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Czesław Miłosz<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>Mit einer Einleitung von Karl De<strong>de</strong>cius und <strong>de</strong>mDokumentarfilm »Czesław Miłosz: Die <strong>Geschichte</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts«


<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>


Czesław Miłosz<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>Mit einer Einleitung von Karl De<strong>de</strong>cius und <strong>de</strong>mDokumentarfilm »Czesław Miłosz: Die <strong>Geschichte</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts«


Bibliografische Information <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in <strong><strong>de</strong>r</strong> Deutschen Nationalbibliografie;<strong>de</strong>taillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.<strong>de</strong> abrufbar.Umschlagabbildung: Photo von Andrzej Miłosz. Copyright © Grażyna Strumiłło-Miłosz undJoanna Miłosz-Piekarska. Wir danken Agnieszka Kosińska für die freundliche Erlaubnis,das Foto abzudrucken.Gedruckt auf Initiative und mit Unterstützung <strong><strong>de</strong>r</strong> Filiale Leipzig <strong>de</strong>s Polnischen Instituts BerlinTitel <strong><strong>de</strong>r</strong> Originalausgabe:THE HISTORY OF POLISH LITERATURECopyright © 1969, 1983, Czesław MiłoszAll rights reservedErweiterter und kommentierter Nachdruck <strong><strong>de</strong>r</strong> Übersetzung von Arthur Man<strong>de</strong>l,Verlag Wissenschaft und Politik, Berend von Nottbeck, Köln 1981.Für das Vorwort liegen die Rechte bei Karl De<strong>de</strong>cius. Nachdruck und öffentliche Verwendungin Medien nur mit Genehmigung <strong>de</strong>s Verlages.Der Verlag hat sich bemüht, die Inhaber aller Rechte ausfindig zu machen; dies ist lei<strong><strong>de</strong>r</strong>nicht in allen Fällen gelungen. Sollte <strong>de</strong>m Verlag gegenüber <strong>de</strong>nnoch <strong><strong>de</strong>r</strong> Nachweis <strong><strong>de</strong>r</strong>Rechtsinhaberschaft geführt wer<strong>de</strong>n, wird diese in branchenüblicher Weise abgegolten.© 2013 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 · D-72070 TübingenDas Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.Je<strong>de</strong> Verwertung außerhalb <strong><strong>de</strong>r</strong> engen Grenzen <strong>de</strong>s Urheberrechtsgesetzes ist ohneZu stim mung <strong>de</strong>s Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem und säurefreiem Werkdruckpapier.Internet: www.francke.<strong>de</strong>E-Mail: info@francke.<strong>de</strong>Druck und Bindung: Laupp & Göbel, NehrenPrinted in GermanyISBN 978-3-7720-8456-0


InhaltsverzeichnisGeleitwort <strong>de</strong>s Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1Einleitung von Karl De<strong>de</strong>cius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Das MittelalterDer geschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14<strong>Literatur</strong> in lateinischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<strong>Literatur</strong> in polnischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Das 15. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t: Spätes MittelalterDer geschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24Lateinische Prosa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27<strong>Literatur</strong> in polnischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Humanismus und Reformation:Das 16. und beginnen<strong>de</strong> 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>tDer geschichtliche Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<strong>Literatur</strong> in lateinischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<strong>Literatur</strong> in polnischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<strong>Literatur</strong> in an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 964 Das 17. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t: Gegenreformation und BarockAllgemeine Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100Werke in lateinischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106Werke in polnischer Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1095 Die erste Hälfte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts: Die sächsische NachtGeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133Vorboten <strong><strong>de</strong>r</strong> Wandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1346 Zweite Hälfte <strong>de</strong>s 18. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts: Die AufklärungGeschichtlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138Das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145Dichter und Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151Empfindsame Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157Die Neuerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159Der unmögliche Potocki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1627 Die RomantikAllgemeine Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166Klassizismus und Frühromantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172Die ukrainische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204Die Prosa im Zeitalter <strong><strong>de</strong>r</strong> Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . 209Historiker und Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213<strong>Geschichte</strong> einer Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216V


8 Der PositivismusAllgemeine Verhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230Die Positivisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231Die Krakauer Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236Der Naturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236An<strong><strong>de</strong>r</strong>e Prosaisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254Die Dichter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2569 Das junge PolenAllgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262Die Vorläufer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267Die Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271Das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284Neue Gegner <strong><strong>de</strong>r</strong> Mo<strong><strong>de</strong>r</strong>ne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290Eine satirische Note . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293Der Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294Kritik und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30010 Polen 1918–1939Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306Die Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309Das Theater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331Romane und Erzählungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336Essays und an<strong><strong>de</strong>r</strong>es . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35011 Der Zweite Weltkrieg und das neue PolenAllgemeine Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354Die Nachkriegsliteratur · Allgemeine Charakteristik . . . . . . . . 361AnhangDer polnische Versbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423Editorische Anmerkungen zur Neuauflage von<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> . . . . . . . . 431Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435VI


Geleitwort <strong>de</strong>s HerausgebersSelten fügt es sich, dass ein Schriftsteller selbst eine <strong>Literatur</strong>geschichtefür <strong>de</strong>n aka<strong>de</strong>mischen Bereich verfasst. Noch seltener fügt es sich, dass einratureine solch exponierte Be<strong>de</strong>utung hat, eine <strong>Literatur</strong>geschichte vorlegt.Doch in diesem Fall erwies sich diese Konstellation als Glücksfall. So fügte<strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Berkeley unterrichtete. Aus dieser Konstellation erwuchs die»<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>«, die als Handbuch für Stu<strong>de</strong>nten an<strong><strong>de</strong>r</strong> Universität Berkeley konzipiert war und bis heute unverän<strong><strong>de</strong>r</strong>t erhältlichist. Nach 1993 wur<strong>de</strong> das Werk auch in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> Übersetzung zum geachtetenBestseller seiner Gattung und ist dort 2010 neu, durchgesehen undvervollständigt aufgelegt wor<strong>de</strong>n.Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s dankbar bin ich Herrn Dr. h. c. mult. Karl De<strong>de</strong>cius, <strong>de</strong>m Übersetzerund unermüdlichen Herausgeber polnischer <strong>Literatur</strong>, dafür, dass erdiesen Band mit seinem Vorwort bereichert. Er gewährt uns einen Einblickin seine langjährige persönliche Bekanntschaft mit <strong>de</strong>m Werk und <strong><strong>de</strong>r</strong> Per-heute als Kustos Wohnung und Archiv <strong>de</strong>s Dichters in Krakau sowie seineAutoren rechte betreut. Sie hat dieses Buchprojekt stets wohlwollend, kompetentund hilfreich begleitet. Dank sagen möchte ich meiner Vorgängerin, FrauWeg gebracht hat. Dank gilt auch meinen bei<strong>de</strong>n Mitarbeitern: Bernd Karwenfür die redaktionelle Betreuung <strong>de</strong>s Buches sowie für die Übersetzung<strong>de</strong>s Epilogs ins Deutsche. Rainer Men<strong>de</strong> für die Redaktion <strong><strong>de</strong>r</strong> DVD undzugleich für akribische Korrekturen. Die <strong>de</strong>utschen Untertitel zur DVD hatVon aka<strong>de</strong>mischer Seite hat Dr. Hans-Christian Trepte dieses Vorhaben kritischbegleitet, für die Zusammenstellung <strong>de</strong>s Registers danke ich Frau JuliaJuskowiak.erweiterten Nachdruck dieser <strong>Literatur</strong>geschichte vor und bieten damit dieGelegenheit, das Werk zu nutzen und zugleich in einem neuen Licht zu sehen.Trotz einiger Mängel <strong><strong>de</strong>r</strong> 1981 erschienenen <strong>de</strong>utschen Ausgabe, die nur durcheine vollständige Neuauflage zu beheben wären, kann dieses Werk auch im<strong>de</strong>utschen Sprachraum als hervorragen<strong><strong>de</strong>r</strong> Einstieg in die polnische <strong>Literatur</strong>geschichtenachdrücklich empfohlen wer<strong>de</strong>n. Möge es allen Interessiertenan <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> ein hilfreicher Leitfa<strong>de</strong>n sein.Stellvertreten<strong><strong>de</strong>r</strong> Direktor <strong>de</strong>s Polnischen Instituts Berlin – Filiale LeipzigLeipzig, November 20131


Einleitung von Karl De<strong>de</strong>ciusIn <strong><strong>de</strong>r</strong> Ahnengalerie <strong>de</strong>s NobelpreisträgersBeim flüchtigen Blättern in <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Literatur</strong>geschichte <strong>de</strong>s Autors meinen wir,über Treppen eines alten Herrensitzes zu steigen, Etagen und Säle zu betreten,an <strong><strong>de</strong>r</strong>en Wän<strong>de</strong>n, angestaubt, dunkel in Farbe und Haltung, dichtbeieinan<strong><strong>de</strong>r</strong>, große, aber auch kleine Porträts hängen. Man hat sie in üppigesBlattgold <strong><strong>de</strong>r</strong> Rahmen gesperrt und alleingelassen. Charakterfeste Gesichter,manche grimmig, verraten Befrem<strong>de</strong>n (als Antwort auf die Gleichgültigkeit<strong><strong>de</strong>r</strong> eiligen Touristen). Die Atmosphäre in <strong>de</strong>m verlassenen Museion ist erwartungsvoll.Das alles sind oberflächliche Eindrücke eines zu schnell und zu verständnislosdie Säle durcheilen<strong>de</strong>n Neulings. Zieht man die schweren dunkelrotenVorhänge beiseite, öffnet die Fenster, lässt Licht und frische Luft in die zulange unbesucht gelassenen Räume, fangen sie an zu leben. In Begleitung <strong>de</strong>skundigen Frem<strong>de</strong>nführers – umso mehr, wenn es <strong><strong>de</strong>r</strong> Autor selbst ist. Werke,Zeiten und Künstler bekommen allmählich Farbe, wer<strong>de</strong>n plastisch, gesprächig,sie erzählen.Auf diese <strong>Literatur</strong>geschichte habe ich lange gewartet. Seit <strong>de</strong>n 50er Jahren<strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts übersetze ich polnische Dichtung. Eigentlich ohne aktuelleHilfsmittel: Die Grenzen waren unpassierbar, die Bibliotheken mel<strong>de</strong>tenFehlanzeigen, Kontakte misslangen meist; man war auf komplizierte Korrespon<strong>de</strong>nzenund Umwege angewiesen. 1981 erschien diese <strong>Literatur</strong>geschichteerstmalig in <strong>de</strong>utscher Sprache in Köln und ich hatte für meine Lesegängeendlich die erwünschte Fundgrube an Informationen, die ich brauchte.Bis 1981 waren zwar meine ersten 50 polonistischen Bücher (Anthologien,Monographien, Essays) unter <strong>de</strong>n erschwerten Bedingungen herrschen<strong>de</strong>n»Kriegsrechts« (und an<strong><strong>de</strong>r</strong>en Unrechts) publiziert. Nach 1981kamen uns alte Antiquariate und junge Beziehungen zu unbekannten Autorenund ihren Verlagen in Polen und im Ausland endlich entgegen.Dennoch – Die <strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>steht im Regal an meinem Schreibtisch bis heute griffbereit. Denn dort fin<strong>de</strong>ich – trotz inzwischen größerer Handbibliothek – immer das Datum, das mirfehlt, eine Quelle, die ich suche, eine Anekdote, die die trockene MaterieBerufungund sofort. Er ist viel gereist, in Ost und in West. Für ihn waren es keineAusflugsziele son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Lebensräume (Schicksalsräume <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts):Erzwungene Kriege und Völkerwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen allerorten; Zwangsumsiedlung,hatte sie – seine Lehr- und Wan<strong><strong>de</strong>r</strong>jahre – in allen Etappen tapfer überstan<strong>de</strong>n.Das sorgte für die kreativen Spannungen wie die gesteigerte Wachsamkeit<strong>de</strong>s Intellekts. Am En<strong>de</strong> auch für das wahrgenommene Glück im Unglück.Alles i<strong>de</strong>ale Voraussetzungen für inspirierte Wissenschaft und Kunst: Ju-2


ist, Schriftsteller, Redakteur, Herausgeber von Zeitschriften und Büchern,Übersetzer, Diplomat und Kulturkritiker, schließlich seit 1960 Lehrbeauftragter,seit 1961 Professor an <strong><strong>de</strong>r</strong> Universität in Berkeley; zuständig für slawischeSprachen und <strong>Literatur</strong>. Das Reifezeugnis all dieser Vorschulen undBildungsgänge liegt jetzt hier als Geschichtsbuch <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> imNachdruck vor.Die erste Auflage war in Köln 1981 in <strong><strong>de</strong>r</strong> Übersetzung von Artur Man<strong>de</strong>lerschienen. (Die Originalausgabe auf Englisch gab Macmillan in New York1969 heraus.) Der Autor war zu dieser Pflichtaufgabe gera<strong>de</strong>zu berufen. Die<strong>Geschichte</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> setzt sich zusammen aus <strong>de</strong>n in Berkeleygehaltenen Vorlesungen.Exildie ihm als Dichter im Exil zustehen<strong>de</strong> und auferlegte (seit Mickiewicz inPolen plausible) Pflicht zur Parteinahme.Die Romantik hatte im 19. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t das Vorbild <strong>de</strong>s Nationaldichters undPropheten (vates et poeta) vorgegeben. Die Mission <strong>de</strong>s Wahr sagers und Erzieherswar sein Erbteil: das Erbe <strong>de</strong>s Wilnaer Romantikers und Exilierten,Adam Mickiewicz.Anlässlich <strong><strong>de</strong>r</strong> Rencontre Mondiale <strong>de</strong> Poésie in Montreal im September 1967nomen<strong><strong>de</strong>r</strong> Verbannung: »Es ist fast unmöglich, heute von einem Dichter zure<strong>de</strong>n und nicht die Verbannung zu erwähnen. Die Verbannung ist für einenDichter heute Schicksal, unabhängig davon, ob er in seinem Heimatland lebto<strong><strong>de</strong>r</strong> im Ausland; fast immer ist er herausgerissen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> kleinen heimischenWelt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gebräuche und Glaubensvorstellungen, die er in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kindheit kannte.Die Verbannung an sich ist we<strong><strong>de</strong>r</strong> schlecht noch gut, die romantischen undpathetischen Gesten taugen hier nichts. Die Verbannung muss man hinnehmenund alles hängt davon ab, welchen Nutzen man daraus zieht.«GenrefiktionÜber eine <strong>Literatur</strong>geschichte zu urteilen ist Sache <strong><strong>de</strong>r</strong> dazu professionellBerufenen. Ein Benutzer schlechthin – Laie und Liebhaber – erwartet von<strong><strong>de</strong>r</strong> Lektüre möglicherweise ganz An<strong><strong>de</strong>r</strong>es und Verschie<strong>de</strong>nes. Zu diesemviel größeren Kreis gehöre ich. Mein Hauptinteresse gilt <strong>de</strong>m Dichter, seinenWilna, wie mein Lodz, unsere Geburtsorte waren multinational und kulturellkunterbunt, was heute nicht mehr originell ist. Heute ist es eine gesamteuro-ähnlichen Wissensdurst und Erlebnishunger. Diese – heute rückblickend –Gemeinsamkeiten waren in <strong><strong>de</strong>r</strong> Kahlschlag-Situation <strong><strong>de</strong>r</strong> ersten Jahre nach1945 eine starke Anziehungskraft, Autoren und Bücher ähnlicher Generationo<strong><strong>de</strong>r</strong> Provenienz kennenzulernen. Deshalb waren die ersten »Kiesel« (ZbigniewHerberts Gedicht Kamyk), die ich am Stran<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> gestran<strong>de</strong>ten Heimkehrer1949 sorgfältig aufhob und vom San<strong>de</strong> reinigte, die Dichter meinerInteresse.3


ähnliche Situation und Kindheitserfahrung wie Herbert im Südosten. HerbertsMigrationshintergrund war Galizien, Wien, die Ukraine und die orientalischeVitalität und Buntheit Lembergs. Große Anziehungskraft hatten diealten Kulturen weiter im Sü<strong>de</strong>n (Griechenland) und im Westen (Frankreich,– und das verband ihn mit Herbert – geistige Wurzeln stakenim ähnlich fruchtbaren Bo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Vielvölkerkessels in Wilna, mit seinergroßen Anziehungskraft <strong>de</strong>s Ostens und Nor<strong>de</strong>ns. Sie und ihre Generationlebten im Heimweh nach ihren Geburtsorten, auch wenn diese inzwischenzur Fiktion gewor<strong>de</strong>n waren. Sie waren zwei Fußkranke <strong><strong>de</strong>r</strong> letzten Völkerwan<strong><strong>de</strong>r</strong>ungin Europa.UlroBlakes Dichtung JerusalemVerbannungsland <strong><strong>de</strong>r</strong> an ihrer Bewegungsfreiheit Gehin<strong><strong>de</strong>r</strong>ten und <strong><strong>de</strong>r</strong> vomvielseitigen Intellektuellen-Künstlers im Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand, <strong><strong>de</strong>r</strong> »von <strong><strong>de</strong>r</strong> Rückkehrzur Unschuld <strong>de</strong>s Naturmenschen« träumt. Blake besticht mit seiner biblischprophetischen,zur Mystik neigen<strong>de</strong>n Kosmogonie, <strong><strong>de</strong>r</strong> seine praktiziertenKünste dienen: Dichtung, Illustration, Jugendstil und biblische Symbolik – Ich-Essays (Ich und Gombrowicz, Ich und Mickiewicz, Ich und Dostojewskij,Ich und Swe<strong>de</strong>nborg, Ich und Blake, Ich und die Sprachen, Ich und die Phasen<strong><strong>de</strong>r</strong> Menschheitsgeschichte, Ich und das Christentum) ähneln <strong>de</strong>nen imGombrowicz-Tagebuch, wo das »Ich, ich, ich …« strapaziert wird, allerdingsin ganz an<strong><strong>de</strong>r</strong>er Absicht –»Ich« stets in Bezug auf eine Größe, die ihn anzieht und zu Fragen und Antwortennötigt. So beginnt er: »Wer war ich? Wer bin ich jetzt, nach Jahren,hier auf <strong>de</strong>m Grizzly Peak, in meinem Arbeitszimmer über <strong>de</strong>m Pazifik? …«Diese persönliche Frage zielt weit und hoch über das Private hinaus. Sie ortetund weitet Allgemeines, Kulturgeographisches und Geistesgeschichtliches.Dem Dichter-Wahrheitssucher assistiert in seinen Fragestellungen immer <strong><strong>de</strong>r</strong>An<strong><strong>de</strong>r</strong>e, das an<strong><strong>de</strong>r</strong>e Vorbild.»Ich und die An<strong><strong>de</strong>r</strong>en«, »Ich und die Welt«, so wie<strong><strong>de</strong>r</strong>holen sich die Titel <strong><strong>de</strong>r</strong>Kapitel und bil<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n roten Fa<strong>de</strong>n einer philosophischen Selbstfindungsaktion.UlroAußenwelt und in seinem Selbst. Trotz <strong>de</strong>s hier beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s hervortreten<strong>de</strong>ndidaktischen und polemischen Temperaments in politischer Betrachtung wie – <strong><strong>de</strong>r</strong> Dichter. SeineDurchdringung, Beschwörung, Verwandlung ist <strong>de</strong>m litauischen Erbe zu verdanken:Dort be<strong>de</strong>utet es Verzauberung und das ist ein lyrisches Motiv.Alles mün<strong>de</strong>t in <strong><strong>de</strong>r</strong> Schlusserkenntnis: »ich habe mich <strong>de</strong>m Gesetz <strong><strong>de</strong>r</strong> Imagination,so wie sie William Blake versteht, gefügt« – »ich hauste in Ulroschon lange, bevor ich von Blake erfuhr, wie dieses Land heißt«. Das Ödland,das <strong>de</strong>m Untergang geweihte Land, das <strong>de</strong>n Dichter und seine Freun<strong>de</strong>schon in <strong><strong>de</strong>r</strong> Stu<strong>de</strong>ntenzeit in Wilna 1930 verfolgt hatte und zur Schule <strong><strong>de</strong>r</strong>»Katastrophisten« hinbewegte. Das Land, aus <strong>de</strong>m er beständig ausbricht,4


sich auf die Flucht begibt und es doch überallhin mit sich herumschleppt. Die»Wohin sind wir geraten? Was ist das? Wo gehen wir hin? Ich erkühne michnicht, etwas zu glauben, o<strong><strong>de</strong>r</strong> nicht zu glauben … meine Sache ist es, Faktenanzuzeigen. Wer wollte schon inmitten eines Wirbelsturms in scharfsichtigenDiagnosen Zuflucht suchen? Fest steht nur, dass das Land Ulro nicht eineausgefallene Erfindung von William Blake war, wenn wir es schon am eigenenLeibe erfahren hatten.«Da dies wie ein Finale 1977 in Paris veröffentlicht wur<strong>de</strong>, nach <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>Geschichte</strong><strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong> (die 1969 in <strong>de</strong>n USA erschienen war), ist es hilf- geschichte zu betrachten. Ein Schlusspunkt, <strong><strong>de</strong>r</strong> eigentlich ein Fragezeichenbleibt.tischeund literaturhistorische Essayistik, eine Bilanz <strong>de</strong>s erlebten Kreuzwegsvieler Kulturen, <strong><strong>de</strong>r</strong> magischen Bindungen und Strahlungen, die sichzwischen Dostojewskij und Hegel, zwischen Swe<strong>de</strong>nborg und Blake ereignen.Das vielgeprüfte kritische Geschichtsbewusstsein <strong>de</strong>s Professors, <strong>de</strong>sempfindsamen Poeten und in Realien verhafteten Weltbürgers unserer Zeitsucht einen Ausweg aus <strong><strong>de</strong>r</strong> irdischen Provinz wie aus <strong>de</strong>m metaphysischenKosmos.Nobelpreis– nach Sienkiewicz (1905:Quo vadis?) und nach Reymont (1924: Die Bauern) <strong>de</strong>s dritten Nobelpreisträgersfür <strong>Literatur</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> aus Polen kam – rief Passagen aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Dankesre<strong>de</strong>von Henryk Sienkiewicz vor über 100 Jahren in Stockholm in Erinnerung:»Diese Ehrung ist kostbar für je<strong>de</strong>n, aber um wie viel kostbarer ist sie füreinen Polen … Mein Land wur<strong>de</strong> totgesagt, doch das hier (die Auszeichnung)ist einer <strong><strong>de</strong>r</strong> hun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Beweise dafür, dass es lebt.«Polen als Ganzheit lebte in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tat in langen Perio<strong>de</strong>n seiner wechselvollen<strong>Geschichte</strong> mehr und stärker in seiner Sprache und <strong>Literatur</strong> fort <strong>de</strong>nn an<strong><strong>de</strong>r</strong>s.Seit <strong>de</strong>m Romantiker Adam Mickiewicz (1798–1855) hatten die DichterPolens eine das Volk einen<strong>de</strong>, <strong>de</strong>n zerstörten Staat ersetzen<strong>de</strong>, von moralischerund politischer Autorität getragene »Regierung <strong><strong>de</strong>r</strong> Seelen« auszuüben.Und sie nahmen diese Aufgabe erfolgreich wahr, was die beson<strong><strong>de</strong>r</strong>e Rolle <strong><strong>de</strong>r</strong><strong>Literatur</strong> in Polen, <strong><strong>de</strong>r</strong> Dichtung insbeson<strong><strong>de</strong>r</strong>e, erklärt.In Polen und für Polen Dichter sein ist mehr als an<strong><strong>de</strong>r</strong>swo historische, nationaleund seelsorgerische Verpflichtung. Es ist ein Amt, das zwar Individualitätenherausragen lässt, zugleich aber auch eine verschworene Gemeinschaft<strong><strong>de</strong>r</strong> Dichter und ihrer Leser bil<strong>de</strong>t. Es verpflichtet Innerlichkeit und10. Dezember im Stadshus <strong><strong>de</strong>r</strong> schwedischen Hauptstadt, gegen En<strong>de</strong> seinerDankesre<strong>de</strong> zum Ausdruck gebracht: »Ich bin Teil <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>polnischen</strong> <strong>Literatur</strong>,die verhältnismäßig wenig bekannt, weil sehr schwer zu übersetzen ist.«in einer für Polen ereignisreichen Zeit; Monate vor <strong>de</strong>n Ereignissen um die5


<strong><strong>de</strong>r</strong> als Stu<strong>de</strong>nt, Priester und Kardinal (von 1939 bis 1975) ebenfalls Gedichteschrieb. Als Papst sollte er später das Poemat Römisches Triptychon (2003)publizieren.Thomas Venclova, einer <strong><strong>de</strong>r</strong> Landsleute aus Wilna, bescheinigte <strong>de</strong>m Dichtersich heute je<strong>de</strong>m stellt, <strong><strong>de</strong>r</strong> Osteuropa verlässt: Er hat seine geistige Integritätbewahrt und er hat in die alte Heimat zurückgefun<strong>de</strong>n.« In die Öffentlichkeitzurückgefun<strong>de</strong>n hat <strong><strong>de</strong>r</strong> bis dahin in Polen nur spärlich und auf halblegalenWegen wahrgenommene politische Emigrant vor allem dank <strong><strong>de</strong>r</strong> StockholmerAka<strong>de</strong>mie und ihrer Nobelpreis-Entscheidung.ErinnerungDie ersten Kontakte mit <strong>polnischen</strong> Dichtern meiner Generation wur<strong>de</strong>nin <strong>de</strong>n 60er Jahren immer leichter möglich. Vor allem von Westeuropa nachPolen; hier über die Redaktionen, Verlage und Universitäten.war täglich an meine Berufe und Pflichten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik gebun<strong>de</strong>n.Er hatte <strong><strong>de</strong>r</strong> Volksrepublik von 1945 bis 1951 als Diplomat in Frankreichund <strong>de</strong>n USA gedient, aber dann die Sowjetisierung seines Lan<strong>de</strong>s bald nichtmehr ertragen und, in moralischen Konflikt geraten, »die Freiheit gewählt«,wie es im Jargon <strong>de</strong>s Westens damals hieß. In <strong><strong>de</strong>r</strong> Volksrepublik Polen galter daraufhin offiziell als »Verräter« und »Feind <strong><strong>de</strong>r</strong> Republik«. Er wur<strong>de</strong> geächtet,verschwiegen, zur Nichtexistenz verurteilt. Aber auch die <strong>polnischen</strong>Emi granten gingen auf Distanz zu ihm, <strong>de</strong>nn er flüchtete ja nicht als »Märtyrer«<strong>de</strong>s Systems, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n als <strong>de</strong>ssen Staatsdiener und »Nutznießer«. Derkalte Krieg hatte seine kalten Gesetze.Die Redaktionen und Verlage <strong><strong>de</strong>r</strong> Emigration in London, Paris und New Yorkblieben ihm zunächst verschlossen, die Presse gleichgültig bis unfreundlich.Nur <strong><strong>de</strong>r</strong> hellsichtige Grün<strong><strong>de</strong>r</strong> und Chefredakteur <strong><strong>de</strong>r</strong> politisch unbeirrbarenKultura in Paris, Jerzy Giedroyc, ein Landsmann aus <strong>de</strong>m »kleinen Europa«(Europa minor) Be<strong>de</strong>utung für die Zukunft begriffen und ihm in <strong><strong>de</strong>r</strong> legendären Redaktionin Maisons-Lafitte bei Paris, <strong>de</strong>m politischen Brückenkopf <strong><strong>de</strong>r</strong> Emigranten,Was hatte mich zu diesem Autor hingezogen, was an ihm interessiert, wasSpuren hinterlassen? Vermutlich die von mir so empfun<strong>de</strong>nen Parallelen unsererSchicksale: tiefe Verwurzelung in <strong><strong>de</strong>r</strong> verlorenen »Heimat«, durch diedort genossene Natur und Erziehung, Bildung, Reife. Die Herkunft aus mehrerenVater- o<strong><strong>de</strong>r</strong> Mutterlän<strong><strong>de</strong>r</strong>n zugleich. Das Gehör für Sprachen, Kulturen,Volkscharaktere. Für die Probleme <strong><strong>de</strong>r</strong> I<strong>de</strong>ntität.In seiner Dankesre<strong>de</strong> für die Auszeichnung mit <strong>de</strong>m Nobelpreis in Stock-geboren zu sein, wo die Natur menschlich ist, <strong>de</strong>m Menschen angemessen,wo verschie<strong>de</strong>ne Sprachen und Religionen seit Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ten miteinan<strong><strong>de</strong>r</strong>leben … Es ist gut, seit <strong>de</strong>m Kin<strong>de</strong>salter lateinische Liturgie zu hören, in <strong><strong>de</strong>r</strong>Schule Ovid zu übersetzen, katholische Dogmatik und Apologetik zu lernen…«Nicht unsere Wege glichen sich, aber unsere Erfahrungen mit einer Kindheit,die weniger Zivilisation, dafür mehr Natur und mehr Schicksal bot, mit <strong>de</strong>n6


heißen und kalten Kriegen, politischen Systemkatastrophen, mit Zwecklügen<strong><strong>de</strong>r</strong> streiten<strong>de</strong>n Parteien, mit Flucht, Vertreibung, Migration, innerer und äußererEmigration.Lamento pertutti, son<strong><strong>de</strong>r</strong>n Selbstbesinnung und Disziplin. »Durch die Konfrontation mit<strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanischen Denkweise ist mir meine Denkweise <strong>de</strong>utlicher bewusstgewor<strong>de</strong>n. Unter <strong>de</strong>m Druck all <strong>de</strong>ssen, was meine I<strong>de</strong>ntität zu zerstörentrachtet … leiste ich Wi<strong><strong>de</strong>r</strong>stand … Obwohl ich <strong>de</strong>n mir vom Schicksal bestimmtenPlatz akzeptiere, bin ich doch in allen meinen Reaktionen Europäer… ich schöpfe aus europäischen Quellen … Das Labyrinth <strong><strong>de</strong>r</strong> europäischen<strong>Geschichte</strong>, mag sie noch so grausam und enttäuschend sein, besitztfür mich die Wärme eines Schoßes.«Gleich 1945, mit <strong>de</strong>m ersten Gedichtband Ocalenie [Rettung], setzte sich Vorwortschrieb er: »Was ist eine Dichtung, die we<strong><strong>de</strong>r</strong> Völker/Noch Menschen rettet?Eine Komplizenschaft amtlicher Lügen,/Ein Singsang von Säufern, <strong>de</strong>nenbald jemand die Kehle aufschlitzt,/Ein Lesestückchen aus Gartenlauben …«»Vor 1939 war ich ein junger, ein wenig snobistischer Warschauer Dichter.Meine Gedichte fan<strong>de</strong>n Beifall in bestimmten Literatencafés; sie waren wiedie französische Poesie, unter <strong><strong>de</strong>r</strong>en Einfluss ich stand, schwer verständlich,<strong>de</strong>m Surrealismus verwandt.« Während mein Interesse für soziale Dinge sich vor <strong>de</strong>m Krieg in gelegentlichenAttacken gegen die rechtsradikalen und antisemitischen Gruppen äußerte«,wur<strong>de</strong> sein Gedicht nun »verständlicher, wie immer dann, wenn einDichter seinen Lesern etwas Wichtiges zu sagen hat«. 1958 her, <strong>de</strong>n ich vor seiner Reise in die USA darum gebeten hatte. Er er-prompt und half mir schriftlich und telefonisch, sich in <strong>de</strong>n Texten, die vielfältig,zerstreut und schwer zugänglich waren, zurechtzufin<strong>de</strong>n.Den ersten Band Lied vom Welten<strong>de</strong> konnte ich erst spät, 1966 in Köln, veröffentlichen.Dem Verlag Kiepenheuer & Witsch gelang es nur mit Mühe, dieAuflage von fünfhun<strong><strong>de</strong>r</strong>t Exemplaren in mehreren Jahren zu verkaufen. Dass<strong><strong>de</strong>r</strong> Autor einmal <strong>de</strong>n <strong>Literatur</strong>nobelpreis bekommen wür<strong>de</strong>, ahnte niemand.Im Zusammenhang mit diesem ersten Lyrikband ist mir ein Ereignis aus <strong>de</strong>mJahr 1966 beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s in Erinnerung geblieben. Damals stellte <strong><strong>de</strong>r</strong> Börsenverein<strong>de</strong>s Deutschen Buchhan<strong>de</strong>ls auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Warschauer Buchmesse die Polonicaaus, die zwischen 1956 und 1966 in <strong>de</strong>n Verlagen <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublik er-Lied vom Welten<strong>de</strong> und die bereits En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong>50er, Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> 60er Jahre auf Deutsch erschienenen Prosawerke wur<strong>de</strong>n inWarschau gezeigt: Das Tal <strong><strong>de</strong>r</strong> Issa und West und östliches Gelän<strong>de</strong>.Die Ausstellung fand großes Interesse; wur<strong>de</strong> als überraschen<strong>de</strong> Ent<strong>de</strong>ckung<strong>de</strong>utscher Anteilnahme an Polen gewürdigt, löste aber gleich zu Beginn einenSkandal aus. Ein Funktionär, bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Eröffnung durch polnische Honoratiorenanwesend, empörte sich (künstlich) und laut (um vor seinem Minister zukatzbuckeln) über <strong>de</strong>n Inhalt <strong>de</strong>s Katalogs, <strong><strong>de</strong>r</strong> auch Bücher <strong><strong>de</strong>r</strong> Emigranten,nete.Die Entscheidung fiel sofort. Die zehntausend Exemplare <strong>de</strong>s bibliophilgestalteten Katalogs sollten beschlagnahmt und die beanstan<strong>de</strong>ten Bücher,7


en<strong><strong>de</strong>r</strong> Botschafter, <strong><strong>de</strong>r</strong> Vorsteher <strong>de</strong>s Börsenvereins, sein Auslandsdirektor– und ich. Aber die Ausstellung blieb unangetastet, bis zum fünften Tag,weil niemand die Kataloge und Bücher abholte – gesegnete polnische Lässigkeit.Inzwischen hatten die Besucher bereits fünftausend Kataloge bekommen.Der Rest wur<strong>de</strong> abgeholt. Er soll, erzählten mir Freun<strong>de</strong>, später auf <strong>de</strong>mSchwarzmarkt zu hohen Preisen verkauft wor<strong>de</strong>n sein.»Die <strong>Literatur</strong> ist ein Fenster, durch das ein Volk <strong>de</strong>m an<strong><strong>de</strong>r</strong>en in die Augenschauen kann.« Mit diesem Satz begann mein Vorwort im Katalog zu dieserAusstellung.Briefwechsellaubnis,für die zweite, größere Anthologie (nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Lektion <strong><strong>de</strong>r</strong> Stille 1958)einige seiner Gedichte zu übersetzen, wenn ja, auch eventuelle Wünsche mitzuteilen.10, avenue <strong>de</strong> la GrangeMONTGERON (SEINE-ET-OISE)FranceLieber De<strong>de</strong>cius,Zbigniew Herbert übermittelte mir Ihre Bitte um Gedichte für die Anthologie.Ich sen<strong>de</strong> Ihnen die Gedichte, die Sie wollten, mit Ausnahme <strong><strong>de</strong>r</strong> Ausschnitte<strong>de</strong>s »Traktat poetycki«. Dieser Text erschien lei<strong><strong>de</strong>r</strong> in kleiner Auflage, dieheute vollständig vergriffen ist, so dass ich Ihnen kein Exemplar zukommenlassen kann. Wenn Sie mir Ausschnitte nennen könnten, an die Sie gedachthaben, wer<strong>de</strong> ich diese abschreiben und Ihnen schicken. An<strong><strong>de</strong>r</strong>nfalls wer<strong>de</strong>ich mich bemühen, in meinen Papieren das Typoskript zu fin<strong>de</strong>n.Der Autor sollte kein Urteil fällen über die Auswahl, die <strong><strong>de</strong>r</strong> Übersetzertrifft, da diese Auswahl vom Gesamtkonzept <strong><strong>de</strong>r</strong> Anthologie abhängt sowievon <strong><strong>de</strong>r</strong> Be<strong>de</strong>utung, die ein Gedicht auf <strong>de</strong>m Hintergrund <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Poesie,<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>utschen Sprache besitzt (und das Deutsche ist mir überhaupt nichtgeläufig). Wenn ich also hier ein Urteil äußere, so betrachte ich es keinesfallsals verbindlich. »« [Lied vom Welten<strong>de</strong>] und»« [Vorstadt] sind meines Erachtens gute Gedichte, »Miasto«[Die Stadt] hingegen mag ich nicht beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s, aber das ist ein subjektives Gefühl:eine Abneigung gegen <strong>de</strong>n Lyrismus, <strong>de</strong>n herzzerreißen<strong>de</strong>n Lyrismusdieses Gedichts. Allerdings wäre es durchaus möglich, dass dieses Gedichtgera<strong>de</strong> auf Deutsch »funktioniert«, als ursprünglich polnisch in seinem patriotischenAusdruck. Auch wenn das nicht eben meine Spezialität ist.Sollten Sie Schwierigkeiten haben, z.B. sprachlicher Art (etwa mit <strong>de</strong>n WarschauerIdiomen in »«), stehe ich gerne zu Ihrer Verfügung.Mit einem Hän<strong>de</strong>druck,8


Die Antwort enthielt zwar <strong>de</strong>n Rat, nach eigener Wahl zu übersetzen, späterGedichte ihm beson<strong><strong>de</strong>r</strong>s wichtig wären. In <strong><strong>de</strong>r</strong> nächsten Anthologie PolnischePoesie <strong>de</strong>s 20. Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>ts (München 1964) habe ich diese Wünscheberücksichtigt.Begegnungen Mal. In Europa, anlässlich von Veranstaltungen, auf <strong>de</strong>nen wir zusammen zutun hatten. In Paris vom 1. bis zum 7. März 1967 bei einem Symposium polnischerDichter aus Volkspolen mit ihren Kollegen und Landsleuten im Exil(aus Westeuropa und <strong>de</strong>n Überseelän<strong><strong>de</strong>r</strong>n), an <strong>de</strong>m auch mehrere Verlegerteilnahmen.Vom Carl Hanser Verlag war <strong><strong>de</strong>r</strong> Cheflektor Fritz Arnold anwesend und ichals Referent und Diskutant zum Thema »Polnische <strong>Literatur</strong> in <strong><strong>de</strong>r</strong> Bun<strong>de</strong>srepublikDeutschland«.Dann trafen wir uns, zum zweiten Mal, 1993 in Krakau bei einem Symposium<strong><strong>de</strong>r</strong> Jagiellonen Universität zum Thema »Was heißt I<strong>de</strong>ntität«. Diesmaldiskutierten öffentlich am Podium vor einem vollbesetzten Hörsaal drei Zeit-Tomas Venclova aus <strong>de</strong>m <strong>polnischen</strong> Wilno und ich, ein Deutscher aus <strong>de</strong>mschie<strong>de</strong>n,doch auf Grund ihrer fremdgesteuerten Migration, Emigration undLebenserfahrung einan<strong><strong>de</strong>r</strong> vertraut.Das dritte Mal hatten wir einen gemeinsamen »Auftritt« 1999, anlässlich <strong>de</strong>sGipfeltreffens <strong>de</strong>s <strong>polnischen</strong> mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>utschen Staatspräsi<strong>de</strong>nten in Köln.dichtevor einem vollbesetzten Saal, ich parallel die Übersetzungen <strong><strong>de</strong>r</strong>selben.Zwischendurch plau<strong><strong>de</strong>r</strong>ten wir auf <strong>de</strong>m Podium darüber. Der Beifall wargrammgehörte ein Vormittag in einer Oberschule, Interviews, Presse- undFunktermine, Gespräche mit seinem Kölner und mit <strong>de</strong>m Krakauer Verleger.Unser vierter, <strong><strong>de</strong>r</strong> letzte gemeinsame Auftritt, er dauerte auch nicht längerals einen halben Tag, fand in Frankfurt am Main im Oktober <strong>de</strong>s Jahres 2000statt: zur Eröffnung <strong><strong>de</strong>r</strong> Internationalen Buchmesse mit »Schwerpunkt Polen«.Wir eröffneten diese festliche und <strong>de</strong>nkwürdige Veranstaltung mit ei-Aber die BücherAber die Bücher wird es in <strong>de</strong>n Regalen geben, […]Trotz <strong><strong>de</strong>r</strong> Feuerscheine am Horizont,Der in die Luft gesprengten Schlösser,Der wan<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong>n Stämme, beweglichen Planeten.Wir sind da – sagten sie, selbst als man ihnen die Seiten herausriss,O<strong><strong>de</strong>r</strong> wenn lo<strong><strong>de</strong>r</strong>n<strong>de</strong> Flammen ihre Buchstaben tilgten,Um wie viel dauerhafter als wir, <strong><strong>de</strong>r</strong>en anfällige WärmeZusammen mit <strong>de</strong>m Gedächtnis erkaltet, sich verflüchtigt, vergeht.Ich stelle mir die Er<strong>de</strong> vor, wenn es mich nicht mehr geben wird –9


Na und? Überhaupt kein Verlust, die Wun<strong><strong>de</strong>r</strong>dinge bleiben;Die Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Frauen, <strong><strong>de</strong>r</strong> feuchte Jasmin, das Lied im Tal. […]Und die Gedichte. Sie bleiben.TestamentNach <strong>de</strong>m Jahr 2000 sprachen wir uns nur zwei Mal fernmündlich. An privateReisen nach Amerika konnte ich kaum <strong>de</strong>nken. Berufliche und privatePflichten hielten mich zu Hause fest. Als ich im Auftrag <strong>de</strong>s Goethe-Institutsmit Vorträgen in New York, Chicago und Milwaukee war, war meine Zeit soknapp bemessen, dass ein Besuch in Berkeley, wozu Einladungen <strong>de</strong>s Ehe-tertheologische Fragen. Er vertiefte sich in die Lektüre <strong><strong>de</strong>r</strong> Bibel, übersetztedie Psalmen, studierte die Schriften <strong><strong>de</strong>r</strong> Mystiker. Themen <strong><strong>de</strong>r</strong> Weltreligionenwur<strong>de</strong>n ihm wichtig, wie schon 1969 in <strong>de</strong>m Gedicht Von Engeln:Man hat euch die weißen Klei<strong><strong>de</strong>r</strong> genommen,Die Flügel und selbst das Sein,Ich glaube euch <strong>de</strong>nnoch,Boten.[…]Man sagt, es hätte euch jemand erdacht,Doch mich überzeugt das nicht.Die Menschen haben sich selbst genauso erdacht.[…]Die Stimme ist wohl Beweis […]bald ist es Tag,noch einer,tu was du kannst.Poetiktraditionsbewusst und oft nur mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Kenntnis historischer und literarischerAnspielungen enträtselbar, wan<strong>de</strong>lte sich mit <strong>de</strong>n Perio<strong>de</strong>n seiner Bildung, Lebenserfahrungund Reife, aber <strong>de</strong>n Grundsätzen <strong>de</strong>s Charakters blieb sie treu.In <strong><strong>de</strong>r</strong> Gruppe junger Poeten an <strong><strong>de</strong>r</strong> Wilnaer Universität, geschart um ihrliterarisches Stu<strong>de</strong>ntenblatt (»Späne, Kienspan, Fackel«), die sichpessimistisch auf die zu neuen kriegerischen Auseinan<strong><strong>de</strong>r</strong>setzungen antreiben<strong>de</strong>Hysterie in Europa. Deshalb ging die Gruppe in die polnische <strong>Literatur</strong>geschichteals die »Katastrophisten« ein. Sie sahen <strong>de</strong>n Weltzerfall inbiblischen Bil<strong><strong>de</strong>r</strong>n.Ein Rauschen bricht an, die Flut eines frem<strong>de</strong>n Ozeans,<strong>de</strong>s Ozeans <strong>de</strong>s Nichts. Unter seiner weißen Gischtwer<strong>de</strong>n Tier und Land versinken …10


Alles vergangen, alles vergessen,es ist Zeit, sich zu erheben und aufzubrechen,obwohl du nicht weißt, wo das Ufer, das Ziel ist,du siehst nur das Feuer die Welt verbrennen …einem Gedicht noch <strong>de</strong>utlicher:Oh, finstrer Mob auf grünen<strong>de</strong>m Getrei<strong>de</strong>,die Krematorien sind wie weiße Felsenund Rauch quillt aus <strong>de</strong>n Nestern toter Wespen.Die Züge <strong><strong>de</strong>r</strong> katastrophischen Dichtung waren fatalistisch, doch frei vonFana tismus. Von Platos progressiver und regressiver Phase <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitabläufe<strong>de</strong>uteten die Fackelträger nachdrücklich die zweite.In <strong><strong>de</strong>r</strong> Nr. 17 <strong><strong>de</strong>r</strong> Zeitschrift Pion (»Das Lot«) aus <strong>de</strong>m Jahre 1939 bekannteFreu<strong>de</strong> und Poesie, dass sein Verhältnis zum Handwerk<strong>de</strong>s Poeten auf <strong>de</strong>m »Glauben an die Möglichkeiten, sich zu vervollkommnenund <strong>de</strong>n Habitus <strong><strong>de</strong>r</strong> Tugend zu erreichen« basiere. In diesem Beitrag sprichtfenkünstlerischer Weihe«, auch von »mystischen Erfahrungen«. Alle dieseseelsorgerischen Begriffe führen ihn zum einzigen »Ziel <strong><strong>de</strong>r</strong> Poesie, dasFreu<strong>de</strong> ist«. tungund Pflicht auferlegt. Das zeigte <strong><strong>de</strong>r</strong> Dichter in <strong><strong>de</strong>r</strong> im Westen berühmtgewor<strong>de</strong>nen Abrechnung mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Vergangenheit: Verführtes Denken (Paris1953). Sein Duktus wur<strong>de</strong> direkter:Einfach sei <strong>de</strong>ine Muttersprache,Damit je<strong><strong>de</strong>r</strong>, <strong><strong>de</strong>r</strong> dieses Wort hört,Den Apfelbaum sieht, <strong>de</strong>n Fluss, die Biegung <strong>de</strong>s Weges;So wie man sie sieht im Blitzschlag <strong>de</strong>s Sommers.Aber die Sprache sei nicht nur BildUnd sonst nichts …Für die Gegenwart sei das Schicksal <strong><strong>de</strong>r</strong> Völker erstrangig, alles an<strong><strong>de</strong>r</strong>e, auchdie Fragen <strong><strong>de</strong>r</strong> Form, zweitrangig.Die Sätze wur<strong>de</strong>n klarer und strenger. Die frühere Stilisierung wur<strong>de</strong> seltener.Das Gedicht gewann unter <strong>de</strong>m Einfluss <strong><strong>de</strong>r</strong> englischen und <strong><strong>de</strong>r</strong> amerikanischenLyrik an Offenheit. Sein Gegenstand war das gesamte Material <strong><strong>de</strong>r</strong>Umwelt und <strong><strong>de</strong>r</strong> Erinnerung, Realien und Mythen Litauens wie Kaliforniens.turpersönlich schätzte und insgesamt für signifikant hielt: »Selbstbeschränkung,Ironie, Einfachheit.«Das ehe<strong>de</strong>m dunkle Gedicht wird heller, öffentlicher und selbstkritischer,aber auch zuversichtlicher. »Die öffentlich nicht eingestan<strong>de</strong>nen und nichtverurteilten Übeltaten sind Gift, das langsam wirkt und zwischen <strong>de</strong>n Völkernstatt Freundschaft Hass erzeugt.« Deshalb beginnt <strong><strong>de</strong>r</strong> Gedichtband Wodie Sonne aufgeht und wohin sie untergeht (1974) mit <strong><strong>de</strong>r</strong> Einsicht in dieAufgabe.11


Mit Zittern und Bangen <strong>de</strong>nk ich, dass ich mein Leben erfüllte,Hätte ich nur gewagt, öffentlich zu bekennen,Betrug zu enthüllen, <strong>de</strong>n meinen und <strong>de</strong>n <strong><strong>de</strong>r</strong> Epoche:Uns war das Gekreisch von Zwergen und von Dämonen erlaubt,Doch reine und würdige Worte waren verbotenBei so hoher Strafe, dass wenn jemand eins davon sagte,Er selbst sich bereits für verloren halten konnte.Europa<strong>de</strong>m Krieg <strong>de</strong>n großen Kataklysmus vorausgesagt, seismographisch EuropasAbwärtsentwicklung in die Katastrophe aufgezeichnet. Sie sind durchdrungenvon <strong>de</strong>n Moralproblemen, die die Katastrophe <strong>de</strong>n Geschlechtern, auch <strong>de</strong>nschuldlosen, aufgebür<strong>de</strong>t, hinterlassen hat. Sie beobachten weit – und scharfsichtig– in <strong><strong>de</strong>r</strong> Selbstanalyse gar nicht zimperlich – die Verän<strong><strong>de</strong>r</strong>ungen, dieim Verhalten <strong>de</strong>s Europäers heute stattfin<strong>de</strong>n. Sie sagen uns vom Bürger vonund die Rettung. Rettung ist das Schlüsselwort seiner Dichtung.maßer »<strong>de</strong>n Reichtum ihrer Beson<strong><strong>de</strong>r</strong>heit. Sie ist eine Art geheimer Bru<strong><strong>de</strong>r</strong>schaftmit eigenem Ritual <strong>de</strong>s Bun<strong>de</strong>s mit <strong>de</strong>n Verstorbenen, in <strong>de</strong>m Weinenund Lachen, Pathos und Ironie gleichberechtigt koexistieren. Sie ist eine von<strong>Geschichte</strong> durchtränkte <strong>Literatur</strong>, immer anspielungsreich, in diesem Jahrhun<strong><strong>de</strong>r</strong>twie in <strong>de</strong>n vergangenen, die <strong>de</strong>n Menschen treu in ihren Prüfungenbeisteht. Die Strophen polnischer Gedichte zirkulierten im Untergrund, kamenzustan<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Baracken <strong><strong>de</strong>r</strong> Konzentrationslager und in Soldatenzeltenin Asien, Afrika und in Europa. Eine solche <strong>Literatur</strong> zu repräsentierenbe<strong>de</strong>utet Demut empfin<strong>de</strong>n vor <strong>de</strong>m Testament <strong><strong>de</strong>r</strong> Liebe und <strong><strong>de</strong>r</strong> heroischenOpferbereitschaft, die uns zurückgeblieben ist von jenen, die es nicht mehrgibt. Ich vertraue, dass die mir von <strong><strong>de</strong>r</strong> Schwedischen Aka<strong>de</strong>mie zuerkannteAuszeichnung allen gilt, die meine Hand führen und <strong><strong>de</strong>r</strong>en unsichtbare Gegenwartmich in schwierigen Augenblicken aufrichtet.«12

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