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Ein asiatisches Jahrhundert? - Deutschland vor neuen Herausforderungen

Dokumentation der Schönhauser Gespräche 2007. Berlin 2008. In einer Mischung aus Faszination und Beunruhigung blickt die Welt auf den asiatischen Kontinent.

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Globale Wirtschaft – deutsche Befindlichkeiten<br />

Um die Welt zu erkennen,<br />

braucht es ein<br />

Gefühl für das Fremde<br />

wie für das Eigene.<br />

Buch <strong>vor</strong>legte – am Hof des chinesischen<br />

Kaisers, und seine Hauptfigur ist der deutsche<br />

Helfer eines italienischen Malers. Die<br />

Maler wurden nach China geschickt, um<br />

dem Kaiser das Sehen beizubringen. Denn<br />

in Europa galt seit gut 200 Jahren die Zentralperspektive<br />

als der höchste Standard<br />

malerischer Perfektion. <strong>Ein</strong> Bild hatte nur<br />

eine zentrale Perspektive, nach der sich alle<br />

Erscheinungen ordnen. Es ist dies eine Tradition,<br />

die in der Kunstgeschichte gemeinhin<br />

auf den Maler Massachio zurück geführt<br />

wird. Man ist stolz auf die technische Errungenschaft.<br />

Sie soll dem Kaiser imponieren,<br />

denn die chinesische Malerei, das weiß man<br />

in Augsburg, kennt keine Zentralperspektive,<br />

nur ein Durcheinander von verschiedenen<br />

Perspektiven, europäisch betrachtet, ein<br />

heilloses, ungeordnetes Durcheinander.<br />

Naturgemäß gibt es einen Nebengedanken:<br />

Wenn der Kaiser von China begreift,<br />

dass eine einzige Perspektive vollendeter ist<br />

als die vielen Linien seiner Künstler, dann<br />

begreift er auch, dass es nur eine einzige<br />

Wahrheit gibt – und dann ist es kein weiter<br />

Weg mehr zu einem einzigen Gott. <strong>Ein</strong><br />

in der Tat sehr kühnes, sehr frühes globales<br />

Projekt: die Vereinheitlichung von Anschauungen.<br />

Der Kaiser betrachtet sich die Bilder,<br />

die die Europäer <strong>vor</strong> ihm aufgebaut haben,<br />

und befiehlt dem kleinen Helfer aus Augsburg,<br />

eines der Gemälde noch einmal anzufertigen,<br />

allerdings im Kopfstand. Das macht<br />

der Helfer – wie auch unzählige seiner Nachfolger<br />

aus den unterschiedlichsten Motiven<br />

für ihre chinesischen Auftraggeber die wunderlichsten<br />

Verrenkungen <strong>vor</strong>geführt haben.<br />

Obwohl es nicht leicht ist, auf dem Kopf stehend<br />

zentralperspektivisch zu malen.<br />

Der Kaiser von China erkennt sofort die<br />

Eigenart und den Vorteil der europäischen<br />

Malerei. In ihrem Realismus taugt sie als<br />

Herrschaftsinstrument. Dem jungen Mann<br />

aus Augsburg wird befohlen, alle in der<br />

Hauptstadt ansässigen Europäer „nach ihrer<br />

wilden Natur“ zu malen. Als Holzschnitte<br />

werden diese Bilder später an die Pekinger<br />

Polizei als Steckbriefe verteilt. „Mit wahrer<br />

Kunst“, sagt der Kaiser, „hat diese Malerei<br />

jedenfalls nichts zu tun.“<br />

Auch diese Anekdote duldet eine Reihe<br />

von Interpretationen. Ich habe sie hier erzählt,<br />

um in erster Linie auf einen Punkt aufmerksam<br />

zu machen: die gelassene Neugier,<br />

mit welcher der Kaiser und der Fremde aus<br />

Augsburg einander begegneten. Es ist die<br />

Zeit <strong>vor</strong> der ideologischen, der rassistischen<br />

Aufheizung des 19. und des 20. <strong>Jahrhundert</strong>s.<br />

Um die Welt zu erkennen, braucht es<br />

ein Gefühl für das Fremde wie für das Eigene,<br />

eben Selbstvertrauen, und ein Gespür<br />

des Verheißungsvollen im Gegenüber. Es<br />

braucht ein <strong>Ein</strong>lassen auf den anderen, das<br />

so mutig ist, sich von theoretischen Vorgaben<br />

zu lösen und sich den Freuden der Empirie,<br />

der immer <strong>neuen</strong> Erfahrung auszuliefern.<br />

Kant, Herder, Hegel, die deutschen Denker,<br />

die ich <strong>vor</strong>hin erwähnte, – später stießen<br />

auch noch Karl Marx und Max Weber hin -<br />

zu – waren die deutschen Meister einer sehr<br />

deutschen Globalisierung der theoretischen

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