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im gespräch - Turner-Syndrom-Vereinigung Deutschland eV

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Die Muskel-Knochen-Interaktion und ihre Bedeutung für die<br />

Knochengesundheit be<strong>im</strong> Ullrich-<strong>Turner</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

Privat-Dozent Dr. med. Oliver Fricke, Professor Dr. med. Eckhard Schönau<br />

Pädiatrische Endokrinologie und Osteologie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin der Universität zu Köln<br />

Dem Wissen um den Nutzen von Bewegung und<br />

körperlicher Aktivität für die Gesunderhaltung und<br />

Gesundung des Körpers wird inzwischen in unserer<br />

Gesellschaft ein breiterer Raum <strong>im</strong> Verständnis einer<br />

gesunden Lebensführung zugestanden, als es noch<br />

vor Jahren der Fall war. Im Vordergrund werden häufig<br />

die positiven Aspekte der körperlichen Aktivität<br />

für den Schutz vor Herkreislauferkrankungen wie<br />

Herzinfarkt und Schlaganfall diskutiert. Körperliche<br />

Aktivität hat aber auch entscheidenden Einfluss auf<br />

die Gesunderhaltung unserer Muskeln und Knochen.<br />

Seit einigen Jahren wissen wir, dass zu gesunden<br />

Knochen gesunde beziehungsweise leistungsfähige<br />

Muskeln unabdingbar dazugehören. Wir möchten<br />

Ihnen <strong>im</strong> folgenden gerne diesen Zusammenhang<br />

näher bringen, damit auch Sie von dem modernen<br />

Wissen über den Zusammenhang zwischen Muskulatur<br />

und Knochenentwicklung für Ihre Gesundheit<br />

profitieren können.<br />

Unser Verständnis vom gesunden Knochen war vor<br />

Jahren vor allem noch von der Vorstellung geprägt,<br />

dass der Zustand eines bruchgefährdeten, häufig<br />

in der Knochensubstanz geminderten Knochens,<br />

vor allem durch einen Mangel an Bausteinen des<br />

Knochens wie zum Beispiel Kalzium oder die Kalziumaufnahme<br />

beeinflussende Botenstoffe wie Vitamin D<br />

bedingt sei. Diese Vorstellung hat sich für die Osteoporose,<br />

dem Fachausdruck für den Knochenschwund,<br />

als nicht korrekt erwiesen. Der gesunde Knochen,<br />

wenn auch in seinen mechanischen Eigenschaften<br />

sehr fest, ist ein ausgesprochen flexibles Gewebe,<br />

das sich <strong>im</strong>merwährend seiner momentanen Beanspruchung<br />

anpasst. Diese Erkenntnis hatte schon vor<br />

mehr als hundert Jahren der deutsche Anatom Julius<br />

Wolff erkannt, der diesen Sachverhalt in seinem<br />

berühmten Transformationsgesetz des Knochens<br />

niedergeschrieben hat. Erst der US-amerikanische<br />

Unfallchirurg und Orthopäde Harold Frost hat diesen<br />

Gedanken in der zweiten Hälfte des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts wieder aufgegriffen und zu einer<br />

umfassenden Theorie des Knochenstoffwechsels<br />

ausgebaut. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass der<br />

Knochen sich in seinen mechanischen Eigenschaften<br />

durch Veränderung seiner Form und Masse an die auf<br />

ihn wirkenden Max<strong>im</strong>alkräfte anpasst, um Knochenbrüche,<br />

in der Fachsprache Frakturen genannt, zu<br />

vermeiden. Diese Max<strong>im</strong>alkräfte entstehen <strong>im</strong> Alltag<br />

und werden <strong>im</strong> wesentlichen <strong>im</strong> Rahmen unserer<br />

muskulären Aktivität entwickelt. In der Quintessenz<br />

heißt dieses: Wer schwache Muskeln hat, der verfügt<br />

über einen schwachen Knochen und eben auch<br />

umgekehrt. Wir können also durch eine gesunde<br />

und hohe Kräfte entwickelnde Muskulatur unseren<br />

Knochen festigen und dadurch Frakturen vermeiden.<br />

Da der Knochen flexibel in seiner Anpassung<br />

ist, bedeutet es aber auch, dass bei nachlassendem<br />

Training und schwindenden Muskelkräften die Festigkeit<br />

des Knochens wieder verloren geht. Wir müssen<br />

demnach ein Leben lang mit unseren Muskeln aktiv<br />

bleiben, um uns vor Knochenbrüchen zu schützen.<br />

Diese Max<strong>im</strong>e gilt vor allem für das Alter, aber auch<br />

für alle die Menschen, die aufgrund einer Knochenerkrankung<br />

ein erhöhtes Risiko haben, Knochenbrüche<br />

zu entwickeln.<br />

In der Regel geht einer Fraktur ein Unfall, sei er noch<br />

so klein, wie zum Beispiel ein Sturz be<strong>im</strong> Gehen<br />

voraus. Wir wissen heute, dass der Sturz und die<br />

Fertigkeit, sich <strong>im</strong> Sturz abzufangen, wesentliche<br />

Faktoren bei der Entwicklung von Frakturen sind.<br />

Beide Aspekte, das Stürzen an sich und auch das<br />

Abfangen <strong>im</strong> Fall, sind von unseren koordinativen<br />

Fertigkeiten abhängig. Darunter verstehen wir, dass<br />

ein motorisches Bewegungsprogramm so geschickt<br />

umgesetzt werden kann, dass nicht gestürzt wird<br />

oder sich möglichst gut <strong>im</strong> Sturz abgefangen werden<br />

kann, um die Einwirkung sehr hoher Kräfte auf den<br />

Knochen zu vermeiden. Koordinative Fertigkeiten<br />

sind sicherlich eine Frage der Begabung und werden<br />

mit dem Alter schlechter, sie lassen sich aber durch<br />

ein entsprechendes Bewegungstraining erhalten und<br />

verbessern. Ein gut trainiertes Muskelsystem trägt<br />

somit in zweierlei Hinsicht zu unserem Schutz vor<br />

Knochenbrüchen bei: Zum einen adaptiert sich der<br />

Knochen mit einer höheren Bruchfestigkeit an die<br />

hohen Verformungsraten des Knochens aufgrund<br />

der kräftigen Muskulatur. Zum anderen schützt uns<br />

ein kompetentes Muskelsystem vor dem Auftreten<br />

von Stürzen und mildert die Kräfte des Sturzes durch<br />

ein sicheres Abfangen.<br />

Wenn in der Allgemeinheit von Knochenschwund, in<br />

der Fachsprache Osteoporose genannt, gesprochen<br />

wird, taucht schnell der Begriff der „Knochendichte“<br />

auf. Unter Dichte verstehen wir physikalisch<br />

das Verhältnis zwischen der Masse und dem von<br />

ihr eingenommenen Raum, dem Volumen. Um eine<br />

Professor Dr. med. Eckhard Schönau<br />

Dichte exakt best<strong>im</strong>men zu können — das gilt auch<br />

für die Knochendichte — müssen also Masse und<br />

auch Volumen bekannt sein. Beides lässt sich be<strong>im</strong><br />

lebenden Menschen von außen nicht best<strong>im</strong>men, so<br />

dass methodisch ein Trick angewandt wird. Röntgenstrahlung<br />

wird in ihrer Intensität von der Zahl der<br />

Moleküle, denen sie in ihrem Strahlengang begegnet,<br />

abgeschwächt. Da Röntgenstrahlen menschliches<br />

Gewebe durchdringen können, ist die Abschwächung<br />

der Strahlung ein Maß für die <strong>im</strong> Strahlengang liegende<br />

Knochenmasse. Setzt man jetzt voraus, dass alle<br />

Erwachsene ungefähr gleich groß sind, das heißt, der<br />

Raum, den ihr Skelett einn<strong>im</strong>mt, sich nicht wesentlich<br />

unterscheidet, so kann das Maß der Abschwächung<br />

der Röntgenstrahlung ein Maß für die Dichte des<br />

Knochens sein. Was bedeutet diese Annahme für<br />

Menschen, die mit sehr großer oder kleiner Körpergröße<br />

untersucht werden, die also ein recht großes<br />

oder recht kleines Knochenvolumen aufweisen? Es<br />

ergibt sich ein Messwert, der bei großen Menschen<br />

eine zu hohe und bei kleinen Menschen ein zu geringe<br />

Knochendichte angibt. Deshalb müssen Menschen<br />

mit sehr großer oder sehr kleiner Körpergröße mit<br />

Verfahren untersucht werden, die auch das Knochenvolumen<br />

in die Messung einbeziehen, um einen<br />

verlässlichen Messwert für die Knochendichte zu<br />

erhalten.<br />

Das Ullrich-<strong>Turner</strong>-<strong>Syndrom</strong> (UTS) führt in der Regel<br />

zu einer kleineren Körpergröße in der Entwicklung<br />

des Skeletts. Wenn die Knochendichte mit einem<br />

Verfahren untersucht wird, welches diesen Aspekt<br />

nicht ausreichend berücksichtigt, wird die Knochendichte<br />

mit einem geringeren Wert best<strong>im</strong>mt, als<br />

es den Tatsachen entspricht. Geeignete Untersuchungsverfahren<br />

für die Knochendichtebest<strong>im</strong>mung<br />

sind bei kleinwüchsigen Menschen Methoden, die<br />

tomographisch arbeiten und deshalb das Kno-<br />

chenvolumen berücksichtigen. Hierzu gehört die<br />

Quantitative Computertomographie (QCT) welche<br />

auch strahlungsarm am Arm oder Bein, also peripher,<br />

angewandt werden kann (pQCT). Quantitative<br />

Ultraschalluntersuchungen können nicht empfohlen<br />

werden. Best<strong>im</strong>mungen der Knochenmasse können<br />

bei Ihnen gut mit der pQCT, aber auch mit der Dual<br />

Energy X-Ray Absorptiometry (DXA) durchgeführt<br />

werden. Die Best<strong>im</strong>mung der Knochenmasse ist für<br />

Sie sinnvoll, wenn sie auf die Körpergröße und die<br />

Muskulatur, zum Beispiel Lean Body Mass, Muskelquerschnittsfläche,<br />

Muskelkraftmessungen bezogen<br />

wird, da sich der Knochen in Abhängigkeit von der<br />

Muskelaktivität ausbildet. Dabei können sich zwei<br />

Auffälligkeiten <strong>im</strong> Untersuchungsergebnis zeigen.<br />

Der Patient hat insgesamt zu wenig Knochenmasse<br />

für die Körpergröße, aber nicht in Bezug auf ihre<br />

Muskulatur. Dann muss der Patient unbedingt etwas<br />

für seine Muskeln tun, um einen ausreichenden Knochenaufbau<br />

zu erreichen. Wir nennen das Problem<br />

Sarkopenie, also zu wenig Muskulatur. Wenn der<br />

Patient für die Muskulatur eine zu geringe Knochenmasse<br />

hat, dann sprechen wir von einer pr<strong>im</strong>ären,<br />

also echten Knochenerkrankung. Die Knochen<br />

können sich nicht auf die mechanische Belastung<br />

entsprechend einstellen. Solche Probleme können<br />

sich bei Frauen dann ausbilden, wenn nicht genügend<br />

Geschlechtshormone (Östrogene) <strong>im</strong> Körper gebildet<br />

werden. Östrogene spielen eine wichtige Rolle<br />

be<strong>im</strong> Aufbau des Skelettsystems in der Pubertät. Bei<br />

unzureichender Hormonbildung kann die Gabe von<br />

Östrogenen diesen Mangel ausgleichen.<br />

Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass Mädchen<br />

und Frauen mit Ullrich-<strong>Turner</strong>-<strong>Syndrom</strong> mit Beginn<br />

der Pubertät eine von einem erfahrenen Spezialisten<br />

(endokrinologisch ausgebildeter Kinderarzt<br />

oder Internist, Frauenarzt) betreute Hormonersatztherapie<br />

erhalten. Die Hormone bauen keinen<br />

Knochen auf, sie sorgen aber dafür, dass sich der<br />

Knochen in Abhängigkeit der Muskulatur entwickeln<br />

kann. Bewegung ist demnach für Menschen mit<br />

Ullrich-<strong>Turner</strong>-<strong>Syndrom</strong> genauso wichtig wie für<br />

alle anderen Menschen. Es gilt die Devise: Hormone<br />

können Sie verordnet bekommen, bewegen sollten<br />

Sie sich selber.<br />

medizin aktuell<br />

„Es gilt die Devise: Hormone können Sie verordnet bekommen,<br />

bewegen sollten Sie sich selber.“<br />

Ansprechpartner<br />

Professor Dr. med. Eckhard Schönau<br />

Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin<br />

Uniklinik Köln. Kerpener Straße 62<br />

50924 Köln,<br />

ww.uk-koeln.de/medifitreha/kinder_reha/<br />

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