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[t]akte<br />

12 [t]akte 2I2008<br />

Vexierbilder der Gewalt<br />

Halévys „La Juive“ an der Staatsoper Stuttgart<br />

Die 1835 uraufgeführte, seit den 1930er-Jahren von den<br />

Bühnen verschwundene und erst in jüngster Zeit zaghaft<br />

wieder gespielte „Jüdin“ Halévys ist mit ihrem<br />

Ineinander von christlichem Antijudaismus und jüdischem<br />

Märtyrertod angesichts der jüngsten Geschichte<br />

noch immer von höchster Brisanz.<br />

Die Schwierigkeiten des Umgangs sind im Stück selbst<br />

begründet. Halévy und sein Librettist Eugène Scribe haben<br />

in La Juive nichts Geringeres unternommen, als das<br />

individuelle Schicksal der Hauptfiguren vor ein Geschichtspanorama<br />

zu stellen, und das Ganze mit einer<br />

amourösen Intrige unterfüttert. Der Jude Eléazar und sein<br />

Gegenspieler, der katholische Kardinal Brogni, sind dabei<br />

allerdings nicht Protagonisten eines Ideendramas, sondern<br />

agieren fast ausschließlich als Individuen ihres<br />

Schicksals. Verkompliziert wird die das Stück beherrschende<br />

Auseinandersetzung zweier Väter, die<br />

gleichermaßen Täter wie Opfer sind, durch Rachels Liebesbeziehung<br />

zum Reichsfürsten Léopold – ein Doppelspiel,<br />

dessen Gefühlskatastrophe die Handlung zur<br />

schlimmstmöglichen Wendung treibt. Erst im Augenblick<br />

ihrer Hinrichtung, als es zu spät ist, enthüllt Eléazar,<br />

dass seine vermeintliche Tochter Rachel in Wahrheit<br />

Brognis Kind ist, das er einst vor dem Feuertod rettete.<br />

An der Staatsoper Stuttgart (Premiere: 16.3.2008, Musikal.<br />

Leitung: Sébastien Rouland) vertrauten Jossi Wie-<br />

Pittoreskes Mittelalter im Puppenstubenformat. „La Juive“ in Stuttgart (Fotos: Martin Sigmund)<br />

Jossi Wieler, Sergio Morabito und Sébastien Rouland<br />

haben im März an der Staatsoper Stuttgart Halévys<br />

brisante Oper „La Juive“ herausgebracht und aus<br />

dem Stück ein Exempel aktuellen Musiktheaters gemacht.<br />

ler und Sergio Morabito in ihrer weitgehend strichlosen<br />

Inszenierung Halévys kontrastiver Mischung von emotionalen<br />

Affekten und spektakulären Chorszenen. Der<br />

erste Schock stellte sich ein, als der Vorhang hoch ging.<br />

Man fühlte sich ins Laientheater versetzt: links das Portal<br />

einer Kirche – die Handlung spielt 1414 zur Zeit des<br />

Konstanzer Konzils –, rechts das schmucke Fachwerkhaus<br />

des jüdischen Goldschmieds Eléazar, dazwischen<br />

ein Platz, der den Blick auf einen Wehrgang freigibt. Ein<br />

pittoreskes Mittelalter im überdimensionierten Puppenstubenformat,<br />

wie das Libretto es andeutet. Doch es<br />

sollte, scheinbar, noch schlimmer kommen. Wenn der<br />

Chor nach dem einleitenden „Te Deum“ von der seitlichen<br />

Kulisse auf die Szene strömt und sich die Massenhysterie<br />

aus Jahrmarktstaumel und Judenhass auf Eléazar<br />

und Rachel entlädt, werden wir zu Zeugen einer farbenfreudigen<br />

Verkleidungsshow, die aus den Alltagsfiguren<br />

jene Laienschar macht, die als blindwütiges Kollektiv<br />

das grausame Katz-und-Maus-Spiel des antisemitischen<br />

Pogroms beginnt.<br />

Die überrumpelnde Theatralik erinnert an Elias Canettis<br />

Beschreibung der Hetzmeute in Masse und Macht<br />

und schreckt selbst vor der Groteske nicht zurück – wenn<br />

Neider dem Kaiserdarsteller die Krone und den Purpurmantel<br />

herunterreißen oder gleich mehrere Päpste sich<br />

um den Krummstab balgen.

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