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Jahresbericht

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Theo Scherrer<br />

Immer das gleiche Schauspiel: Punkt 8.45 Uhr<br />

öffnet sich im U13 schwungvoll die Tür und im<br />

Türrahmen erscheint kurz ein Kopf. Abrupt schliesst<br />

sich die Türe wieder.<br />

Die Klasse und ich, die wir letzten Herbst in besagtem<br />

Schulzimmer arbeiteten, gewöhnten uns an<br />

die kurzen Unterbrechungen. So sehr, dass wir im<br />

November Theo Scherrers Besuche bereits vermissten.<br />

Sie verrieten uns etwas über ihn:<br />

Seine Vertretung eines Französisch-Kollegen begann<br />

eigentlich eine Stunde später. Doch Theo gab das<br />

U13, in den Morgenstunden sein Reich, nicht ohne<br />

Weiteres her, auch jetzt nicht nach seiner Pensionierung<br />

im Sommer 2010. Bis er sich doch noch dem<br />

Stundenplan beugte.<br />

Und auch akzeptierte, dass nun Andere in dem<br />

Zimmer lehrten und lernten, welches seit Theos<br />

Stellenantritt 1976 über viele Jahre sein Wirkungsort<br />

gewesen war. Begegnete man ihm auf den Gängen<br />

oder im Lehrerzimmer, entschwand er bald wieder<br />

in sein U13.<br />

Lange Zeit war Theo für mich wie ein Epigramm:<br />

flüchtig und geistreich, von kurzer Dauer zwar, aber<br />

nachwirkend. Später erinnerte er mich an einen<br />

modernen Roman, der eine rätselhafte Welt voller<br />

Brüche, Widersprüche und Spiegelungen darstellt.<br />

Leserfreundlich oder anbiedernd war er aber nie, so<br />

viel Distanz und Haltung mussten immer sein.<br />

Aristoteles forderte, dass Literatur belehren (docere),<br />

erfreuen (delectare) und bewegen (movere) soll. Interpretierte<br />

man Theo als literarischen Text weiter, so<br />

wäre Letzteres – zu bewegen – seine dominierende<br />

Eigenschaft. Nicht etwa im Sinne von Rührung,<br />

Sentimentalität liegt ihm fern. Aber wie er ungeduldig<br />

vorwärtsdrängte, riss einen mit. Theo hielt<br />

in seinem Unterricht keine langen Reden, dozierte<br />

nicht, sondern er suchte das Gespräch, die Auseinandersetzung<br />

mit den Schülerinnen und Schülern.<br />

Er förderte den kritischen Widerspruch, verlangte<br />

aber auch danach.<br />

Dazu passt, dass Theo uns Deutschkolleginnen und<br />

-kollegen je ein Exemplar von Stéphane Hessels<br />

«Empört euch!» zu seinem Abschied schenkte.<br />

Auch in der Theatergruppe rief er Energien (nicht<br />

Geister) hervor: Als Regisseur probt Theo stundenlang.<br />

In höchster Konzentration beobachtet er genau,<br />

unterbricht, lässt wiederholen. Wer dies miterlebt,<br />

staunt über diese Unermüdlichkeit und lässt sich<br />

anstecken.<br />

Manche professionelle Theaterinszenierung oder<br />

Oper aber hielt Theo nur bis zur Pause, dann verliess<br />

er gelangweilt den Ort des (Nicht-)Geschehens.<br />

Während meinen Uni-Abschlussprüfungen vertrat<br />

mich Theo für drei Monate. Wieder zurück, amüsierte<br />

die Schüler, dass ich als Lehrerin manches so tat,<br />

wie mein ehemaliger von mir oft kritisierter Deutschlehrer<br />

Theo. Ich war überrascht und verstört, bis ich<br />

verstand. Seither hoffe ich: «Teachers teach as they<br />

were taught not as they were taught to teach.»<br />

Nun gilt Theos Aufmerksamkeit (neben Anderen)<br />

seinen Reben. Sollen sie reiche Früchte tragen einst,<br />

nachdem er ihnen sein Feuer eingepflanzt hat.<br />

Milena Todic<br />

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