Materialien■ ■MaterialienDer Widerstand der Weißen RoseIm Sommer 1942 erschienen dieersten „Flugblätter der Weißen Rose“.Der studentische Widerstandskreisgründete auf jahrelangen Freundschaftenund Bekanntschaften ausSchul- und Studienzeit. Den Kernder Gruppe bildeten zunächst HansScholl, Alexander Schmorell, Willi Grafund Christoph Probst. Allen gemeinsamwar die Begeisterung für Literatur,Musik und Sport. Die Motivefür den Widerstand waren zunächstunterschiedlich. Scholl war als Anhängerder Bündischen Jugend in dieHitler-Jugend eingetreten, von derenautoritären Strukturen er sich jedochbald abgestoßen fühlte. Schmorellwar durch sein Literaturstudium vonRussland begeistert. Probst und Grafwurden noch stärker als alle anderenvom christlichen Gedanken geleitet.Letzterer kam aus der katholischenJugendbewegung und war von Anfangan stark gegen den Nationalsozialismuseingestellt. Sophie Schollstieß erst im Herbst 1942 hinzu, alssie durch Zufall auf die geheimenAktivitäten ihres Bruders aufmerksamwurde. Der Austausch mit einem weitgrößeren Bekanntenkreis vertiefteden intellektuellen Zusammenhaltnach und nach.Die frühen Flugblätter wurden perPost verschickt. Sie richteten sichan Angehörige einer intellektuellenOberschicht, von denen man sicheine rasche Verbreitung versprach.Die Adressen wurden willkürlich ausTelefonbüchern herausgesucht. Inden Flugblättern fanden sich derAufruf zum passiven Widerstandund philosophisch abstrakte Anklagengegen den NS-Staat. Im Juli 1942musste der Widerstand eine Zwangspauseeinlegen: Die WehrmachtsangehörigenScholl, Schmorell undGraf wurden an die Ostfront abberufen.Die dortigen Erlebnisse, unter anderemim Warschauer Ghetto, beeinflusstendie weitere Arbeit nachhaltig.Im folgenden fünften Flugblatt wich derapokalyptische Ton der früheren Schrifteneinem prägnanteren Sprachstil.Erstmals benannte die Gruppe politischeZiele wie Menschenrechte, Demokratieoder Föderalismus. Die WeißeRose verstärkte den Kontakt zu Widerstandszirkelnin anderen Städten undfand im schon vorher verehrten MünchnerPhilo<strong>sophie</strong>professor Kurt Hubereinen wichtigen Mitstreiter. Nach derVerkündung der Niederlage in Stalingradam 3. Februar 1943 nahm manauch ein größeres Risiko auf sich. ImSchutz der Dunkelheit wurden Hauswändedes Universitätsviertels mit Freiheitsparolenbemalt.Die Münchner Aktionen riefen nach denspäteren Worten des GestapoermittlersRobert Mohr „Beunruhigung bis inhöchste Parteikreise“ hervor. Es wirdvermutet, dass Scholl mit der äußerstriskanten Verteilung von Flugblättern ander Münchner Uni eine letzte publikumswirksameAktion vor seiner Verhaftungbeabsichtigte. Dabei wurden er undseine Schwester Sophie verhaftet. Siewurden gemeinsam mit ChristophProbst in einem ungewöhnlich kurzenProzess vom Volksgerichtshof am 22.Februar 1943 zum Tode verurteilt undnoch am gleichen Tag hingerichtet.Nach einem zweiten Prozeß am 19.April wurden auch Willi Graf, AlexanderSchmorell und Prof. Kurt Huber hingerichtet.Das Vorgehen gegen einen„Hamburger Zweig der Weißen Rose“führte zu weiteren Todesurteilen.Michael Verhoeven stellte im Abspannseines Films „Die Weiße Rose“ (1982)fest, dass die Todesurteile gegen dieMitglieder der Gruppe noch immerrechtlichen Bestand hätten. Heute istbekannt, dass die „Rose“-Urteile in einigenLändern der damaligen Besatzungszonen– in Bayern zum Beispielam 28. Mai 1946 – bereits in den Jahren1946 und 1947 aufgehoben wurden.Die durch Verhoeven ausgelösteDebatte führte zu einer Erklärung allerFraktionen des Deutschen Bundestagsam 25. Januar 1985, in der festgehaltenwurde, dass „die als ‚Volksgerichtshof‘bezeichnete Institution kein Gericht imrechtsstaatlichen Sinne, sondern einTerrorinstrument zur Durchsetzung dernationalsozialistischen Willkürherrschaftgewesen war“. Nach der deutschenWende hob der Deutsche Bundestagschließlich am 28. Mai 1998 alle in derNS-Zeit ergangenen Unrechtsurteile auf.Die Achtzigerjahre markierten zugleicheinen wichtigen Wendepunkt in der Bewertungder Weißen Rose. Die Bundesrepublikder Nachkriegszeit hatte sichtrotz einer Würdigung immer mehr aufden militärischen Widerstand des 20.Juli 1944 konzentriert. In der DDR wurdedie Gruppe in die Rolle „antifaschistischerWiderstandskämpfer“ gedrängt,religiöse und humanistische Motivedabei unterschlagen. Die Protestgenerationvon 1968 hingegen sah die WeißeRose in einer Tradition, „die eineunpolitische, christliche, idealistische,bürgerliche und sehr deutsche Welt gewesenist“ (Christian Petry, 1968). Mitdem Forschungsschub der Achtzigerjahrewurden die Motive der Gruppe inihrer Gesamtheit betrachtet. Allerdingsnahmen hier auch eine Glorifizierungund die Blickverengung auf die GeschwisterScholl, insbesondere Sophie,ihren Anfang.Die letzten Flugblätter der Weißen Roseunterscheiden sich im Stil wesentlichvon den vorherigen. Diese waren, nebenpraktischen Aufrufen zur Sabotage, mitreligiösen Bildern durchsetzt. Im Zusammenhangmit Hitler und dem Nationalsozialismusfielen abschreckende Vokabelnwie „die Macht des Bösen“ und„der stinkende Rachen der Hölle“. Inlangen Sätzen abgefasste staatstheoretischeErörterungen wurden mit Zitatenvon Goethe, Aristoteles und Laotseangereichert. Das fünfte und das sechsteFlugblatt hingegen zeichnen sichdurch eine direkte Anrede, kürzereSätze, präzise Informationen zum Kriegsverlaufund die konkrete Einforderungpolitischer Rechte aus.18Filmheft SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE
Fünftes Flugblatt der WeißenRose; nach Entwürfen von HansScholl und Alexander Schmorellmit Korrekturen von Kurt Huber,Januar 1943 (Auszug):Aufruf an alle Deutsche!Der Krieg geht seinem sicheren Endeentgegen. Wie im Jahre 1918 versuchtdie deutsche Regierung, alleAufmerksamkeit auf die wachsendeU-Boot-Gefahr zu lenken, währendim Osten die Armeen unaufhörlichzurückströmen, im Westen dieInvasion erwartet wird. Die RüstungAmerikas hat ihren Höhepunkt nochnicht erreicht, aber heute schon übertrifftsie alles in der Geschichte seitherDagewesene. Mit mathematischerSicherheit führt Hitler das deutscheVolk in den Abgrund. Hitler kann denKrieg nicht gewinnen, nur noch verlängern!Seine und seiner HelferSchuld hat jedes Maß unendlich überschritten.Die gerechte Strafe rücktnäher und näher!Was aber tut das deutsche Volk?Es sieht nicht und es hört nicht.Blindlings folgt es seinen Verführernins Verderben. Sieg um jeden Preis!,haben sie auf ihre Fahnen geschrieben.Ich kämpfe bis zum letztenMann, sagt Hitler – indes ist derKrieg bereits verloren.Deutsche! Wollt Ihr und Eure Kinderdasselbe Schicksal erleiden, das denJuden widerfahren ist? Wollt Ihr mitdem gleichen Maß gemessen werdenwie Eure Verführer? Sollen wir aufewig das von aller Welt gehasste undausgestoßene Volk sein? Nein! Darumtrennt Euch von dem nationalsozialistischenUntermenschentum! Beweistdurch die Tat, dass Ihr anders denkt!Ein neuer Befreiungskrieg bricht an.Der bessere Teil des Volkes kämpftauf unserer Seite. Zerreißt den Mantelder Gleichgültigkeit, den Ihr um EuerHerz gelegt! Entscheidet Euch, ehees zu spät ist! [...]Freiheit der Rede, Freiheit desBekenntnisses, Schutz des einzelnenBürgers vor der Willkür verbrecherischerGewaltstaaten, das sind dieGrundlagen des neuen Europa.Unterstützt die Widerstandsbewegung,verbreitet die Flugblätter!Sechstes Flugblatt der WeißenRose, nach einem Entwurf vonKurt Huber mit Korrekturen vonHans Scholl und AlexanderSchmorell, Februar 1943 (Auszug):Kommilitonen! Kommilitoninnen!Erschüttert steht unser Volk vor demUntergang unserer Männer in Stalingrad.Dreihundertdreißigtausend deutscheMänner hat die geniale Strategiedes Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslosin Tod und Verderbengehetzt. Führer, wir danken dir!Es gärt im deutschen Volk: Wollen wirweiter einem Dilettanten das Schicksalunserer Armee anvertrauen? Wollenwir den niederen Machtinstinkten einerParteiclique den Rest der deutschenJugend opfern? Nimmermehr! Der Tagder Abrechnung ist gekommen, derAbrechnung der deutschen Jugendmit der verabscheuungswürdigstenTyrannis, die unser Volk je erduldet hat.Im Namen der deutschen Jugend fordernwir vom Staat Adolf Hitlers diepersönliche Freiheit, das kostbarsteGut des Deutschen zurück, um daser uns in der erbärmlichsten Weisebetrogen. [...]Filmheft SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE19