vom zur Herrschaft bestimmten Arier, der allein „Kultur“ hervorbringe,<br />
fanden schnell begeisterte Anhänger, denn viele wollten zum „Herrenvolk“ gehören, sich als<br />
„auserwählt“ fühlen. Nur die nordischen (skandinavischen und niederländischen) Menschen<br />
galten als artverwandt. Nicht nur innerhalb der NSDAP, SA und SS verbreiteten Propagandaredner<br />
diese „neuen Erkenntnisse“, die dann hinsichtlich der Rassenlehre einen im Vokabular<br />
naturwissenschaftlichen Anstrich erhielten. Schon vorher <strong>war</strong> in einigen Universitäten „Rassenlehre“<br />
modisch gewesen, <strong>wie</strong> auch „völkisches Sein“. Nach der Machtergreifung 1933<br />
dauerte es daher nicht lange, bis die von Hitler in jenem Sprachgemisch von hohlem Pathos,<br />
Schwafelei und schlichter Aussage verfaßte „nationalsozialistische Weltanschauung“ nicht<br />
nur in Buchform Verbreitung fand.<br />
Insbesondere Hitlers Beschreibung der Juden als „Rasse“ und sein fanatisches Sendungsbewußtsein<br />
zur Vernichtung der „jüdischen Rasse“ fand nicht nur in von jeher antisemitischen<br />
Kreisen Zustimmung, vielmehr verbreiteten sich nach der Machtergreifung seine unwidersprochenen<br />
Hetzthesen: Juden wollten „nicht arbeiten“, Juden hätten „niemals eine eigene<br />
Kultur gehabt“, Juden würden die „Grundlagen der geistigen Arbeit stets von anderen<br />
übernehmen“. Eine Vielzahl von nunmehr sich berufen fühlenden Akademikern, Lehrern,<br />
Schriftstellern, Journalisten vermochten diese so leicht eingängigen nationalsozialistischen<br />
Lehren mit Schulungsvorträgen, in Schulbüchern (insbesondere für den Biologie-Unterricht)<br />
den Volksgenossen zu vermitteln. In der gleichen Schlichtheit entwickelten eifrige „Rassekundler“<br />
die Merkmale bestimmter „Rassen“ und Meßmethoden, mit denen auch Kinderköpfchen<br />
vermessen wurden. Noch Jahre nach Ende der Nazidiktatur wurde an deutschen<br />
Universitäten darin fortgefahren (z. B. an der Universität Münster). Mit Juden jedoch machte<br />
man sich weniger Mühe, sie <strong>war</strong>en als „Abschaum der Menschheit“ deklassiert und „zu<br />
vernichten“. So schrieb man und so sang die Hitlerjugend. Die von jubelnden Hitler-Anhängern<br />
übernommenen Behauptungen leugneten die Leistungen vieler bedeutender deutsch-jüdischer<br />
Dichter, Musiker, Schauspieler, Regisseure, bildender Künstler, Wissenschaftler und<br />
der zehn deutsch-jüdischen Nobelpreisträger, unter ihnen Albert Einstein. Liest man allein<br />
die lange Reihe der Namen jener deutschen Emigranten, die Mitglied der „Deutschen Akademie<br />
der Künste und Wissenschaften im Exil“ <strong>war</strong>en, dann wird der Aderlaß an geistiger<br />
Elite deutlich und die Provinzialität nach 1945 in Deutschland erklärbar. 4<br />
Aber die stark empfundene Demütigung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, die Vermögensverluste<br />
durch die Inflation, die Verarmung großer Teile des Mittelstandes und die<br />
Prägung durch eine autoritätshörige Erziehung, die mit achtjähriger Schulpflicht eine eingeschränkte<br />
Bildung vermittelte, bereitete den Boden für populistische Versprechungen, für die<br />
schnelle Fixierung auf einen Feind und für die eigene freudige Aufwertung zum „Herrenmenschen“.<br />
Die wirtschaftliche Verelendung großer Teile der deutschen Bevölkerung während<br />
der Weimarer Jahre hatte die Demokratie in Mißkredit gebracht. Viele Mitglieder der<br />
alten Eliten in Wirtschaft, Bürokratie, Justiz und Militär lehnten sie von Beginn an ab. Das<br />
4 Volkmar Zühlsdorff: Der vergessene Widerstand. Akademie im Exil, Berlin 2 2001.
2.1 Hitlers Arisierungsplan und der Verlust der Zivilgesellschaft 13<br />
erklärt die Euphorie, mit der Menschen aller sozialen Schichten Hitler und den Nationalsozialisten<br />
zujubelten. 5 Kritisches Denken <strong>war</strong> in jener Zeit ohnehin nicht gesellschaftskonform.<br />
Die Umsetzung aller in „Mein Kampf“ beschriebenen Ziele, Einschätzungen und Vernichtungsphantasien<br />
begann mit der „Machtergreifung“ 1933. Gleichzeitig mit ihr am 30. Januar<br />
1933 setzte die Verfolgung der jüdischen Deutschen, aller Andersdenkenden in den Arbeiterparteien<br />
und Gewerkschaften und in Wissenschaft, Kultur, Kirchen, Kunst und Politik<br />
ein. SA-Männer, im Hochgefühl, endlich auf der „richtigen Seite“ zu sein, trieben all jene<br />
zusammen, die früher ihren Neid oder Haß erregt hatten, und mißhandelten und mordeten sie<br />
in „wilden“ Konzentrationslagern. <strong>Es</strong> begann die Eliminierung der deutschen Intelligenz –<br />
wenn sie nicht rechtzeitig emigrierte. Diese Aussonderung, Verhaftung und Ermordung der<br />
nicht angepaßten geistigen und künstlerischen Eliten durchzog mit dem Zweiten Weltkrieg<br />
als Blutspur ganz Europa. 6<br />
Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten er<strong>war</strong>teten alle bis dahin unterprivilegierten<br />
oder sich so fühlenden Bevölkerungsschichten die versprochene Aufwertung als<br />
„Herrenmenschen“ bei gleichzeitiger Bereitschaft, sich dem Führer zu unterwerfen. Die Dominanz<br />
des kleinbürgerlichen Denkens offenbarte sich in den NS-Kulturvorstellungen, in der<br />
propagierten Literatur von Josefa Berens-Totenohl bis zu Heinrich Anacker, in kraftstrotzenden<br />
Bauernbildnissen, hehren Heldendarstellungen und der Massenfertigung von Hummel-<br />
Figuren bei gleichzeitiger Ausschaltung der sogenannten „entarteten Kunst“, in der Uniformierung<br />
der Menschen in Hitler-Jugend, Parteiorganisationen <strong>wie</strong> der Deutschen Arbeitsfront,<br />
des Reichsarbeitsdienstes und der Wehrmacht. Diese äußerliche Gleichschaltung wertete<br />
den einfachen Bürger auf und entband ihn als Gruppenmitglied jeder Verantwortung, da<br />
er ja nur „gehorsam“ sein mußte.<br />
Vor allem die verbliebenen Eliten der deutschen Gesellschaft begrüßten in nicht unerheblicher<br />
Zahl die „revolutionären Ziele“ der Nationalsozialisten, insbesondere die von Beginn<br />
an brutale Ausgrenzung der in Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur, im Rechtswesen und in der<br />
Medizin tätigen jüdischen Deutschen. Und der insbesondere von Teilen der Akademikerschaft<br />
<strong>wie</strong> Universitätsprofessoren vertretene Antisemitismus 7 beflügelte Studentenhorden<br />
als potentielle SS-Anwärter für die Barbarisierung der deutschen Gesellschaft in ihrem Fanatismus.<br />
Nach dem „Jubeljahr“ der NS-Bewegung 1933 mit Festen, Umzügen, Schützenfesten unterm<br />
Hakenkreuz begann 1934 die Vorbereitung des „Lebenskampfes der arischen Rasse“<br />
mit der Aufrüstung, mit dem Bau von Flugzeugfabriken und Flugplätzen, von Rüstungsund<br />
Munitionsfabriken so<strong>wie</strong> mit dem Bau von Marine-, Heeres- und Luftwaffenarsenalen,<br />
von Kasernen und Autobahnen, letztere zugleich als Aufmarschstraßen ins Kalkül genommener<br />
Kriege. Alle Arbeitslosen fanden Arbeit. In der Euphorie des vermeintlichen<br />
Aufbruchs fiel die Propagierung der „deutschen Volksgemeinschaft“ auf fruchtbaren Boden.<br />
Parallel dazu wurden tradierte gesellschaftliche Strukturen durch NS-Organisationen<br />
ersetzt. Die Deutsche Arbeitsfront vereinte Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Gewerkschaften<br />
zerschlug man, indem man ihre Einrichtungen beschlagnahmte oder vernichtete und ih-<br />
5 Hans Ulrich Thamer, a. a.O., S. 172 ff.<br />
6 Eine derartige Vernichtung großer Teile der Intelligenz ist ein Merkmal aller totalitären Systeme. Sie<br />
erfolgte auch in der UdSSR unter Stalin, in China unter Mao und in Kambodscha unter dem Pol Pot-<br />
Regime, in Nordkorea, in den südamerikanischen und den nachkolonialen afrikanischen Diktaturen.<br />
7 Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Erster Band: Die Jahre der Verfolgung 1933–1939,<br />
München 1998,S.54 ff.
14 2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
re Funktionäre verhaftete. Schützenvereine, Sportorganisationen, Chöre und Heimatvereine<br />
wurden NS-Organisationen eingegliedert. Die Zustimmung erfaßte weite Kreise der Bevölkerung.<br />
Vor allem in den ersten Jahren zeigte sich jedoch auch Widerstand oder Verweigerung oder<br />
innere Emigration bei vielen Betroffenen, insbesondere in den beiden Arbeiterparteien, den<br />
Gewerkschaften und im linken Zentrum, später auch bei Vertretern beider Kirchen. Ihr Anteil<br />
an aktiven Gegnern <strong>war</strong> aber wesentlich geringer als der der Jubelnazis und Mitläufer. Die<br />
Mehrheit paßte sich dem Sog der Massenbewegungen an, andere <strong>war</strong>en aufgrund der Massenverhaftungen<br />
vorsichtig geworden. Nach den „spontanen“ SA-Exzessen unmittelbar nach<br />
der Machtübernahme folgten bereits 1934 die von Himmler und Heydrich gelenkten Verfolgungen<br />
durch die SS-bestimmte Politische Polizei, die Gestapo. Die SA wurde bis zu den<br />
Judenpogromen 1938 noch als „Rabaukengarde“ benutzt, sie diente dann aber <strong>wie</strong> die Massenorganisationen<br />
der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront mehr der Uniformierung der<br />
schlichten Volksgenossen, die u. a. in gewaltigen Aufmärschen das Gefühl ungeheurer Wichtigkeit<br />
erhielten und damit diszipliniert wurden. In diesem Dunst von Lederstiefeln und uniformierter<br />
Bedeutung gediehen Begriffe <strong>wie</strong> „Rasse“, „völkisch“, „arisch“, „Herrenmensch“<br />
und „Untermensch“, die zur Legitimierung ganz gewöhnlicher Barbarei führten. Alle jene<br />
Männer und Frauen, die Haß, Gewalt und Bösartigkeit ausleben wollten, wurden uniformierte<br />
„Lizenztäter“. 8<br />
Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch die ideologische Anpassung der staatlichen<br />
Institutionen, insbesondere der Justiz. Mit der Verkündung zahlreicher Verordnungen und<br />
„Gesetze“ 9 , die die Umsetzung des Führerprinzips, die Hierarchisierung der Gesellschaft<br />
und die Ausschaltung politischer Gegner zum Ziel hatten, wurden die Prinzipien der unabhängigen<br />
Dritten Gewalt, der Justiz, die in der Weimarer Republik bereits unter den nationalautokratischen<br />
Grundüberzeugungen ihres Personals gelitten hatte, aufgegeben. Die dann folgenden<br />
Rivalitäten zwischen Gerichten und Gestapo in der Bestimmung über die Exekutive<br />
<strong>war</strong>en reine Machtkämpfe, <strong>wie</strong> sie kennzeichnend für alle derartigen Auseinandersetzungen<br />
im NS-Staat zwischen staatlichen und kommunalen Amtsstellen und NSDAP in ihren Gliederungen<br />
und vor allem dem Reichssicherheitshauptamt <strong>war</strong>en.<br />
Die vorgegebenen Feindbilder eröffneten den „Lizenztätern“ ein weites Arbeitsfeld. Im<br />
„Überlebenskampf der Rassen“ gab es „Individuen“, die man für „asozial“ oder „gemeinschaftsunfähig“,<br />
„schwachsinnig“ oder „nach zigeunerischer Art lebend“ bezeichnete. Schon<br />
in der Weimarer Zeit wurden Menschen als „asozial“ oder „unwirtschaftlich“ eingeordnet,<br />
<strong>wie</strong> es den eugenischen und rassepolitischen Moden in Medizin und Sozialwesen seit dem<br />
ausgehenden 19. Jahrhundert entsprach. Was in archaischen Kulturen mit der Aussetzung<br />
schwacher oder mißgebildeter Neugeborener, mit der Ausgrenzung Alter geschah, hatte im<br />
20. Jahrhundert eine Wiederbelebung in „wissenschaftlichen“ Traktaten europäischer Professoren<br />
erfahren und erhielt ab 1933 eine pseudorechtliche Legitimierung im NS-Staat.<br />
„Durch den Sozialdarwinismus geprägt, führten ‚Rassenhygiene‘, ‚Eugenik‘ und ‚Fortpflanzungshygiene‘<br />
gesellschaftliche Prozesse auf biologische Faktoren zurück. Sie beurteilten<br />
Menschen nach ihrem sozialen ‚Wert‘ und führten deren ‚Beschaffenheit‘ in erster Linie<br />
8 Das erklärt das „Fehlen von Kriminalität“ im NS-Staat, was nach 1945 bei Straftaten immer <strong>wie</strong>der die<br />
Äußerung hervorrief: „Das hätte es bei Adolf nicht gegeben!“<br />
9 Ingo von Münch/Uwe Brodersen: Gesetze des NS-Staates. Gesetze eines Unrechtsystems. Paderborn<br />
2 1982.
2.1 Hitlers Arisierungsplan und der Verlust der Zivilgesellschaft 15<br />
auf deren ‚Erbanlagen‘ zurück.“ 10 Damit blieben wirtschaftliche Bedingungen und individuelles<br />
Vermögen bei der Beurteilung eines Menschen in seinem Verhalten und in seiner <strong>wie</strong><br />
immer gearteten Situation unberücksichtigt.<br />
In der Rassenlehre der Nationalsozialisten galt die Familie als „biologische Zelle des<br />
Volkes“. Durch sie sollte die „Aufartung“ der arischen Rasse erfolgen. Alle Krankheiten,<br />
körperlichen Mißbildungen, psychischen Erkrankungen würden durch Blut und Gene verursacht.<br />
Das Auftreten in einer Familie stigmatisierte gleich alle Familienmitglieder als „unwert“,<br />
erschwerte oder verhinderte z. B. Eheschließungen. Das am 14. 7. 1933 verkündete<br />
Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 11 bestimmte die Sterilisierung bei angeblichem<br />
Schwachsinn, bei Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, erblicher Fallsucht,<br />
Veitstanz, erblichem Blindsein und Taubheit und schwerer körperlicher Mißbildung. Ein<br />
Erlaß des Reichsinnenministers vom 14. 12. 1937 über die „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung<br />
durch die Polizei“ „brachte erstmalig eine reichseinheitliche Regelung der gegen<br />
‚Berufsverbrecher‘ schon seit 1933 angewandten polizeilichen Vorbeugungshaft. Wichtigste<br />
Neuerung <strong>war</strong> die Ausdehnung der Vorbeugungshaft auf ‚Asoziale‘“. 12 Der dann bis<br />
1945 von Parteistellen, Fürsorge und Jugendämtern, von Justiz und Gestapo verwendete<br />
Begriff „asozial“ betraf alle Menschen, denen „minderwertiges Erbgut“, Unwirtschaftlichkeit,<br />
Pflichtvergessenheit und Verwahrlosung unterstellt wurde. 13 Entsprechend dieser<br />
NS-Terminologie <strong>war</strong>en „Zigeuner“, kinderreiche und „unordentliche Familien“, uneheliche<br />
Mütter, Prostituierte, Vagabunden (=Landstreicher, Nichtseßhafte), männliche Homosexuelle,<br />
unterhaltssäumige Väter, Wohlfahrtsempfänger, Alkoholiker und Straftäter „Asoziale“.<br />
14 Für die hohe Zahl der durch Inflation und Arbeitslosigkeit der Fürsorge anheimgefallenen<br />
Familien, die den Kommunen „zu teuer“ geworden <strong>war</strong>en, reichte eine „erbbiologische“<br />
Diskriminierung, um sie in die Kategorie „asozial“ abzuschieben. In einigen<br />
Städten setzte man sie dann auch in Anstalten fest. „Wissenschaftler, Sozial- und Gesundheitsbeamte,<br />
Polizei und Justiz konnten nun, unterstützt vom Fußvolk der Fürsorgerinnen,<br />
Sozialmerkmale der in ihrem Ermessen ‚Unbrauchbaren‘ erfassen und nach Kombinationen<br />
ordnen. Was entstand, <strong>war</strong>en ‚Asoziale‘ verschiedener Grade, deren Unterdrückung<br />
je nach bevölkerungspolitischen, volks- und kriegswirtschaftlichen Erfordernissen<br />
von ihrem Ausschluß aus der Wohlfahrt über Zwangssterilisierung, Verwahrung, Haft<br />
und Zwangsarbeit bis zu ihrer physischen Vernichtung reichte.“ 15 Der Anteil der von diesen<br />
Ausgrenzungen, Sterilisierungen und Tötungen betroffenen Deutschen <strong>war</strong> – insbesondere<br />
im Verlaufe des Krieges – bemerkenswert hoch. <strong>Es</strong> <strong>war</strong>en Hunderttausende, Männer,<br />
Frauen und Kinder, die aufgrund dieser „Sozialmerkmale“ gequält und ermordet wurden.<br />
Ebenso erschreckend ist die hohe Zahl von Täterinnen und Tätern, die nicht nur als Bürokraten<br />
in Fürsorge-, Gesundheits- und Jugendämtern aussonderten, sondern auch als Ärzte,<br />
Aufseher, Fürsorgerinnen, Polizisten und Gestapomänner willfährig folterten und mordeten.<br />
Die nachstehenden Kapitel führen den Nachweis.<br />
10 Barin Alakus, Katharina Kniefacz, Robert Vorberg (Hrsg.): Sex-Zwangsarbeit in nationalsozialistischen<br />
Konzentrationslagern, Wien 2006, S.22.<br />
11 RG Bl I 1933 S. 529–531.<br />
12 Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995, S.139.<br />
13 Klaus Scherer: Asozial im Dritten Reich. Die vergessenen Verfolgten. Münster 1990,S.41.<br />
14 <strong>Gisela</strong> Bock: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus, Opladen 1986,S.364.<br />
15 Klaus Scherer, a. a.O. S. 126 f.
16 2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
Bei der „Feindbildpflege“ in totalitären Systemen mit kleinbürgerlicher Prägung wird dem<br />
vermeintlichen Gegner neben der Bösartigkeit auch sexuelle Abartigkeit unterstellt. Das betraf<br />
bei den Nationalsozialisten insbesondere die „Juden“. Beziehungen „arischer Menschen“<br />
zu Juden galten als „Rassenschande“ und wurden ab 1935 aufgrund der „Nürnberger Gesetze“<br />
mit dem Tod geahndet. Mit der Eroberung „schlechtrassischer Völker“ <strong>wie</strong> Polen, Serben<br />
und Teilen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg wandte man den Begriff „Rassenschande“<br />
auch auf Beziehungen zwischen Frauen und Männern dieser Völker mit Deutschen an. Viele<br />
der „slawischen“ Männer wurden deswegen gehenkt. Die dabei gezeigte paranoide Verfolgungswut<br />
von Gestaposchergen, Parteifunktionären, aber auch haßerfüllten Volksgenossen,<br />
Nachbarn <strong>wie</strong> Arbeitskollegen, offenbaren den Verlust jeder Zivilisation. Durch Hetzkampagnen<br />
der Nationalsozialisten wandelte sich die bis dahin in großen Teilen verunsicherte<br />
deutsche Gesellschaft in wenigen Jahren in einen Sumpf von Feindseligkeit, Denunziationen<br />
und Barbarei. <strong>Es</strong> genügten zwölf Jahre.<br />
Diese NS-Zeit endete im Mai 1945 mit 54 Millionen Toten und millionenfach durch<br />
Kriegsgeschehen und Gefangenschaft, durch Gestapo-Folter und Konzentrations- und<br />
Straflager traumatisierte und verwundete Menschen zwischen Wolga und Atlantik, zwischen<br />
Nordkap und Nordafrika. Eine ganze Generation Europas <strong>war</strong> Opfer des bösen Wahns deutscher<br />
Volksgenossen geworden, sie seien als „arische Herrenmenschen“ zur Unterwerfung<br />
ganzer Völker geboren.<br />
2.2 Die Gestapo als Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument zur<br />
Sicherung der nationalsozialistischen Macht<br />
In der deutschen Nachkriegsdiskussion behaupteten viele ehemalige Volksgenossen, man<br />
habe ja gar nichts ausrichten können, weil die Gestapo alles überwacht und Angst und<br />
Schrecken verbreitet habe. Dieser Mythos „Gestapo“ <strong>war</strong> von der SS, insbesondere von<br />
Himmler und Heydrich, gefördert worden. Die Gestapo diente nach ihrem Selbstverständnis<br />
dem Erhalt der Ideologie im deutschen Volk und der Durchsetzung der nationalsozialistischen<br />
Rassenpolitik. Da die Gestapo die entscheidende Rolle in der Verfolgung der ausländischen<br />
Zwangsarbeiter und der Deutschen, die in irgendeiner Verbindung zu diesen Ausländern standen,<br />
wahrnahm, muß sie hier als Tätergruppe dargestellt werden.<br />
In der Weimarer Zeit bestanden in Preußen innerhalb der staatlichen Polizeiverwaltungen<br />
Politische Abteilungen. Bereits vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten am<br />
30. 1. 1933 stellten überzeugte NS-Aktivisten in diesen Politischen Abteilungen die Weichen<br />
für ihre geplanten politischen Verfolgungen mit Hilfe dieser Politischen Polizei. 16 Noch am<br />
30. Januar 1933 machte sich Hermann Göring als kommissarischer preußischer Innenminister<br />
zum Chef der rund 50 000 Polizisten in Preußen und gründete eine Sonderabteilung der Politischen<br />
Polizei „zur Bekämpfung des Kommunismus“, die er Rudolf Diels unterstellte. Noch<br />
1933 folgte in Berlin die Einrichtung eines Geheimen Staatspolizeiamtes (Gestapa) als selbständige<br />
Behörde. Von Bayern aus übernahm Heinrich Himmler vor dem Hintergrund seiner<br />
dortigen SS-Führung im April 1934 die Politische Polizei aller Länder; Reinhard Heydrich,<br />
16 Johannes Tuchel: Gestapa und Reichssicherheitshauptamt. Die Berliner Zentralinstitutionen, in: Gerhard<br />
Paul/Klaus Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo. Mythos und Realität. Darmstadt 1995.
2.2 Die Gestapo als Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument 17<br />
innerhalb der SS Leiter des Nachrichten- und Geheimdienstes, wurde nun Leiter der Gestapa.<br />
In der Folgezeit gelang mit dem dritten Gestapo-Gesetz (10. Februar 1936) eineErweiterung<br />
der autonomen Stellung der Politischen Polizei. „Die Generalermächtigungsklausel<br />
<strong>war</strong> darin ebenso enthalten <strong>wie</strong> das Schutzhaftmonopol des Gestapa; die Stapo-Stellen allerdings<br />
sollten den Regierungspräsidenten unterstellt bleiben. Das schien einer eindeutigen<br />
Ein- und Unterordnung der Politischen Polizei in Struktur und Rechtssystem der staatlichen<br />
Verwaltung zu entsprechen. Nur zwei Wochen später wurde das von Göring per Erlaß jedoch<br />
so interpretiert, daß im Konfliktfall die Regierungspräsidenten eine Entscheidung des<br />
Gestapa einzuholen hatten – damit <strong>war</strong> das Weisungsrecht auf den Kopf gestellt und die<br />
Innenverwaltung in Polizeifragen dem Gestapa sogar untergeordnet.“ 17<br />
Am 17. 6. 1936 befand sich der Machtapparat der nationalsozialistischen Politischen Polizei<br />
und der allgemeinen Polizei in Himmlers Hand. Er nannte sich „Reichsführer SS und<br />
Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern.“ Letzteres bedeutete eine mehr<br />
kosmetische Einschränkung. Ihm unterstanden die SS mit dem Sicherheitshauptamt mit Heydrich<br />
als Chef des Sicherheitsdienstes (SD) und die Polizei mit den beiden Hauptämtern<br />
„Sicherheitspolizei“ unter Heydrich und „Ordnungspolizei“ unter Daluege. 18 Das Hauptamt<br />
„Sicherheitspolizei“ umfaßte das von Werner Best geleitete Amt „Verwaltung und Recht“<br />
und die beiden von Heydrich geführten Ämter „Politische Polizei“ und „Kriminalpolizei“.<br />
Von diesem Hauptamt aus erfolgten alle Aktionen gegen die politische und weltanschauliche<br />
Opposition und jene zu „Volksfeinden“ erklärten Menschen.<br />
1937 wurde der größte Teil der Polizeibeamten, die Kriminalbeamten und die Offiziere<br />
der kommunalen Schutzpolizei in den Reichsdienst übernommen. Damit besaß Himmler mit<br />
einer militärisch gefaßten Polizeiorganisation die zentral gelenkte Einsatztruppe als Ausführungsorgan<br />
der „völkisch-nationalen“ Maßnahmen. Da die Länder bereits durch das Gesetz<br />
vom 30. 1. 1934 ihre Selbständigkeit verloren hatten, konnte das Landeskriminalamt Berlin<br />
mit Erlaß vom 20. 9. 1936 die Leitung der Kriminalpolizeien aller Länder übernehmen. Am<br />
16. 7. 1937 erfolgte die Umbenennung in „Reichskriminalhauptamt“, das am 27. 9. 1939 dem<br />
Reichssicherheitshauptamt (RSHA) eingegliedert wurde. 19<br />
Mit der Übernahme von „altgedienten“ Polizei- und Kriminalbeamten in das von den<br />
NS-Führern konzipierte Überwachungs- und Verfolgungsinstrument entstand der Eindruck,<br />
die Änderung betreffe lediglich die Organisationsstrukturen hinsichtlich größerer Effektivität.<br />
Tatsächlich <strong>war</strong> in diesem „Herzstück“ des NS-Staates konsequent das Führerprinzip<br />
durchgesetzt worden – vor allen anderen Einrichtungen des Reiches. Dr. Werner Best, Theoretiker<br />
und „Verwalter“ des NS-Terrorsystems RSHA erläuterte das sogenannte Rechtsverständnis:<br />
„Recht wird im völkisch-autoritären Staat von jedem Organ der Volksordnung gesetzt,<br />
das im Auftrag der obersten Spitze – des Führers – die Funktionen eines bestimmten<br />
Lebensbereiches zu regeln hat. In welcher Form diese Regelung erfolgt – ob durch Führerbefehl,<br />
durch Gesetz, durch Verordnung, durch Erlaß oder durch organisatorische Regelungen<br />
– ist gleichgültig, wenn die rechtsetzende Stelle im Rahmen ihres Auftrages handelt.“<br />
20<br />
17 Ulrich Herbert: Best. Biographische Studien über Radikalität, Weltanschauung und Vernunft 1903–1989,<br />
Bonn 2 1996,S.161.<br />
18 Ulrich Herbert: Best. a. a.O. S. 575.<br />
19 Peter Nitschke: Polizei und Gestapo. Vorauseilender Gehorsam oder polykratischer Konflikt? in: Gerhard<br />
Paul/Klaus Michael Mallmann: Die Gestapo, a. a.O. S. 306 ff.<br />
20 Werner Best: Volksordnung und Polizei in: Deutsche Verwaltung vom 20. 4. 1939, zitiert bei Robert Gella-
18 2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
Diese Ausrichtung am „Führerbefehl“ in Verbindung mit dem „völkischen“ Empfinden<br />
wurde von der Masse der Bevölkerung, der die fünfzehn Jahre der Weimarer Demokratie<br />
fremd geblieben <strong>war</strong>en, kaum als autoritär oder gar als totalitär verstanden. Viele Rechtfertigungen<br />
nach 1945 begründeten das Verhalten während der NS-Zeit damit, es wäre doch alles<br />
nach „Recht und Ordnung“ geschehen. Auch die willfährige Anpassung der deutschen Justiz<br />
verstärkte diesen Eindruck. Die personellen Auseinandersetzungen, die Rangkämpfe um<br />
Macht und Einfluß, z. B. zwischen RSHA und Justiz oder RSHA und dem Verantwortlichen<br />
für den Ausländereinsatz, Sauckel, blieben den meisten Volksgenossen unbekannt, denn es<br />
gab nur eine NS-gesteuerte Öffentlichkeit.<br />
Innerhalb seiner Befugnis als Personalchef der Sicherheitspolizei <strong>war</strong> Best bemüht gewesen,<br />
die Führungspositionen der Sicherheitspolizei mit jungen, ehrgeizigen Juristen zu besetzen,<br />
was zu einer Vielzahl von alerten und wenig später skrupellosen SS-Jungakademikern<br />
in der Leitung der Gestapostellen führte. Heydrich wandte sich gegen dieses „Regiment der<br />
Juristen“ in der Polizeiverwaltung, fürchteten doch seine Dienststellen des SD, die ja im Gegensatz<br />
zur Polizei von der Partei finanziert wurden, durch den Dienstgradangleichungserlaß<br />
vom 23. 6. 1938 ihre Selbständigkeit zu verlieren und in der Sicherheitspolizei aufzugehen. Da<br />
sie den darin vorgesehenen Laufbahnbestimmungen (juristische Vollausbildung) nicht entsprachen,<br />
<strong>war</strong> Heydrich bemüht, den SD zu „verreichlichen“, allerdings unter Beibehaltung<br />
der organisatorischen Selbständigkeit mit dem Ziel eines einheitlichen „Sicherheitskorps“.<br />
Bis zum Kriegsbeginn steigerten sich die Rivalitäten zwischen SD, Sicherheitspolizei, Gestapo<br />
und Kriminalpolizei. Die „wirkliche Vereinheitlichung von Sipo und SD vollzog sich<br />
nicht in den Büros der Berliner Zentrale, sondern im ‚Einsatz‘- in Österreich, im Sudetenland<br />
und der ‚Tschechei‘, vor allem aber seit September 1939 in Polen.“ 21 <strong>Es</strong> <strong>war</strong> die Egalisierung<br />
durch gemeinsames Morden.<br />
Auf deutschem Reichsgebiet übernahm die Gestapo mit einem Netz von Stapo(leit)stellen<br />
die politische Kontrolle und Verfolgung all jener Menschen, die dem völkisch-nationalistischen<br />
und rassistischen Raster des NS-Staates nicht entsprachen. Nach Tuchels Berechnung<br />
verfügten die Gestapostellen in Preußen im Jahre 1935 über 2053 Beamte und 747 „nichtbeamtete<br />
Hilfskräfte“, das Gestapa über 637 Beamte und 1508 „nichtbeamtete Hilfskräfte“.<br />
Davon zählten 1127 zu den SS-Wachmannschaften der Konzentrationslager. Tuchel geht von<br />
mindestens 3800 hauptamtlichen Mitarbeitern der preußischen Gestapo aus. 22<br />
Die Anzahl der Stapostellen <strong>wie</strong> auch die Zahl der Mitarbeiter wuchs sehr schnell an.<br />
Elisabeth Kohlhaas gibt für 1937 54 Stapostellen mit ca. 5100 Bediensteten an. 23 Mit der<br />
intensiven Kriegsplanung in den beiden Vorkriegsjahren bereitete sich auch die Gestapo auf<br />
die neuen Aufgaben in den zu erobernden Gebieten vor. Am 1. September 1939 bestanden<br />
64 Regionalstellen, 11 davon in Österreich, im Sudetenland und im Protektorat Böhmen und<br />
Mähren. Mit der „Eroberung“ weiterer Gebiete wuchs deren Zahl auf 67, davon allerdings<br />
tely: Allwissend und allgegenwärtig? Entstehung, Funktion und Wandel des Gestapo-Mythos, in: Gerhard<br />
Paul/Klaus Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo, a. a.O. S. 61 f.<br />
21 Ulrich Herbert: Best, a. a.O., S. 233.<br />
22 Johannes Tuchel: Gestapa und Reichssicherheitshauptamt, a. a.O., S. 91; vgl. auch Robert Gellately: Die<br />
Gestapo und die deutsche Gesellschaft. Die Durchsetzung der Rassenpolitik 1933–1945, Paderborn 2 1994.<br />
23 Elisabeth Kohlhaas: Die Mitarbeiter der regionalen Staatspolizeistellen, in: Gerhard Paul/Klaus Michael<br />
Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo, a. a.O., S. 219–235.
2.2 Die Gestapo als Einschüchterungs- und Verfolgungsinstrument 19<br />
26 in den besetzten Gebieten. 1941 <strong>war</strong>en bereits 30 % der knapp 11 000 Beschäftigten der<br />
Stapostellen des Reichsgebietes in die annektierten Gebiete abgeordnet worden. 24<br />
Das Anwachsen der Zahl der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter/innen, die während<br />
des Krieges auf dem Reichsgebiet anstelle der zum Militärdienst einberufenen Deutschen in<br />
allen Bereichen der Wirtschaft eingesetzt wurden, rief in der Partei, im RSHA und in den<br />
Stapostellen geradezu hysterische Reaktionen hervor, insbesondere die Rassewächter fürchteten<br />
„eine Verseuchung deutschen Blutes“. Nach den Jahren intensiver Volksverhetzung<br />
gegen die jüdischen Mitbürger, die 1941/42/43 mit deren Deportation in Vernichtungslager<br />
„endete“, setzte mit dem Zwangseinsatz der „Fremdarbeiter“ eine gegen diese gerichtete<br />
Hetzkampagne ein. Willfährige Mittäter fanden sich in den Organisationen der NSDAP, in<br />
der Deutschen Arbeitsfront, die die Ausländerlager „betreute“, und in den NS-gesteuerten<br />
Medien. In den Schulen wurden die Kinder mit unterschiedlichen Schreckensbildern über<br />
die „Untermenschen“ aufgeklärt. Bereits von Beginn des Krieges an erfaßte, registrierte und<br />
überwachte man über die Gemeindeämter Ausländer, „Mischlinge“, Ruhrpolen und etwas<br />
später alle ins Reich deportierten Ausländer. 25<br />
Personell <strong>war</strong>en die Stapostellen gar nicht imstande, diese Kontrolle vorzunehmen. Bereits<br />
in den ersten Jahren nach der Machtübernahme, vor allem während der Judenverfolgungen,<br />
<strong>war</strong>en den Stapostellen von deutschen Volksgenossen Denunziationen in uner<strong>war</strong>tet großer<br />
Zahl überbracht worden. 26 Sie galten Kommunisten, Sozialdemokraten, Lehrern und Mitgliedern<br />
der Evangelischen Bekennenden Kirche und der Katholischen Kirche. Hatten die<br />
Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. 2. 1933 27 und das<br />
Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutze der Parteiuniform<br />
vom 20. 12. 1934 28 von Beginn der NS-Herrschaft an jegliche Verfolgung nicht nationalsozialistischen<br />
Denkens und Handelns legitimiert, so begann die Eliminierung „rassisch Minderwertiger“<br />
mit der Verkündung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses 29 und<br />
den Nürnberger Rasse-Gesetzen 1935. Mit Beginn der Krieges verschärften die Nationalsozialisten<br />
ihre Verfolgungen, die insbesondere mit den erweiterten Sondergerichten und der<br />
Gestapo umgesetzt wurden.<br />
Der Mythos „Gestapo“, der so viele Menschen ängstigte, verlieh anderen durch ihre Denunziationen<br />
das Gefühl, ein bedeutendes Mitglied der Volksgemeinschaft zu sein. Gleichzeitig<br />
trugen sie dazu bei, Verbrechen und Terror durch Gestaposchergen zu ermöglichen. Ohne<br />
diese Zuträger aus dem Kreis der Nachbarn, Arbeitskollegen, Verwandten hätte die Gestapo<br />
nicht ihr Regiment des Schreckens führen können. Gellately führt auch die große Zahl<br />
der Funktionsträger von NSDAP, DAF und Ortsbauernführer als potentielle Überwacher an.<br />
Im Januar 1939 hätte es 463 048 Blockleiter (Block<strong>war</strong>te) und 89 378 Zellenleiter gegeben,<br />
die mit ihren Haussammlungen, mit der Verteilung von Lebensmittelmarken und der Führung<br />
von Haushaltskarteien mehr zur Überwachung und Stärkung des Regimes beigetragen<br />
hätten als die Gestapo mit ihren Fahndungen. 30 „Sieht man einmal von der Frage nach den<br />
24 Ebd.<br />
25 In vielen – 1945 nicht bereinigten – Kommunalverwaltungen finden sich derartige Listen der zu Beobachtenden.<br />
26 Robert Gellately: Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft, a. a.O., S. 25.<br />
27 RGBl I 1933 S. 83.<br />
28 RGBl I 1934 S. 1269.<br />
29 RGBl I 1935 S. 529 ff.<br />
30 Robert Gellately, Die Gestapo und die deutsche Gesellschaft, a. a.O., S. 91 f.
20 2 Aspekte der nationalsozialistischen Gesellschaft<br />
Motiven ab, so bildeten Anzeigen aus der Bevölkerung das Schlüsselglied in der dreimensionalen<br />
Wechselwirkung zwischen Polizei, Bevölkerung und Politik in NS-Deutschland. Das<br />
Mitwirken der Bevölkerung durch das Liefern von Informationen <strong>war</strong> einer der wichtigsten<br />
Faktoren für das Funktionieren des Terrorsystems.“ 31 Die im Zusammenhang mit der Vorbereitung<br />
und dem Beginn des Krieges ergangenen Gesetze und Verordnungen erweiterten das<br />
Feld der Denunziation. Peter Hüttenberger resümiert nach der Auswertung der Heimtückefälle<br />
vor dem Sondergericht München: „Denunzianten stammen aus demselben Milieu <strong>wie</strong> die<br />
Denunzierten.“ 32 Ihre Motive <strong>war</strong>en persönliche Streitereien, Feindschaften und Abneigungen<br />
aller Art, aber auch Wichtigtuerei und vorauseilender Gehorsam. <strong>Gisela</strong> Diewald-Kerkmann<br />
registriert in ihrer Untersuchung 33 : „Tatsächlich belegen Akten der Justiz, der Gestapo<br />
und der NSDAP eine Denunziationsbereitschaft der Bevölkerung von einem unvorstellbaren<br />
Ausmaß.“ Dabei überwogen anfänglich die unteren Schichten. Erst gegen Ende des Krieges<br />
<strong>war</strong> auch der Mittelstand beteiligt. Männer und Frauen denunzierten in gleicher Weise.<br />
Die deutsche Gesellschaft <strong>war</strong> gegen Ende des Krieges derart verkommen, daß die britische<br />
Militärregierung nach dem Einmarsch entsetzt <strong>war</strong> über das deutsche Denunziantentum, das<br />
nun bei den Besatzungsoffizieren seine Ansprechpartner suchte. Nur „identifizierte“ man nun<br />
tatsächliche oder vermeintliche „Nazis“.<br />
In den sogenannten besseren Kreisen erfolgte während der NS-Zeit die Demontage eines<br />
Menschen sehr viel differenzierter und auch hinterhältiger: Mit Verdächtigungen, übler<br />
Nachrede, negativer Einschätzung seiner Fähigkeiten, stets an richtiger Stelle vorgebracht –<br />
irgendwann fiel ein unvorsichtiges Wort des Unangepaßten, und man, d. h. die Gestapo, konnte<br />
zugreifen.<br />
Die Motive für Denunziationen – heute oftmals Bestandteil des „Mobbings“ – sind wohl<br />
durch die Jahrhunderte gleich geblieben: Neid auf Erfolgreichere, auf „Reichere“, Abgrenzung<br />
im Hierarchiegefüge eines Betriebes, eines Dorfes, Streit innerhalb einer Familie, in<br />
der Nachbarschaft, Haß und der Wille, den Gegner persönlich oder geschäftlich zu beseitigen.<br />
Diese in der Menschheit vorhandenen Verhaltensweisen entfalteten sich von jeher nach<br />
den Gegebenheiten: Sie beginnen im Kindesalter in der Schule, wenn der Lehrer auffordert,<br />
Fehlverhalten anderer anzuzeigen („Petzen“), sie wachsen in Betrieben mit brutalen<br />
Rang- und Machtkämpfen, sie prägen vor allem die Gesellschaften mit autoritären und totalitären<br />
Strukturen. Sie gewinnen auch in demokratisch verfaßten Gesellschaften Raum,<br />
wenn Medien zum Zwecke der Auflagenhöhe oder Einschaltquoten diese menschliche Verhaltensweise<br />
manipulieren. Sie beeinflussen alle Wirtschaftssysteme mehr als die Börsenkurse.<br />
Denunziation und Mobbing sind das Gift jeder menschlichen Gesellschaft. In totalitären<br />
Staaten allerdings wirkten und wirken sie oft tödlich, <strong>wie</strong> hier zu untersuchen sein<br />
wird.<br />
31 Ebd., S. 158.<br />
32 Peter Hüttenberger: Heimtückefälle vor dem Sondergericht München 1933–1939, in: Bayern in der NS-<br />
Zeit IV, S. 517.<br />
33 <strong>Gisela</strong> Diewald-Kerkmann: Denunziantentum und Gestapo. Die freiwilligen ‚Helfer‘ aus der Bevölkerung,<br />
in: Gerhard Paul/Klaus Michael Mallmann (Hrsg.): Die Gestapo, a. a.O., S. 288 ff.
2.3 NS-Jugendpolitik und „Erziehung“<br />
2.3 NS-Jugendpolitik und „Erziehung“ 21<br />
Die Hetzjagd deutscher Volksgenossen zielte nicht nur auf Frauen und Männer, sie traf auch<br />
Minderjährige, Kinder und Jugendliche. Kinder litten unter der Sippenhaft, wenn Vater, Mutter<br />
oder Geschwister verfolgt wurden. Kinder wurden wegen ihrer Behinderung sterilisiert<br />
oder ermordet. Jugendlichen galt einerseits die besondere Aufmerksamkeit der Nationalsozialisten,<br />
wollte man sie doch zum perfekten Volksgenossen prägen, brutal jedoch ahndete<br />
man unangepaßtes Verhalten.<br />
Die nationalsozialistischen Erziehungsvorstellungen fußten auf jenen der Kaiserzeit, als<br />
Gehorsam, Folgsamkeit, Fleiß und Unterordnung in Familien und Schulen vermittelt wurden.<br />
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg forderten und förderten aber aufgeklärte Kreise demokratische<br />
Tugenden <strong>wie</strong> Gerechtigkeit, Takt, Hilfsbereitschaft, Selbständigkeit und Initiative.<br />
Reformpädagogen beriefen sich auf die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und forderten<br />
eine Erziehung vom Kinde her.<br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong>en jedoch letztlich nur wenige Jahre der Weimarer Republik, in denen Lehrpläne<br />
erweitert und die Lehrerbildung gefördert wurden. Reformschulen gab es vor allem in Großstädten<br />
oder in Internaten. Mehrheitlich hatten nicht nur Schulgebäude der Jahrhundertwende<br />
mit großen Klassen und langen Bänken Bestand, auch die allgemeine achtjährige Schulpflicht<br />
galt weiterhin für 80–90 Prozent der Kinder in Deutschland. Deren Bildung wurde mehr vom<br />
Engagement des Lehrers oder der Lehrerin bestimmt, denn vom Lehrplan einer verkrusteten<br />
Schulbürokratie. Nur 10 bis 20 Prozent der Kinder besuchten weiterbildende Schulen (Mittelschulen<br />
– heute Realschulen, Gymnasien – in der NS-Zeit auch „Oberschulen“- und Berufsbildende<br />
Schulen). Der größere Teil der Schulen insbesondere im ländlichen Raum <strong>war</strong><br />
„wenig gegliedert“, das hieß: mehrere Jahrgänge wurden gemeinsam in einem Klassenraum<br />
unterrichtet. In diesen Klassen saßen oftmals 70 bis 80 Kinder. Nur in den Großstädten gab<br />
es „Hilfsschulen“ für lern- und geistig behinderte Kinder. Außer Blindenschulen gab es selten<br />
Schulen für anderweitig behinderte Kinder, die dann überhaupt nicht zur Schule gingen<br />
(<strong>wie</strong> es heute noch in vielen Ländern der Erde üblich ist). Lernbehinderte Kinder durchliefen<br />
durchweg die allgemeine Schule (die Volksschule), indem sie jeden Jahrgang zweimal „absaßen“.<br />
Diese Schulsituation dauerte bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Außer<br />
Lesen, Schreiben, Rechnen und Auswendiglernen im Religionsunterricht hing das vermittelte<br />
Wissen von der Fähigkeit des Lehrers oder der Lehrerin ab. Und das <strong>wie</strong>s zu allen Zeiten<br />
große Unterschiede auf (man beachte die Millionen Analphabeten nach Durchlaufen der<br />
deutschen Schulen seit 1945!) Unter diesen Umständen <strong>war</strong> es während der NS-Zeit leicht,<br />
einen Menschen, der aus der 4. oder 5. Schulklasse entlassen wurde, für „schwachsinnig“ zu<br />
erklären. Die Sondergerichtsakten der NS-Jahre vermerken bei Angeklagten mehrfach eine<br />
Sterilisierung wegen „Schwachsinns“, da nur fünf Schulklassen absolviert wurden.<br />
Die familiäre Erziehung wurde in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft vom Patriarchat<br />
bestimmt. Die geschlechtsspezifischen Erziehungsvorstellungen sahen für Mädchen<br />
die auch von den Nationalsozialisten propagierte Rolle als Frau und Mutter vor. Berufsbildung<br />
wurde häufig durch alle Schichten unter Hinweis auf die baldige Heirat verweigert.<br />
Eigenleben für Frauen galt als suspekt. Auch das Rollenbild für Jungen <strong>war</strong> vom Patriarchat<br />
bestimmt. Gehorsam wurde eingeprügelt. Jede Sensibilität <strong>war</strong> verpönt. „Ein Junge weint<br />
doch nicht!“ Musische Veranlagungen durften als „brotlose Künste“ beruflich nicht umgesetzt<br />
werden. Die Nationalsozialisten forcierten diese Tendenz aus der Kaiserzeit mit Wehrertüchtigungslagern<br />
und Mutproben in HJ-Lagern.
94 3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden<br />
mark. <strong>Es</strong> ist zu vermuten, daß ihre Familie überwacht wurde. 1944 verhaftete die Bahnpolizei<br />
ihre zwei Schwestern unter dem Standardvorwurf: Umhertreiben und Geschlechtsverkehr<br />
mit Ausländern. Während die ältere Schwester nach 20 Tagen aus der Haft entlassen wurde,<br />
mußte die jüngere Schwester ein Vierteljahr in den Fängen der überaus eifrigen Weiblichen<br />
Kriminalpolizei (WK) verbleiben. Ohne Begründung wurde Herta N., Jahrgang 1922, am<br />
10. 9. 1942 verhaftet und am 24. 9. 1942 nach Uckermark geschickt. 85 Am 30. 10. 1942 verhaftete<br />
die Gestapo die Dortmunderin Gerda L., Jahrgang 1923, mit dem Vermerk „Vorbeugung“<br />
und überführte sie am 9. 11. 1942 nach Uckermark.<br />
Mit dem Ausbau des Jugendschutzlagers für Mädchen in Uckermark folgten 1943 weitere<br />
Einweisungen. Am 6. 6. 1943 verhaftete man Margarete W. mit Wohnsitz Berlin in Dortmund<br />
mit der Begründung: „Flucht aus dem Jugendschutzlager und Diebstahl“ und überstellte<br />
sie am 21. 6. 1943 dem Polizeigefängnis Berlin. 86 Vermutlich „stahl“ sie Eßbares, denn<br />
aus Uckermark flohen viele vor Hunger. Aus der Steinwache Dortmund wurden am 8. 2. 1943<br />
Herta T., Jahrgang 1922, aus Braunschweig, am 4. 3. 1943 Anneliese K., Jahrgang 1924, aus<br />
Dortmund und ebenso die Dortmunderin Alma L., Jahrgang 1924, nach Uckermark über<strong>wie</strong>sen.<br />
Aus dem Polizeigefängnis Kiel kamen:<br />
20. 1. 1943 Elvira Sch.<br />
10. 2. 1943 Adelheid P.<br />
2. 6. 1943 Natja P. Jahrgang 1920<br />
2. 6. 1943 Gertrud E. Jahrgang 1924<br />
4. 7. 1943 Anna B. Jahrgang 1925 aus Kiel<br />
6. 7. 1943 Hilde L. Jahrgang 1926 aus Husum<br />
7. 7. 1943 Brunhilde C. Jahrgang 1925 aus Lübeck. 87<br />
Vergleichbare Einweisungen werden aus allen zu Gestapozentralen gehörenden Polizeigefängnissen<br />
erfolgt sein. Die verhafteten Mädchen sind, <strong>wie</strong> auch B. Strebel vermutet 88 , wohl<br />
generell über das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück erfaßt und weitergeleitet worden.<br />
Das entspricht der eigentlichen Zuordnung dieses „Jugendschutzlagers“ zum Frauen-KZ Ravensbrück,<br />
die allerdings nach dem Krieg von den weiter in Amt und Würden befindlichen<br />
Kriminalbeamtinnen und sogenannten Erzieherinnen von Uckermark geleugnet wurde. Das<br />
ist auch in den ersten 25 Jahren nach Kriegsende nie in Frage gestellt worden, weder von<br />
der Sozialpädagogik, der Justiz noch der Geschichtsschreibung. Liest man Jugendamtsakten<br />
der dreißiger bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts und setzt sie in Bezug zu<br />
den Berichten ehemaliger Heimzöglinge, dann wird deutlich, daß die „Sozialpädagogik“ und<br />
Jugendgerichtsbarkeit jener Jahre nur eine Variante jener Brutalität zeigte, deren verbreitete<br />
Akzeptanz in der deutschen Gesellschaft uns heute erschrecken läßt. Die Stigmatisierung von<br />
Kindern aus Waisenhäusern oder „sozial-schwachen“ Familien – sprich armen Familien – erfolgte<br />
schnell durch Frauen, deren Berufsstand „Fürsorgerin“ in jenen Jahren verbreitet und<br />
durch Bigotterie gekennzeichnet <strong>war</strong>. Ein kleines Waisenmädchen wurde als „eitel und putzsüchtig“<br />
bezeichnet, weil es in den Spiegel guckte, <strong>wie</strong> die Verfasserin in einer münsterländischen<br />
Jugendamtsakte las. Sehr schnell sammelten sich bei „Heimkindern“ und Kindern aus<br />
85 STA MS Polizeidirektion Dortmund 1452/4602.<br />
86 STA MS Polizeidirektion Dortmund 1453/2589.<br />
87 LA SH Abt. 623 Nr. 34.<br />
88 B. Strebel, a. a.O., S. 366.
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich 95<br />
„sozial auffälligen“ Familien derartige Beurteilungen und führten bei etlichen Jugendämtern<br />
in eilfertiger Umsetzung nationalsozialistischer Stigmatisierungen zur eifrigen Suche nach<br />
möglichen Häftlingen für die Jugendschutzlager, <strong>wie</strong> Michael Hepp nachweist. 89 Besonders<br />
eifrig zeigten sich dabei München und Wien, allerdings würde eine Auswertung aller noch<br />
vorhandenen Haftbücher zeigen, daß sich die einzelnen Gegenden des Deutschen Reiches<br />
nicht viel nachstanden.<br />
In den Jahren 1944/45 hat die Dortmunder Weibliche Kriminalpolizei, die erst im Krieg<br />
mehr zum Einsatz kam, mit großem Eifer insbesondere 15/16jährige Mädchen verhaftet.<br />
Die Entlassung erfolgte dann nach kurzer Zeit durch die Gestapo. Von Juni 1944 bis Ende<br />
März 1945 erfolgten 33 Verhaftungen junger Mädchen und Frauen, vornehmlich durch die<br />
„WKP“ mit der Begründung „Vorbeugung“, „Umhertreiben“ und „Arbeitsbummelei“. Dem<br />
folgte in diesen Fällen nach wenigen Tagen die Entlassung durch Gestapobeamte.<br />
Mehrheitlich führten die Jugendämter für die nach Uckermark überstellten Mädchen „sexuelle<br />
und sittliche Verwahrlosung“ an. <strong>Es</strong> <strong>war</strong>en jene geschlechtsspezifischen Raster, nach<br />
denen „Fehlverhalten“ geahndet wurde. Die Gestapo <strong>war</strong> unmittelbar eingeschaltet bei vermeintlichen<br />
oder tatsächlichen „Beziehungen“ zu Ausländern und bei vermeintlicher „Gefährdung<br />
der Hitler-Jugend“ durch die Kontakte zu anderen Jugendgruppen <strong>wie</strong> der Hamburger<br />
Swing-Jugend. Neben dem großen Anteil der für „asozial“ erklärten Mädchen wurde<br />
auch jene aus rassischen Gründen verfolgte Opfergruppe <strong>wie</strong> „Judenmischlinge“, „Zigeunermischlinge“<br />
und „Marokkaner-Mischlinge“ 90 nach Uckermark einge<strong>wie</strong>sen. Im weiteren<br />
Verlauf des Krieges er<strong>wie</strong>s sich das „Jugendschutzlager“ durch die Einweisung jener slowenischen<br />
Mädchen, die mit ihren Familien der Himmlerschen Rache zum Opfer fielen, als das,<br />
was es tatsächlich <strong>war</strong>: ein Konzentrationslager. Die inzwischen vorliegenden Berichte jener<br />
Frauen, deren Jugend in Uckermark zerstört und deren Trauma lebensbegleitend wurde, haben<br />
zusammen mit den Veröffentlichungen der letzten zwanzig Jahre auch dieses Verbrechen<br />
der nationalsozialistischen deutschen Jugendämter, Fürsorgeeinrichtungen, Polizei, Gestapo<br />
und Justiz offenbar werden lassen.<br />
Exkurs: Die Zerstörung einer Kindheit<br />
Wir fuhren über eine Landstraße im Münsterland. Waldstücke wechselten mit Wiesen und<br />
Feldern. Vereinzelt lagen breite Gehöfte unter hohen Bäumen. Unser Ziel <strong>war</strong> ein Dorf, das<br />
Maria, meine Begleiterin, seit nahezu 60 Jahren nicht mehr aufgesucht hatte. Plötzlich zeigte<br />
sie in einen Wirtschaftsweg, von beiden Seiten durch Hecken begrenzt. „Dahinten lag unser<br />
Haus. Diesen Weg entlang hat mich der Langos an den Haaren gezogen.“ Ich sehe das<br />
vierzehnjährige Mädchen mit den langen blonden Zöpfen vor mir, das der Gestapomann<br />
zum Auto zerrt. Ich weiß, daß sie voller Angst <strong>war</strong>, ein Waisenmädchen auf dem Hof des<br />
Bruders, der schon Soldat <strong>war</strong>.<br />
1995, als viele begannen, das Geschehen in ihren Dörfern und Städtenzuhinterfragen,<br />
hatte mich die Amtsbürgermeisterin um die historische Aufarbeitung eines Vorganges gebeten,<br />
dessen Dokumente Jahrzehnte in der Amtsverwaltung weggeschlossen <strong>war</strong>en. Auch<br />
89 Michael Hepp: Vorhof zur Hölle, a. a.O., S. 245.<br />
90 Abkömmlinge der französischen Rheinlandbesetzung nach dem Ersten Weltkrieg. Iris Wigger: Die<br />
„<strong>Sch<strong>war</strong>ze</strong> Schmach am Rhein“ Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und<br />
Rasse, Münster 2006.
96 3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden<br />
Marias Heimathaus 1940 mit „Einquartierung“(Maria mit „Schiffchen“). (Privat)<br />
Bürger dieses münsterländischen Dorfes fragten, weil sie spürten, daß Jahrzehnte ein Unrecht<br />
verdrängt worden <strong>war</strong>.<br />
Nun fuhren wir in das Heimatdorf, das so offensichtlich nicht nur sein äußeres Bild positiv<br />
verändert hatte, sondern mit der Vertreterin der Gemeinde und dem Ortspfarrer jene<br />
Menschlichkeit zeigte, die eine Versöhnung möglich machte.<br />
Das Dorf <strong>wie</strong>s am 10. 10. 1941 857 Einwohner auf. Erst im weiteren Verlauf des Krieges<br />
zogen Evakuierte zu, die nicht katholisch <strong>war</strong>en. Der Haupterwerbszweig <strong>war</strong> die Landwirtschaft<br />
mit 114 bäuerlichen Betrieben.<br />
Größe der Höfe:<br />
55 Höfe bis 5 ha<br />
29 Höfe bis 10 ha<br />
10 Höfe bis 20 ha<br />
19 Höfe über 20 ha 91<br />
Die alten Eliten blieben auch in der NS-Zeit bestehen, d. h. die großen Bauern stellten<br />
Bürgermeister, Ortsbauernführer und Ortsgruppenleiter.<br />
Maria K. entstammt einer kinderreichen Kötterfamilie, die einen Pachthof mit 2 ha Land bewirtschaftete,<br />
zur Hälfte Ackerland und zur anderen Hälfte Wiesen für die zwei Kühe. Wie es<br />
damals im ländlichen Raum üblich <strong>war</strong>, lebten sie für die Nahrung als Selbstversorger. Maria<br />
ist das drittjüngste unter elf Geschwistern. Die Mutter stirbt 1937 an Krebs. Der Vater, der mit<br />
Lohndrescherei ein Zusatzeinkommen verdient, verunglückt durch einen Treibriemenriß und<br />
stirbt 1938. Da ist Maria elf Jahre alt. Der zweitälteste Bruder übernimmt den Pachtkotten, die<br />
drei jüngstenWaisenbleibenbeiihm.Dieälteren Geschwister arbeiten inzwischen auf ande-<br />
91 Amt Legden l/123–03.
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich 97<br />
Maria als 14jährige (2. v. l. stehend) im Heim Widey „Das <strong>war</strong> meine damalige Familie, wo es mir gut<br />
ging – bis die Gestapo mich holte.“ (Privat)<br />
ren Höfen oder auf den Höfen künftiger Ehepartner und heiraten meist bei Kriegsausbruch.<br />
Maria muß als Elfjährige die sechs und acht Jahre jungen Geschwister beaufsichtigen und<br />
auf dem Hof helfen. Sie trägt Zeitungen aus, um etwas Geld hinzuzuverdienen. Der Ortsgruppenleiter<br />
beschimpft sie eines Tages, weil sie nicht zu den Jungmädeln kommt, aber sie hat<br />
doch keine Zeit. Zum Religionsunterricht geht sie aber, die Eltern hatten ihre Kinder gläubig<br />
erzogen. Der Pfarrer besteht darauf, daß die Mädchen ihre Arme im Unterricht bedecken. Da<br />
Maria keine Jacke besitzt, versucht sie, sich von anderen Kindern eine Jacke zu leihen, oder<br />
sie duckt sich in die letzte Bank, um nicht gesehen und geschlagen zu werden.<br />
Als der Vater 1938 starb, wurde der Landwirt und Ortsbauernführer B. ihr Vormund. Die<br />
Schule im Dorf <strong>war</strong> dreiklassig. 92 Den Hauptlehrer und den Lehrer Romanus G. hat Maria K.<br />
als freundliche Menschen in Erinnerung. Nur die Lehrerin Josepha B. <strong>war</strong> zu dem Mädchen<br />
unfreundlich. Maria K. erklärt sich das mit dem Interesse der jungen Lehrerin an ihrem<br />
Bruder Bernhard, den sie immer auf den sonntäglichen Spaziergängen zu treffen suchte.<br />
Und Bernhard K. nahm stets seine kleine Schwester Maria mit, um nicht mit Josepha B.<br />
allein zusammenzutreffen. Bruder Bernhard heiratete dann im Herbst 1940 eine junge Frau<br />
aus einem Nachbardorf. Wenig später <strong>war</strong> er der erste aus dem Dorf, der zur Wehrmacht<br />
eingezogen wurde.<br />
Als er nach einigen Wochen auf Urlaub kam, erzählte er der kleinen Schwester, daß die<br />
Deutschen in Polen sehr schlimme Dinge täten. Sie solle zu den Polen, die jetzt überall<br />
92 Die gemeinsame Unterrichtung mehrerer Jahrgänge in einer Klasse <strong>war</strong> bis in die sechziger Jahre des<br />
20. Jahrhunderts die Regel an deutschen Volksschulen im ländlichen Bereich.
98 3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden<br />
auf den Höfen eingesetzt würden, freundlich sein. – Er wollte wohl seine kleine Schwester<br />
nicht von der damals verbreiteten Hetze <strong>wie</strong> „polnische Untermenschen“, „Menschentiere“<br />
beeinflussen lassen.<br />
Auf dem Hof des Verpächters arbeitete Florian Sp., ein zum Zivilarbeiter bestimmter<br />
Kriegsgefangener. Maria K. sagt, er habe sehr gut deutsch gesprochen. Die junge Ehefrau<br />
des eingezogenen Bruders arbeitete im Nachbarort im Krankenhaus. Maria mußte das Vieh<br />
versorgen und die beiden kleineren Geschwister beaufsichtigen. Der Verpächter schickte<br />
mehrfach Florian, damit er dem Mädchen vor allem bei der Versorgung der Tiere helfe. Der<br />
sechzehnjährige Bruder Alois, der auch auf dem Hof des Verpächters arbeitete, brachte Florian<br />
nach Feierabend häufig mit. Florians Freund arbeitete auf einem anderen Hof im Dorf.<br />
In ihrer Freizeit kamen beide zu den Kindern. Oftmals kam Hedwig, die 18jährige Schwester<br />
der jungen Ehefrau dazu. Sie hatte sich mit Maria angefreundet. Sonntags gingen sie alle<br />
gemeinsam, <strong>wie</strong> es auf dem Lande Brauch <strong>war</strong>, über die Felder spazieren. Bei schlechtem<br />
Wetter spielten sie Karten oder „Mensch ärgere dich nicht“. Da alle morgens um 5 Uhr<br />
aufstehen mußten, wurde es abends nie spät. Maria K. erinnert sich nicht, daß ihr außer<br />
Florian irgendjemand aus dem Dorf geholfen habe. Florian hatte ihr erzählt, daß zu Hause<br />
seine Verlobte auf ihn <strong>war</strong>te. Sie empfand ihn <strong>wie</strong> einen großen Bruder. Die Schwester ihrer<br />
Schwägerin schwärmte für den anderen jungen Polen. Diese harmlosen Begegnungen sind<br />
von einem Teil der Dorfbevölkerung anders gesehen worden.<br />
In den ersten Nachkriegsjahren gab es zahlreiche Männer, die als „Rächer der Entrechteten“<br />
Schuldige ausfindig machten, Anzeige erstatteten. Meist <strong>war</strong>en es gutgemeinte Versuche,<br />
den Opfern zu helfen. Auch im Falle Maria K. mühte sich ein Versicherungsvertreter, die<br />
Wahrheit herauszubringen, Anzeige gegen Amtsträger des Dorfes zu erstatten. Da allenthalben<br />
die ehemaligen „Nazis“ noch amtierten, sei es als Beamte, Dorfpolizisten, Staatsanwälte,<br />
Richter oder auch Pastöre, <strong>war</strong> schnell der Spieß umgedreht und der wackere Ritter für<br />
Gerechtigkeit wegen „Amtsanmaßung“ hinter Gittern. Später erschienen Hochstapler, die<br />
versuchten, beteiligte Dörfler gegeneinander auszuspielen, um dann Gelder zu kassieren.<br />
So ergeben Aussagen aus verschiedenen Jahren in den Akten der Staatsanwaltschaft viele<br />
Jahre nach Kriegsende ein Bild, <strong>wie</strong> sehr die einfache Landbevölkerung der NS-Propaganda<br />
erlegen <strong>war</strong>. Hinzu kam die ländliche Hierarchie, in der die „dicken Bauern“ den Ton angaben<br />
und die Herablassung gegenüber den Kötterskindern in geifernden Haß umschlug. Diese<br />
Kötterskinder <strong>war</strong>en katholisch erzogen, es gab Einquartierungen von Soldaten auf den Höfen,<br />
auch in diesem Kotten, sie wußten, daß Krieg und der geliebte Bruder Soldat <strong>war</strong>, sie<br />
kannten aber nicht die Bestimmungen zum Umgang mit Polen, erlassen von einer Gestapo in<br />
Berlin. Deswegen gingen sie mit dem 26jährigen Florian und dem 24jährigen Josef sonntags<br />
spazieren.<br />
Josef hatte das Pech, daß es zu Meinungsverschiedenheiten mit seinem Bauern kam. Der<br />
rief die Polizei. Inzwischen wurde im Dorf darüber geredet, daß die Mädchen Umgang mit<br />
den Polen hätten. Josef wurde zur Polizei mitgenommen, man durchsuchte seine Tasche –<br />
und fand ein Foto von Hedwig mit einer Widmung. Die Gestapo wurde verständigt. Sie<br />
erschien auf dem Hof, auf dem Florian eingesetzt <strong>war</strong>. Die Bäuerin <strong>war</strong> noch nach dem<br />
Krieg beeindruckt: An einem Tag in der Mittagstunde sei ein eleganter PKW zu ihnen auf<br />
den Hof gekommen. Der Wagen wurde von einem Mann in Uniform gesteuert. Dabei sei<br />
ein eleganter Herr gewesen, der nach dem Polen gefragt habe. 93 Und der Bauer meinte,<br />
93 STA MS Staatsanwaltschaft Münster 282/1+2,Vernehmung des Polizeipostens A. v. 20. 8. 1949.
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich 99<br />
Florian sei anfänglich ein guter Arbeiter gewesen, aber nachdem er ein Liebesverhältnis<br />
mit einem der Mädchen von K. angefangen habe, sei er faul und renitent geworden. Er<br />
habe den Eindruck, daß er von dem Mädchen aufgehetzt worden sei. Auch der damalige<br />
Bürgermeister spricht von dem „schlechtbeleumdeten Mädchen“, das zu der Zeit noch nicht<br />
wußte, was sich zusammenbraute.<br />
Am 19. 9. 1941 erschien ein SS-Mann in Uniform auf dem Hof und befahl der 14jährigen<br />
Maria mitzukommen. Ihr 11jähriger Bruder konnte ihr nicht helfen. Der SS-Mann riß sie<br />
an den Zöpfen mit sich. An der Chaussee <strong>war</strong>tete ein PKW mit einem zweiten SS-Mann<br />
am Steuer. Sie fuhren ins Dorf. Neben der alten Stiftskirche stand damals ein Gebäude, die<br />
ehemalige Schule, in dem nun eine Amtsstube und die Dienstwohnung der Lehrerin Josepha<br />
B. <strong>war</strong>en. Daneben befindet sich noch heute eine Gaststätte. Zufällig hielt sich dort Marias<br />
Freundin Ida Sch. auf. Sie sah einen SS-Mann hereinkommen. Er setzte sich, bestellte etwas<br />
zu trinken. Nach einer Zeit sagte er: „So, nun will ich <strong>wie</strong>der rübergehen, sonst schlägt er sie<br />
noch tot.“ Ida Sch. <strong>war</strong> dann in der Folgezeit die einzige aus dem Dorf, die zu ihr hielt.<br />
Als der Gestapomann Langos Maria in die Amtsstube zerrte, öffnete sich die gegenüberliegende<br />
Zimmertür der Lehrerin und sie sagte: „Na, habt ihr sie endlich gepackt?“ Im<br />
Amtszimmer schlug Langos ihr gleich ins Gesicht: „Na, gibst du zu, daß du mit dem Polen<br />
Geschlechtsverkehr gehabt hast?“ Als sie fragte: „Was ist das?“ wurde sie weiter geschlagen.<br />
„Die Polen und die Hedwig haben alle schon ausgesagt.“ Sie begriff und verstand gar nicht,<br />
was der Mann wollte, und weinte. Sie flehte ihn immer <strong>wie</strong>der an, er möge sie nach Hause<br />
lassen, ihre kleinen Geschwister seien allein zu Haus. Schließlich nahm er mehrere Papierbögen,<br />
auf denen etwas geschrieben stand, was sie aber nicht gelesen hat, sie weinte und<br />
<strong>war</strong> verstört. Er sagte: „Wenn du das hier unterschreibst, darfst du gehen.“ Maria K. weiß<br />
nicht, ob sie sechs- oder siebenmal unterschrieben hat. Dann ist sie nach Hause gerannt.<br />
Sie hatte wohl gemerkt, daß sie etwas Schlimmes getan haben sollte, wußte aber nicht, was<br />
das <strong>war</strong>. 94 Sie rannte zu ihrer Schwägerin (die inzwischen heimgekommen <strong>war</strong>), sagte ihr,<br />
was ihr widerfahren <strong>war</strong>. Die junge Frau wußte auch nicht zu helfen und riet ihr, zu ihrem<br />
Vormund zu gehen. Sie lief zum Ortsbauernführer. Als sie ihn ansprechen wollte: „Onkel B.,<br />
ich habe doch nichts getan!“ jagte er sie vom Hof.<br />
Sie hatte niemanden, der ihr half, der ihr erklärte, was da geschehen <strong>war</strong>. Das Gefühl<br />
des hilflosen Ausgeliefertseins hat sich ihr dann unauslöschlich eingeprägt. Im Dorf <strong>war</strong><br />
dieses „normale“ Zusammensein der Kinder mit den beiden jungen Polen offenbar Gesprächsstoff.<br />
Die Aussagen nach dem Krieg spiegeln die „moralische Empörung“ einiger<br />
Nationalsozialisten wider. Vor allem erwähnte man möglichst nicht die beiden Polen und<br />
ihre „Minderwertigkeit“. Man wußte ja, daß die Gestapo sie gehenkt hatte und daß die Vernehmungen<br />
der Staatsanwaltschaft nach dem Krieg wegen dieser Hinrichtungen erfolgten.<br />
Da <strong>war</strong> es einfacher, die damals 14jährige Maria K. als treibende Kraft hinzustellen. Keiner<br />
der vernommenen „Herren“, damals Bürgermeister, Ortsgruppenleiter und Arbeitgeber der<br />
Zwangsarbeiter, äußerte nach dem Krieg Worte des Bedauerns, man zweifelte vielmehr den<br />
KZ-Aufenthalt des Mädchens an.<br />
Florian Sp. und Josef G. verschwanden in Gestapohaft. <strong>Es</strong> hat aber Frauen gegeben, die<br />
versuchten, das Kind zu retten. Da Maria K. gerade die Schule abgeschlossen hatte – mit<br />
der 8. Klasse, <strong>wie</strong> damals üblich – begann sie eine Lehre im Krankenhaus W., wo auch ihre<br />
94 In jener Zeit setzte die Geschlechtsreife sehr viel später ein als heute, ebenso spät erfolgte die „Aufklärung“.<br />
Mehrheitlich hatten Frauen den ersten Geschlechtsverkehr mit 20 Jahren.
100 3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden<br />
Schwägerin arbeitete. Als sie bei der Ernte helfen mußte, 95 erschien eines Tages ein Mann<br />
und brüllte laut: „Heil Hitler!“ Maria kannte den Mann nicht, rief ebenso laut: „Grüß Gott!“ <strong>Es</strong><br />
<strong>war</strong> der Ortsgruppenleiter von W. Die Schwester Oberin ließ Maria kommen und sagte ihr,<br />
daß es wohl recht sei, was sie gesagt habe, aber daß sie es sich nicht hätte erlauben dürfen.<br />
Zwischendurch mußte sie in die Kreisstadt und wurde von einem Gynäkologen untersucht.<br />
Sie hat diese Untersuchung als sehr schmerzhaft in Erinnerung. Der Arzt sagte zum Schluß:<br />
„Da hast du aber Glück gehabt.“ Sie wußte <strong>wie</strong>der nicht, was das heißen sollte. Eine sehr<br />
freundliche kirchliche Schwester <strong>war</strong>nte sie in diesen Tagen, ohne daß ihr klar <strong>war</strong>, wovor.<br />
Währenddessen gingen von der Gestapo Münster Briefe an das Reichssicherheitshauptamt<br />
in Berlin, und Gestapo-Kommissar Zimmermann schrieb am 6. Oktober 1941 an den<br />
Landrat, die Jugendliche Maria K. sei geständig, mehrmals mit dem polnischen Zivilarbeiter<br />
geschlechtlich verkehrt zu haben. „Ich bitte die erforderlichen Fürsorgemaßnahmen gegen<br />
das ehrlose Mädchen einzuleiten.“ 96 Im Schreiben an das Jugendamt des Kreises hatte man<br />
das sogenannte „Geständnis“ noch um eine „sexuelle“ Begegnung mit einem Dorfjungen<br />
erweitert, damit die „Verworfenheit“ auch deutlich wurde. 97 Am 1. November 1941 verfügte<br />
das Amtsgericht auf Antrag des Kreisjugendamtes die Fürsorgeerziehung für Maria K. und<br />
begründete es mit wörtlichen Zitaten aus dem sogenannten Geständnis.<br />
Von nun an begleitete sie das ungeheuerliche Traktat, mit dessen Inhalt die Verfasserin<br />
und die Tochter des Opfers Maria K. im Alter verschont haben, das hier aber mit einigen Inhalten<br />
<strong>wie</strong>dergegeben werden muß, um die Vorgehensweise des Fremdarbeiterdezernates<br />
der Gestapoleitstelle Münster zu demaskieren. Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft<br />
Münster aus den sechziger Jahren zu den Morden an fünf Polen im Münsterland offenbaren<br />
das gleiche Vorgehen, von dem erkennbar wird, daß in zwei weiteren Fällen Frauen zusammengeschlagen<br />
wurden, bis sie vorgefertigte „Geständnisse“ unterschrieben, die in der<br />
sprachlichen Formulierung die gleiche säuische Darstellungweise enthielten. In den beiden<br />
anderen Fällen (s. S. 135 f) kamen die erwachsenen Frauen in das Frauenkonzentrationslager<br />
Ravensbrück.<br />
Der Leiter des Fremdarbeiterdezernates, Zimmermann, äußerte sich in seiner Vernehmung<br />
98 : „Ich habe ihm“ (ORR Kreutzer, Leiter der Gestapoleitstelle Münster,d.Verf.)„auch<br />
einmal gesprächsweise vorgehalten, daß es doch ein Plus für eine Gestapostelle wäre, wenig<br />
Festnahmefälle zu haben. Dadurch dokumentiere sich doch, daß im Tätigkeitsbereich alles<br />
in Ordnung sei. K. entgegnete, das Gegenteil sei der Fall. Beim RSHA werde die Qualität<br />
der Dienststelle nach der Anzahl der Festnahmen bewertet.“ Somit suchten sich Langos,<br />
dem ja die Polen-Angelegenheiten oblagen, und andere im Fremdarbeiter-Dezernat, durch<br />
skrupelloses Vorgehen Ansehen „ganz oben“ zu verschaffen. In gleicher Weise verfuhren die<br />
Männer der Dortmunder Gestapo.<br />
Das vorgefertigte „Geständnis“ der 14jährigen Maria K. umfaßte 21 2 DIN A 4-Seiten engzeilig<br />
mit Schreibmaschine in der Ich-Form beschrieben. Sie habe die Polen eingeladen, als<br />
sie die Kühe hütete. „Ich sagte den Polen, daß ich an dem betr. Abend mit der Hedwig N. allein<br />
wäre und sie möchten doch auch hinkommen.“ <strong>Es</strong> werden die Polen Florian Sp. und Josef<br />
Sk. genannt. Der Pole Josef G. sei später betrunken mit dem Fahrrad gekommen. „Ich habe<br />
95 Nahezu alle Krankenhäuser im ländlichen Raum verfügten bis in die sechziger Jahre über Landwirtschaft<br />
zur Selbst- und Krankenversorgung.<br />
96 Amt Legden, Konvolut Maria K.<br />
97 STA MS Staatsanwaltschaft Münster 282/1+2.<br />
98 Ebd.
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich 101<br />
schon vorher gesehen, daß er ein paarmal vom Fahrrad heruntergefallen ist.“ Der Pole Sk.<br />
habe dann das Haus verlassen. Sie habe bei dem Polen Sp. auf dem Schoß gesessen, während<br />
Josef G. bei der Hedwig N. gewesen sei. <strong>Es</strong> folgt eine Beschreibung der Annäherung<br />
beider Mädchen <strong>wie</strong> aus dem Groschenroman. Anschließend seien sie ins Schlafzimmer<br />
gegangen. <strong>Es</strong> sei im Zimmer hell gewesen, weil es die Zeit Ende Juli gewesen sei. Sie habe<br />
den Polen Sp. aufgefordert, zu ihr ins Bett zu kommen. Josef G. und Hedwig N. seien auch<br />
ins Bett gegangen. Der Pole habe sie dreimal geschlechtlich gebraucht. <strong>Es</strong> folgen detaillierte<br />
Beschreibungen, <strong>wie</strong> lange wer im Bett gelegen habe, wer Schlüpfer und Nachthemd anund<br />
auszog. Am folgenden Sonntagabend habe sie mit dem Polen Sp. <strong>wie</strong>der geschlechtlich<br />
verkehrt, auch am Montag, als sie ihn um die Mittagszeit auf dem Felde besuchte. Weiter<br />
habe sie mit Sp. nicht verkehrt.<br />
Weiter wird ihr im „Geständnis“ in der Ich-Form unterstellt, mit dem Polen Sk. spazieren gegangen<br />
zu sein. Er habe sie angefaßt, aber es sei nicht zum Geschlechtsverkehr gekommen.<br />
Der Pole Jan Sk. soll lt. dieser „Niederschrift“ versucht haben, sie geschlechtlich zu gebrauchen.<br />
Da sei der Bauer B. (ihr Vormund) aufgetaucht und der Pole darüber sehr aufgeregt<br />
gewesen. – Außer den beiden Polen wurden nun zwei weitere Polen hineingezogen. Sie sind<br />
anfänglich auch verhaftet worden, wurden aber, wohl auch aufgrund des Einspruches und<br />
Protestes ihrer Bauern, <strong>wie</strong>der freigelassen. Auch zum anderen münsterländischen Geschehen,<br />
in dessen Folge zwei polnische Zwangsarbeiter in Greven gehenkt wurden, schildert<br />
das Gestapoopfer, sie hätte nach Mißhandlungen etwas unterschrieben, was sie nicht lesen<br />
konnte. Nach dem Krieg mußte sie feststellen, daß man ihr unterstellt hatte, „bei sechs<br />
PolendurchdieBettengegangenzusein.“Siehattefüreinen Polen im Betrieb einen Brief<br />
befördert.<br />
In Maria Ks. „Geständnis“ heißt es weiter, beim Spaziergang habe sie dem Polen Sk. das<br />
„P“ (das Polenkennzeichen) abgenommen, Hedwig N. habe das auch getan. Sie selber habe<br />
nur mit dem Polen Sp. geschlechtlich verkehrt, mit den Polen Sk. und Josef G. habe sie nur<br />
freundschaftliche Beziehungen unterhalten. <strong>Es</strong> wird dann von Zusammenkünften „an der<br />
Hecke“ geschrieben, an der auch eine Schwester der Hedwig beteiligt gewesen sein sollte.<br />
Man gewinnt den Eindruck, daß die Herren in der Gutenbergstraße nicht genug Menschen<br />
denunzieren konnten, da kam jeder recht, ob Pole oder Jugendliche. Wichtig <strong>war</strong>en ihnen<br />
Ansehen beim RSHA und eine mögliche Beförderung, <strong>wie</strong> auch Details im Lebenslauf des<br />
Krim.-Sekr. Langos zu bestätigen scheinen. Der ganze Text des „Geständnisses“ entspricht in<br />
Diktion und Ausdrucksweise nicht dem eines 14-jährigen Mädchens im Jahre 1941, sondern<br />
ist das Elaborat bösartiger Spießer in der Gestapoleitstelle Münster, beflügelt von ähnlichen<br />
Eiferern in diesem Dorf. Dieses sogenannte „Geständnis“ begleitete jedoch den Lebensweg<br />
der Maria K. in Akten der Fürsorgebehörden, der Wiedergutmachungsämter und der Justiz.<br />
Die Männer in Verwaltungen und Justiz haben mehrheitlich den Inhalt für „bare Münze“<br />
genommen, auch mehr als 15 Jahre nach Kriegsende. Nur wenige erkannten die Vorwürfe<br />
als absurd (<strong>wie</strong> die Schwester Oberin in Widey und später die Amtsbürgermeisterinvon Legden) und kämpften vergeblich gegen die damit geplante Zerstörung eines Menschen.<br />
Am 29. November 1941 wurde Maria K. verhaftet und kam in das Vinzenzheim Dortmund.<br />
Ihre etwas ältere Freundin Hedwig wurde gleichfalls verhaftet und kam in das Gefängnis in<br />
Münster, wo sie sieben Monate blieb. In allen Verhören bekräftigte sie ihre Feststellung, sie<br />
habe keinen Geschlechtsverkehr mit Josef G. gehabt. Sie habe ihn aber gut leiden gemocht.<br />
Im Gefängnis begegnete sie einmal den beiden polnischen jungen Männern. Sie seien sehr<br />
abgemagert gewesen, und Josef G. habe ihr zuflüstern können, er sei so geschlagen wor-
102 3 Als Menschlichkeit, Flirt und Liebe zu Kapitalverbrechen erklärt wurden<br />
den, daß er gesagt habe, sie hätten ein Verhältnis gehabt. 99 Die beiden unschuldigen Polen<br />
wurden ein Jahr später, am 28. August 1942, im Wald zwischen Legden und Asbeck in Anwesenheit<br />
von Gestapobeamten aus Münster, der polnischen Zwangsarbeiter der Umgegend,<br />
des Amtsbürgermeisters in Amtswalteruniform und des Kreisarztes gehenkt. 100<br />
Maria K. blieb nach ihrer Einlieferung ins Vinzenzheim Dortmund dort bis zum 9. Januar<br />
1942, versehen mit dem Makel „sexueller Verworfenheit“. Sie wird eine der Jüngsten<br />
gewesen sein. Der Kasernenhofdrill vieler damaliger „Erziehungsheime“ mußte bei dem Kind<br />
Verzweiflung und Widerstand auslösen. Aus den Unterlagen geht nicht hervor, <strong>war</strong>um Maria<br />
dann in das Mädchenheim Widey gebracht wurde. <strong>Es</strong> ist zu vermuten, daß das Dortmunder<br />
Vinzenzheim mehr Aufnahme- und Durchgangsstation <strong>war</strong>, <strong>wie</strong> die Einweisungsvermerke<br />
aus den Haftbüchern der Steinwache vermuten lassen. In Widey stand weniger die Verwahrung<br />
als die Förderung durch Ausbildung im Vordergrund. In der Rückschau sagt Maria K.<br />
heute, dieses Jahr in Widey sei die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen. – Aber die Gestapo<br />
hatte sie nicht vergessen. Am 20. Oktober 1942 wurde sie von der Gestapo Paderborn<br />
zur Vernehmung vorgeladen. Das Heim gab Auskünfte hinsichtlich der günstigen Entwicklung.<br />
101 Als sie von der Gestapo abgeholt werden sollte, konnte man sie nicht auffinden. Die<br />
Schwestern hatten sie auf dem Dachboden versteckt, um ihr noch das Weihnachtsfest in<br />
Widey zu ermöglichen. Anfang Januar 1943 hatte Maria Pfortendienst. Am 4. Januar öffnete<br />
sie die Tür, und zwei Gestapomänner standen vor ihr. Sie nahmen das Mädchen mit und<br />
lieferten es im Polizeigefängnis Paderborn ab.<br />
Die damalige Schwester Oberin, inzwischen Provinzialoberin, beschreibt in einer Erklärung<br />
am 20. 1. 1957 zum Wiedergutmachungsantrag von Maria K. die damaligen Vorgänge, die<br />
durch Briefkopien vom 4. 1. 1943 und Briefe des Landesrates Schulze-Steinen, Leiter der<br />
Fürsorgeabteilung des Provinzialverbandes Westfalen an die Gestapo Paderborn, bestätigt<br />
werden. 102<br />
„Im Jahre 1943 <strong>war</strong> ich als Oberin im Erziehungsheim Haus Widey in Scharmede b.<br />
Paderborn tätig, also in der Zeit, da unser Schützling Maria K. von der Gestapo Paderborn in<br />
das Lager Ravensbrück-Uckermark abgeholt wurde, am 4. 1. 1943 – zu unser aller Entsetzen<br />
und Bedauern. Ich habe die ersten Telefongespräche mit der Gestapo im Oktober 1942<br />
geführt und dann alles versucht, über die Fürsorge-Erziehungsbehörde in Münster in Westf.<br />
die Beschlüsse der Gestapo rückgängig zu machen – leider umsonst. In der Anlage füge<br />
ich noch 2 Abschriften aus der damaligen Korrespondenz bei, 1. Brief an die F. E.Behörde<br />
in Münster in Westf. und 2. deren Antwort vom 11. 1. 43, die in der Hauptsache Abschrift<br />
eines Briefes an die Staatspolizeileitstelle in Paderborn <strong>war</strong>. Dieser Brief <strong>war</strong> von Paderborn<br />
sofort an die Gestapo in Bielefeld weitergeleitet worden, <strong>wie</strong> man mir auf eine telefonische<br />
Rückfrage meldete.<br />
Maria K. <strong>war</strong> durch Beschluß des Amtsgerichtes A. in Westf. der Fürsorgeerziehung<br />
über<strong>wie</strong>sen worden, weil sie zum Verkehr mit Polen als 14jährigesMädchenverführt worden<br />
<strong>war</strong>. Später sagte sie mir, die Vernehmung sei unter dem Drucke erfolgt, wenn sie alles<br />
zugebe, könne sie in 1 Stunde <strong>wie</strong>der nachhause gehen. Sie habe unterschrieben, was sie<br />
99 Amt Legden, Konvolut Maria K.<br />
100 StA MS Staatsanwaltschaft Münster 282/1–9.<br />
101 Archiv der Ausbildungsstätte Haus Widey, Schreiben der Schwester Oberin an die Abt. Fürsorgeerziehung<br />
des Provinzialverbandes Westfalen-Lippe v. 4. 1. 1943<br />
102 Archiv der Ausbildungsstätte Haus Widey, Erklärung der Provinzialoberin zum Wiedergutmachungsantrag<br />
der Maria K. vom 20. 1. 1957
3.2 Unangepaßt und verworfen – Jugendschicksale im Dritten Reich 103<br />
nicht gelesen hätte. – Wenn sie später nach Ravensbrück geholt wurde, geschah dies nur<br />
aufgrund der Gesetze über Verkehr mit Polen, bzw. Ausländern. Die Heimleitung in Widey<br />
hatte ihrerseits Maria K. wegen guter Fähigkeiten und guter Gesamtentwicklung für eine<br />
Ausbildung im Schneiderhandwerk vorgesehen und mit der Lehrzeit bereits begonnen. Alles<br />
wurde dem Kinde – so begegnete uns damals Maria noch – zerschlagen.<br />
Weil für uns Erzieher die Einweisung eines solchen Kindes in ein Straflager von Anfang an<br />
eine schreiende Ungerechtigkeit bedeutete, <strong>wie</strong>s ich im 1. Telefongespräch mit der Gestapo<br />
in Paderborn ganz stark darauf hin, man könne doch ein Kind nicht bestrafen, weil es keine<br />
Eltern mehr hätte, weil dazu der Bruder und Vormund an der Front stehe, weil es ihm ganz an<br />
fähigen Erziehern fehlte und somit eine Verführung zu unbekannten Dingen keine Hemmung<br />
fand. Man möge darum mit der Ausführung der Ordre bis aufs Äußerste <strong>war</strong>ten, was man<br />
mir wirklich bereitwillig zusagte. Auch die F. E.-Behördesagtejedemögliche Vermittlung zu,<br />
betonte jedoch sofort, daß sie eigentlich der Gestapo gegenüber machtlos sei. Als Maria<br />
dann doch weg mußte, erbaten wir für das Kind wenigstens eine weibliche Begleiterin aus<br />
dem Fürsorgeverein, die auch von der Gestapo Paderborn noch zugesagt wurde, eine Frl. I.<br />
aus Paderborn. – Wir brachten es nicht fertig, dem Kinde sofort die ganze bittere Tragweite<br />
dieser Verlegung bekannt zu geben, erklärten ihm nur das Gesetz und ließen es in der<br />
Hoffnung, bei guter Führung <strong>wie</strong>der zurückkommenzudürfen.“<br />
Im Gefängnis Paderborn erklärte ihr der vernehmende Kriminalbeamte, er würde kein Kind<br />
einsperren. Ob sie wisse, was sie unterschrieben habe. Er nahm sie mit nach Hause. Der<br />
Beamte hatte ein kleines Kind. Ob sie auf das Kind aufpassen könne, dann könnten er und<br />
seine Frau einmal ausgehen. Und so verwahrte sie das Kind und blieb dort mehrere Tage. Die<br />
Haustür wurde nicht verschlossen. In der Zwischenzeit bemühte sich dieser Kriminalbeamte<br />
über die ihm zur Verfügung stehenden „Kanäle“ um die Freilassung des Mädchens. Nach<br />
einer Woche resignierte er: „Die SS will dich einfach haben.“ Eine Fürsorgerin hat sie dann<br />
Mitte Januar 1943 am Lagertor von Ravensbrück abgeliefert.<br />
3.2.2 Im Mädchen-KZ Uckermark<br />
<strong>Es</strong> <strong>war</strong> gegen Abend, als Maria K. durch das eiserne Tor des Konzentrationslagers Ravensbrück<br />
geführt wurde. Sie hörte schreiende und keifende Stimmen, und dann sah sie, <strong>wie</strong> ein<br />
Trupp zerlumpter Frauen über den Lagerplatz mehr stolperte als lief, ihre Füße mit blutigen<br />
Stoff-Fetzen umwickelt. <strong>Es</strong> <strong>war</strong>en auch sehr alte Menschen darunter, die nicht so schnell<br />
gehen konnten und von den SS-Bewachern mit Stiefeln getreten wurden. Maria fing an zu<br />
weinen, da hatte sie vom SS-Mann, der sie bewachte, ihren ersten Fußtritt weg. Sie wurde<br />
in einen großen Duschraum geführt. Eine Frau in gestreifter Häftlingskleidung mit grünem<br />
Winkel kam auf sie zu. „Hast du schöne Haare! Ich versprech dir, wenn du keine Läuse<br />
hast, behältst du deine Zöpfe.“ Maria meinte, sie hätte bestimmt keine Läuse. Die Nonnen<br />
hätten sehr darauf geachtet. „Sag hier bloß nicht, daß du bei Nonnen <strong>war</strong>st.“ Sie behielt im<br />
Gegensatz zu den meisten anderen in den Lagern Ravensbrück und Uckermark ihre langen,<br />
blonden (germanischen) Haare. Dann befahlen ihr zwei SS-Männer, sich auszuziehen. Sie<br />
genierte sich. Außer ihren Eltern hatte sie noch niemand unbekleidet gesehen. „Ausziehn!<br />
Ausziehn! Zier dich nicht so!“ schrie sie der eine an. Als sie nackend vor ihm stand, grinste