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teilig mit der Schere aus Papier und (für<br />
Filmfiguren) aus dünn gewalztem Blech<br />
ausgeschnitten, war sie die Hauptdarstellerin<br />
in den wunderbaren Geschichten,<br />
die von der Künstlerin mit ihren Filmen,<br />
Schattenspielen und Buchillustrationen<br />
erzählt wurden.<br />
1899 in Berlin geboren, verfolgt Reiniger<br />
von Kindheit an mit Begeisterung<br />
die Fortschritte des Kinos. Eine ihrer Leidenschaften<br />
gehört dem Schauspiel.<br />
Für eine Schulaufführung baut sie ihre<br />
erste Schattenbühne und erntet Bewunderung<br />
für ihr Spiel von Shakespeares<br />
Sturm.<br />
1916 hört Lotte Reiniger einen Vortrag<br />
von Paul Wegener mit dem Titel<br />
Neue Kinoziele – es geht um die künstlerischen<br />
Möglichkeiten des noch neuen<br />
Mediums Film. Wegener beschreibt<br />
seine Vision von „einer Art kinetische[n]<br />
Lyrik“, einer Welt,„die eigentlich nur in<br />
einem toten Bilde existiert“und meint<br />
damit die <strong>An</strong>imation.<br />
Begeistert von dieser Idee wird Lotte<br />
Reiniger Schauspielschülerin bei Max<br />
Reinhardt am Deutschen Theater und<br />
lernt dort Paul Wegener kennen. Sie<br />
schneidet Titelsilhouetten für Filme von<br />
Wegener und wird bei den Dreharbeiten<br />
zum Rattenfänger von Hameln mit<br />
jener Technik konfrontiert, die ihr gesamtes<br />
Filmschaffen prägen sollte – der<br />
<strong>An</strong>imation. Reiniger bewegt mit KollegInnen<br />
hölzerne Ratten in Stopmotion<br />
durch die Altstadt von Bautzen, nachdem<br />
lebende, als Ratten verkleidete<br />
Meerschweinchen den Regieanweisungen<br />
von Wegener nicht Folge leisten<br />
wollten.<br />
1919 eröffnet in Berlin unter der Leitung<br />
von Hans Cürlis das Institut für<br />
Kulturforschung, in dem <strong>An</strong>imationsfilme<br />
(zumeist Unterrichts- bzw. Kulturfilme)<br />
produziert werden. Dort dreht Lotte<br />
Reiniger ihren ersten Silhouettentrickfilm<br />
mit dem Titel „Das Ornament<br />
des verliebten Herzens“. Es folgen weitere<br />
Filme, produziert an einem Tricktisch,<br />
wie ihn die Regisseurin vom ersten<br />
bis zum letzten Film – mit kleinen<br />
Verbesserungen – zur Herstellung ihrer<br />
Werke verwendet. Reiniger beschreibt<br />
die Konstruktion wie folgt:„Man nehme<br />
einen Küchentisch, säge ein Loch hinein,<br />
lege eine Glasplatte darauf, nehme die<br />
Lampe von oben herunter und stelle sie<br />
unter die Glasplatte und hänge sich ei-<br />
ne Kamera oben drüber, so daß sie von<br />
oben herunter auf das Bild sieht.“ 2 Die<br />
Papier/Blechfiguren werden auf der<br />
Glasplatte platziert und von unten beleuchtet,<br />
so dass sie als Silhouette erscheinen.<br />
1923 bis 1926 entsteht in einem<br />
kleinen Atelier über der Garage des<br />
Hauses von Bankier Louis Hagen mit<br />
der Hilfe von Carl Koch (Lotte Reinigers<br />
Ehe- und Arbeitspartner), Walt(h)er<br />
Ruttmann, Berthold Bartosch, Alexander<br />
Kardan und Walter Türck, Lotte Reinigers<br />
Opus Magnum „Die Geschichte<br />
des Prinzen Achmed“, ein Silhouettentrickfilm<br />
von über einer Stunde Länge.<br />
Inhaltlich angelehnt an die „Erzählungen<br />
aus Tausend und eine Nacht“, befindet<br />
sich die Reiniger in der Interpretation<br />
eines Märchenstoffes in ihrem<br />
Element.<br />
Märchenhafte Silhouette. „Ich glaube mehr<br />
an Märchen als an Zeitungen“ 3 , so die<br />
überzeugte Position Reinigers. Unabhängig<br />
von zeitgeistigen Strömungen<br />
und cineastischen Bewegungen, sind<br />
die Oper und das Märchen die großen<br />
Inspirationen, aus denen Lotte Reiniger<br />
mit unerschöpflicher Fantasie ihre Silhouettenfilme<br />
schafft.<br />
1935 wird die Arbeits- und Lebenssituation<br />
in Deutschland für das Ehepaar<br />
Reiniger/ Koch zur Zumutung. Der<br />
Reichsfilmdramaturg Willy Krause deklarierte<br />
den Silhouettenfilm für tot:<br />
„Der Scherenschnittfilm ist unrealistisch,<br />
ist Illusion und seine Form ist romantisch<br />
[...] Wir haben keinen romantischen<br />
Raum mehr, sondern einen realistischen.“<br />
4 Koch war durch seine Zusammenarbeit<br />
mit Jean Renoir und<br />
aufgrund seiner offensiven Äußerungen<br />
gegen den Nationalsozialismus dem<br />
Regime ohnehin ein Dorn in Auge. Reiniger<br />
und Koch verlassen das ehemals<br />
künstlerisch pulsierende Berlin und gehen<br />
nach England. Sie kehren, 1943, für<br />
fünf Jahre nach Deutschland zurück.<br />
Schattenspiele. Nach dem Krieg endgültig<br />
in England angesiedelt, gelingt es Reiniger,<br />
wieder bei der G.P.O. Film Unit, nun<br />
unbenannt in Crown Film Unit, unterzukommen.<br />
Sie produziert Werbefilme<br />
und gestaltet Schattenspiele für die<br />
Bühne der Hogarth Puppets. 1952 gründen<br />
Louis Hagen jr. und Vivian Milroy<br />
die Primrose Productions, die Filme von<br />
Reiniger für das englische und US-amerikanische<br />
Fernsehen produziert. Im<br />
gleichen Jahr zieht das Ehepaar Reiniger/<br />
Koch in die Künstlerkolonie von<br />
William Ohly in New Barnet. Ein Jahr<br />
später beginnt Reiniger mit der Arbeit<br />
an einer Serie von 13 Märchenfilmen, einer<br />
davon eine Aschenputtel-Adaption.<br />
Schon 1922 entstand ein Aschenputtel,<br />
ästhetisch und inhaltlich geprägt von<br />
unzensierter Experimentierfreude. In<br />
der Nachkriegszeit verändert sich der<br />
Zugang. Die Filme der Märchenserie<br />
sind für Kinderaugen bestimmt. Lotte<br />
Reiniger, die in der Umsetzung ihrer Filme<br />
immer möglichst nach der Originalvorlage<br />
vorgehen wollte, sieht in der<br />
Hänsel und Gretel-Verfilmung, so wie<br />
es bei den Grimms geschrieben steht,<br />
die Verbrennung der Hexe vor. „Die Produzenten<br />
waren jedoch der Meinung,<br />
dass man auch in einem Silhouettenfilm<br />
so wenige Jahre nach dem Holocaust<br />
eine solche Szene nicht zeigen<br />
dürfe.“ 5<br />
Lotte Reiniger gab offen zu, sich<br />
nicht sonderlich für Politik zu interessieren.<br />
Trotzdem lesen sich die Arbeiten ihrer<br />
einzelnen Lebensabschnitte wie eine<br />
Mikrochronologie politischer, gesellschaftlicher<br />
und künstlerischer Umschwünge.<br />
1963 stirbt Carl Koch. Der Verlust ihres<br />
Lebensmenschen und wichtigsten<br />
Arbeitspartners veranlasst Lotte Reiniger<br />
dazu, vorerst keine Filme mehr zu<br />
drehen. Sie widmet sich dem Schattentheater<br />
und schreibt ein Buch mit<br />
dem Titel „Shadow Puppets. Shadow<br />
Theatre. Shadow Films“, das 1970 erscheint.<br />
6 Spät erinnert man sich in<br />
Deutschland wieder an die Silhouettenkünstlerin:<br />
1969 widmet ihr die<br />
Deutsche Kinemathek Berlin zum 70.<br />
Geburtstag eine Filmretrospektive und<br />
1972 erhält sie das Filmband in Gold für<br />
ihre Verdienste um den deutschen Film.<br />
Ein paar Monate vor ihrem Tod<br />
zieht Lotte Reiniger nach Dettenhausen<br />
in das Haus der Familie Happ. Sie<br />
stirbt am 19. Juni 1981 und hinterlässt<br />
ein riesiges Werk, voll mit ästhetischen<br />
Feinheiten, märchenhaften Figuren<br />
und schlauen Beobachtungen. Bis heute<br />
ist das filmische Werk Lotte Reinigers<br />
eine fantastische Ausnahmeerscheinung.<br />
❚<br />
forumwissenschaft<br />
1 Alfred Happ berichtet in einem<br />
Interview mit der Verfasserin, dass<br />
Lotte Reiniger ganz erstaunt war, als<br />
sie in den 1970er Jahren während einer<br />
Lecture-Tour durch die USA und<br />
Kanada darauf angesprochen wurde,<br />
eine Pionierin und Vorreiterin in der<br />
männlich dominierten Filmbranche<br />
zu sein. Sie habe, so Happ, nie darüber<br />
nachgedacht, ob ihr der Beruf, den sie<br />
als Frau ausführte, zustünde oder<br />
nicht.<br />
2 Lotte Reiniger im Gespräch mit Walter<br />
Schobert.<br />
3 Ashoff, Brigitta:„Ich glaube mehr an<br />
Märchen als an Zeitungen. Eine Begegnung<br />
mit der Filmpionierin Lotte<br />
Reiniger“ In: Frankfurter Allgemeine<br />
Zeitung vom 14. November 1981, ohne<br />
Paginierung.<br />
4 Willy Krause in der Deutschen Filmzeitung<br />
vom 30. Juni 1935, zitiert nach<br />
Happ, Alfred: Lotte Reiniger 1899 –<br />
1981. Schöpferin einer neuen Silhouettenkunst.<br />
Tübingen 2004, S. 48.<br />
5 Happ, S. 84.<br />
6 Die deutsche Ausgabe folgt 1981,<br />
vor kurzem hat das Stadtmuseum Tübingen<br />
das Buch neu aufgelegt.<br />
märz <strong>2007</strong>an.<strong>schläge</strong> 23