Am bekannten Bild des ,,Eisberges der Depression", das der englische AllgemeinpraktikerWatts (1966) aus den Daten zahlreicher Untersuchungen fürGroßbritannien zusammengestellt hat, läßt sich anschaulich demonstrieren, wasgemeint ist, wenn Hare (1970) davon spricht, daß es hier keine „Trennungslinie",sondern nur einen „Trennungsnebel" zwischen krank und gesund gibt.Die bekannt gewordenen Fälle von Depression stellen nur die kleine Spitze einesriesigen Eisberges aller Menschen dar, die an einer Depression leiden - so diedrastische Aussage dieses Bildes. Offiziell registrierte Selbstmorde undAufnahmen in stationäre psychiatrische Behandlung sind die „härtesten" Datenüber das Vorliegen von Depressionen in einer Population. Ambulant vonPsychiatern behandelte Personen sind ebenfalls relativ klar definiert. Beim Allgemeinpraktikerbeginnt das Bild jedoch unklar zu werden. Je nach Ausbildungund Interesse werden manche Allgemeinpraktiker depressive Verstimmungszuständeals solche erkennen, andere wieder nicht - deshalb offenbar die vielenverschiedenen Angaben über die Häufigkeit psychischer Störungen in der Klientelvon Allgemeinpraktikern (vgl. zusammenfassend Shepherd und Mitarbeiter, 1969).Aber nicht nur unterschiedliche Ausbildung und fehlendes Interesse sind Gründefür die so differierenden Häufigkeitsangaben, vielmehr beginnt es gerade bei dennicht so akuten und dramatischen Störungen, die weniger häufig in psychiatrischeEinrichtungen gelangen, fraglich zu werden, ob hier tatsächlich eine psychischeStörung vorliegt, die behandlungsbedürftig und auch behandelbar ist, der alsoKrankheitscharakter zugeschrieben werden könnte. Die meisten Personen mitdepressiven Verstimmungszuständen -das ist offenbar die wichtigste Mitteilungdieser Darstellung - finden keinen Weg zu einer helfenden medizinischenEinrichtung und sind im unsichtbaren Teil des Eisberges unter derWasseroberfläche (zur Problematik des „Krankheitsverhaltens" vgl. Mechanic,1962). Watts (1966) impliziert, daß es sich bei diesen im unsichtbaren Teil desEisberges befindlichen depressiven Personen um solche handelt, denen bei einerentsprechenden psychiatrischen Behandlung geholfen werden könnte.Nun ist eine solche Schlußfolgerung aus epidemiologischen Daten auf die stillschweigendeAnnahme gebaut, daß es sich bei den behandelten und bei den nichtbehandelten Fällen unseres Eisberges um gleichartige Störungen handelt, wobeiallenfalls noch angenommen wird, daß die Störungsintensität bei den behandeltenFällen im Schnitt stärker ist als bei den nicht behandelten. Neuereepidemiologische Untersuchungen deuten aber darauf hin, daß die qualitativeGleichheit nicht gegeben ist. Für zumindest zwei Aspekte dieser Störungen gibt esempirische Belege dafür, daß diese qualitative Gleichheit zumindest nicht sopauschal gilt: für die Dauer der Störung und für das Ausmaß der psychosozialenBehinderung.Zwar mag man bei einer Prävalenzuntersuchung zu jedem beliebigen Zeitpunkteinen relativ hohen Prozentsatz depressiver Personen in einer gegebenen Populationvorfinden, es ist aber inzwischen erwiesen, daß sich auch ohne spezifi-80
sche Behandlung ein hoher Anteil dieser Störungen relativ rasch zurückbildet(Goldberg & Blackwell, 1970; Hagnell, 1970). Wenngleich das Faktum derSpontanremission relativ gut dokumentiert ist, so gibt es erst sehr wenige Untersuchungen,welche die Bedingungen für eine solche Spontanremissionidentifiziert haben. Für phobische Störungen haben etwa Agras und Mitarbeiter(1972) gefunden, daß für das ,,spontane" Abklingen der Beschwerden das gleichePrinzip ausschlaggebend ist, das in der Verhaltenstherapie phobischer Störungeneingesetzt wird, nämlich die Exposition an den phobischen Stimulus.Sollen also voraussichtlich nur kurze Zeit anhaltende ,,kleine" psychische Störungennicht behandelt werden, zumindest nicht durch die Gesundheitsdienste?Diese Frage ist praktisch nicht so einfach zu lösen. Zunächst ist ja die voraussichtlicheDauer einer einmal aufgetretenen psychischen Störung nicht sehrleicht abzuschätzen, wenngleich es hier gewisse praktische Erfahrungen gibt:reaktive, auf abnorme Belastungen hin auftretende Störungen, wie z. B.Trauerreaktionen, zeigen im Durchschnitt häufiger eine Rückbildungstendenz alsschleichend beginnende und nicht eindeutig mit umschriebenen Auslösern inZusammenhang zu bringende depressive Verstimmungszustände. Tatsächlich gibtes aber noch kaum wissenschaftlich begründete prognostische Kriterien, die eserlauben würden, aus einem bestimmten Querschnitt und den Umständen desAuftretens der Störung den voraussichtlichen Verlauf bzw. ihre voraussichtlicheDauer abzuschätzen. Die wenigen Untersuchungen mit derartigen prognostischenFragestellungen haben bestätigt, daß die bisherige Dauer der Störung dassicherste prognostische Kriterium ist: Je länger eine neurotische Störung bereitsgedauert hat, desto länger wird sie auch noch dauern (Harvey-Smith & Cooper,1970). Dieser auf den ersten Blick trivial erscheinende Befund wäre, falls er inähnlichen Untersuchungen bestätigt werden könnte, eine wichtigegesundheitspolitische Leitlinie für die Frage, bei welchen „kleinen" psychischenStörungen in erster Linie psychiatrische Hilfe geleistet werden sollte. Cooper hatnoch einen anderen Beitrag zu dieser Frage geleistet: depressive undpsychovegetative Störungen bei Patienten in der Allgemeinpraxis gehören eherzur Gruppe mit guter Prognose (Kedward & Cooper, 1966). Fry (1960), einLondoner Allgemeinpraktiker, fand für die neurotischen Patienten seinerOrdination, daß diese Störungen bei Frauen wesentlich länger dauerten als beiMännern. In all diesen Studien handelt es sich um die Klientel vonAllgemeinpraktikern und nicht um die im unsichtbaren Teil des Eisberges befindlichenPersonen. Erst wenn auch für diese Personen genauere Daten für dieAbschätzung der Prognose aus einem Querschnittsbild und dem bisherigenVerlauf vorliegen, wäre eine der vielen Voraussetzungen für eine rationale gesundheitspolitischeEntscheidung zumindest über den quantitativen Bedarf anpsychiatrischer Hilfe gegeben.Neben der Differenzierung psychischer Störungen in solche mit unterschiedlichlanger Spontandauer ist für gesundheitspolitische Entscheidungen, ob in einemgrößeren Ausmaß psychiatrische Dienste und Einrichtungen für „kleine"81
- Seite 1 und 2:
K/RCHENUND VER-BÄNDE
- Seite 3 und 4:
Psychiatrie in derBundesrepublik De
- Seite 5 und 6:
InhaltV o r w o r t..............,
- Seite 7 und 8:
VorwortAm 25. 11. 1975 wurde der Be
- Seite 9 und 10:
BegrüßungW. Picard, MdBVorsitzend
- Seite 11 und 12:
EinführungEntwicklungstendenzen un
- Seite 13 und 14:
icht der Sachverständigenkommissio
- Seite 15 und 16:
H. Katschnig hat mit diesem Referat
- Seite 17 und 18:
Auf 55 Bögen waren Einrichtungen d
- Seite 19 und 20:
Die Durchschnittsgröße der inbetr
- Seite 21 und 22:
Die Situation der Psychiatrischen L
- Seite 23 und 24:
dem Krankenhausträger herumzustrei
- Seite 25 und 26: Für Pflegefälle stieg der Tagessa
- Seite 27 und 28: Der Aufbau einer gemeindenahen Vers
- Seite 32 und 33: kein Krankenhaus. 69 % seiner Patie
- Seite 34: Tabelle 2Verweildauer in stationär
- Seite 37 und 38: 1.1.4 Entwicklungstendenzen in der
- Seite 40 und 41: Services. Paper presented at the Se
- Seite 42 und 43: Landeskrankenhauses Weinsberg analy
- Seite 44 und 45: Fachkompetenz für die neue Minderh
- Seite 46 und 47: nicht nur um ambulante ärztliche B
- Seite 48: ehe Krankenversicherung abgedeckt w
- Seite 51 und 52: Kunze, H.: Komplementäre Dienste u
- Seite 53 und 54: auch durch Veranstaltungen für Lai
- Seite 55 und 56: Frauen an. Heilverfahren wegen Alko
- Seite 57 und 58: Über bestimmte Regionen von Deutsc
- Seite 59 und 60: liest, daß in 25 psychologischen U
- Seite 61 und 62: Die meines Erachtens höchst wichti
- Seite 63 und 64: 2. Mögliche Betrachtungsebenen fü
- Seite 65 und 66: nach Möglichkeit gemeinsam erarbei
- Seite 67 und 68: her seit langem schon - zwar mit un
- Seite 69 und 70: Eine differenzierte Beurteilung des
- Seite 71 und 72: Baumann, U., Groeneveld, P., Elling
- Seite 73 und 74: Die Grenzen zwischen Gesundheit und
- Seite 75: e Mißverständnisse zu vermeiden,
- Seite 79 und 80: fenbar den gleichen Standpunkt ein,
- Seite 81 und 82: Bevölkerung geschätzte und akzept
- Seite 83 und 84: ideale Hilfe ist ja Hilfe zur Selbs
- Seite 85 und 86: gezeigt haben, daß vor allem die s
- Seite 87 und 88: das medizinische Krankheitskonzept
- Seite 89 und 90: MECHANIC, D.: The Concept of Illnes
- Seite 91 und 92: Bei dieser Bestandsaufnahme herrsch
- Seite 93 und 94: es zu erreichen, daß diese Mittel
- Seite 95 und 96: sorgungsforschung in der Bundesrepu
- Seite 97 und 98: Deshalb wurde auch ein Mitsprachere