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Der Aufsatz als pdf-Dokument - Beate-jonscher.de

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Tat'jana Tolstaja und die „Frauenliteratur“<br />

Wenn man unter Frauenliteratur Texte versteht, „die bewusst eine Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r<br />

Frauensituation“ bringen 6 , so lässt sich Tolstajas Prosa hier nicht einordnen. Jedoch ist ihre Schreibweise<br />

„weiblich“, wenn die Auffassung von Sigrid Weigel zugrun<strong>de</strong>gelegt wird, wonach die Frauen <strong>de</strong>n<br />

„doppelten Ort“, an <strong>de</strong>m sie sich befin<strong>de</strong>n - inmitten in <strong>de</strong>r Gesellschaft und zugleich ausgeschlossen von<br />

ihr - durch mannigfaltige Schreibweisen zum Ausdruck zu bringen: „... z.B. doppelte und vielfach verdoppelte<br />

Perspektiven, die Anwendung bestehen<strong>de</strong>r Genremuster und ihre gleichzeitige Zerstörung, Beschreibungen<br />

von innen und außen zugleich...“ 7<br />

Einer thematisch eingegrenzten Frauenliteratur lässt sich Tat'jana Tolstaja <strong>als</strong>o nicht zuordnen,<br />

möglicherweise aber einer <strong>als</strong> „weiblich“ verstan<strong>de</strong>nen spezifischen Schreibweise.<br />

Nun hat die Entwicklung <strong>de</strong>r Geschlechterbeziehungen in <strong>de</strong>r Sowjetunion zu einer parallelen Existenz<br />

einan<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rsprechen<strong>de</strong>r Vorstellungen geführt. Diese wer<strong>de</strong>n auch in Interviews mit Tat'jana Tolstaja<br />

<strong>de</strong>utlich, die hier aber nicht zur Beweisführung herangezogen wer<strong>de</strong>n sollen, da sie oft ironisieren bzw.<br />

polemisch überspitzt sind. 8 Wie <strong>de</strong>n Ausführungen im zweiten Kapitel zu entnehmen ist, steht sie mit ihrer<br />

Aussage - „Nicht <strong>de</strong>r Mann hat die Frau versklavt, son<strong>de</strong>rn die Gesellschaft <strong>de</strong>n Menschen“ - nicht im<br />

Wi<strong>de</strong>rspruch zu gängigen Überlegungen. Und wenn sie die Existenz einer Frauenliteratur bestätigt, so<br />

kann sie - aufgrund <strong>de</strong>s geringen Anteils weiblicher Autoren - „ženskaja literatura“ auch einfach <strong>als</strong><br />

Literatur von Frauen betrachten. 9<br />

„Poėt i muza“<br />

<strong>Der</strong> Text gehört aufgrund seiner künstlerischen Dichte und Geschlossenheit, aber auch wegen <strong>de</strong>s<br />

bemerkenswerten Wechselspiels zwischen stark subjektiver Figurenperspektive und eingeschobenem<br />

distanzierten Erzähler-Beobachter zu <strong>de</strong>n interessantesten Texten <strong>de</strong>r Autorin. Erzählt wird von <strong>de</strong>r 35-<br />

jährigen Ärztin Nina, die sich <strong>de</strong>n Hausmeister und „verkannten Dichter“ Griša <strong>als</strong> Ehemann erwählt und<br />

mit ihren For<strong>de</strong>rungen und Besitzansprüchen schließlich in <strong>de</strong>n Tod treibt.<br />

Bereits <strong>de</strong>r erste Satz enthält eine Reihe wichtiger Informationen und verweist auf die spezifische<br />

Erzählweise:<br />

„Nina byla prekrasnaq obyhnaq #en+ina, vrah i, bezuslovno, zaslu#ila, kak i vse, svoe<br />

pravo na lihnoe shastöe.“<br />

(„Nina war eine schöne, normale Frau, noch dazu Ärztin, und ihr Recht auf persönliches Glück<br />

hatte sie, wie je<strong>de</strong>r, unbedingt verdient.“) 10<br />

<strong>Der</strong> Satz benennt nicht nur die wichtigste Figur in <strong>de</strong>r Erzählung, son<strong>de</strong>rn auch das „Thema“, das<br />

menschliche Glück. Bereits hier erfolgt die erste Charakterisierung <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>r Nina <strong>als</strong> „schöne, normale<br />

Frau, dazu Ärztin“. Was aber be<strong>de</strong>utet die Aussage: sie ist eine normale Frau? Wer hat diese Meinung?<br />

Im Verlauf <strong>de</strong>s Textes wird <strong>de</strong>utlich, dass zumeist aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Nina erzählt wird. An einigen Stellen<br />

wird <strong>de</strong>ren Perspektive jedoch verlassen, ein distanzierter, beobachten<strong>de</strong>r Erzähler tritt auf. Das be<strong>de</strong>utet:<br />

Keine <strong>de</strong>r im Text getroffenen Aussagen kann von vornherein <strong>als</strong> wahr o<strong>de</strong>r <strong>als</strong> Meinung <strong>de</strong>s Erzählers<br />

betrachtet wer<strong>de</strong>n.<br />

In „Poėt i muza“ ist neben <strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utig dominieren<strong>de</strong>n Figur, <strong>de</strong>r Ärztin Nina, ihr späterer Mann Griša<br />

wichtig. Für die Erzählung relevante Nebenfiguren sind Grišas „Freundinnen“ Lizaveta und Agnija, sowie<br />

Ninas „Geliebter“ Arkadij Borisyč. Darüber hinaus aber gibt es eine unverhältnismäßig hohe Zahl von<br />

Episo<strong>de</strong>nfiguren: Die Besucher <strong>de</strong>s Seitenhauses. Alle Figuren wer<strong>de</strong>n aus <strong>de</strong>r Sicht <strong>de</strong>r Nina, zum Teil<br />

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