Gesamtausgabe 2011-2 - Pastoraltheologische Informationen
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84 Rainer Bucher<br />
diese in eine verbindliche, etwa eheliche rechtliche Form zu bringen, was<br />
nicht zuletzt die in fast allen entwickelten Ländern zu beobachtende Institutionalisierung<br />
homosexueller Beziehungen in eheähnlichen Formen belegt.<br />
Wenn freilich die Partnerschaft die erhoffte Dichte der Erfahrungen und Gefühle<br />
nicht erreicht, dann wird die „Ehescheidung […] immer öfter als legitime<br />
Form ehelicher Konfliktlösung und immer seltener als moralisches Versagen<br />
der Ehepartner interpretiert“ 23 .<br />
Dieser Befund markiert eine merkwürdige Umkehrung der Struktur von Intimität<br />
und Ökonomie. In vormodernen, agrarischen Gesellschaften war die<br />
Ehe ein (trieb-)ökonomisches Projekt, das zwar sexuelle, aber keineswegs<br />
personale Intimität voraussetzte. Nähe fand man in dem, was heute eher<br />
Öffentlichkeit heißt: bei Freunden, den eigenen Verwandten, im Wirtshaus,<br />
auch in der Geborgenheit einer stabilen religiösen Verortung. Die Ehe war<br />
ökonomisch, aber nicht notwendig personal intim. Heute soll sie nicht nur sexuell,<br />
sondern auch personal intim sein, aber gerade nicht mehr ökonomisch<br />
motiviert. Sie ist es auch tatsächlich immer weniger. Ökonomisch grundiert ist<br />
heute vor allem die Entscheidung für oder gegen Kinder. Das ist im Übrigen<br />
überaus rational, setzt die Entscheidung für Kinder wegen der „strukturellen<br />
Rücksichtslosigkeit“ 24 der Gesellschaft gegenüber Familien doch die Lösung<br />
von ausgesprochen schwierigen mittel- und langfristigen Ressourcen- und<br />
Vereinbarkeitsproblemen voraus. Kinder sind neben der Arbeitslosigkeit hierzulande<br />
schließlich das größte Armutsrisiko.<br />
2.3 Die relative Positionierung des Synodenbeschlusses<br />
Dem pastoraltheologischen Kommentator des Synodenbeschlusses bleibt<br />
nun aber trotz der pastoralen Irrelevanz des Textes noch ein Drittes: die Rekonstruktion<br />
der relativen Lage des Synodenbeschlusses innerhalb der innerkatholischen<br />
Diskursgeschichte zu „Ehe und Familie“. Anders gesagt: Wo<br />
stand man damals 1975, was wagte man, was nicht auf der Synode?<br />
23 Peuckert, Familienformen im sozialen Wandel (s. Anm. 14) 345.<br />
24 Diesen Begriff prägte der im Jahre 1994 erschienene „Fünfte Familienbericht der Bundesregierung“.<br />
Er bescheinigte der bundesdeutschen Gesellschaft eine allgegenwärtige<br />
strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben mit Kindern. Damit ist gemeint,<br />
dass sich die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen gegenüber dem Umstand,<br />
ob sich jemand für Kind(er) entscheidet oder nicht, völlig gleichgültig verhalten. „Elternschaft<br />
gilt als Privatsache, wobei die Privatisierung der Elternverantwortung den Kinderlosen<br />
beträchtliche Konkurrenzvorteile bringt“ (Peuckert, Familienformen im sozialen<br />
Wandel [s. Anm. 14] 353; generell: 353–367). Vgl. dazu auch: Elisabeth Beck-Gernsheim,<br />
Die Kinderfrage heute. Über Frauenleben, Kinderwunsch und Geburtenrückgang,<br />
München 2006.<br />
urn:nbn:de:hbz:6-11479456363 PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-2, S. 77–101<br />
Eine pastoraltheologische Lektüre des Synodenbeschlusses „Ehe und Familie“ 85<br />
Schon der erste Satz des Synodenbeschlusses markiert ein unübersehbares<br />
Modernitäts- und Reformbewusstsein:<br />
„Das Zweite Vatikanische Konzil hat in der Pastoralkonstitution ‚Die Kirche in der Welt<br />
von heute‘ die lange Zeit in Gesellschaft und Kirche vorherrschende Betonung der<br />
Ehe als Institution zur Erzeugung und Erziehung der Nachkommenschaft durch eine<br />
Orientierung am Leitbild der partnerschaftlichen Ehe ergänzt (GS 47ff.)“ (0.1).<br />
Die Synode spielt damit auf die berühmte konziliare Umorientierung, besser:<br />
Überschreitung der klassischen katholischen „Ehezwecklehre“ an, auf jenen<br />
„neue[n] Standpunkt“, der sich in Gaudium et spes bereits, so Hans-Joachim<br />
Sander „im Begriff ‚Gemeinschaft der Liebe‘ für die Ehe (GS 48,1)“ 25 zeige:<br />
„Eheleute dienen keinem übergeordneten Zweck, sondern sind ein Ort der<br />
Liebe.“ 26<br />
Die Ehe werde – so Sander im Kontext seiner Interpretation von Gaudium<br />
et spes als Zeugnis eines fundamentalen „Ortswechsels“ katholischer Selbstreflexion<br />
der Kirche von identitätsorientierter Selbstbezüglichkeit zu ortsorientierter<br />
Aufgabenbezogenheit – „zu einem exemplarischen Fall für die pastorale<br />
Ortsbestimmung von GS“. Sander räumt ein, dass die „konkrete[ ] Repräsentanz<br />
dieses Standpunkts durch Eingriffe relativiert“ 27 werde, ein Muster, das<br />
bekanntlich gerade in der nach-vatikanischen Lehrentwicklung nicht nur hier<br />
gegriffen hat. 28<br />
Im Synodentext sind deutliche Spuren dieses konziliaren Ortswechsels zu<br />
finden, so etwa in der selbstverständlichen konzeptionellen Verwendung der<br />
Kategorie „Partnerschaftlichkeit“ als Leitbild der Ehe. Damit wird die von<br />
Pius XII. (Casti connubii) und noch im LThK des Jahres 1959 vertretene Lehre,<br />
dass der Mann „als Haupt der Familie das Vorrecht der Leitung, die Frau als<br />
Herz der Familie den Vorrang der Liebe“ 29 habe, zu Gunsten eines nicht mehr<br />
25<br />
Hans-Joachim Sander, Theologischer Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche<br />
in der Welt von heute Gaudium et spes, in: Peter Hünermann – Bernd Jochen<br />
Hilberath (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil,<br />
Bd. IV, Freiburg/Br. u. a. 2005, 581–886, hier 770.<br />
26<br />
Sander, Theologischer Kommentar (s. Anm. 25) 770. Eine instruktive Relektüre aus heutiger<br />
Perspektive bietet Theresia Heimerl, GS 47–52 und heutige Kulturen der Sexualität,<br />
in: Franz Gmainer-Pranzl – Magdalena M. Holztrattner (Hg.), Partnerin der Menschen –<br />
Zeugin der Hoffnung. Die Kirche im Licht der Pastoralkonstitution Gaudium et spes,<br />
Innsbruck – Wien 2010, 283–299.<br />
27<br />
Sander, Theologischer Kommentar (s. Anm. 25) 770.<br />
28<br />
Vgl. etwa Bernd Jochen Hilberath, Communio-Ekklesiologie – die Herausforderung eines<br />
ambivalenten Konzepts, in: Lucia Scherzberg (Hg.), Gemeinschaftskonzepte im 20. Jahrhundert<br />
zwischen Wissenschaft und Ideologie, Münster 2010, 317–341.<br />
29 2<br />
Johannes P. Michael, Art. Ehe, IV. Im Kirchenrecht, in: LThK Bd. 3, 1959, 690–699, hier<br />
696.<br />
PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-2, S. 77–101 urn:nbn:de:hbz:6-11479456363