Das Hundedilemma –
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Das Hundedilemma –
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KONFLIKT<br />
32<br />
Schweizer Hunde Magazin 1/06<br />
Hundehaltung gewisser Rassen<br />
B R I S<br />
<strong>Das</strong> <strong>Hundedilemma</strong> <strong>–</strong><br />
von Dina Berlowitz und Heinz Weidt<br />
Am 1. Dezember 2005 wurde in Oberglatt, ZH, ein 6-jähriger Knabe<br />
auf dem Weg in den Kindergarten von 3 Pit Bull Terriern getötet.<br />
Aufgrund eines ähnlich verlaufenen Vorfalls in Hamburg im Jahr<br />
2000 (bei dem ebenfalls ein Kind umkam) fanden damals auch in<br />
der Schweiz Diskussionen und ein Hearing des BVETs zur Kampfhundeproblematik<br />
statt. Gesetzliche Grundlagen wurden geschaffen,<br />
aber <strong>–</strong> mit Ausnahme einzelner Kantone <strong>–</strong> noch nicht umgesetzt. Auf<br />
Bundesebene wurde es verpasst, griffige Massnahmen zu treffen.<br />
Dieser Artikel erschien im Jahr 2001 in der Zeitschrift „Kindergarten“.<br />
Hier wurden lediglich die Literaturverweise aktualisiert. Der<br />
Artikel hat nichts an Aktualität eingebüsst und jetzt, 5 Jahre später,<br />
eine höchst tragische Bestätigung gefunden.<br />
Jolanda Giger, Chefredaktion SHM.<br />
<strong>Das</strong> häusliche Zusammenleben von Mensch<br />
und Tier, insbesondere mit dem Hund, hat eine<br />
lange Geschichte. Über den Weg der<br />
Haustierwerdung ist der Wolf durch den<br />
Menschen in ganz verschiedenen Formen<br />
„auf den Hund gekommen“. Durch Zuchtwahl<br />
mehr und mehr ihrer ehemaligen Selbstständigkeit<br />
als Wildtiere beraubt, sind Hunde<br />
in die Abhängigkeit des Menschen geraten.<br />
So sind sie einerseits zum Helfer des<br />
Menschen geworden, andererseits aber<br />
auch nicht selten in ihren Fähigkeiten und in<br />
ihrer Würde als Tier missbraucht. Diese Gegensätzlichkeit<br />
kommt in unserer heutigen<br />
Gesellschaft besonders deutlich zum Ausdruck.<br />
Ein sehr krasses Beispiel ist die oft unverstandene,<br />
weil verschleierte Problematik<br />
mit Kampfhunden und anderen gefährlichen<br />
Hunden.<br />
Für die unwissende Bevölkerung ist es in Anbetracht<br />
der vielen (Fehl-)Informationen<br />
schwer bis unmöglich dahinterzuschauen,<br />
was hier wirklich los ist und was man glau-<br />
ben kann und was nicht. Nun haben auch<br />
wir nicht etwa die umfassende Wahrheit gepachtet.<br />
Aber wir denken, hier einige wichtige<br />
Zusammenhänge erhellen zu können.<br />
Neben den vielen angenehmen Hunden, die<br />
uns und unsere Kinder auf so besondere Weise<br />
innerlich bereichern können, gibt es auch<br />
andere Kategorien von Hunden, die jeweils<br />
getrennt zu betrachten sind:<br />
So genannte Kampfhunde<br />
Es gibt so genannte Kampfhunde, die in<br />
ihrem äusseren Erscheinungsbild althistorischen<br />
Darstellungen von Kriegsgefährten<br />
durch Neuzucht mehr oder weniger nachgebildet<br />
sind. Es gibt auch solche so genannte<br />
Kampfhunde, die zwar furchterregend aussehen,<br />
ohne es aber in ihrem Wesen tatsächlich<br />
zu sein. In beiden Fällen ist das Gefährdungspotenzial<br />
nicht grösser als bei jedem<br />
anderen familiären Haushund mit gleichem<br />
körperlichen Leistungsvermögen.
A N T<br />
und was zu tun ist<br />
Gefährliche Kampfhunde<br />
Ohne Zweifel gibt es aber auch wirklich gefährliche<br />
Kampfhunde. Sie sind das Ergebnis<br />
zielgerichteter Aggressionszuchten, die in jüngerer<br />
Vergangenheit, aber z. T. auch heute<br />
noch betrieben werden. Ursprünglich waren sie<br />
vor allem in einschlägigen Kreisen zu finden.<br />
Die heutige Kampfhundeproblematik ist nicht<br />
unwesentlich darauf zurückzuführen, dass<br />
solche abartigen Hunde von ganz bestimmten<br />
Leuten mehr und mehr für die Allgemeinheit<br />
populär gemacht wurden. Zucht- und<br />
Dachorganisationen haben diese Entwicklung<br />
zumindest billigend in Kauf genommen,<br />
nicht selten aber auch durch Fehlinformationen<br />
direkt und indirekt gefördert. So ist manchem<br />
Käufer nicht ausreichend bewusst geworden,<br />
welches Risiko und Gefährdungspotenzial<br />
er sich hiermit „eingekauft“ hat.<br />
Die Abartigkeit solcher Hunde besteht in einem<br />
übersteigerte Angriffs- und Kampfverhalten,<br />
das leicht auslösbar und biologischen<br />
weder bezüglich Zweck noch Ziel sinnvoll ist.<br />
Im Gegensatz zu normalem, kontrolliertem<br />
Aggressionsverhalten, das schnell durch geeignete<br />
Signale beendet werden kann, zeigt<br />
sich übersteigertes Aggressionsverhalten augenfällig<br />
darin, dass jeder Sozialkontakt mit<br />
Aggression und Beschädigungsbeissen beantwortet<br />
wird. Die Beisshemmung gegenüber<br />
Sozialpartnern (insbesondere gegen<br />
Artgenossen) kann sich nicht entwickeln. Biologisch<br />
notwendige Verhaltensweisen wie<br />
Welpenpflege oder Sexualverhalten werden<br />
durch die Aggression überdeckt und ausgeschaltet.<br />
Welpen zeigen bereits im Alter von<br />
vier Wochen Kampf- und Beissspiele mit Beschädigungsbeissen.<br />
Dieses Verhalten kann grundsätzlich in vielen<br />
Rassen oder Zuchtlinien auftreten, zeigt sich<br />
jedoch besonders ausgeprägt in bestimmten<br />
Zuchtlinien der Bullterrier, American Staffordshire<br />
Terrier und Pit Bull Terrier.<br />
Der kursiv geschriebene Text ist nahezu wortgetreu<br />
einem Gutachten zum Thema Qualzuchten<br />
entnommen und wurde im Januar<br />
2000 vom Bundesministerium für Ernährung,<br />
Landwirtschaft und Forsten, Bonn (D) herausgegeben.<br />
Bei solchen abartigen Hunden haben wir es<br />
mit Veränderungen zu tun, die zu einem erheblichen<br />
Teil genetisch bestimmt sind. Nach<br />
unserer Auffassung geht es hier um deutliche<br />
Ausfälle im Sozialverhalten, die temporär<br />
oder auf Dauer in Erscheinung treten. Wie<br />
eingangs gesagt, handelt es sich hier um eine<br />
besondere Form von Missbrauch des Tieres.<br />
Und selbstverständlich wissen wir, dass<br />
die zur Abartigkeit verzüchteten Hunde dafür<br />
eigentlich nichts können. Aber dennoch geht<br />
die weitere Gefahr von ihnen aus. Für uns ist<br />
es ohne jeden Zweifel, dass es für solche tierund<br />
menschenunwürdige Züchtungen keine<br />
ethische Rechtfertigung gibt und gesetzgeberische<br />
Massnahmen dringend sind (z. B. Einfuhr-<br />
und Zuchtverbot sowie ein Heimtier-<br />
Zuchtgesetz, das auch andere Qualzuchten<br />
konkret verbietet).<br />
Andere Problemhunde<br />
Nun gibt es leider noch eine völlig andere Kategorie<br />
von Problemhunden. Häufig handelt<br />
es sich um Hunde(-Rassen), die unter den Bedingungen<br />
unserer ehemaligen Lebensweise<br />
als Helfer des Menschen herausgebildet wurden.<br />
Beispielsweise ist hier an die verschiedenen<br />
Jagd- und Hütehunde zu denken. Mit<br />
dem durchgreifenden Wandel unseres technisierten<br />
und zuweilen überzivilisierten Lebensstils<br />
sind diese Hunde bezüglich ihrer<br />
ehemaligen Aufgabe, für die sie ja gezüchtet<br />
wurden, mehr oder weniger arbeitslos geworden.<br />
Gleichzeitig hat sich aber auch eine<br />
Freizeit-Gesellschaft entwickelt. Und so haben<br />
sich für Mensch und Hund gemeinsame<br />
Formen selbstverordneter „Beschäftigungstherapien“<br />
etabliert. Darin ist prinzipiell nichts<br />
Schlechtes zu sehen. Allerdings sind auch<br />
hier schleichend Auswüchse entstanden. Sie<br />
bestehen häufig darin, dass nunmehr diese<br />
Hunde zu Sporthunden, oft auch zu reinen<br />
Sportgeräten „umfunktioniert“ werden. Dabei<br />
hat man nicht nur ihr körperliches Leistungsvermögen<br />
benutzt, sondern dieses <strong>–</strong> oft<br />
völlig widersinnig <strong>–</strong> durch Zucht noch weiter<br />
gesteigert, ohne Grenzen zu kennen und die<br />
Folgen abzuschätzen. Werden solche Hunde<br />
nicht dauernd entsprechend ihrem Leistungs-<br />
Hundehaltung gewisser Rassen<br />
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BRISANT<br />
<strong>Das</strong> <strong>Hundedilemma</strong> <strong>–</strong> und was zu tun ist<br />
vermögen beschäftigt, entsteht leicht jene Situation,<br />
bei der es <strong>–</strong> bildlich gesprochen <strong>–</strong> dem<br />
innerlich kochenden Dampfkochtopf den<br />
Deckel abhebt und dabei womöglich ein<br />
Unglück passiert. Selbstverständlich sind bei<br />
alledem immer auch noch andere Faktoren<br />
beteiligt. Sie reichen von der Qualität der<br />
Ausbildung des Hundes bis zu den Charaktereigenschaften<br />
seines Halters. Sicher ist jedenfalls,<br />
dass es für all diesen hochgradigen<br />
Widersinn weder rechtliche Grenzen noch<br />
dem Sinne nach eine „Produkthaftpflicht“<br />
gibt.<br />
Was ist zu tun?<br />
Fragt man nun danach, was z. B. eine fürsorgliche<br />
Mutter oder eine Kindergärtnerin für<br />
ihre Schützlinge bei der Konfrontation mit gefährlichen<br />
Kampfhunden oder anderen Problemhunden<br />
tun kann, so gibt es kaum allgemein<br />
gültige Hilfen, die für die Lebenspraxis<br />
und die Umstände des Einzelfalls wirklich taugen.<br />
Auch dürfte es wenig hilfreich sein, zu<br />
wissen, ob die befürchtete Gefahr von genetisch<br />
degenerierten Kampfhunden oder von<br />
anderen Fehlentwicklungen im Umgang mit<br />
dem Hund ausgeht. Dieser Artikel soll vielmehr<br />
dazu beitragen, verständlich zu machen,<br />
dass es sehr verschiedene Ursachen<br />
gibt, die auch jeweils verschiedene Formen<br />
von Problemlösungen brauchen. Vor allem<br />
aber wollen wir darauf aufmerksam machen,<br />
dass es massive Fehlentwicklungen im organisierten<br />
Hundewesen gibt. So ist es z. B.<br />
schlichtweg verantwortungslos, wenn der<br />
Dachverband für die Interessen der Züchter<br />
und Hundehalter (Schweizerische Kynologische<br />
Gesellschaft SKG) der Öffentlichkeit die<br />
Gefahrlosigkeit der jeweiligen Hunde(-rassen)<br />
immer und immer wieder durch niedliche<br />
Bildchen in Verbindung mit (Klein-)Kindern<br />
einzusuggerieren versucht und nichts gegen<br />
den kollektiven Unfug in den eigenen Reihen<br />
unternimmt. Gleichzeitig wird damit aber<br />
auch ein seit längerer Zeit vorherrschendes<br />
Grundproblem deutlich. Es besteht darin,<br />
dass die grösstenteils selbst erzeugten Probleme<br />
verdrängt und verleugnet werden und<br />
dieses Tun keiner Kontrolle unterliegt. Derzeit<br />
gibt es auch kaum Anzeichen dafür, dass<br />
dort irgendwelche Mechanismen der Selbstreinigung<br />
und Selbstkontrolle funktionieren.<br />
Gerade aber darin liegt der Knackpunkt.<br />
Denn zur Lösung des Konfliktes zwischen<br />
Hundehalter und Nicht-Hundehalter braucht<br />
es kompetente und vertrauenswürdige Ansprechpartner<br />
und das Setzen ethischer Wertmassstäbe.<br />
Derzeit werden die Sorgen und<br />
Ängste in der Bevölkerung nicht wirklich ernst<br />
genommen und gleichzeitig das Ansehen der<br />
vielen vernünftigen Züchter und Hundehalter<br />
den fragwürdigen Zielen kurzsichtigen Lobbyismus<br />
und der Egomanie Einzelner geopfert.<br />
Hier braucht es Zivilcourage, aber auch<br />
konsequentes politisches Handeln. Die Zeit<br />
drängt!<br />
Dina Berlowitz ist als Hundeexpertin und Autorin<br />
bekannt sowie Teamleiterin der Modellund<br />
Musterprägungsspieltage („Welpenkindergarten“)<br />
und war aktive Katastrophenhunde-Führerin.<br />
Heinz Weidt ist Begründer der Prägungsspieltage<br />
und renommierter Verhaltensexperte<br />
für die Mensch-Hund-Beziehung sowie Autor<br />
richtungsweisender Bücher und Schriften<br />
im Hundewesen.<br />
Literatur:<br />
• „Der Hund, mit dem wir leben: Verhalten<br />
und Wesen“.<br />
Heinz Weidt. 3. Auflage Blackwell Wissenschaftsverlag<br />
1996.<br />
• „<strong>Das</strong> Wesen des Hundes <strong>–</strong> Verhaltenskunde<br />
für eine harmonische Beziehung<br />
zwischen Mensch und Hund“.<br />
Heinz Weidt und Dina Berlowitz. Naturbuchverlag,<br />
1998 / 2. Auflage 1999.<br />
• „Spielend vom Welpen zum Hund“<br />
Eine Starthilfe zur harmonischen Partnerschaft.<br />
Heinz Weidt und Dina Berlowitz.<br />
Roro-Press Verlag, 2002 / 2. Auflage<br />
2003.<br />
• „Lernen und Verhalten“.<br />
Heinz Weidt und Dina Berlowitz. Artikelserie<br />
erschienen im Schweizer Hunde<br />
Magazin, Roro-Press Verlag,<br />
2002<strong>–</strong>2006.<br />
• „Hundeverhalten <strong>–</strong> <strong>Das</strong> Lexikon“.<br />
Andrea Weidt. Roro-Press Verlag, 2005.<br />
• „Was bisher verschwiegen wurde“.<br />
Heinz Weidt. Artikel, erschienen im<br />
Schweizer Hunde Magazin, Roro-Press<br />
Verlag, 2000. Zur Zeit auch auf<br />
www.hundemagazin.ch veröffentlicht.