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Schule in ihrer Zeit – Stationen aus hundert Jahren Schulgeschichte

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Prof. Dr. Thomas Vogtherr, Universität Osnabrück<strong>Schule</strong> <strong>in</strong> <strong>ihrer</strong> <strong>Zeit</strong> – <strong>Stationen</strong> <strong>aus</strong> <strong>hundert</strong> <strong>Jahren</strong> <strong>Schulgeschichte</strong>Festvortrag <strong>aus</strong> Anlass von„100 <strong>Jahren</strong> Abitur am Herzog-Ernst-Gymnasium“ am 18. September 2004Wie soll man e<strong>in</strong>en Vortrag anfangen? 1904 begann der damalige Königlich-PreußischeProv<strong>in</strong>zial-Schulrat Prof. Dr. Lenssen se<strong>in</strong>en Festvortrag im soeben neu erbauten Schulgebäude<strong>in</strong> der Schillerstraße mit folgender Anrede: „Hochverehrte Festversammlung! LiebeSchüler!“ Die Lehrer, die vor ihm saßen, trugen e<strong>in</strong>en Gehrock und die steifen Kragen, dieman damals wie heute „Vatermörder“ nannte. Selbst die Abiturienten waren mit Anzug undWeste, mit Fliege und Schülermütze auf e<strong>in</strong>e Art und Weise gekleidet, die die damals üblicheAnrede „Liebe Schüler!“ geradezu als anbiedernd ersche<strong>in</strong>en lassen könnte. Bis 1885übrigens hatten die Schüler der Abgangsklasse zu den Prüfungen noch Frack, Zyl<strong>in</strong>der undweiße Handschuhe tragen müssen.Als vor 25 <strong>Jahren</strong> me<strong>in</strong> früherer Klassen- und Deutschlehrer Dr. Hans Kl<strong>in</strong>ge den Festvortragzur Feier von 75 <strong>Jahren</strong> Abitur hielt, da begann er mit der Anrede „Me<strong>in</strong>e sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Schüler!“ Die vor ihm saßen, werden sehr unterschiedlichgekleidet gewesen se<strong>in</strong>. Der Redner selber, so zeigt das Bild <strong>in</strong> der Broschüre mit demgedruckten Vortrag, trug e<strong>in</strong>en dunklen Anzug, e<strong>in</strong>e sorgsam als dazu passend <strong>aus</strong>gewählteKrawatte und übrigens auch jene Lesebrille, an die ich mich <strong>aus</strong> dem Deutschunterricht nocher<strong>in</strong>nere, weil er sie immer dann bedeutungsvoll zurechtrückte, wenn es wirklich ernst wurde<strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung mit Texten. Im Auditorium des Jahres 1979 aber wird es bunterzugegangen se<strong>in</strong> als 1904: Sicherlich trugen bei weitem nicht alle Lehrer Sakko undKrawatte, und schon gar nicht wäre das 1979 e<strong>in</strong>em der Schüler <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n gekommen,ebenso wenig wie die Schüler<strong>in</strong>nen des Jahres 1979 e<strong>in</strong> Kleid getragen haben werden. Nichtnur <strong>in</strong> der Kleidung lagen Welten zwischen den <strong>Jahren</strong> 1904 und 1979.Form und Inhalt, so lehren uns Philosophen ebenso wie Soziologen, bed<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>ander. E<strong>in</strong>ebestimmte äußere Form wird e<strong>in</strong>en bestimmten Inhalt e<strong>in</strong>er Sache begünstigen, e<strong>in</strong>en anderenverh<strong>in</strong>dern, wenigstens erschweren. Ist das Äußere von Konventionen bestimmt unde<strong>in</strong>geschränkt, wird auch der Inhalt diesen Konventionen entsprechen. Ist das Äußere offener,vielgestaltiger und formloser oder liberaler, dann mag also auch der Inhalt offener und


2vielgestaltiger werden, und die Frage, ob er formlos wird oder von der Liberalität profitiert,mag man dann endlos diskutieren.Aber wollte ich nicht e<strong>in</strong>en Vortrag überhaupt erst e<strong>in</strong>mal anfangen? War ich nicht auf derSuche nach e<strong>in</strong>er Orientierung über e<strong>in</strong>e mögliche Anrede? Ich gebe zu: Der Blick <strong>in</strong> dieGeschichte hat mir dabei nicht sonderlich geholfen. Wahrsche<strong>in</strong>lich ist es eben doch richtig,dass man <strong>aus</strong> der Geschichte nichts lernen kann, jedenfalls nichts, was unmittelbarverwendbar wäre im S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er Kopie des Früheren. Das die Geschichte die Meister<strong>in</strong> desLebens sei, historia magistra vitae, wie das berühmte Zitat <strong>aus</strong> Ciceros Werken lautet, wirdnicht bedeuten, dass man e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> der Geschichte Geschehenes ohne Veränderungenwiederholen kann, darf oder auch nur sollte. Orientierung aber bietet die Geschichte ebendoch. Sie zeigt, dass der Königlich-Preußische Prov<strong>in</strong>zial-Schulrat des Jahres 1904 ebensoRecht hatte wie der niedersächsische Oberstudienrat des Jahres 1979. Vielleicht sollte ich alsoso beg<strong>in</strong>nen:Hochverehrte Festversammlung!Liebe Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler!Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren!Aber auch diese Anrede hat ihre Tücken, wenn man näher h<strong>in</strong>sieht. Noch vor <strong>Jahren</strong> wurdenund bis heute werden bei solcherlei Anlässen e<strong>in</strong>zelne Personen besonders her<strong>aus</strong>gehobenerwähnt: Träger bestimmter Funktionen, Inhaber bestimmter Ämter, bedeutende oder fürbedeutend gehaltene Personen werden namentlich genannt, und man pflegt h<strong>in</strong>zuzusetzen,dass man sich über die Anwesenheit gerade dieser Personen besonders freue, weil gerade siedurch ihre Anwesenheit bekundeten, dass der Feier ihr besonderes Interesse gelte. Also doche<strong>in</strong>e andere Anrede? Aber wen dann nennen? Die Direktor<strong>in</strong> der <strong>Schule</strong>, die den Staffelstabder Schulleitung e<strong>in</strong>igen <strong>Jahren</strong> übernommen hat und ihn hoffentlich etliche Jahre weitertragen wird? Die pensionierten Lehrkräfte, deren Er<strong>in</strong>nerung an 30, 40, gar 50 oder noch mehrJahre Abitur <strong>in</strong> Uelzen zurückreicht? Die Vertreter des Schulträgers, also der Stadt Uelzen?Sie sehen: Man kommt mit derlei Anredeversuchen schnell <strong>in</strong> die Situation, niemandenvergessen zu dürfen und dann doch jemanden zu vergessen, der für das Ganze der <strong>Schule</strong>wichtig gewesen ist.Vielleicht ist die nicht ganz unwichtige Folgerung <strong>aus</strong> diesen Überlegungen folgende: <strong>Schule</strong>war und ist zu allen <strong>Zeit</strong>en e<strong>in</strong>e Institution gewesen, die durch e<strong>in</strong>e Vielzahl sehr unterschiedlicherPersonen und ihr Zusammenwirken geprägt wurde. Jede e<strong>in</strong>zelne Person hat <strong>in</strong>


3diesem Geflecht e<strong>in</strong>e eigene Rolle zugewiesen bekommen und erfüllt. Wenige nur erwerbensich das Recht, sich durch die Art <strong>ihrer</strong> Beteiligung an der <strong>Schule</strong> so weit her<strong>aus</strong>zuheben, dasssie persönlich genannt werden sollten. Und es s<strong>in</strong>d dann meistens diese wirklich entscheidendenPersonen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Anrede zu Beg<strong>in</strong>n e<strong>in</strong>er Festrede gar nicht genannt werdenwollen. – Also nochmals:Hochverehrte Festversammlung!Liebe Schüler<strong>in</strong>nen und Schüler!Me<strong>in</strong>e sehr verehrten Damen und Herren!E<strong>in</strong> Jahr<strong>hundert</strong> lang können Schüler <strong>in</strong> Uelzen das Abitur ablegen. Seit der ersten feierlichenAbiturientenentlassung am 25. März 1904, übrigens noch im alten Schulgebäude amHerzogenplatz, s<strong>in</strong>d <strong>hundert</strong> Jahre verflossen. Die ersten Jahrzehnte dieses Jahr<strong>hundert</strong>s, dasauf jenes erste Uelzener Abitur folgte, haben <strong>in</strong> der Weltgeschichte ke<strong>in</strong>en guten Namen. Siegehören nach allem, was an Vergleichen möglich ist, zu den monströsesten Jahrzehnten derWeltgeschichte überhaupt. Aber man darf auch nicht vergessen, dass die letzten annäherndsechzig dieser <strong>hundert</strong> Jahre bis zum heutigen Tage für <strong>Schule</strong>, Stadt und Staat e<strong>in</strong>e der bisherschon längsten Friedensperioden der deutschen Geschichte überhaupt gebracht haben, e<strong>in</strong>eTatsache und e<strong>in</strong>e Errungenschaft, auf die wir mit Befriedigung und e<strong>in</strong>igem Stolzzurückblicken können.Manche der <strong>Stationen</strong> auf diesem langen Wege will ich nachzeichnen, nicht <strong>in</strong> allen Details,aber doch auf e<strong>in</strong>e Art und Weise, die deutlich machen soll, wie eng die Geschichte diesesGymnasiums, se<strong>in</strong>er Stadt und des Staates <strong>in</strong>sgesamt aufe<strong>in</strong>ander bezogen gewesen s<strong>in</strong>d undnoch heute s<strong>in</strong>d. Drei größere Teile wird der Vortrag haben: e<strong>in</strong>en ersten, der die Umständedes ersten Abiturs <strong>in</strong> Uelzen und se<strong>in</strong>er Vorbed<strong>in</strong>gungen beschreiben und erklären möchte,e<strong>in</strong>en zweiten mit e<strong>in</strong>er Charakteristik wichtiger <strong>Stationen</strong> der <strong>Schulgeschichte</strong> und e<strong>in</strong>endritten mit dem Versuch e<strong>in</strong>er Standortbestimmung dessen, was das Abitur heute wert se<strong>in</strong>mag.1.Seit dem Mittelalter hatte <strong>in</strong> Uelzen e<strong>in</strong>e Late<strong>in</strong>schule bestanden, über deren Geschicke undGeschichte wir verhältnismäßig gut unterrichtet s<strong>in</strong>d. Freilich hatte diese <strong>Schule</strong> im Jahre1831 den Status e<strong>in</strong>er höheren <strong>Schule</strong> verloren, war zu e<strong>in</strong>er normalen Bürgerschule


4herabgestuft worden und hatte damit ke<strong>in</strong>e Möglichkeit mehr bieten können, hier am Orte dasAbitur abzulegen, das die unabd<strong>in</strong>gbare Vor<strong>aus</strong>setzung für den Besuch der aufstrebendenUniversitäten des 19. Jahr<strong>hundert</strong>s darstellte. Das hatte sich auch nach 1866 nicht wesentlichgeändert, als das Königreich Hannover durch Preußen annektiert worden war. So konnte man<strong>in</strong> Uelzen an der „1. Bürgerschule für Knaben“, wie die Anstalt amtlich hieß, zwar dasExamen zum E<strong>in</strong>jährig-freiwilligen Militärdienst ablegen – etwa der Mittleren Reifevergleichbar –, nicht aber das Abitur. E<strong>in</strong>e Lehrplanreform des Jahres 1882 führte immerh<strong>in</strong>dazu, dass die <strong>Schule</strong> die neue Bezeichnung „Realprogymnasium“ verliehen bekam, aber daswar es dann auch schon: e<strong>in</strong>e <strong>Schule</strong> „anstelle e<strong>in</strong>es Gymnasiums“ oder „vor e<strong>in</strong>emGymnasium“, wie man die Bezeichnung wohl übersetzen darf.In den <strong>Jahren</strong> zwischen 1882 und 1900 wurde dieser Zustand, <strong>in</strong> Uelzen ke<strong>in</strong>e Hochschulzugangsberechtigungerwerben, also ke<strong>in</strong> Abitur ablegen zu können, als zunehmend unhaltbarangesehen. Künftige Abiturienten mussten bis dah<strong>in</strong> Gymnasien <strong>in</strong> Lüneburg, Celle oderSalzwedel besuchen. Die aufstrebende und <strong>in</strong>dustriell wie gewerblich <strong>in</strong> rascher Entwicklungbegriffene Stadt Uelzen stand dah<strong>in</strong>ter zurück und erlebte das, was man <strong>in</strong> der Bildungspolitikheutiger Tage e<strong>in</strong>en bra<strong>in</strong> dra<strong>in</strong> nennt: Gerade die Besten unter den jungen Männernwanderten ab, wurden schon <strong>in</strong> der Oberstufe des Gymnasiums zunehmend auf die Nachbarstädteh<strong>in</strong> orientiert, und es bestand die ernsthafte Gefahr, dass sie für Uelzen dauerhaftverloren gehen würden. In Uelzen selber aber nahm die Nachfrage nach akademischGebildeten so sehr zu, wie das überall im wilhelm<strong>in</strong>ischen Deutschland galt. Insbesondere imgewerblich-technischen Bereich erlebte das <strong>aus</strong>gehende 19. Jahr<strong>hundert</strong> e<strong>in</strong>en Umfang vonNachfrage nach Hochschulabsolventen, wie es ihn vorher nicht gegeben hatte. Die Gründungvieler Technischer und Kaufmännischer Hochschulen war die Antwort darauf. Auch imnichttechnischen Bereich machte sich die steigende Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Steigerung der Studentenzahlen bemerkbar. Alles das aber drohte, an Uelzenvorbeizugehen. Die Stadt würde, so sah es kurz vor 1900 <strong>aus</strong>, ihren Söhnen nicht diejenigenBildungsvor<strong>aus</strong>setzungen mitgeben können, die die moderne Welt des wilhelm<strong>in</strong>ischenDeutschland so nötig brauchte.Dagegen bildete sich e<strong>in</strong>e breite Interessengeme<strong>in</strong>schaft <strong>aus</strong> den Lehrern des Realprogymnasiumsselber, <strong>aus</strong> Industriellen und Gewerbetreibenden der Stadt und <strong>aus</strong> der politischenSpitze Uelzens, <strong>in</strong>sgesamt also im Wesentlichen <strong>aus</strong> den Eltern der bisherigenSchüler. Es gab allerd<strong>in</strong>gs auch Opposition dagegen: Das städtische Kle<strong>in</strong>gewerbe, vor allemaber die Arbeiterschaft hielt die Investition <strong>in</strong> höhere Bildung für entbehrlich und falsch. Waskonnte diesen Kreisen der Uelzener E<strong>in</strong>wohnerschaft e<strong>in</strong>e <strong>Schule</strong> bedeuten, auf die ihre


5Söhne ohneh<strong>in</strong> nicht gehen würden, weil sie das Schulgeld nicht bezahlen konnten? HöhereBildung lag um 1900 alle<strong>in</strong> im Interesse der Oberschicht.In mehrjährigem Bemühen brachte es die Koalition der Uelzener Führungsschichten dennochzustande, die preußische Regierung dazu zu bewegen, Uelzens Realprogymnasium zu e<strong>in</strong>emso genannten Realgymnasium aufzuwerten, also zu e<strong>in</strong>er Höheren <strong>Schule</strong> mit dreizehnSchuljahren, mit dem Abitur als möglichem Abschluss und der Sprachenfolge über diemodernen zu den alten Sprachen, nicht umgekehrt, wie bei den humanistischen oderaltsprachlichen Gymnasien. Der entsprechende Erlass des „Königlich Preußischen M<strong>in</strong>isteriumsder geistlichen, Unterrichts- und Medic<strong>in</strong>alangelegenheiten“ datiert vom 3. August1900 und ist die eigentliche Gründungsurkunde des heutigen Herzog-Ernst-Gymnasiums.Der Erlass kam übrigens nur deswegen zustande, weil sich Bürgermeister und Rat der Stadtbereit erklärt hatten, alle Kosten zu übernehmen, die über die bisherigen Personal- undBetriebskosten des Realprogymnasiums h<strong>in</strong><strong>aus</strong>gehen würden. Es handelte sich um durch<strong>aus</strong>bedeutende Summen, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Größenordnung, die heute im niedrig sechsstelligen Eurobereichpro Jahr anzusetzen wäre, die also e<strong>in</strong>e merkliche dauerhafte Belastung desStadth<strong>aus</strong>haltes darstellen würde. Man sollte die Weisheit der Stadtoberen, diese Belastungdennoch zu riskieren, besonders hervorheben, weil dauerhafte Investitionen <strong>in</strong> Bildung zuke<strong>in</strong>er <strong>Zeit</strong> selbstverständlich gewesen s<strong>in</strong>d, sich <strong>in</strong> der Regel kurzfristig nicht, aber mittelbislangfristig eben doch <strong>aus</strong>zahlen. So war es auch <strong>in</strong> Uelzen, denn sonst wären wir heutenicht hier zusammengekommen.In den drei Schuljahren seit Ostern 1901 wurde jeweils e<strong>in</strong>e weitere Klassenstufe e<strong>in</strong>gerichtet,1901 die Obersekunda (11. Klasse), 1902 die Unterprima (12. Klasse) und 1903 schließlichdie Oberprima (13. Klasse). Im Februar 1904 fanden dann die Abiturprüfungen statt. Diemündlichen Prüfungen dauerten e<strong>in</strong>en ganzen Tag lang, von morgens 8 Uhr bis abends 20Uhr, weil jeder Schüler <strong>in</strong> allen Fächern geprüft werden musste. E<strong>in</strong> harter Tag für die genau4 Abiturienten des ersten Jahrgangs!Damals besuchten 229 Schüler das Realgymnasium. Schnell nahm die Schülerzahl <strong>in</strong> denkommenden <strong>Jahren</strong> zu, so schnell, dass erstmals im Schuljahr 1905/1906 e<strong>in</strong>e Klasse geteiltwerden musste: Die damalige Quarta (7. Klasse) hatte mit 56 Schülern e<strong>in</strong>e nicht mehrhandhabbare Größe erreicht. Die Entscheidung für e<strong>in</strong> Vollgymnasium, das zeigte sich auchan diesen Zahlen, war erfolgsträchtig gewesen. In den letzten Friedensjahren des Kaiserreichesnahmen die Schülerzahlen um mehr als die Hälfte auf annähernd 350 Schüler zu.2.


6<strong>Schule</strong> <strong>in</strong> <strong>ihrer</strong> <strong>Zeit</strong> zu schildern, bedeutet, <strong>Stationen</strong> der <strong>Schulgeschichte</strong> <strong>in</strong> den <strong>hundert</strong><strong>Jahren</strong> seit 1904 <strong>aus</strong>zuwählen. Was aber soll man besonders betonen? Die häufigenUmstrukturierungen des Schulwesens <strong>in</strong>sgesamt <strong>in</strong> ihren Rückwirkungen auf das UelzenerGymnasium? Die Veränderungen der Lehrpläne und Lern<strong>in</strong>halte? Die Kuriosa <strong>aus</strong> der<strong>Schulgeschichte</strong>, die uns heute vermuten lassen, man könne <strong>Schulgeschichte</strong> als e<strong>in</strong> Mitteld<strong>in</strong>gzwischen Alexander Spoerls „Feuerzangenbowle“ und unsäglichen Schulfilmen wie den„Lümmeln von der letzten Bank“ beschreiben? Oder ist die Suche nach verme<strong>in</strong>tlich odertatsächlich Anstößigem, etwa <strong>in</strong> den politischen Stellungnahmen von Angehörigen desLehrkörpers und der Schülerschaft zwischen 1933 und 1945, das Wichtigste, gewissermaßenalso die Suche nach braunen Flecken auf der weißen Weste? Ich will e<strong>in</strong> Mitteld<strong>in</strong>g versuchenund <strong>in</strong> Zehnjahresschritten durch die <strong>Schulgeschichte</strong> vorangehen, dabei versuchen, e<strong>in</strong> wenigvom besonderen Charakter der Jahre 1914, 1924, 1934, 1944 usw. e<strong>in</strong>zufangen und danach zufragen, was gleichzeitig oder annähernd gleichzeitig <strong>in</strong> den Mauern des Schulgebäudes <strong>in</strong> derSchillerstraße bzw. seit 1969 <strong>in</strong> der Albertstraße vorgegangen ist oder se<strong>in</strong> mag.1914: Zehn Jahre nach dem ersten Abitur standen schon wieder Veränderungen der <strong>Schule</strong> an:Die Gründung e<strong>in</strong>er Realschule wurde beschlossen. Sie sollte geme<strong>in</strong>sam mit dem Realgymnasiumunter e<strong>in</strong>em Dach und unter geme<strong>in</strong>samer Leitung bestehen. Höhere Bildung: Dasbedeutete 1914 und noch lange danach, dass eben auch die Realschule dazu gezählt wurde,e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stellung, die erst e<strong>in</strong> halbes Jahr<strong>hundert</strong> später der E<strong>in</strong>stellung zu weichen begann,dass die eigentliche und e<strong>in</strong>zige höhere Bildung im Schulbereich auf den Gymnasien zuerreichen sei. Realschulabsolventen waren anspruchsvoll <strong>aus</strong>gebildet worden, verfügten überKenntnisse vor allem <strong>in</strong> den Naturwissenschaften, die denen der Gymnasiasten durch<strong>aus</strong>ebenbürtig waren, und hatten lediglich im sprachlichen Bereich deutlich weniger Anforderungenzu erfüllen.1914 brach der Erste Weltkrieg <strong>aus</strong>. Noch im Sommer wurden die ersten Lehrer zumHeeresdienst e<strong>in</strong>gezogen. Der Oberlehrer Hesse, der ursprünglich nicht felddienstfähig war,wurde auf eigenen Wunsch an die Front geschickt und fiel im Mai 1915 als Offizierstellvertreter.Auch das gehört <strong>in</strong> die Geschichte wohl e<strong>in</strong>es jeden deutschen Gymnasiums: dienationale Begeisterung der ersten Kriegsjahre, die viele mit dem Tode bezahlten. DerSchulbetrieb übrigens wurde von Anfang an stark e<strong>in</strong>geschränkt. Weil die Männer im Feldestanden, wurden Schüler zur Erntehilfe und zu militärischen Hilfs- und Arbeitsdienstene<strong>in</strong>gesetzt.


7Militärische E<strong>in</strong>heiten wurden gegründet, sog. Jugendkompanien, unter dem Kommando vongedienten Lehrkräften. Am 21. Februar 1915 traten drei Kompanien auf dem Schulhof derSchillerstraße an, um e<strong>in</strong> Treuegelöbnis abzulegen. „Wir treten zum Beten vor Gott denGerechten“, sangen die Schüler zu Anfang der Feierstunde. E<strong>in</strong> Parademarsch und dasgeme<strong>in</strong>same Lied „Ich hab mich ergeben mit Herz und mit Hand“ schlossen die Feier ab. DreiLehrer der <strong>Schule</strong> sollten im Weltkrieg fallen. Über Kriegstote unter den Absolventen der<strong>Schule</strong> schweigt die Überlieferung. 1937 sollte e<strong>in</strong>e Orgel im Schulgebäude e<strong>in</strong>geweihtwerden, auf deren Orgelpfeifen die Namen der Gefallenen des Ersten Weltkrieges e<strong>in</strong>graviertwaren.1924: Der Weltkrieg war verloren, die Hyper<strong>in</strong>flation des Jahres 1923 hatte die Geldvermögennahezu vollständig vernichtet, Reparationen lasteten auf e<strong>in</strong>em Land, das sich 1924trotzdem <strong>in</strong> relativer politischer Stabilität zu entwickeln schien und zunehmend <strong>in</strong>ternationaleAnerkennung gewann. E<strong>in</strong> obskurer Parteiführer namens Adolf Hitler verzeichnete se<strong>in</strong>eersten Anfangserfolge. Nicht ernst zu nehmen, befand die politische Öffentlichkeit. Sie solltesich täuschen. Alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Blick <strong>in</strong> das 1924 geschriebene Werk „Me<strong>in</strong> Kampf“ hätte geholfen,zu erkennen, wes Geistes K<strong>in</strong>d dieser Mann war. Aber wer las schon solche Bücher?Die Lehrer des Realgymnasiums führten seit 1918 die Amtsbezeichnung „Studienrat“. Ausden „Schuldienern“ der <strong>Zeit</strong> der Monarchie waren <strong>in</strong> der Weimarer Republik „H<strong>aus</strong>meister“geworden: Abschied vom Untertanengeist auch <strong>in</strong> den Amtsbezeichnungen. Die Sprachenfolgemit Englisch ab Klasse 5, Late<strong>in</strong> ab Klasse 8 und Französisch ab Klasse 10 war derheutigen schon recht ähnlich. Freilich war auch dies nur e<strong>in</strong>e Zwischenstation <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Kettenahezu endloser Schulreformen bis <strong>in</strong> unsere unmittelbare Gegenwart h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. 1925 schonwurde <strong>aus</strong> dem Realgymnasium e<strong>in</strong> Reform-Realgymnasium, <strong>in</strong> dem das Late<strong>in</strong> an Bedeutungverlor, die neuen Sprachen aufgewertet wurden, und <strong>in</strong> dessen Oberrealschule seit 1926e<strong>in</strong>e Vorform des mathematisch-naturwissenschaftlichen Zweiges späterer Gymnasien entstand.Die preußische Schulreform der zwanziger Jahre war e<strong>in</strong>er der vielen Versuche, auf dieimmer wieder neuen Anforderungen der modernen Gesellschaft zu reagieren. Und schon <strong>in</strong>jenen <strong>Jahren</strong> merkte man, dass sich diese Anforderungen schneller veränderten, als dieReformen wirken konnten. Dieses Problem hat sich bis heute nicht lösen lassen: Schulreformens<strong>in</strong>d immer Reaktionen gewesen und oftmals überstürzt, hektisch, bisweilen auchunüberlegt vorgenommen worden oder ohne dass man die Auswirkungen der vorangegangenenReformschritte abgewartet hätte.


81934: Die Festigung der nationalsozialistischen Diktatur <strong>in</strong> Deutschland war <strong>in</strong> vollem Gange.Das Führerpr<strong>in</strong>zip erreichte auch die <strong>Schule</strong>n: Die Lehrerkonferenzen besaßen nur nochberatenden Status, Elternvertretungen wurden aufgelöst, die e<strong>in</strong>zige Entscheidungskompetenzlag beim Direktor der <strong>Schule</strong>, seit dem 1. Juni 1934 dem Studienrat Wilhelm Lendle, der dasGymnasium bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges leiten sollte, dann von der britischenMilitärregierung entlassen wurde und erst 1952 <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Position zurückkehrte.Feiern bestimmten den Ablauf der Schuljahre <strong>in</strong> Friedenszeiten: Vom Geburtstag AdolfHitlers am 20. April über den Tag der Arbeit am 1. Mai, den die Nationalsozialistenüberhaupt erst zum Feiertag machten, über den Tag der deutschen Mutter, den Tag des Festesder deutschen <strong>Schule</strong>, zum Fest der Jugend und zum Erntedankfest folgte e<strong>in</strong>e dieserFeierstunden auf die andere. Diktaturen und totalitäre Herrschaften benutzten zu allen <strong>Zeit</strong>en<strong>in</strong>szenierte Feste dazu, die staatstragende Ideologie unter das Volk zu br<strong>in</strong>gen. Sollte mannoch dazu sagen, dass die heutigen Bundesjugendspiele auf die Reichsjugendwettkämpfe dernationalsozialistischen <strong>Zeit</strong> zurückgehen, deren Sieger e<strong>in</strong>e Ehrenurkunde des Führerserhielten? Der preußische M<strong>in</strong>ister für Wissenschaften, Kunst und Volksbildung verfügte am18. Juli 1934, dass die Hauptaufgabe des Schulunterrichts die Erziehung zur nationalsozialistischenWeltanschauung und Staatsges<strong>in</strong>nung sei, die auch durch Rücksicht aufAngehörige anderer Anschauungen niemals gehemmt werden dürfe.Wenig nur wissen wir darüber, ob die Lehrer die Ideologie des Nationalsozialismus aufrichtigmitgetragen haben, ihr distanziert gegenüberstanden oder sie vielleicht sogar offen ablehnten.Gegnerschaft zum Nationalsozialismus war um die Mitte der dreißiger Jahre kaum <strong>in</strong>größerem Umfang zu erwarten. Hitlers Partei und der von der NSDAP beherrschte Staatschienen vordergründig viele politische Forderungen bürgerlicher Schichten aufzunehmenund durchzusetzen, außenpolitisch durch die Rhe<strong>in</strong>landbesetzung, durch den Versuch derWiederherstellung von Deutschlands Größe vor dem Versailler Vertrag, <strong>in</strong>nenpolitisch durchdie Stärkung der Wirtschaft, durch den Ausbau der Volksgeme<strong>in</strong>schaft, wie man das damalsnannte. Selbst die zunehmende Ausgrenzung der Juden <strong>aus</strong> dem öffentlichen Leben wurdevon zu vielen Deutschen mitgetragen, wenigstens solange, bis am 9. November 1938 dieSynagogen brannten und die Uelzener Juden verhaftet wurden. Noch e<strong>in</strong>mal: Wie die Lehrerdes Gymnasiums dazu standen, wissen wir nicht. Mutmaßungen s<strong>in</strong>d nicht erlaubt, denn alle<strong>in</strong>auf solcherlei Vermutungen Aussagen zu begründen, ist nicht nur bei solch heiklen Themenunangebracht.Und die Schüler? Dr. Hans Kl<strong>in</strong>ge hat 1979 auf se<strong>in</strong>e eigene Schülerzeit zurückgeblickt undgeschrieben: „Wir glaubten an Ideale, die man uns als solche darstellte, und ahnten nicht, wie


9man unsere Begeisterungsfähigkeit mißbrauchte. Und waren Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft,Tapferkeit und Treue nicht zu bejahen?“ Die schriftlich formulierten Bildungsgänge,die die Abiturienten der Zulassung zum Abitur beifügen mussten, s<strong>in</strong>d Quellen allererstenRanges. Sie zeigen, wie Schüler dachten und fühlten, wie sehr sie <strong>in</strong> das nationalsozialistischeDenken e<strong>in</strong>gebunden waren, <strong>in</strong> dem sie aufgewachsen waren, aber sie zeigen auch, dass esAndersdenkende gab wie jenen Schüler, dessen Bildungsgang deutliche Kritik an denPraktiken der Hitlerjugend und <strong>ihrer</strong> Führer enthielt und mit den Worten schloss: „Als Pastorwerde ich me<strong>in</strong>en Mann als evangelischer Christ im Dienste me<strong>in</strong>er Kirche und damit me<strong>in</strong>esVolkes stehen.“1944: Auch Uelzener konnten erkennen, woh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Jahrzehnt nationalsozialistischer Herrschaftgeführt hatte. Der erste Luftangriff auf die Stadt galt am 18. April 1944 dem Bahnhof.Tote und Verletzte, Dutzende von beschädigten und zerstörten Häusern konnten der<strong>in</strong>szenierten Freude zu Hitlers 55. Geburtstag zwei Tage später sche<strong>in</strong>bar nichts anhaben. E<strong>in</strong>Aufsatzthema im Unterricht des Gymnasiums lautete wenige Tage später: „Der Terror-Angriff auf Uelzen“.Freilich auch dies: Der neue Regierungsdirektor Dr. Ma<strong>in</strong>zer übte nachdrücklich Kritik an derAbwegigkeit von Aufsatzthemen der Klassen 6 und 7: Es sei <strong>Zeit</strong>, die Politisierung der <strong>Schule</strong>energischer voranzutreiben als bisher. Diese Politisierung sollte die Schüler darüberaufklären, welch schändliche Machenschaften das <strong>in</strong>ternationale F<strong>in</strong>anzkapital, das <strong>in</strong>ternationaleJudentum und die militärischen Gegner Deutschlands angeblich im S<strong>in</strong>ne führten.Warum solcherlei Schreiben an die Direktoren der Gymnasien? Als Historiker lernt man, dasssolche Aufforderungen dann entstehen, wenn die Wirklichkeit offensichtlich anders <strong>aus</strong>sieht.Zu e<strong>in</strong>er noch stärkeren Politisierung der Gymnasien war allerd<strong>in</strong>gs kaum mehr <strong>Zeit</strong>:Ständiger Luftalarm, die Unterbr<strong>in</strong>gung von Verletzten und Flüchtl<strong>in</strong>gen im Schulgebäudeund <strong>in</strong> der Turnhalle, die Zerstörung von schulisch genutzten Gebäuden anderweit <strong>in</strong> der Stadtund die Unterbr<strong>in</strong>gung von Klassen des <strong>aus</strong>gebombten Hamburger Gymnasiums Johanneumim Uelzener Gymnasium hatten längst den Schulbetrieb auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum reduziert. Abiturientendes Jahrgangs 1944 leisteten als Mar<strong>in</strong>eflakhelfer <strong>in</strong> Wilhelmshaven Dienst. Überdiese Jahre des Alltags des Uelzener Gymnasiums würde man gerne viel mehr erfahren, alsdie seltsam schweigsamen Veröffentlichungen dazu hergeben. Noch leben Schüler jenerJahre, die berichten könnten, was sie <strong>aus</strong> den Kriegsjahren an Er<strong>in</strong>nerungen haben.


101954: Die Normalität ist zurückgekehrt. Der Direktor der <strong>Schule</strong> ist wieder derselbe wie bis1945. – Für e<strong>in</strong>en Moment stocke ich. Ist die Komb<strong>in</strong>ation dieser beiden Sätze gerechtfertigt?Für den Historiker ist es nicht ungewöhnlich, dass Eliten auch massive politische E<strong>in</strong>schnitteüberleben. Die Konstanz der Eliten ist <strong>in</strong>sbesondere e<strong>in</strong> Charakteristikum der deutschenGeschichte. Ob 1918 oder 1945 oder <strong>in</strong> der Wende der Jahre 1989/90: Immer wieder warenvor und nach diesen Daten an entscheidenden Stellen dieselben Personen wieder zu f<strong>in</strong>den,nicht immer sofort, sondern mitunter nach e<strong>in</strong>er <strong>Zeit</strong> des Abtauchens, aber letztlich ist dieStetigkeit der Eliten unbestreitbar.Hat diese Form der Kont<strong>in</strong>uität Fragen aufgeworfen? Offensichtlich nicht für die <strong>Zeit</strong>genossen.Beredtes Schweigen herrschte vor. Und selbst Jahrzehnte später wurden dieseFragen nicht gestellt. Als politisch <strong>in</strong>teressierter und engagierter Schüler des Abiturjahrgangs1973 habe ich noch manche derjenigen Lehrer aktiv erlebt, die schon <strong>in</strong> den erstenNachkriegsjahren zum Kollegium gehörten. Ich habe nicht e<strong>in</strong>mal daran gedacht, me<strong>in</strong>e seit1939 an der <strong>Schule</strong> lehrende Deutschlehrer<strong>in</strong> zu fragen, wonach ich sie heute gerne fragenwürde. Beiläufig notiere ich als professioneller Historiker, dass es doch wohl des Abstandesvon den handelnden Personen bedarf, um die richtigen Fragen stellen und die Antwortenverstehen zu können.Zu notieren ist im Übrigen, dass das von den Nationalsozialisten abgeschaffte 13. Schuljahr1953/54 zum ersten Male wieder e<strong>in</strong>gerichtet wird, dass seit 1955 das Gymnasium denNamen „Herzog-Ernst-<strong>Schule</strong>“ erhält und dass seit dem gleichen Jahre das Schulgeldschrittweise reduziert wird, um 1960 ganz zu entfallen. Der neue demokratische StaatBundesrepublik Deutschland, der 1954 gerade se<strong>in</strong> fünfjähriges Bestehen feiert, wird vone<strong>in</strong>em Mann politisch geführt, der e<strong>in</strong>er ganzen Ära se<strong>in</strong>en Namen geben sollte, von demrhe<strong>in</strong>ischen Katholiken Konrad Adenauer. Und was im Uelzener Gymnasium geschah, dassnämlich der Leiter derselbe war wie <strong>in</strong> der <strong>Zeit</strong> des Nationalsozialismus, geschah auch auf derEbene des Bundes: E<strong>in</strong>er der leitenden Beamten der Bundesregierung Adenauers war derStaatssekretär Globke, der 1935 e<strong>in</strong>en umfangreichen juristischen Kommentar zur NürnbergerRassegesetzgebung der Nationalsozialisten verfasst hatte. Kont<strong>in</strong>uitäten, woh<strong>in</strong> man blickte.1964: <strong>Schule</strong> bekommt <strong>in</strong> der öffentlichen Diskussion der Bundesrepublik Deutschland e<strong>in</strong>ezunehmende größere Bedeutung. Das Schlagwort von der „deutschen Bildungskatastrophe“,geprägt von Georg Picht, macht die Runde. Das Bildungssystem <strong>in</strong>sgesamt sei <strong>in</strong> denStrukturen veraltet, <strong>in</strong> den Inhalten nicht mehr zeitgemäß, sei nicht <strong>in</strong> der Lage, auf dieAnforderungen der modernen Umwelt zu reagieren, und e<strong>in</strong>es vor allem: Es führe zu wenige


11Schüler zum Abitur. Aus dem Abstand von vier Jahrzehnten seither kommen e<strong>in</strong>em dieseKritikpunkte und viele der vorgeschlagenen Wege der Abhilfe seltsam vertraut vor. Undbeiläufig notiert der <strong>Zeit</strong>genosse des Jahres 2004, dass <strong>in</strong> Fragen der Bildungspolitik und derBildungsreform kaum e<strong>in</strong> Argument wirklich neu ist und dass gerade deswegen die Reformerimmer wieder den Versuch unternehmen, so zu tun, als werde das Rad neu erfunden. undsoeben erstmals zum Patent angemeldet.1964 wird die E<strong>in</strong>gangsstufe der Gymnasien neu organisiert, <strong>aus</strong> der dann 1974 die Orientierungsstufewerden sollte, die 2004 wieder aufgehoben wurde. Ebenso 1964 wird e<strong>in</strong> sog.Realschulaufbauzweig e<strong>in</strong>gerichtet, der überdurchschnittlichen Absolventen der Realschuleden Erwerb des Abiturs ermöglichen soll. Übrigens kamen auf diese Weise die erstenMädchen an die Herzog-Ernst-<strong>Schule</strong>, was <strong>in</strong> der Redaktion der damaligen Schülerzeitung„Diagonale“ zu dem heute völlig abseitig ersche<strong>in</strong>enden E<strong>in</strong>fall führte, die wenigen Mädchengewissermaßen grammweise auf die Zahl der Jungs umzurechnen. Ich ents<strong>in</strong>ne mich alsRedakteur dieser <strong>Zeit</strong>ung noch daran, dass wir lange über das der Rechnung zu Grunde zulegende Durchschnittsgewicht unserer Mitschüler<strong>in</strong>nen diskutiert haben. Vielleicht ist es gut,dass diese <strong>Zeit</strong> vorbei ist.1974: Letztmals hat im Vorjahr 1973 e<strong>in</strong> Abitur <strong>in</strong> Klassen stattgefunden. Nun s<strong>in</strong>d Kurse zubelegen, Kl<strong>aus</strong>uren zu schreiben, und die Abiturprüfungen ähneln <strong>in</strong> der Durchführung e<strong>in</strong>emMitteld<strong>in</strong>g zwischen Verschiebebahnhof und Warteschlange. Die Zahl der m<strong>in</strong>isteriellenErlasse und Verfügungen zu Organisationsfragen der Gymnasien nimmt beängstigendeFormen an. Ähnliches gilt für ihre Qualität, jedenfalls dann, wenn man daran beteiligten<strong>Zeit</strong>zeugen glauben darf. Es überwiegt das Gefühl der umfassenden „Machbarkeit“ vonBildung. Dabei setzen die wiederum für nötig gehaltenen Reformen e<strong>in</strong>erseits auf der Ebeneder schulischen Organisation an, andererseits bei den Inhalten. In den späten sechziger undfrühen siebziger <strong>Jahren</strong> gew<strong>in</strong>nen die Gesellschaftswissenschaften an Boden, Fächer wieGeme<strong>in</strong>schaftskunde treten an die Stelle von Geschichte oder Erdkunde. Rahmenrichtl<strong>in</strong>ienwerden erlassen, <strong>in</strong> denen schulisch umgesetzt wird, was der Bundeskanzler Willy Brandt <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er ersten Regierungserklärung 1969 formulierte: „Mehr Demokratie wagen“. ErbitterteAuse<strong>in</strong>andersetzungen zwischen den Parteien, zwischen Verbandsvertretern und Gewerkschaftsfunktionären,auch zwischen Kollegen <strong>in</strong>nerhalb der Kollegien der <strong>Schule</strong>n s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>Abbild der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit jener Jahre.Die gesellschaftlichen Umwälzungen der Jahre 1968ff. haben auch äußerlich die Prov<strong>in</strong>zerreicht, also die Herzog-Ernst-<strong>Schule</strong>. In deutlicher Ablehnung alles Uniformen und


12e<strong>in</strong>heitlich Verordneten tragen fast alle Schüler lange Haare, Jeans und Pullover und e<strong>in</strong>enParka, den man anständigerweise <strong>aus</strong> Armeebeständen kaufte, der deswegen auf demOberarm e<strong>in</strong>en Aufnäher mit den Nationalfarben besaß und den man mit dem Peace-Symbolzu dekorieren hatte. Die eigenen Zimmer von uns Schülern der frühen siebziger Jahre s<strong>in</strong>dmittlerweile museumsreif geworden. Als das Museumsdorf Cloppenburg vor e<strong>in</strong>igen Monatene<strong>in</strong>e Ausstellung über diese <strong>Zeit</strong> veranstaltete, hatte man solche Zimmer als Rekonstruktionen<strong>in</strong> die Ausstellung h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gebaut. Wohl gefühlt habe ich mich nicht, als ich me<strong>in</strong>e eigeneJugend im Museum wieder fand.Kenner der Uelzener Szene des Jahres 1974 wussten, wo man auch <strong>in</strong> der Nähe des neuenSchulgebäudes <strong>in</strong> der Albertstraße Drogen erhielt, aber die Mehrzahl der Schüler betrachtetees schon als <strong>aus</strong>reichend, im Konsum von Bier und Korn mit den Vätern gleichzuziehen undmit dem Trecker zur Abiturprüfung zu fahren. Sie sehen: Der professionelle Historiker ist<strong>Zeit</strong>genosse gewesen, und das macht mich befangen. Eigene Er<strong>in</strong>nerung, womöglich dieVorstellung von dem, was eigentlich doch wohl so gewesen se<strong>in</strong> müsste, auch wenn es <strong>in</strong>Wahrheit ganz anders war, verstellt den Blick auf diese Vergangenheit. Auch das ist e<strong>in</strong>ebesondere Eigentümlichkeit derjenigen Geschichte, an der man selbst beteiligt war, dass dieseGeschichte jedem Beteiligten nahe bleibt se<strong>in</strong> Leben lang. Die Jüngeren unter Ihnen s<strong>in</strong>d zuanderen <strong>Zeit</strong>en sozialisiert worden, aber auch Sie werden diese Er<strong>in</strong>nerung Ihr Leben langnicht loswerden.1984: Die Gegenwart rückt näher. Das ist allen denen von Ihnen, die im Moment als Schülerdas Herzog-Ernst-Gymnasium besuchen, schwer verständlich, denn die ältesten von Ihnenwerden 1984 gerade erst geboren se<strong>in</strong>. Dennoch wird <strong>Schule</strong> im Allgeme<strong>in</strong>en und auch diese<strong>Schule</strong> im Speziellen umso schwerer analytisch beschreibbar, je näher die Gegenwart rückt.Die Beteiligten werden jeweils eigene E<strong>in</strong>teilungen dieser Geschichte wählen. Was dem e<strong>in</strong>endie Beförderung zum Oberstudienrat im Jahre 1984 war, war für die junge Schüler<strong>in</strong> derKlasse 7 der E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die neue Welt des Gymnasiums. So ist e<strong>in</strong> und dasselbe Jahr, je nachder Perspektive, die man wählt, mit sehr unterschiedlichen Er<strong>in</strong>nerungen verknüpft.Die ständigen Reformen der Reformen der Oberstufenreformen g<strong>in</strong>gen ungebremst weiter.Deutlich sichtbar wurde <strong>in</strong> der Ause<strong>in</strong>andersetzung um Reform<strong>in</strong>halte, dass zu allen <strong>Zeit</strong>enund nun besonders immer auch Vorstellungen wünschenswerter oder abzulehnender gesellschaftlicherVeränderungen mitgedacht und mitbetrieben worden waren und immer nochwerden. Mittlerweile aber hatte sich die Richtung verändert: Der neue Bundeskanzler HelmutKohl, im Amt seit 1982, hatte e<strong>in</strong>e „geistig-moralische Wende“ <strong>aus</strong>gerufen. Die


13Aufbruchszeit der siebziger Jahre schien an ihr Ende gekommen. Veränderungen <strong>in</strong> derBildungspolitik aber waren erstaunlicherweise nicht durchweg Veränderungen zum Konservativenh<strong>in</strong>. Viele Bundesländer, auch Niedersachsen mit den immer wieder wechselndenpolitischen Mehrheiten, betrieben e<strong>in</strong>e Schulpolitik, die man wahrlich nicht als konservativbezeichnen kann.1994: Deutschland hatte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges die wohl größte politischeVeränderung erlebt, die Vere<strong>in</strong>igung der beiden deutschen Staaten. Die Aufbruchsstimmung,die die ersten Jahre nach dieser Wende gekennzeichnet hatte, war schon wieder im Schw<strong>in</strong>denbegriffen. E<strong>in</strong> Bundeskanzler, der „blühende Landschaften im Osten“ verheißen hatte, ohnedie Kosten beziffern zu können oder zu wollen, und se<strong>in</strong>e politischen Gegner, von denen e<strong>in</strong>erdie waghalsige Behauptung formuliert hatte, Deutschland werde sich das nicht leisten könnenund deswegen solle es sich das Abenteuer der Wiedervere<strong>in</strong>igung auch nicht leisten,markieren die verschiedenen Wahrnehmungen der politischen Wirklichkeit jener Jahre. Fürdie Historiker unter Ihnen: Immer noch war Helmut Kohl Bundeskanzler, und der Skeptikervon damals war Oskar Lafonta<strong>in</strong>e.Das Unglaubliche an diesen Vorgängen der Jahre 1989/90 wich der Normalität. Uelzenernbrauchte man nicht zu erklären, was „Zonenrandgebiet“ bedeutete, wie e<strong>in</strong> Grenzzaun<strong>aus</strong>gesehen hatte und wie man sich bei den Grenzkontrollen im sogenannten Kle<strong>in</strong>enGrenzverkehr fühlte. Als ich diese D<strong>in</strong>ge me<strong>in</strong>en <strong>aus</strong> der ehemaligen DDR stammendenNachbarn <strong>in</strong> der Gegend von Leipzig zu erklären versuchte, wo ich damals arbeitete undlebte, habe ich erst begriffen, wie e<strong>in</strong>seitig Erfahrungen se<strong>in</strong> konnten, denn alles das kanntensie nicht, die niemals näher als 5-10 Kilometer an die Grenze von Osten herangekommenwaren.Das Herzog-Ernst-Gymnasium 1994: War es anders als das <strong>in</strong> diesem Jahr? S<strong>in</strong>d dieVeränderungen, die bis zum Jahre 2003 e<strong>in</strong>getreten s<strong>in</strong>d, tiefgreifend gewesen? Oder hat nichterst die Schulstrukturreform des Jahres 2004 deutlich gemacht, dass wieder e<strong>in</strong> E<strong>in</strong>schnitterreicht ist? In diesem Saal sitzen Dutzende, die das besser wissen als ich.3.Das Abitur heute: Es wäre e<strong>in</strong> Thema für e<strong>in</strong>en Abituraufsatz, es ist e<strong>in</strong> Thema für e<strong>in</strong>eumfassende gesellschaftliche Diskussion über Bildungspolitik im Allgeme<strong>in</strong>en, und es ist e<strong>in</strong>Thema für mich als Hochschullehrer. Sie, die Sie das Abitur gerade <strong>in</strong> der Tasche haben oder


14demnächst ablegen werden, s<strong>in</strong>d gewissermaßen me<strong>in</strong>e Kundschaft. Und deswegen will ich <strong>in</strong>diesem Abschnitt formulieren, welche Bedeutung das Abitur heute für die Hochschulen hat,auf die – sofort oder nach Zwischenstationen – etwa 75-80 % der Abiturient<strong>in</strong>nen undAbiturienten übergehen werden. – Ich will nur zwei Feststellungen formulieren, bei denensicherlich nicht alle unter Ihnen mir zustimmen werden.1. Das Abitur ist heute e<strong>in</strong> Massenprodukt geworden. Das hat Folgen für die Inhalte und dieQualität. Es muss Folgen haben für se<strong>in</strong>e Anerkennung. Die Zahl derer, die heute das Abiturablegen, beläuft sich nahezu auf e<strong>in</strong> Drittel e<strong>in</strong>es Schülerjahrgangs. Die Zahl der Abiturientenan e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Gymnasium pro Jahr ist <strong>in</strong> der Regel dreistellig. Unter diesen Umständenist das Abitur ke<strong>in</strong> Eliteabschluss für die Wenigen, sondern e<strong>in</strong> selbstverständlicher Abschlussfür die Vielen geworden. Das hat das durchschnittliche Niveau zwangsläufig gesenkt, aber beiweitem nicht <strong>in</strong> allen Fächern. Spitzenleistungen der Abiturienten <strong>in</strong> manchen Naturwissenschaftenstehen eher bescheidene Leistungsnive<strong>aus</strong> <strong>in</strong> anderen Fächern gegenüber.Die Bere<strong>in</strong>igung der Lehrpläne um verme<strong>in</strong>tlich Entbehrliches hat e<strong>in</strong>e tabula rasa manchmalauch dort h<strong>in</strong>terlassen, wo vor wenigen <strong>Jahren</strong> wenigstens noch e<strong>in</strong> paar Halme gewachsens<strong>in</strong>d. Denken Sie an Bereiche wie Literatur, an die Breite der Kenntnisse <strong>in</strong> Fächern wieGeschichte und Erdkunde, denken Sie aber auch an Botanik und manches andere. Wenn dasAbitur <strong>in</strong> den Inhalten spezieller wird, wenn <strong>in</strong> den Qualitäten des Abiturs exzellenteKenntnisse im e<strong>in</strong>en Fach neben eher dürftiger Ausbildung im anderen Fach stehen, dannwird das Abitur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er hoch spezialisierten Ausbildungs- und Berufswelt zunehmend se<strong>in</strong>enWert als Nachweis allgeme<strong>in</strong>er Bildung verlieren. Konkreter gesagt: Was nützt me<strong>in</strong>emKollegen vom Biologischen Institut e<strong>in</strong> Abiturient mit e<strong>in</strong>em Schnitt von 1,7, aber mitLeistungskursen völlig anderer Fächer?Die Tendenz der Bildungspolitik geht dah<strong>in</strong>, den Universitäten die Auswahl der künftigenStudierenden zu überlassen. Dann wird das Abitur nur noch e i n e Vor<strong>aus</strong>setzung für dasErlangen e<strong>in</strong>es Studienplatzes se<strong>in</strong>, sicherlich die wichtigste, aber eben nur e<strong>in</strong>e nebenanderen, etwa neben fachbezogenen Tests und Auswahlgesprächen.Um e<strong>in</strong> Missverständnis gleich <strong>aus</strong>zuräumen: Das hat nichts mit e<strong>in</strong>em generellen Misstrauender Universitäten gegenüber der <strong>Schule</strong>, den Lehrern und den e<strong>in</strong>zelnen Abiturienten zu tun.Es bedeutet nur, dass die Übergangsphase zwischen <strong>Schule</strong> und Universität mehr durchdachtwerden muss als bisher. Es reicht nicht, beim Nachdenken im Kultusm<strong>in</strong>isterium mit dem Tagder Abiturzeugnisvergabe aufzuhören und beim Nachdenken im Wissenschaftsm<strong>in</strong>isteriummit dem Tag der Immatrikulation anzufangen. Dabei können wir alle mite<strong>in</strong>ander zusammen-


15arbeiten und müssen es auch: Lehrer an Gymnasien und Universitätsprofessoren gen<strong>aus</strong>o wieehemalige Schüler und jetzige Studenten.2. Deswegen sche<strong>in</strong>t mir die Rückführung des Abiturs <strong>in</strong> Richtung auf den Nachweisallgeme<strong>in</strong>er Bildung auch e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>nvoller Schritt zu se<strong>in</strong>. Zunächst erleben viele Schul<strong>in</strong>siderdas als Verlust an Freiheit und als Zunahme der Reglementierung. Wenn die Auswahl derFächer e<strong>in</strong>geschränkt wird, wenn die Abwahl von Fächern schwerer oder unmöglich wird,wenn bestimmte Komb<strong>in</strong>ationen von Leistungskursen unmöglich oder andere vorgeschriebenwerden, dann ist das alles e<strong>in</strong> Schritt <strong>aus</strong> der Beliebigkeit h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>er vernünftig begrenztenFreiheit. Als Hochschullehrer plädiere ich ganz nachdrücklich dafür, Abiturienten umfassendzu bilden und <strong>aus</strong>zubilden, sie nicht nur mit Spezialwissen vollzustopfen, sondern ihnendeutlich zu machen, dass Bildung etwas Universelles ist und h<strong>in</strong>ter der mathematischenKurvendiskussion, der Religionsgeschichte oder der Analyse e<strong>in</strong>es klassischen Dramasgen<strong>aus</strong>o steht wie h<strong>in</strong>ter der Lösung e<strong>in</strong>es Problems <strong>aus</strong> der Informatik. Ich plädiere aber auchdafür, h<strong>in</strong>ter der Bildung nicht die ganz trivialen Fertigkeiten zu vernachlässigen: dieAusdrucksfähigkeit <strong>in</strong> der Muttersprache oder das Begreifen und Beherrschen grundlegenderZivilisationstechniken wie des Lesens auch komplizierter Texte. Denn das brauchen alleAbiturienten, gleichgültig, wofür sie ihr Abitur verwenden wollen. Die Anamnese und dieDiagnose liegen vor. Unter den Stichworten PISA oder TIMSS s<strong>in</strong>d sie uns allen bis zumÜberdruss vorgekaut worden. Die Therapie hat gerade erst begonnen.*Ich komme zum Schluss: E<strong>in</strong> Jahr<strong>hundert</strong> Abitur ist wahrlich e<strong>in</strong> legitimer Anlass für e<strong>in</strong>enRückblick. Das Rechnen <strong>in</strong> Jahr<strong>hundert</strong>en ist zwar e<strong>in</strong>e relativ junge Erf<strong>in</strong>dung; sie stammterst <strong>aus</strong> dem 16. Jahr<strong>hundert</strong>, als man die Geschichte rückschauend <strong>in</strong> Jahr<strong>hundert</strong>e e<strong>in</strong>teilte.Aber diese Jahr<strong>hundert</strong>rückblicke haben ihren besonderen Reiz: Sie reichen weit über dieEr<strong>in</strong>nerung e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>zelnen h<strong>in</strong><strong>aus</strong>, über das sprichwörtliche „Menschengedenken“. Sieb<strong>in</strong>den dieses persönliche Er<strong>in</strong>nern aber auch mit e<strong>in</strong>, denn jedes gerade abgeschlosseneJahr<strong>hundert</strong> schließt auch die eigene Lebenszeit mit e<strong>in</strong>, für die wir alle über höchst<strong>in</strong>dividuelle Er<strong>in</strong>nerungen verfügen. An den beiden Formen der Er<strong>in</strong>nerung, der kollektivenund der <strong>in</strong>dividuellen, habe ich zu zeigen versucht, wie schwierig das Geschäft derSelbstvergewisserung ist, dem die Feier des Jubiläums am Herzog-Ernst-Gymnasium <strong>in</strong>diesem Jahr 2004 gilt.


16Manche von Ihnen werden die Feier zu 150 <strong>Jahren</strong> Abitur an diesem Gymnasium vielleichtmiterleben. „Vielleicht“ sage ich nicht, weil ich Ihnen diese Lebensspanne nicht zugestehenwill, sondern ich sage es, weil es vielleicht dann ke<strong>in</strong> Abitur oder ke<strong>in</strong> Herzog-Ernst-Gymnasium mehr geben wird oder beides nicht mehr. Aber so, wie noch e<strong>in</strong>ige wenige<strong>Zeit</strong>zeugen der Jubiläumsveranstaltung des Jahres 1954 unter uns s<strong>in</strong>d, so erhoffe ich mirauch, dass das 2054 so se<strong>in</strong> wird. Nur um e<strong>in</strong>es bitte ich als Historiker. Was immer wir übervergangene <strong>Zeit</strong>en sagen oder denken: Wir sollten uns an die er<strong>in</strong>nern, die vor uns waren unddie sich gegen unser Urteil über sie nicht mehr wehren können. Diese Zurückhaltunggegenüber und diese Vorsicht mit dem harten, dem e<strong>in</strong>seitigen, dem verurteilenden Wort istes, auf die auch wir selber Anspruch haben, und sei es als Gegenstände e<strong>in</strong>es Festvortrages imJahre 2054.Prof. Dr. Thomas VogtherrUniversität OsnabrückFachbereich Kultur- und GeowissenschaftenGeschichte des MittelaltersSchlossstrasse 849069 OsnabrückE-Mail: Thomas.Vogtherr@uni-osnabrueck.de

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