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aus der evangelischen Auenkirchengemeinde Berlin-Wilmersdorf

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4 Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

27. Januar - Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus<br />

Am 27. Januar 1945 wurde das KZ Auschwitz befreit. 1996 erklärte <strong>der</strong> damalige Bundespräsident<br />

Roman Herzog diesen Tag zu einem beson<strong>der</strong>en Gedenktag. Herzog sagte in <strong>der</strong><br />

Proklamation: "Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur<br />

Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die<br />

in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust <strong>aus</strong>drücken, dem Gedenken an<br />

die Opfer gewidmet sein und je<strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>holung entgegenwirken." Die Auen-<br />

Gemeinde nimmt diesen Gedenktag zum Anlass, nachfolgend die Rede von Monika<br />

Thiemen, Bezirksbürgermeisterin von <strong>Wilmersdorf</strong>-Charlottenburg, abzudrucken, die Frau<br />

Thiemen im Gedenkgottesdienst am 9. November 2008 in <strong>der</strong> Auenkirche hielt. In ihrer<br />

Rede spricht sie auch die ehemalige Synagoge in <strong>der</strong> Prinzregentenstraße an. Der Geschichte<br />

dieser Synagoge spürt Elisabeth Gründler in ihrem Beitrag nach.<br />

Pfarrerin Katharina Plehn-Martins<br />

Rede <strong>der</strong> Bezirksbürgermeisterin Monika Thiemen im Gedenkgottesdienst<br />

zum 9. November am 9. November 2008<br />

Sehr geehrte Frau Plehn-Martins! Sehr geehrte<br />

Gemeindemitglie<strong>der</strong>!<br />

Sehr geehrte Damen und Herren!<br />

Der 9. November 1938 scheint Lichtjahre<br />

von uns entfernt zu sein. Wir empfinden den<br />

Abstand zu diesem Datum größer als den<br />

zum finstersten Mittelalter. Bis heute können<br />

wir es letztlich nicht verstehen, wie es<br />

geschehen konnte, wie so viele mitmachen<br />

und wie so viele tatenlos zusehen konnten.<br />

Und es ist eben nicht Lichtjahre her, son<strong>der</strong>n<br />

erst 70 Jahre. Es leben noch Zeitzeugen,<br />

<strong>der</strong>en Berichte uns fassungslos machen.<br />

Vor 20 Jahren haben wir uns zum 50. Jahrestag<br />

<strong>der</strong> Pogromnacht intensiv mit den<br />

ehemaligen <strong>Wilmersdorf</strong>er Synagogen beschäftigt,<br />

und wir mussten feststellen, dass<br />

die Synagogen in <strong>der</strong> Prinzregentenstraße,<br />

in <strong>der</strong> Markgraf-Albrecht-Straße und in <strong>der</strong><br />

Franzensba<strong>der</strong> Straße nicht nur am 9. November<br />

1938 angezündet und stark beschädigt<br />

wurden, son<strong>der</strong>n dass danach die Bauaufsicht<br />

des Bezirksamtes <strong>Wilmersdorf</strong> kam<br />

und feststellte, dass die Sicherheit <strong>der</strong> Passanten<br />

nicht mehr gewährleistet war, weil<br />

Teile <strong>der</strong> beschädigten Synagogen baufällig<br />

geworden waren. Die Jüdische Gemeinde<br />

wurde dazu verpflichtet, die Schäden zu<br />

beseitigen, und <strong>der</strong> Architekt Alexan<strong>der</strong><br />

Beer, <strong>der</strong> knapp 10 Jahre zuvor, von 1928<br />

bis 1930 die große Synagoge <strong>Wilmersdorf</strong><br />

an <strong>der</strong> Prinzregentenstraße 70 gebaut hatte,<br />

musste jetzt nach den Anweisungen <strong>der</strong><br />

bezirklichen Bauaufsicht ihren Teilabriss<br />

organisieren.<br />

Dieses Vorgehen war keine <strong>Wilmersdorf</strong>er<br />

Beson<strong>der</strong>heit. Im Gegenteil: Es war allgemein<br />

üblich, dass die verfolgten und angegriffenen<br />

Juden damals von den Behörden<br />

noch weiter schikaniert wurden, dass sie für<br />

das Unrecht verantwortlich gemacht wurden,<br />

dass sie erlitten.<br />

Für uns war diese Entdeckung Anlass, einmal<br />

genauer hinzuschauen und das Verhalten<br />

<strong>der</strong> Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des<br />

Bezirksamtes <strong>Wilmersdorf</strong> während <strong>der</strong> Zeit<br />

des Nationalsozialismus zu erforschen.<br />

Die Ergebnisse haben wir 1992 in dem Buch<br />

"Kommunalverwaltung unterm Hakenkreuz"<br />

veröffentlicht. Lei<strong>der</strong> mussten wir<br />

feststellen, dass es in diesem Bezirksamt von<br />

sehr wenigen Ausnahmen abgesehen keinen<br />

Wi<strong>der</strong>stand gab. Im Gegenteil: Der Begriff<br />

"Willige Vollstrecker", <strong>der</strong> einige Jahre später<br />

geprägt wurde, trifft sowohl auf die politische<br />

Führung als auch auf die meisten<br />

Beschäftigen im Rath<strong>aus</strong> <strong>Wilmersdorf</strong> zu.<br />

<strong>Wilmersdorf</strong> war in den 1920er und 30er<br />

Jahren <strong>der</strong> <strong>Berlin</strong>er Bezirk mit dem höchsten<br />

Anteil jüdischer Bevölkerung. Damals<br />

lebten hier etwa 30.000 Juden, was einem<br />

Gesamtbevölkerungsanteil von etwa 13%<br />

entsprach, während er in ganz <strong>Berlin</strong> nur<br />

3,8% betrug. Die Bezirksverwaltung tat seit<br />

1933 alles, um die nationalsozialistischen<br />

Vorgaben zur Ausgrenzung und Diskriminierung<br />

<strong>der</strong> Juden umzusetzen, zum Teil<br />

sogar in vor<strong>aus</strong>eilendem Gehorsam schon<br />

bevor entsprechende Verordnungen für ganz<br />

<strong>Berlin</strong> erlassen wurden. Bereits 1937 wurden<br />

beispielsweise in den öffentlichen Parks<br />

gelbe Bänke "nur für Juden" aufgestellt.<br />

Allerdings hat <strong>der</strong> Amtmann Riedler im<br />

Gartenbauamt <strong>Wilmersdorf</strong> diese Maßnahme<br />

ad absurdum geführt, indem er auf dem<br />

Prager Platz eine gelbe und eine normale<br />

Bank direkt einan<strong>der</strong> gegenüber aufgestellt<br />

hat, so dass Juden und Nichtjuden sich di-<br />

rekt in die Augen sehen mussten. Er wurde<br />

dafür vom Nazi-Bürgermeister Petzke gerügt<br />

und in die Steuerkasse strafversetzt.<br />

Nach und nach führten alle Ämter getrennte<br />

Bereiche für Juden und Nichtjuden ein,<br />

und schließlich wurden fast überall Juden<br />

von den öffentlichen Leistungen <strong>aus</strong>geschlossen,<br />

an<strong>der</strong>erseits aber verstärkt überwacht<br />

und schikaniert.<br />

Die Historiker sprechen heute von einer<br />

"Zustimmungsdiktatur", wenn sie die Beziehung<br />

zwischen dem nationalsozialistischen<br />

Machtapparat und <strong>der</strong> Bevölkerungsmehrheit<br />

beschreiben wollen. Inzwischen<br />

gibt es Studien über fast alle Berufsgruppen<br />

und gesellschaftlichen Institutionen, die<br />

immer zum gleichen Ergebnis kommen: Die<br />

meisten Menschen haben nicht protestiert<br />

o<strong>der</strong> gar Wi<strong>der</strong>stand geleistet, son<strong>der</strong>n sie<br />

haben mehr o<strong>der</strong> weniger begeistert mitgemacht<br />

- zumindest solange, bis <strong>der</strong> Krieg<br />

sich 1942/43 gegen die Deutschen richtete.<br />

Auch die Kirchen haben sich in den letzten<br />

Jahren aktiv mit ihrer Rolle und mit dem<br />

Verhalten ihrer Mitglie<strong>der</strong> im Nationalsozialismus<br />

<strong>aus</strong>einan<strong>der</strong>gesetzt. Beson<strong>der</strong>s<br />

beeindruckend finde ich das immer, wenn<br />

es vor Ort geschieht, wenn eine Gemeinde<br />

sich ihrer eigenen Geschichte stellt, so wie<br />

die Auengemeinde es seit Jahren tut. ...<br />

Diese Erinnerung sind wir nicht nur den<br />

Opfern schuldig. dass wir sie nicht vergessen,<br />

son<strong>der</strong>n es ist auch für uns selbst wichtig,<br />

dass wir unsere Verantwortung vor unserer<br />

Geschichte wahrnehmen: Um <strong>aus</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte lernen zu können und zu verhin<strong>der</strong>n,<br />

dass etwas Ähnliches jemals wie<strong>der</strong><br />

geschieht, müssen wir unsere Geschichte<br />

kennen. Es gibt noch einen weiteren Grund,<br />

weshalb wir zur Erinnerung verpflichtet<br />

sind: Es ist ein großes Glück, dass wie<strong>der</strong><br />

jüdische Bürgerinnen und Bürger bei uns<br />

und mit uns zusammen leben und sich für<br />

unsere Gesellschaft engagieren. Der Umgang<br />

miteinan<strong>der</strong> ist noch immer nicht unbefangen.<br />

Aber eine Verständigung ist nicht<br />

möglich, wenn wir die gemeinsame Geschichte<br />

ignorieren, son<strong>der</strong>n nur wenn wir<br />

uns ihrer bewusst sind und offen damit umgehen.<br />

Wir wissen, dass die Erinnerung nie<br />

abgeschlossen sein wird. Erinnerung bedeutet<br />

ständiges Forschen, und jede neue Generation<br />

wird sich die Erinnerung neu erarbeiten<br />

müssen. Deshalb wird es noch viele<br />

Stolpersteine und viele Publikationen geben,<br />

die unsere Erinnerung wach halten. ...

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