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Band 2 - Reimar Oltmanns

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Renate Schmidt traf ich zum erstenmal auf einer SPD-Veranstaltung in Nürnberg. Es war<br />

Wahlkampfzeit. Ich kam von dort angereist, wohin Renate Schmidt, damals 36 Jahre alt, als Bundestagsabgeordnete<br />

wollte. Natürlich hatte mich die Bonner Männerwelt in den Jahren meines<br />

Korrespondenten-Daseins geprägt -- in meinen Wahrnehmungen, in meinem Unterscheidungsvermögen<br />

zwischen wichtigen Leuten und aufgeblähten Randexistenzen - und mir die Selektionsmaßstäbe<br />

in den Kopf gesetzt, ob jemand für die Politik tauglich ist oder nicht.<br />

Beharrlich klopfte ich Kandidaten nach dem vorherrschenden Männer-Suchbild ab: Politik<br />

als Lebensinhalt, das Beherrschen von Taktik und Strategie im Dienst der Karriere und ein ausgeprägter<br />

Machtinstinkt. Konsequenterweise hatte ich das allseits verbindliche Verhaltenmuster<br />

übernommen, das Überlebensprinzip: "Immer frisch und fröhlich über deine Kaputtheit hinwegjonglieren,<br />

sonst nimmt dir niemand mehr etwas ab und du stehst bald allein im Wald. Sei im persönlichen<br />

Umgang nicht laut, sondern nett leise. Freue dich nach Maßen, denn Gefühle sind verräterisch.<br />

Beiss dir auf die Zähne, wenn dir zum Lachen ist. Reiss dich zusammen und lass dich nicht<br />

hängen. Kopf hoch und nach vorn geblickt, wenn du down bist. Das Leben ist hart und will so<br />

genommen werden. Punkt!"<br />

Zugegeben: Als Renate Schmidt mir im Nürnberger KOMM - jugendliches Kommunikationszentrum<br />

- gegenübersaß, war ich gleich damit beschäftigt, meine Schubladen aufzuziehen, die<br />

ich für Argwohn, Vorbehalte und unbedarfte Nettigkeiten reserviert hatte. Und ich dachte so vor<br />

mich hin: Was will diese nette Renate Schmidt ausgerechnet an den Schalthebeln der Macht in Bonn<br />

bewirken ? Sie wird wohl wieder einmal einen klassischen Fall der Frauen abgeben, die mit ihren<br />

Anspruch der Wirklichkeit den Krieg erklären. Und wahrscheinlich dort landen, wo viele ihrer<br />

Leidensgenossinnen gelandet sind - im Abseits, zur Freude und Befriedigung der Männerriege.<br />

Da saß ich nun ihr gegenüber und hegte Misstrauen: Entweder ist sie total naiv und wird<br />

gerade deshalb von den SPD-Männern als weibliches Aushängeschild aufs Podest gehoben. Oder sie<br />

wird in Bonn bald nicht mehr die sein, die sie war, werden Ranküne und Intrigen sie allmählich<br />

zerfressen.<br />

Ich hatte mir schon lange vorgenommen, minutiös den Zusammenhang von politischem Werdegang<br />

und seelischer Deformation nachzuzeichnen - von der Kandidatenkür unter rauhbeinigen Genossen<br />

bis hin zum Fraktionszwang in Bonn. Ich wollte dem chronischen Verstellungstreiben unserer<br />

Politiker-Klasse, genährt aus einem verzerrten Wirklichkeitsbewusstsein aufgrund ihres Doppellebens.<br />

-denkens und Doppelrollenspiels, nachgehen. Mich interessierte deshalb die Tatsache, wie eine<br />

um Anerkennung kämpfende Frau, im öffentlichen Auftritt gehemmt und unsicher zudem, es<br />

schaffte, den SPD-Männern ihren "Erbhof", genannt Bundestagsmandat, abzutrotzen. Und Renate<br />

Schmidts Ausgangsposition war zudem alles anders als glücklich: Ohne Abitur ging sie vom Gymnasium<br />

ab und verdiente sich ihr erstes Geld als Schichtarbeiterin in der Fabrik.<br />

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