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März 2007 (PDF) - An.schläge

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teilig mit der Schere aus Papier und (für<br />

Filmfiguren) aus dünn gewalztem Blech<br />

ausgeschnitten, war sie die Hauptdarstellerin<br />

in den wunderbaren Geschichten,<br />

die von der Künstlerin mit ihren Filmen,<br />

Schattenspielen und Buchillustrationen<br />

erzählt wurden.<br />

1899 in Berlin geboren, verfolgt Reiniger<br />

von Kindheit an mit Begeisterung<br />

die Fortschritte des Kinos. Eine ihrer Leidenschaften<br />

gehört dem Schauspiel.<br />

Für eine Schulaufführung baut sie ihre<br />

erste Schattenbühne und erntet Bewunderung<br />

für ihr Spiel von Shakespeares<br />

Sturm.<br />

1916 hört Lotte Reiniger einen Vortrag<br />

von Paul Wegener mit dem Titel<br />

Neue Kinoziele – es geht um die künstlerischen<br />

Möglichkeiten des noch neuen<br />

Mediums Film. Wegener beschreibt<br />

seine Vision von „einer Art kinetische[n]<br />

Lyrik“, einer Welt,„die eigentlich nur in<br />

einem toten Bilde existiert“und meint<br />

damit die <strong>An</strong>imation.<br />

Begeistert von dieser Idee wird Lotte<br />

Reiniger Schauspielschülerin bei Max<br />

Reinhardt am Deutschen Theater und<br />

lernt dort Paul Wegener kennen. Sie<br />

schneidet Titelsilhouetten für Filme von<br />

Wegener und wird bei den Dreharbeiten<br />

zum Rattenfänger von Hameln mit<br />

jener Technik konfrontiert, die ihr gesamtes<br />

Filmschaffen prägen sollte – der<br />

<strong>An</strong>imation. Reiniger bewegt mit KollegInnen<br />

hölzerne Ratten in Stopmotion<br />

durch die Altstadt von Bautzen, nachdem<br />

lebende, als Ratten verkleidete<br />

Meerschweinchen den Regieanweisungen<br />

von Wegener nicht Folge leisten<br />

wollten.<br />

1919 eröffnet in Berlin unter der Leitung<br />

von Hans Cürlis das Institut für<br />

Kulturforschung, in dem <strong>An</strong>imationsfilme<br />

(zumeist Unterrichts- bzw. Kulturfilme)<br />

produziert werden. Dort dreht Lotte<br />

Reiniger ihren ersten Silhouettentrickfilm<br />

mit dem Titel „Das Ornament<br />

des verliebten Herzens“. Es folgen weitere<br />

Filme, produziert an einem Tricktisch,<br />

wie ihn die Regisseurin vom ersten<br />

bis zum letzten Film – mit kleinen<br />

Verbesserungen – zur Herstellung ihrer<br />

Werke verwendet. Reiniger beschreibt<br />

die Konstruktion wie folgt:„Man nehme<br />

einen Küchentisch, säge ein Loch hinein,<br />

lege eine Glasplatte darauf, nehme die<br />

Lampe von oben herunter und stelle sie<br />

unter die Glasplatte und hänge sich ei-<br />

ne Kamera oben drüber, so daß sie von<br />

oben herunter auf das Bild sieht.“ 2 Die<br />

Papier/Blechfiguren werden auf der<br />

Glasplatte platziert und von unten beleuchtet,<br />

so dass sie als Silhouette erscheinen.<br />

1923 bis 1926 entsteht in einem<br />

kleinen Atelier über der Garage des<br />

Hauses von Bankier Louis Hagen mit<br />

der Hilfe von Carl Koch (Lotte Reinigers<br />

Ehe- und Arbeitspartner), Walt(h)er<br />

Ruttmann, Berthold Bartosch, Alexander<br />

Kardan und Walter Türck, Lotte Reinigers<br />

Opus Magnum „Die Geschichte<br />

des Prinzen Achmed“, ein Silhouettentrickfilm<br />

von über einer Stunde Länge.<br />

Inhaltlich angelehnt an die „Erzählungen<br />

aus Tausend und eine Nacht“, befindet<br />

sich die Reiniger in der Interpretation<br />

eines Märchenstoffes in ihrem<br />

Element.<br />

Märchenhafte Silhouette. „Ich glaube mehr<br />

an Märchen als an Zeitungen“ 3 , so die<br />

überzeugte Position Reinigers. Unabhängig<br />

von zeitgeistigen Strömungen<br />

und cineastischen Bewegungen, sind<br />

die Oper und das Märchen die großen<br />

Inspirationen, aus denen Lotte Reiniger<br />

mit unerschöpflicher Fantasie ihre Silhouettenfilme<br />

schafft.<br />

1935 wird die Arbeits- und Lebenssituation<br />

in Deutschland für das Ehepaar<br />

Reiniger/ Koch zur Zumutung. Der<br />

Reichsfilmdramaturg Willy Krause deklarierte<br />

den Silhouettenfilm für tot:<br />

„Der Scherenschnittfilm ist unrealistisch,<br />

ist Illusion und seine Form ist romantisch<br />

[...] Wir haben keinen romantischen<br />

Raum mehr, sondern einen realistischen.“<br />

4 Koch war durch seine Zusammenarbeit<br />

mit Jean Renoir und<br />

aufgrund seiner offensiven Äußerungen<br />

gegen den Nationalsozialismus dem<br />

Regime ohnehin ein Dorn in Auge. Reiniger<br />

und Koch verlassen das ehemals<br />

künstlerisch pulsierende Berlin und gehen<br />

nach England. Sie kehren, 1943, für<br />

fünf Jahre nach Deutschland zurück.<br />

Schattenspiele. Nach dem Krieg endgültig<br />

in England angesiedelt, gelingt es Reiniger,<br />

wieder bei der G.P.O. Film Unit, nun<br />

unbenannt in Crown Film Unit, unterzukommen.<br />

Sie produziert Werbefilme<br />

und gestaltet Schattenspiele für die<br />

Bühne der Hogarth Puppets. 1952 gründen<br />

Louis Hagen jr. und Vivian Milroy<br />

die Primrose Productions, die Filme von<br />

Reiniger für das englische und US-amerikanische<br />

Fernsehen produziert. Im<br />

gleichen Jahr zieht das Ehepaar Reiniger/<br />

Koch in die Künstlerkolonie von<br />

William Ohly in New Barnet. Ein Jahr<br />

später beginnt Reiniger mit der Arbeit<br />

an einer Serie von 13 Märchenfilmen, einer<br />

davon eine Aschenputtel-Adaption.<br />

Schon 1922 entstand ein Aschenputtel,<br />

ästhetisch und inhaltlich geprägt von<br />

unzensierter Experimentierfreude. In<br />

der Nachkriegszeit verändert sich der<br />

Zugang. Die Filme der Märchenserie<br />

sind für Kinderaugen bestimmt. Lotte<br />

Reiniger, die in der Umsetzung ihrer Filme<br />

immer möglichst nach der Originalvorlage<br />

vorgehen wollte, sieht in der<br />

Hänsel und Gretel-Verfilmung, so wie<br />

es bei den Grimms geschrieben steht,<br />

die Verbrennung der Hexe vor. „Die Produzenten<br />

waren jedoch der Meinung,<br />

dass man auch in einem Silhouettenfilm<br />

so wenige Jahre nach dem Holocaust<br />

eine solche Szene nicht zeigen<br />

dürfe.“ 5<br />

Lotte Reiniger gab offen zu, sich<br />

nicht sonderlich für Politik zu interessieren.<br />

Trotzdem lesen sich die Arbeiten ihrer<br />

einzelnen Lebensabschnitte wie eine<br />

Mikrochronologie politischer, gesellschaftlicher<br />

und künstlerischer Umschwünge.<br />

1963 stirbt Carl Koch. Der Verlust ihres<br />

Lebensmenschen und wichtigsten<br />

Arbeitspartners veranlasst Lotte Reiniger<br />

dazu, vorerst keine Filme mehr zu<br />

drehen. Sie widmet sich dem Schattentheater<br />

und schreibt ein Buch mit<br />

dem Titel „Shadow Puppets. Shadow<br />

Theatre. Shadow Films“, das 1970 erscheint.<br />

6 Spät erinnert man sich in<br />

Deutschland wieder an die Silhouettenkünstlerin:<br />

1969 widmet ihr die<br />

Deutsche Kinemathek Berlin zum 70.<br />

Geburtstag eine Filmretrospektive und<br />

1972 erhält sie das Filmband in Gold für<br />

ihre Verdienste um den deutschen Film.<br />

Ein paar Monate vor ihrem Tod<br />

zieht Lotte Reiniger nach Dettenhausen<br />

in das Haus der Familie Happ. Sie<br />

stirbt am 19. Juni 1981 und hinterlässt<br />

ein riesiges Werk, voll mit ästhetischen<br />

Feinheiten, märchenhaften Figuren<br />

und schlauen Beobachtungen. Bis heute<br />

ist das filmische Werk Lotte Reinigers<br />

eine fantastische Ausnahmeerscheinung.<br />

❚<br />

forumwissenschaft<br />

1 Alfred Happ berichtet in einem<br />

Interview mit der Verfasserin, dass<br />

Lotte Reiniger ganz erstaunt war, als<br />

sie in den 1970er Jahren während einer<br />

Lecture-Tour durch die USA und<br />

Kanada darauf angesprochen wurde,<br />

eine Pionierin und Vorreiterin in der<br />

männlich dominierten Filmbranche<br />

zu sein. Sie habe, so Happ, nie darüber<br />

nachgedacht, ob ihr der Beruf, den sie<br />

als Frau ausführte, zustünde oder<br />

nicht.<br />

2 Lotte Reiniger im Gespräch mit Walter<br />

Schobert.<br />

3 Ashoff, Brigitta:„Ich glaube mehr an<br />

Märchen als an Zeitungen. Eine Begegnung<br />

mit der Filmpionierin Lotte<br />

Reiniger“ In: Frankfurter Allgemeine<br />

Zeitung vom 14. November 1981, ohne<br />

Paginierung.<br />

4 Willy Krause in der Deutschen Filmzeitung<br />

vom 30. Juni 1935, zitiert nach<br />

Happ, Alfred: Lotte Reiniger 1899 –<br />

1981. Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst.<br />

Tübingen 2004, S. 48.<br />

5 Happ, S. 84.<br />

6 Die deutsche Ausgabe folgt 1981,<br />

vor kurzem hat das Stadtmuseum Tübingen<br />

das Buch neu aufgelegt.<br />

märz <strong>2007</strong>an.<strong>schläge</strong> 23

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