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Vietnam - Verein Papilio - Kinder brauchen Hilfe

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<strong>Vietnam</strong> – Traum und Wirklichkeit<br />

Zeit. Reise. Bericht


<strong>Vietnam</strong> –<br />

Traum und Wirklichkeit<br />

Zeit. Reise. Bericht<br />

Vorwort.<br />

Ende April 2007 war ich zweieinhalb<br />

Wochen lang in <strong>Vietnam</strong>.<br />

Einerseits als Teilnehmer einer<br />

Patenreise von World Vision mit<br />

ausgedehntem Besichtigungsprogramm in<br />

ganz <strong>Vietnam</strong>, andererseits sah ich die<br />

Reise als Fact Finding Mission.<br />

Die Reise nahm als Gruppenreise<br />

Ausgang in Saigon (Ho Chi Minh-City) mit<br />

Besichtigung von Cu Chi und dem<br />

Mekongdelta, führte darauf nach<br />

Zentralvietnam mit Hue, Da Nang und Hoi<br />

An.<br />

Von Hoi An aus erreichten wir das Area<br />

Development Project von World Vision in<br />

Hiep Duc, wo wir eine Reihe von<br />

Einrichtungen besichtigten und vor allem<br />

als Höhepunkt unsere Patenkinder besuchten.<br />

Den Abschluss der Gruppenreise bildete der Besuch von Nordvietnam mit Hanoi und<br />

Halong Bucht.<br />

Soweit ich beurteilen kann, schafften wir es in der doch sehr kurzen Zeit, die<br />

wichtigsten Sehenswürdigkeiten <strong>Vietnam</strong>s zu besichtigen, wobei wir auch noch Zeit<br />

hatten, einige Betriebe zu besuchen.<br />

Mir persönlich war der Kontakt zur Bevölkerung wichtig, was sich in einer<br />

Gruppenreise klarerweise nur schwer verwirklichen lässt. Also beschloss ich, noch<br />

allein eine Woche den Aufenthalt zu verlängern und bei dieser Gelegenheit das<br />

Grenzgebiet zu China mit den verschiedenen Bergvölkern zu besuchen. Offenen<br />

Kontakt zur Bevölkerung zu finden stellte sich als leichter heraus als befürchtet.<br />

Die folgenden Geschichten sind eher als Zeitreise zu sehen denn als Reisebericht.<br />

Sehr subjektiv, emotionell, mehr Gefühl als Fakten. Vieles wird einer besonderen<br />

Wahrnehmung entsprechen, einiges Widerspruch hervorrufen. Die Beschreibung von<br />

Sehenswürdigkeiten ist in jedem guten Reiseführer besser nachzulesen. Dazu<br />

empfehle ich Iwanowski’s, der die besten Tipps enthält, von denen die meisten auch<br />

der Wahrheit entsprechen.<br />

Was ich hier schreibe, ist nicht das Ergebnis umfangreicher Recherchen, die<br />

Behauptungen und Thesen können alle widerlegt werden. Ich erhebe keinen<br />

Anspruch auf Wahrheit oder Wissenschaftlichkeit. Es sind Gefühle, plötzliche<br />

Eingebungen, sarkastische Übertreibungen oder auch oberflächliche<br />

Beobachtungen.<br />

Niemand ist gezwungen, es zu lesen. Ich will niemanden belehren oder gar<br />

beleidigen. Hiermit entschuldige ich mich auch bei allen <strong>Vietnam</strong>esen, die sich oder<br />

ihr Land verzerrt dargestellt sehen.


Prolog.<br />

Es ist unwirklich. Nicht dass<br />

von einer Sekunde auf die<br />

andere plötzlich der Schweiß<br />

aus allen meinen Poren treibt,<br />

das ist sehr wirklich. Es ist<br />

selbstverständlich und war zu<br />

erwarten. Der Ort als solcher<br />

ist unwirklich. Schon als Kind<br />

träumte ich davon. Es war Teil<br />

vieler Abenteuer in meinem<br />

Kopf. Reich gesegnet mit<br />

kindlicher Phantasie habe ich<br />

schon viele Stunden, Tage,<br />

Wochen, ja wahrscheinlich<br />

Monate hier verbracht.<br />

Sonnenblumenfeld. Das ist an<br />

und für sich etwas, was ich zu Hause vor meiner Tür auch vorfinde. Dass dieses<br />

Sonnenblumenfeld allerdings auf dem Dach des Flughafengebäudes von Singapur<br />

ist, kommt unerwartet. Fast so unerwartet wie diese ganze Reise überhaupt.<br />

Kindheitstraum, was ist so was schon? Wer denkt denn als erwachsener Mensch an<br />

Kindheitsträume? Kindheit vorbei, Träume haben andere Inhalte, also sind sie<br />

unwirkliche Vergangenheit, niemals Gegenwart. Welcher Kindheitstraum verwirklicht<br />

sich schon? Nein, ich denke auf diesem Dach bei 38 Grad im Schatten, bei knapp<br />

100% Luftfeuchtigkeit natürlich nicht an meine Kindheit. Ich denke daran, dass die<br />

nächsten zweieinhalb Wochen wahrscheinlich eine unzumutbare Hölle sein werden.<br />

Ich balle meine schweißnassen Hände zu Fäusten. Mir würde diese tropische Hölle<br />

nichts ausmachen, mir nicht! Ich fühle die Größe des Augenblicks. ICH BIN HIER!<br />

Und mit mir Elfi, meine liebe Frau, die sich gerade denkt, dass wird was werden,<br />

zehn Tage in dieser Hitze! Bei ihr sind es nur zehn Tage, ich habe siebzehn vor mir.<br />

Eine Woche mehr. Gegen den Willen von Elfi. Ihr ist das gar nicht Recht, auch wenn<br />

sie zugibt, dass es vernünftig ist, länger zu bleiben.<br />

Zwei Stunden Singapur. Singapur.<br />

Hier hatte ich als Junge viele Jahre lang eine<br />

Brieffreundin. Irene, das schönste Mädchen, das ich<br />

jemals sah.<br />

Und jetzt viele Jahrzehnte später, ja, sie WAR das<br />

schönste Mädchen! Eindeutig. Sie war so unwirklich<br />

wie dieser Augenblick jetzt. Viele viele Fotos habe<br />

ich von ihr im Laufe der Jahre bekommen, viele<br />

Briefe, Berichte. Sehnsucht geweckt, Träume<br />

konkret werden lassen, jedoch nie Wirklichkeit.<br />

Wirklichkeit ist hier und jetzt, bei 38 Grad und 100%<br />

Luftfeuchtigkeit.<br />

Zwei Stunden, ich weiß, sinnlos! Trotzdem suchte<br />

ich vor der Abreise nochmals im Internet, ob es ihren<br />

Namen irgendwo gibt. Zehn Mal, genau zehn Mal<br />

gibt es ihn in Singapur. Gäbe es ihn nur einmal,<br />

hätte ich geschrieben, vielleicht sogar angerufen.


Aber zehn Mal erklären, zehn Mal Unsicherheit? Und zehn Mal Verständnislosigkeit.<br />

Wieso sollte sie noch so heißen? Und was sollte ich erklären vierzig Jahre später?<br />

Manche Träume bleiben Träume, Imagination, auch wenn sie sich mit der<br />

Wirklichkeit vermischen.<br />

Zwei Stunden. Sinnlos darüber nachzudenken. Wirklichkeit ist neben der schwülen<br />

Hitze, neben dem schweißnassen Hemd, das gleich wieder in den klimatisierten<br />

schallgedämpften Räumen trocknen würde, dass ich in wenigen Stunden in Saigon<br />

sein würde. Saigon. Ist Singapur gerade noch am Rande des Vorstellbaren, weil ich<br />

jahrelang Briefe mit einem engelhaften Wesen dort ausgetauscht habe, so ist Saigon<br />

absolut jenseits jeder Vorstellungskraft.<br />

Saigon, hieß das nicht Krieg, Opium, grölende amerikanische Soldaten,<br />

Erschießungen auf offener Straße, Selbstverbrennung von Mönchen,<br />

Kriegsberichterstattung? Saigon, hieß das nicht französische Puffs,<br />

Liebesschnulzen? Nein, klar, französische Kolonialzeit ist vorbei, genauso wie der<br />

amerikanische Krieg. Aber die Bilder sind eingegraben. My Lai, Hue, Kanonenboote<br />

auf dem Mekong, Hubschrauber, B52-Bomber, Bambusfallen, Agent Orange, was<br />

alles sich kranke Menschenhirne an Grauslichkeiten ausdenken können. Ho Chi<br />

Minh-Pfad, Vietcong. Ho Ho Ho Chi Minh, ich habe die Sprechchöre noch im Kopf,<br />

sie hallen immer noch durch meine Gehörgänge. Saigon ist alles, Traum und<br />

Alptraum zugleich. Und in wenigen Stunden werde ich dort sein. Werde mit einer<br />

Gruppe von <strong>Kinder</strong>paten dort landen, vierzig Menschen aus Österreich, die ihre<br />

Patenkinder in Zentralvietnam besuchen wollen.<br />

Was wird mich erwarten, was wird uns erwarten?<br />

Wir suchen wieder die vollklimatisierten Flughafenräumlichkeiten auf, zurück zu den<br />

Palmen, den tropischen Blumen und Fischen in der Wartehalle.<br />

Langsam trocknet mein Hemd, während ich auf das Boarding nach Saigon warte.


Roboter.<br />

Welche Schlange zum Anstellen sollen wir nehmen? Wie so oft entscheide ich mich<br />

für eine andere als Elfi. Bei den Schaltern sind unterschiedliche Aufschriften.<br />

<strong>Vietnam</strong>esisch und Englisch, sehr ordentlich, aber trotzdem völlig undurchschaubar,<br />

wer jetzt wo hingehört. Flughafen Saigon. Großbaustelle wie zur Zeit wahrscheinlich<br />

jeder internationale Flughafen weltweit. Und Anstellen an Visumschaltern, das<br />

erinnert sehr stark an Antalya im Sommer. Hin und wieder huscht wer von einer<br />

Schlange zur anderen, weil er meint, nun doch erkannt zu haben, welcher Sinn hinter<br />

den einzelnen Aufschriften steckt. Nach einiger Zeit scheint klar, dass es völlig egal<br />

ist, wo man sich anstellt. Das unterscheidet von Antalya. Hier also besiegt Asien die<br />

Bürokratie und nicht umgekehrt. Antalya ist eben doch noch nicht richtig Asien<br />

sondern nur Kleinasien.<br />

Langsam komme ich der Himmelspforte näher. Oder ist es der Eingang zur Hölle?<br />

Wer weiß das schon. Warum hat man bloß immer so ein ungutes Gefühl, wenn man<br />

sich irgendeiner staatlichen Obrigkeit nähert?<br />

Hohe Pulte. An jedem Pult versehen ein bis zwei Roboter Dienst. Es gibt männliche<br />

Modelle und weibliche Modelle, für einige wurden Uniformkappen produziert, die auf<br />

den Pulten ausgestellt sind. Alle Robotermodelle scheinen auf die selbe<br />

Geschwindigkeit programmiert zu sein, sieht etwas ulkig aus, da es sich nicht um die<br />

letzte Robotergeneration zu handeln scheint, aber zumindest sind die Bewegungen<br />

bereits flüssig und nicht mehr abgehackt wie bei noch älteren Modellen.<br />

Nach einer Viertelstunde bin ich dran. Mal schauen, ob bei diesem Modell bereits ein<br />

Sprachmodul eingebaut ist.<br />

Good Morning! Laut und freundlich lächeld werfe ich es meinem weiblichen Roboter<br />

entgegen, ich weiß schließlich nicht, ob eine Akkustiksoftware eingebaut ist und auf<br />

welche Tonhöhe und Lautstärke wegen der Umgebungsgeräusche eingestellt.<br />

OK, mein Roboter scheint kein Sprachmodul zu haben, aber er funktioniert, was<br />

schließlich seine einzige Aufgabe ist. Sparsam in den Bewegungen, kein Kopfheben,<br />

Kamera und Erkennungsscan im oberen Steuerungsteil scheinen abgeschaltet zu<br />

sein, wenn auch vorhanden. Mein Roboter gibt sich mit dem Scannen meines<br />

Reisepasses zufrieden. Roboterarm stempelt und surrend fährt er mit meinem<br />

Reisepass über das Pult in meine Richtung, während der Roboterkopf keinerlei<br />

Bewegung ausführt. Also doch Energiemangel in diesem Land. Richtig, dass an<br />

unnötigen Bewegungen der Maschinen gespart wird, verbessert die Energiebilanz<br />

des Landes.<br />

Ich kann es nicht lassen, ich versuche es noch einmal.<br />

Thank you, good-bye! Ich rufe es fröhlich und laut schallend. Und siehe da: Ich habe<br />

doch ein neueres Modell erwischt. Der Kopf hebt sich kurz, die Mundpartie verzieht<br />

sich für einen Augenblick in menschenähnliches Lächeln und lässt erahnen, dass<br />

vietnamesische Roboter fürs Privatleben anders programmiert sind.<br />

Good-bye. Halblaut aber deutlich vernehmbar ertönt das Sprachmodul. Ich hab’s<br />

geschafft, ich habe einen vietnamesischen Einreiseroboter zum Sprechen gebracht!<br />

<strong>Vietnam</strong>, wir kommen!


Mopedparadies – 7. Himmel der Ungehorsamkeit.<br />

Tüüüüt. Tüt Tüt. Tüt Tüt Tüt. Tüüüüüüüt. Tatüüü. Braune Augen, Tücher, Masken.<br />

Ohrenbetäubender Lärm. Weit weit weg von der Gefahr, in einem großen<br />

klimatisierten Reisebus. Neugierige Blicke hinaus, ebensolche herein. Saigon. Das<br />

ist es also. Mopeds.<br />

Saigon besteht aus Mopeds, die gleichzeitig in alle Richtungen brausen. Vermutlich<br />

sind es hauptsächlich Mopeds, immer kann man nicht erkennen, was es ist, was<br />

Menschen und Güter in Bewegung hält. Hochaufgetürmt, breit ausladend, allein, zu<br />

zweit, zu dritt, immer in Bewegung. Wie viele Menschen haben Platz auf einem<br />

Moped? Mit dreien war zu rechnen, irgendwo hat man schließlich schon Fotos<br />

gesehen, Filme gesehen. Vier war schon ganz schön, Rekord fünf. Kind, Papa, Kind,<br />

Mama, Kind. Worauf das letzte Kind hinten noch sitzt, weiß ich nicht. Aber klar,<br />

<strong>Vietnam</strong>esenpopos sind keine Europäerär****<br />

Irgendwie findet eine junge Terroristin noch Platz, Muße und Gleichmut, um hinter<br />

ihrem dahinbrausenden Mann sitzend ihr Kind zu stillen. Vermummt, aber nicht<br />

wegen des Stillens mit Mundschutz versehen, sondern wegen der<br />

Luftverschmutzung, wie hunderttausende andere auch.<br />

Und Häuser, schmal wie das schmälste von Amsterdam. Warum nur ist das dort so<br />

berühmt? Hier sind alle so. Kleiner Laden, Fenster drüber, noch eins, vielleicht noch<br />

ein drittes. Neue schmale Häuser mit bunten Disneylandfassaden, baufällige Hütten,<br />

niedrig, aber genau so schmal. Häuser, Häuser, Farben, Waren aller Art, aber vor<br />

allem Menschen. Und diese vor allem auf Mopeds. Oder sie haben Reishüte auf.<br />

Selten Reishut auf Moped, dafür Masken, niemals Helm. Viele erwachsene<br />

Menschen auf <strong>Kinder</strong>stühlchen am Straßenrand. Zwischen dampfenden Kochtöpfen<br />

werden Mopeds repariert. Dieselaggregat am Gehsteig, Obst. Ist es Obst? Gemüse,<br />

Plastikschlapfen, aber keine <strong>Kinder</strong>. Wo sind bloß die <strong>Kinder</strong>? Ich meine, wir hörten,<br />

die Stadt hätte inzwischen 8 Millionen Einwohner, die können ja nicht alle in den<br />

letzten Jahren nur zugewandert sein. Die müssen sich doch irgendwie fortpflanzen,<br />

vermehren. Wo also sind die <strong>Kinder</strong>? Plötzlich erinnere ich mich: In Manchester habe<br />

ich vor Jahren auch mal gefragt, wo denn dort die <strong>Kinder</strong> wären. Es gab einfach<br />

keine <strong>Kinder</strong>, keine Ahnung wo die waren.


Auf den Mopeds sehe ich welche, gut. Aber die<br />

können doch nicht einfach auf Mopeds<br />

aufwachsen, es muss irgendwo auf der Straße<br />

auch mal eines zu sehen sein. Dafür Frauen,<br />

Mädchen. Ok, die fallen eben auf, schlank,<br />

elegant, hübsch. Wahrscheinlich lenkt das<br />

meinen Männerblick ab, vernebelt die Sinne.<br />

Fünfsternhotel. Obst zur Begrüßung. Cook it,<br />

peel it or forget it. Oft genug habe ich das<br />

gelesen. Es ist zu schälen, also esse ich. Das ist<br />

doch nicht das Asien, das ich suche. Klimatisierte<br />

Hotelhalle. Sofas zum Warten. Dienstbare<br />

Geister, deren Dienste nicht wirklich erkennbar<br />

sind. Wie nicht anders zu erwarten sind die<br />

Zimmer nicht fertig. Auch das unterscheidet sich<br />

nicht von irgendwo.<br />

Stadtrundfahrt, Mopeds mit der Einbahn, gegen<br />

die Einbahn, rechts im Kreisverkehr und links<br />

auch, schmale Häuser, alles bereits beschrieben.<br />

Wie heißt dieser Tempel doch gleich? Na, schaut<br />

im Reiseführer nach, liebe Leute, meine Fotos<br />

kennt Ihr ja! Mein Hirn gleicht einem Sieb, was<br />

soll’s, kann eh selbst auch nachlesen, wenn ich<br />

es wissen will.<br />

Weiß auch nicht, was das für Bäume sind, deren<br />

Stämme aus Hunderten Wurzeln bestehen,<br />

ziemlich dicke Stämme, und die gibt es<br />

anscheinend nur in Tempeln. Also auch später<br />

quer durchs Land, diese Bäume immer nur in<br />

Tempeln, wahrscheinlich haben die schon die<br />

alten Cham gepflanzt. Und wenn sie nicht<br />

gestorben sind, sitzen sie heute noch darunter.<br />

Nein, böse. Jedenfalls gibt es in Saigon<br />

außerhalb von Tempeln ohnehin kaum Bäume.<br />

Also Tropen habe ich mir anders vorgestellt. 8-<br />

Millionen-Stadt, ich weiß schon, da ist kein Platz<br />

für Bäume. Ich würde noch genug Bäume zu<br />

sehen bekommen. Außerhalb von Saigon halt.<br />

Ho Chi Minh City, sorry. Sagt irgendwer so<br />

außer ein paar Beamter?<br />

Buddhistischer Tempel, nicht sehr groß, kaum dass unsere Reisegruppe Platz hat.<br />

Das kommt dem Asien schon näher, das ich suche. Ich meine, nicht dass dieser<br />

Tempel klein ist, sondern überhaupt. Räucherstäbchen, dieser umwerfende,<br />

betörende Duft nach Räucherstäbchen. Soll ich das jetzt erklären mit Abbrennen,<br />

und Opfer und das ganze? Egal, sehr still, Metaphysik beginnt mich zu durchdringen,<br />

unmerklich beginne ich mich mit den umstehenden Betenden mitzuverneigen.<br />

Vergesse fast zu fotografieren. Also Blödsinn, ich trau mich nicht, ich fotografiere in<br />

einer christlichen Kirche ja auch nicht während der Messe. Aber andererseits, es hat<br />

nicht den Anschein, als würde da mal nicht wer mit einer Handvoll Räucherstäbchen<br />

stehen und sich 20 Mal verneigen. Also frage ich einen Besenschwinger, ob ich


fotografieren dürfte. Er ist in seine<br />

Kehrarbeit so vertieft, dass ich ihn<br />

durch 2 Räume verfolgen muss, bis er<br />

endlich Notiz nimmt von mir. Sein<br />

Achselzucken deute ich als Ja.<br />

Also sehr tolerant die Leute. Da merkt<br />

man erst so richtig den Unterschied<br />

zwischen unseren Religionen und den<br />

fernöstlichen. Das soll sich in einer<br />

Kirche oder einer Moschee einer<br />

erlauben, oder in einer Synagoge!<br />

Ein kleines Mädchen hat es mir<br />

angetan, ich will es fotografieren.<br />

Fotografiert mal in einem finsteren<br />

Tempel ein Kind ohne Blitz. Haha! Die<br />

Mutter erkennt meine Enttäuschung,<br />

stellt die Kleine vor mich hin, faltet ihr<br />

die Händchen von neuem – und<br />

perfekt! Süß. Schade, dass Ihr die<br />

Räucherstäbchen nicht riechen könnt,<br />

die Kerzen nicht flackern seht!<br />

Also bevor ich jetzt über buddhistische<br />

Tempeln ins Schwärmen gerate, schauen wir lieber wieder in den Trubel hinaus.<br />

Wieso stoßen da nie Mopeds zusammen? Wieso müssen die nie stehen bleiben,<br />

auch nicht, wenn sie bei starkem Gegenverkehr links abbiegen?<br />

Ich denke mir,<br />

wenn da<br />

einmal einer<br />

stehen bleibt,<br />

bricht<br />

wahrscheinlich<br />

in ganz Saigon<br />

der Verkehr<br />

zusammen,<br />

wenn nur<br />

einmal einer<br />

glaubt,<br />

Verkehrsregel<br />

n sollten<br />

befolgt<br />

werden,<br />

erreicht keiner<br />

mehr sein Ziel.<br />

Vielleicht ist<br />

das da keine Stadt, vielleicht ist es einfach nur der 7. Himmel aller Verkehrssünder<br />

und zur Belohnung dürfen alle Moped fahren, bis zu ihrer Wiedergeburt oder so.


Freiheit und der Beweis dafür.<br />

Ich stelle mir das so vor:<br />

Dein Reisebüro leitet Deinen Visumantrag weiter und muss für die freundliche<br />

Gewährung einige Bedingungen erfüllen: Präsidentenpalast, Kriegsmuseum und vor<br />

allem Cu Chi. Oder gibt’s irgendjemanden, der nicht dort war? <strong>Vietnam</strong> ist frei, weil<br />

es erstens gekämpft hat und zweitens gewonnen hat. Das genügt doch, um frei zu<br />

sein? Also so leise Kritik am System klingt durch. Sehr leise bei den Reiseleitern.<br />

Also eigentlich schon fast zu laut für das, was für privilegierten Job sie ausüben. Aber<br />

immerhin noch systemkonform. Ganz böse waren die Franzosen, aber über den<br />

Franzosenkrieg sprechen wir nicht. Zumindest haben sie einen großen Teil der heute<br />

noch bestehenden Infrastruktur hinterlassen. Im Unterschied zu den Amerikanern,<br />

deren Hinterlassenschaft in Orange Agent-verseuchten Böden besteht, und<br />

missgebildeten Neugeborenen selbst heute, 35 Jahre später noch. Also bevor ich<br />

lüge, auch einige unzerstörbare Bunker haben sie zurückgelassen. Aber der Krieg ist<br />

vorbei, wir sind Freunde und überhaupt. Schließlich ist der US-Dollar Zweitwährung<br />

quer durchs Land, ja, und das Land lebt vom Tourismus. Zumindest ist es der<br />

erklärte Wille.<br />

Also Präsidentenpalast, der russische T34-Panzer, der ganz allein die Amerikaner<br />

besiegt hat. Sorry, vorher mussten zwei Millionen Menschen sterben, aber lassen wir<br />

diesem Panzer sein Verdienst. Die Größe des Augenblicks will sich bei mir nicht<br />

einstellen.<br />

Dafür finde ich im Kriegsmuseum die, denen der Sieg über die Amerikaner wirklich<br />

zu verdanken ist: Hätte es nicht die unerschrockenen Reporter gegeben, die ihre<br />

Fotos rund um die Welt geschickt haben, all diese aufwühlenden Bilder und Berichte,<br />

die letztlich auch die amerikanische Bevölkerung aufgerüttelt haben, wer weiß,<br />

vielleicht würde dieser sinnlose Krieg immer noch wüten.<br />

Nun denn, und natürlich Cu Chi. Dort<br />

sieht man einen Teil dieses<br />

Tunnelsystems, das der Vietcong<br />

errichtet hat, mit Eingängen 25 mal 25<br />

Zentimeter, Fallen,<br />

Aufenthaltsräumen,<br />

Munitionsfabriken, naja, alles, was<br />

man oberhalb der Erde lieber nicht<br />

zeigte.<br />

Da sind diese Einstiegslöcher, durch<br />

die kein Amerikaner hinein konnte,<br />

und wo sie daher so gerne<br />

Handgranaten hineinwarfen, auch<br />

wenn sich nur Frauen und <strong>Kinder</strong> drinnen versteckten. Ich bin mit diesen Bildern groß<br />

geworden. Also ich müsste es nicht unbedingt sehen. Krieche auch nicht durch so<br />

einen Touristentunnel, habe als Kind in Erdhöhlen gespielt, kenne das. Muss ich<br />

nicht bei knapp 40 Grad, ist mir lieber mit Fächer draußen.<br />

Tatatatata. Tatattattattatttattta. Schüsse peitschen durch die Luft.<br />

Maschinengewehrsalven. Tatatatattatatata.<br />

Frieden? Die Szenerie ist absurd. Klar, es wirkt authentisch. Aber befremdend, dass<br />

Touristen gegen gutes Geld Munition kaufen können, um wirklichkeitsgetreu<br />

<strong>Vietnam</strong>krieg zu spielen.


Was nun ist die Freiheit, die sie meinen?<br />

<strong>Vietnam</strong> ist eines der letzten verbliebenen kommunistischen Länder. Ich war in<br />

meiner Jugend einer dieser linken Revoluzzer, habe in der Folge den realen<br />

Sozialismus quer durch Europa erkundet. Da wir manchmal als politische Delegation<br />

unterwegs waren, konnten wir viel kritischer hinterfragen als allgemein üblich und<br />

gestattet war. Ich erinnere mich an die immer blasser werdenden Gesichter in<br />

Ostdeutschland oder der damaligen Sowjetunion. Aber Schein und Gesicht wurden<br />

gewahrt.<br />

Mir wurde eingeredet, in <strong>Vietnam</strong> sei es unhöflich, unerwünscht, über Politik zu<br />

reden. Ich bin unhöflich. Nicht dass ich diese Gespräche suche, werde mich auch<br />

hüten, zu sagen, mit wem ich was gesprochen habe. Jedenfalls geht es nie von mir<br />

aus, aber als politischer Mensch kommt man eben nicht umhin, gewisse Fragen zu<br />

stellen.<br />

Ich bemühe mich, höflich zu sein und streiche mal ganz nett die Verdienste der<br />

regierenden Einheitspartei heraus: Also, das Land ist unabhängig, soweit ein relativ<br />

kleines Land zwischen den Interessen Chinas, Russlands und den USA unabhängig<br />

sein kann. Nennen wir es halt Freiheit. Und den Weg dorthin schauen wir Touristen<br />

uns eben an. Soll sein.<br />

Männer und Frauen sind offiziell gleichberechtigt, sprich, den Frauen steht alles<br />

offen, was auch den Männern offen steht. Dies ist sicher ein gewaltiger Fortschritt<br />

gegenüber früher. Nennen wir auch dies Freiheit, mit allen Einschränkungen durch<br />

Sitten und Konventionen. Manchmal habe ich den Eindruck, vor allem später bei den<br />

Bergvölkern im Norden, dass es eher so ist wie in burgenländischen Dörfern: Der<br />

Mann ist der Herr im Haus und die Frau sagt ihm, was er tun soll. Der Handel ist<br />

weibliche Domäne, und auch das Geld scheint eher in den Taschen der Frauen<br />

eingenäht zu sein. Vielleicht aber auch trügt hier der asiatische Schein.<br />

Und, ja, es gibt Wahlen. Als ich in Hanoi bin, stehen gerade Wahlen bevor. Im<br />

Wahlkreis, den ich mir anschaue, kandidieren fünf Volksvertreter, von denen man<br />

zwei streichen kann. Nennen wir auch das Freiheit. Man versichert mir, es würde<br />

keinen Unterschied machen. Und im übrigen weiß ohnehin keiner die Namen der<br />

derzeit Regierenden. Man kennt Ho Chi Minh, man liebt Ho Chi Minh, man verehrt<br />

ihn. Besucht ihn in seinem Mausoleum, gibt in Hanoi brav Kamera, Handy, Geld,<br />

Regenschirm und Menschenwürde ab, um sich in Zweierreihen formiert<br />

angemessenen Schrittes (<strong>Kinder</strong> innen, damit sie freie Sicht haben) an der unwirklich<br />

bleich konservierten Leiche des geliebten Onkels vorbei zu bewegen. Mindestens<br />

fünf Meter Abstand, auf Bildern kommt man ihm näher als hier. Wer weiß, wozu das<br />

gut ist…<br />

Den Krieg mit China und die permanente Gefahr aus dem Norden muss ich bewusst<br />

ansprechen, um darüber zu hören. Was mich zumindest wundert. Sind die Chinesen<br />

doch laut, spucken überall hin, und<br />

überhaupt, unsympathisch. Zumindest<br />

versuchen meine vietnamesischen<br />

Freunde, mir dieses Bild zu vermitteln.<br />

Man handelt halt heute fleißig mit China.<br />

Auch eine Form von Freiheit.<br />

Und den Beweis für all diese Freiheiten<br />

dürfen wir im Präsidentenpalast in Saigon<br />

anschauen, im Kriegsmuseum, und in Cu<br />

Chi. Der Weg ist das Ziel würde Konfuzius<br />

sagen. Oder so ähnlich.


Das Wunder der Telekommunikation.<br />

Im Hotel Windsor Plaza gibt es einen der größten Märkte von Saigon, einige<br />

Stockwerke Ladenstraße. Nicht klimatisiert. Da kommen wir dem Land und den<br />

Menschen schon näher. Ich brauche eine vietnamesische SIM-Karte für mein Handy,<br />

das muss dort ja wohl zu finden sein. Mache mich also mit Elfi auf den Weg. Gleich<br />

beim Eingang erkenne ich, da würde ich mich heillos zwischen den Läden verirren<br />

und verzetteln, ich würde alles finden, nur kein Handyshop. Werde freundlich begrüßt<br />

– klar, das kenne ich aus der Türkei, hallo, woher kommst du, aha, Vienna,<br />

Stephansplatz, habe einen Onkel dort, ich war in Amstetten, wir haben schöne<br />

Hemden, 10 Euro, oder so ähnlich halt. Klack, Ich schalte normal ab, klappe meine<br />

Ohren zu, lächle, sage nein danke und trolle mich von dannen. Keine Ahnung, er<br />

verkauft Schmuck, keine Hemden. Ich kürze den Redefluss ab und frage nach einem<br />

Handyshop, wo ich eine SIM-Karte bekomme. Also das mit Englisch funktioniert,<br />

nicht überraschend, dass der junge Mann sofort die richtige Adresse kennt. Ohne<br />

den Willen einer Geschäftsanbahnung erkennen zu lassen erklärt er den Weg. Fast<br />

zu einfach. Am Ende der Ladenstraße rechts. Ich meine, das findet sogar ein blindes<br />

Hendl mit Alzheimer. Nach zwei Schritten ein kleiner Junge, der uns den Weg zeigen<br />

muss. Soll sein, von irgendwas müssen die Leute ja leben, und noch hab ich genug<br />

Kleingeld um es in kleine <strong>Kinder</strong>hände zu stopfen. Zumindest ein Kind gibt es. Ich bin<br />

beruhigt. Die sind deshalb nicht auf der Straße, weil sie hier Langnasen den Weg<br />

zeigen müssen. 200 Meter weiter und 10.000 Dong reicher verlässt der Junge uns<br />

beim beschriebenen Handyshop. Voila. Die Verhandlungen sind eröffnet. Viettel-<br />

Shop. Eigentlich habe ich als Empfehlung Mobifone in Erinnerung, aber egal. Zwei<br />

Mädchen hinterm Schalter, ein kleines Kind krabbelt auf dem Schalter. Doch, es gibt<br />

<strong>Kinder</strong>. Die jungen Damen geben vor, Englisch zu können, verstehen Englisch,<br />

zumindest ein bisschen, können aber kein Wort reden. Aber schreiben können sie<br />

Englisch. Wie auch immer, ich erstehe die billigste Karte, nicht wissend, ob sie in<br />

meinem Handy funktionieren wird, Flinke kleine Fingerchen zerlegen mein Handy<br />

und setzen es wieder zusammen. Eine junge Dame überreicht es mir mit einem<br />

glücklichen Lächeln. Mobifone. im Viettel-Shop. Ich denke nicht darüber nach.<br />

Natürlich funktionierte mein Handy nicht. Vielleicht doch kleine Schlitzohren? Naja,<br />

die Investition war ja gerade nicht sehr teuer, ist zu verschmerzen, müssen mal<br />

schauen, dass wir zu unserem Zimmer kommen, die erste Stadtrundfahrt beginnt<br />

gleich. Wollte zwar in good old Austria unsere glückliche Ankunft vermelden, aber<br />

man erfährt es in Europa schon, wenn irgendwo auf der Welt ein Flugzeug abstürzt.<br />

Zwischen Stadtrundfahrt und Abendessen ist kurz Zeit, mein Handyproblem von<br />

neuem anzugehen. Die zwei jungen Damen und das Kleinkind sind verschwunden,<br />

eine andere, noch jüngere Dame hat den Platz hinter dem Schalter eingenommen,<br />

begutachtet mein Handy. Nein, ich habe diese SIM-Karte nicht dort gekauft, ist<br />

schließlich ein Viettel-Shop. Sie haben kein Mobifone. Lächeln kämpft gegen<br />

Lächeln, ich hypnotisiere ihre hübschen braunen Augen, sie schlägt ihre langen<br />

Wimpern nieder und bedenkt mich mit einem erotisierenden Augenaufschlag. Ich<br />

widerstehe heldenhaft und bringe mein Begehr neuerlich zum Ausdruck. Ergebenes<br />

Seufzen und sie zerlegt wieder einmal mein Handy, um es geschickt von neuem<br />

zusammenzubauen. Fragt mich nach einer Nummer in Österreich, tippt herum,<br />

telefoniert mit meinem Handy, mit ihrem Handy. Alles okay, meint sie, nur das Netz<br />

ist überlastet und überreicht mir mein Handy mit einer Geste, die eine Mischung aus<br />

Charme, Mitleid und Verachtung ist.


Mit einem eher kläglichen Versuch mein Gesicht zu wahren verabschiede ich mich<br />

und ärgere mich zugleich, dass ich die junge Dame nicht gleich nach einer Viettel-<br />

Karte gefragt habe, mein Vertrauen zu meiner Mobifone-Karte ist auf dem Nullpunkt<br />

angelangt.<br />

Kaum habe ich die Ladenstraße mit beginnenden Depressionen verlassen, ein mir<br />

wohl vertrautes Düdltüü. SMS durchgegangen. Wunder von <strong>Vietnam</strong> beginnt.<br />

Ich bitte im Stillen sämtliche jungen Damen um Verzeihung und sende mal alle<br />

Nachrichten, die ich für notwendig halte. Die nächsten Tage würde ich mein Handy<br />

ausgiebig nutzen und mich wundern, wie viel ich für dieses geringe Guthaben<br />

telefonieren kann, habe aber weiter keine Zeit, mich um solche Details zu kümmern.<br />

Immerhin gibt es ein Land zu entdecken.<br />

Tage später im Hotel Morin in Hue schließlich denke ich, es sei endlich Zeit, zu<br />

fragen, wo ich meine SIM-Karte aufladen lassen könne. Keine langen Erklärungen,<br />

alles klar, einige Hundert Meter weiter auf der rechten Seite. In einer Halbdrehung<br />

nach links, um zu gehen, jäh gestoppt, die Frage, wie viel ich aufladen will. 200.000<br />

Dong, meine ich. Kurze Diskussion unter den Rezeptionisten. Nach der<br />

Stadtrundfahrt möge ich vorbeikommen. Das klingt vertrauenerweckend. Kaum habe<br />

ich mich zu einem kleinen Kaffee niedergelassen, ein „Mr. Wallner“ von der<br />

Rezeption. Ob er kurz mein Handy haben könne. Und er bekäme 200.000 Dong.<br />

Okay, er zeigt mir, wie ich das Guthaben auf Englisch abrufen kann. Ich wähle 901:<br />

375.000 Dong Guthaben. Das ewige Perpetuum Mobile beginnt sich zu drehen.<br />

Jedes Mal wenn ich in den nächsten Tagen mein Guthaben abfragen werde, werde<br />

ich den Eindruck haben, mir wird aufgebucht statt abgebucht. Dieses Wunder wird<br />

mich die nächsten zwei Wochen begleiten, bis zum letzten Tag, an dem ich echt<br />

große Mühe haben werde, mein Restguthaben zu ver<strong>brauchen</strong>.<br />

In der Provinz Hiep Duc habe ich zwar keinen Empfang, und auch nicht auf meiner<br />

Trekkingtour in der Nähe von Sapa. Dort verwenden alle Viettel. Aber irgendwie<br />

kommt es mir vor wie: einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.


Von Schlangen und Krokodilen:<br />

Ein Hauch von Urwald.<br />

Besorgt blicke ich vom schmalen Boot,<br />

wenige Zentimeter über dem Wasser,<br />

ins gelbe Wasser des Mekongflusses.<br />

Jederzeit erwarte ich, dass ein<br />

Krokodil nach mir schnappt. Habe<br />

genug Filme gesehen. Die Vögel<br />

schreien. Ist nicht immer ein Krokodil<br />

in der Nähe, wenn die Vögel schreien?<br />

Mit regelmäßigen Schlägen tauchen<br />

die Paddel der beiden<br />

Bootsführerinnen ins Wasser. Die sind<br />

im Alter der Pensionisten in unserer<br />

Gruppe. Eigentlich sollten wir SIE<br />

rudern, aber ich denke, das würde ein<br />

wenig erfrischendes Bad bringen.<br />

Palmen, Mangroven, hin und wieder<br />

blitzt ein Sonnenstrahl durchs<br />

Blätterdach, während wir durch den<br />

tropischen Tunnel gleiten.<br />

Glücklicherweise scheinen die letzten<br />

Krokodile hier zu Geldtaschen verarbeitet worden zu sein, die man uns wenige<br />

hundert Meter davor zum Kauf angeboten hat.<br />

Heute steht das Mekongdelta auf dem Programm. Einen Tempel der bizarren Cao<br />

Dai-Sekte mussten wir unterwegs noch besichtigen. Sehr bunt wie die Lehre selbst,<br />

jedenfalls jedoch angenehm kühl, wozu schon allein das Ausziehen des Schuhwerks<br />

beiträgt.


Mit einem Ausflugsschiff waren wir auf Thoi Son gelangt, eine langgezogenen<br />

Mekonginsel, die wahrscheinlich als Außenstelle von Disneyland errichtet wurde. Wie<br />

sich Europäer und vor allem Amerikaner südostasiatischen Dschungel vorstellen. Ich<br />

will nicht böse sein, die Insel gab es sicher vorher auch schon, noch bevor die erste<br />

Langnase ihren touristischen Fuß hierher gesetzt hat. Und ein bisschen Gestaltung<br />

tut gut, vor allem wenn sie der Bevölkerung Geld bringt. Noch weniger böse: es gibt<br />

schlimmere Orte. Zumindest die Palmen und Mangroven entlang des Flussarmes<br />

scheinen original zu sein und nicht extra gepflanzt. Und dass das Restaurant lieblich<br />

und für westliche Augen wohl gestaltet ist, erfreut ganz objektiv mein Auge, das<br />

zehngängige Menü, wohl drapiert und charmant vorgelegt, schmeckt, Luxus ist was<br />

Schönes. Leichte Anflüge von schlechtem Gewissen, wenn man sich von<br />

pensionsreifen alten Damen rudern lässt, begegnet man mit der Vorstellung, dass sie<br />

nicht unwesentlich zum Unterhalt ihrer Familien beitragen, was sie nicht könnten,<br />

wenn wir vor lauter schlechtem Gewissen auf Luxus verzichten würden.<br />

Man tut Gutes und bekommt Gutes. Ist die Welt nicht gerecht?<br />

Und wer denkt an Tierschutz, wenn die Riesenschlange mehrmals täglich von ihrem<br />

viel zu engen Käfig heraus darf, um den Hals westlicher Touristen zu schmücken?<br />

Moment, ich will auch ein Foto machen. Danke. Der Schlangenbändiger bekommt<br />

Trinkgeld, zumindest fordert er nicht. Die Schlange würde ihr Futter auch in Freiheit<br />

finden, aber wen kümmert’s? Es ist ein Arbeitsplatz, und die Alternative wäre eine<br />

riesige Flasche, in die das Tier in Schnaps eingelegt wäre, oder sie würde zu<br />

köstlichen Gerichten verarbeitet. Ob man die Krokodile auch gegessen hat, bevor ihr<br />

Leder zu Handtaschen und Geldtaschen wurde?<br />

Soweit ich mit den kulinarischen Grundsätzen in <strong>Vietnam</strong> vertraut bin, würde ich<br />

sagen, ja.<br />

Ein bisschen Mekong abwärts (? In welche Richtung fließt der eigentlich?) müssen<br />

wir noch einmal essen, diesmal begleitet von echter vietnamesischer Musik. Nun ja,<br />

doch ein bisschen besser als chinesische Musik, manchmal erkennt man so etwas<br />

wie Rhythmus. Später in Hue beim so genannten Kaiserdinner werden wir wieder in<br />

den Genuss traditioneller Musik kommen, dort klingt’s zwischendurch ja schon fast<br />

schmissig…


Happy Water und die Freuden des Essens.<br />

Schon bei der Fahrt vom Flughafen nach Saigon hinein sehen wir die viel<br />

beschriebenen Garküchen am Straßenrand. Wenig vertrauenerweckend, was da die<br />

Gehsteige verstellt. Aber ich habe ja meine Komfortimpfung. Und überhaupt, endlich<br />

Chance, meinen Bauch zu verkleinern. Die Sorge weicht der Gewissheit, habe ich im<br />

normalen europäischen Leben schon eher mit Durchfall als Verstopfung zu kämpfen.<br />

Schließlich hört man so allerhand von angeblich Erfahrenen. Also bestehen<br />

Aussichten, dass mein Bierbauch auf Bonsaimaße schrumpfen wird.<br />

Das erste Abendessen am Saigon River entspricht nicht ganz diesen Erwartungen.<br />

Großer Park, mehrere Hochzeitsgesellschaften, bunte Lampions, hunderte Gäste.<br />

Verspricht gröbere Wartezeiten bei der Bedienung.<br />

Erster Irrtum.<br />

Platz am Wasser, die Idylle verschwimmt<br />

Richtung Kitsch. Ich versuche, die Stäbchen<br />

irgendwie in meinen Händen zu ordnen,<br />

kleine Happen schaffe ich nach einiger Zeit<br />

ohne Absturz in meinen Mund zu befördern.<br />

Bei größeren Stückchen fehlen mir ein paar<br />

Newton. Was ist bloß falsch an meiner<br />

Technik? Ich übe zwischen den vielen<br />

Gängen immer, mit den beiden Spitzen der<br />

Stäbchen zusammen zu treffen. Ich fürchte,<br />

das sieht reichlich blöd aus.<br />

Einige Male Rätselraten, was die eine oder<br />

andere Speise sein könnte, jedenfalls ist es<br />

immer bunt, zu lustigen Figuren geschnitzt<br />

und nicht immer erkennbar, ob es<br />

Dekoration ist oder schon der nächste Gang.<br />

Endlich kommt mal etwas Bekanntes auf den<br />

Tisch, Spargel. Scheint so, als könne man<br />

ihn sogar mit den Stäbchen packen.<br />

Plötzlich ein aaaaaaahhhhhhhhh,<br />

iiiiiiiihhhhhhhhhhh vom Nachbartisch und herzhaftes Gelächter. Vorsichtig lasse ich<br />

meine Stäbchen mit dem Spargel zurück gleiten. Gerade noch rechtzeitig. Die<br />

Spargel entpuppen sich als zusammengerollte Erfrischungstücher.<br />

Zweiter Irrtum.<br />

Die folgenden Tage haben wir immer zwischen acht und zwölf Gängen, stets fein<br />

säuberlich serviert. Aber wo gibt man diese Köstlichkeiten alle hinein? Kleines<br />

Tellerchen, später noch ein kleines Schüsselchen, und irgendwann wääähhh. Acht<br />

Gänge aufs selbe Tellerchen? Mein Stäbchenproblem habe ich bald überwunden,<br />

wozu gibt’s dieses Schüsselchen mit Porzellanlöffel? Im Prinzip kann man alles mit<br />

Löffel aus Schüsselchen. Nun, fast alles halt, die Schrimps und Garnelen kann man<br />

sowieso nur mit den Fingern knacken. Schrim, wie die <strong>Vietnam</strong>esen sagen. Noch nie<br />

im Leben so viele Schrim gegessen. Ich mag dieses Zeug normal, aber langsam wird<br />

es sogar mir zuviel. Kleine Varianten in der Zubereitung lassen hin und wieder doch<br />

wieder die Geschmacksknospen sprießen. Aber echt unglaublich, wo überall man<br />

Schrimps dazumischen kann.<br />

Auch in der letzten Woche, als ich mich auf einfachere Küche verlege, begleiten mich<br />

diese Viecher. Da sitze ich jetzt endlich im Straßenrestaurant, das nur abends auf


dem Gehsteig aufgebaut wird, und will das eine oder andere probieren. Geht nicht.<br />

Nicht wegen meines Stäbchengefechts, da bin ich ja schon fast Großmeister,<br />

sondern weil die Portionen doch größer sind als bei diesen Vielgangmenüs.<br />

Meine frisch kennengelernte Talk-Freundin Hong fragt mich abends am Hoan Kiem<br />

See in Hanoi, was mir am besten geschmeckt hätte in <strong>Vietnam</strong>. Sie will ihr Englisch<br />

trainieren, tut mir leid, doch ich weiß doch nicht einmal die Bezeichnungen auf<br />

Deutsch. Bitte beschreib doch einer mal eine Speise, die er nicht kennt! Hund wird<br />

keiner dabei gewesen sein, obwohl, viele Hunde sah ich nicht in Saigon oder Hanoi.<br />

Und am Land die gutmütigsten Hunde der Welt, die kommen nicht einmal, um einen<br />

zu beschnüffeln. Die nächste Impfung, die sinnlos vom Tropeninstitut verabreicht<br />

worden ist. Die Hundsviecher wissen wahrscheinlich genau, wenn sie deppat sind,<br />

landen sie im Kochtopf. Einige sah ich als Fleischstücke auf verschiedenen Märkten.<br />

Die Schlangen landen ja eher im Schnaps, um Herz und Gesundheit zu erfreuen. Auf<br />

einem Schlangenfraß bestand ich allerdings. Das arme Tier wurde vor meinen Augen<br />

seines Herzens und seines Blutes beraubt, aber geschmeckt hat es auf<br />

verschiedenste Arten zubereitet nicht übel. Also vielleicht mundet ja so ein Hunderl<br />

auch nicht schlecht. Ansonsten hatte ich mich bereits in Cu Chi mit einem<br />

Desinfektionsmittel eingedeckt. Dort konnte man beim Reisschnapsbrennen zusehen<br />

und nicht nur kosten, sondern auch gleich kaufen. Da ich offensichtlich der Einzige<br />

war, der das Zeug hinunterbrachte, hatte ich diese Medizin für mich alleine und ich<br />

reichte bis Hanoi damit. Hat mir sicher geholfen, nicht halbe oder ganze Tage am Klo<br />

verbringen zu müssen, was bei der Dichte unseres Programms eine echte<br />

Katastrophe gewesen wäre.<br />

Auf der Fahrt nach Halong hatte ich in einem Landgasthaus Gelegenheit,<br />

vietnamesischen Wodka zu kaufen. Ich sah zwar später, dass ich das Dreifache<br />

gezahlt hatte, aber da ging’s um Geld oder Leben. Die Lokalität sah nicht gerade


klinisch sauber aus, und wir versuchten Besteck und Teller vor Gebrauch zu reinigen.<br />

Es waren auch alle recht rasch davon überzeugt, dass man besser aus der Flasche<br />

als aus einem Glas trank. Geschmeckt hat es trotzdem köstlich, aber vielleicht, weil<br />

wir erst NACH dem Essen einen Blick in die Küche werfen konnten. Auf dem Weg zu<br />

den Latrinen kam man beim Geschirrspüler vorbei. War ca. 1,50 Meter hoch und<br />

hatte zwei Arme und zwei Beine.<br />

Ich wusste, ich musste meinen<br />

Verdauungsorganen eine<br />

sterile Spülung verpassen. Da<br />

ich großzügigerweise mit<br />

meinem Reisschnaps sofort<br />

einige andere Leben gerettet<br />

hatte, erstand ich eben in<br />

meiner Not am Ausgang des<br />

Lokals diesen Wodka, der mich<br />

den Rest des Aufenthaltes vor<br />

den größten Gefahren dieses<br />

Landes schützen würde. Okay,<br />

den zweitgrößten Gefahren.<br />

Die größte Gefahr war<br />

zweifellos, Betrügern in die<br />

Hände zu fallen, aber dafür hat<br />

man schließlich ein wenig Reserve in der Reisekasse eingeplant.<br />

Soll ich das alles Hong erzählen, die nur ihr Englisch trainieren will, schüchtern<br />

neben mir auf der Bank sitzend, während unter der Bank ein junger Mann mit<br />

schiefen Zähnen sitzt, der versucht, meinen Rucksack um wertvolle Dinge zu<br />

erleichtern oder die er dafür hält? Hong ist mit ihrem Englischtraining weiter<br />

fortgeschritten als der junge Mann im Training seiner langen Finger. Meine immer<br />

lauter werdende Stimme lässt ihn wahrscheinlich unflätige Dinge in seinen<br />

imaginären Bart murmeln. Ich frage Hong lieber nicht nach der Bedeutung, sie würde<br />

sowieso zu höflich und schüchtern sein, um es mir wortwörtlich zu übersetzen. Meine<br />

nun doch recht laut formulierte Frage, ob ich die Polizei rufen soll, zaubert plötzlich<br />

meine Ladegeräte auf den Boden neben meiner Bank, mit der heftigen Frage, ob ich<br />

etwas vermisse. Woher bitte soll ich wissen, was inzwischen den Platz zwischen ihm<br />

und meinem Rucksack hin und her gewechselt hat? Da ich aber ohnehin alles von<br />

Wert an meinem Körper trage, gebe ich mich zufrieden, worauf er wieder was<br />

murmelt. Diesmal übersetzt mir Hong, er will uns nimmer sehen hier. A good joke,<br />

aber Hong schlägt vor, wir sollten uns ein bisschen entfernen. Der Rat ist weise,<br />

wenig später sehen wir, dass die Burschen zu zweit sind.<br />

Trotzdem kann ich nicht klären, was mir bisher in <strong>Vietnam</strong> am besten geschmeckt<br />

hat.<br />

Und obwohl ich mittlerweile die möglicherweise überprüfte Touristenhygiene<br />

aufgegeben habe, um mich der volksnahen Ernährungsweise anzunähern, bin ich<br />

bisher von Unpässlichkeiten verschont geblieben. Leider hat man da als Europäer<br />

einen Genierer, den die Leute hier vermissen lassen. Nicht besonders<br />

erwähnenswert, eine alte Frau im Zentrum von Hanoi auf offener Straße zu<br />

beobachten, wie sie schnell ihren Kittel lüftet, um die Hauswand hinter ihr mit<br />

braunem Graffiti zu verzieren.<br />

Im Bergland kennt man offensichtlich die Gefährlichkeit der Landesküche und<br />

versucht mit dem schönen Hobby der Schnapsbrennerei und der intensiven Nutzung


der daraus entstehenden Produkte die Gesundheit zu erhalten. Ungefähr in jedem<br />

zweiten Bauernhaus, in das man blickt, sitzt eine Oma in der Rauchküche und<br />

verwandelt Reis oder Mais in Happy Water.


Wären es nicht Buddhisten oder so was ähnliches, würde man meinen, ein<br />

fortwährendes biblisches Wunder. Abgefüllt in Plastik-Wasserflaschen würde man<br />

eher billigen Fusel vermuten, aber nein, es ist göttliche Medizin, die jedem Gast<br />

verordnet wird. Da man auf die Gesundheit anstoßen muss, damit die Behandlung<br />

wirkt, opfern sich die Gastgeber und geben die Höhe der Dosis vor. Natürlich könnte<br />

man die gemeinschaftliche Behandlung verweigern, aber man würde doch etwas<br />

Irritation hervorrufen, Kopfschütteln ernten, vielleicht mitleidiges Lächeln oder gar<br />

unverhohlen zur Schau gestellte Beleidigung.<br />

Das will ich nicht.<br />

Und außerdem ist<br />

diese<br />

Behandlungsmethode<br />

lustig,<br />

wenn man Glück<br />

hat, wird die<br />

Therapie noch<br />

durch H’Mong-<br />

Liebeslieder<br />

verstärkt, und<br />

auch die<br />

Schlaflager in den<br />

Häusern der<br />

Bergvölker sind<br />

dann um eine<br />

Spur weicher.<br />

Oder zumindest<br />

merkt man die<br />

blauen Flecken<br />

erst am Tag danach.<br />

Und überhaupt bringt es wahrscheinlich<br />

auch ein bisschen Entspannung in den<br />

doch schweren Alltag der Leute.<br />

Das Fernsehprogramm ist ja wirklich<br />

übel. Zwar hängt auf fast jeder Hütte<br />

eine Sat-Schüssel, aber irgendwie habe<br />

ich den Eindruck, der Schaden durch<br />

Happy Water müsse geringer sein als<br />

der Schaden durch das<br />

Fernsehprogramm. Nicht dass ich viel<br />

Zeit dafür verwendet hätte, aber die paar<br />

Male, die ich versucht hatte, irgendetwas<br />

Konsumierbares im TV zu finden, bin ich<br />

nicht fündig geworden. Abgesehen vom<br />

Wetterbericht, aber Wettervorhersage in<br />

<strong>Vietnam</strong> ist keine besonders schwierige<br />

Wissenschaft: warm, und es ist mit<br />

Regenschauern zu rechnen. Also ehrlich<br />

gesagt hör ich da lieber das glockenhelle<br />

Lachen von Mädchen beim Genuss<br />

einiger Stamperln Selbstgebranntem…


Des Kaisers neue Häuser.<br />

Jetzt bin ich schon weit in der Zukunft meiner Reise angelangt. Ich will nicht<br />

verwirren.<br />

Eigentlich landen wir ja auf dem Weg nach Norden zuerst in Hue. Bei strömendem<br />

Regen. Schwül, aber das sind wir reichlich gewohnt. Hue schlägt uns sofort in seinen<br />

Bann, ein weites, offenes Flusstal mit guter Luft. Die alten Kaiser wussten schon, wo<br />

es gut zu leben ist. Zum Eingewöhnen ins kaiserliche Leben zuerst ein bisschen<br />

kolonialer Luxus, indem wir im Morin Hotel absteigen. Über hundert Jahre<br />

Geschichte, wirkt alles sehr gediegen.<br />

Während wir vor dem Hotel<br />

zusammenwarten, um zur nahe<br />

gelegenen Schiffsanlegestelle zu gehen,<br />

können wir vietnamesisches Essen auf<br />

Rädern bewundern. Ein alter Mann, der<br />

sicher schon in der Kindheit beim Bau des<br />

Hotel Morin zugeschaut hat, kommt auf<br />

seinem Fahrrad vorbei. Hinten drauf<br />

hängen auf einer Seite diverse Zutaten,<br />

auf der anderen Seite ein richtiger<br />

Holzofen mit brennenden Scheiten.<br />

Kurzes Winken und er macht Halt, um<br />

seine frisch gekochten Köstlichkeiten<br />

auszuschenken.<br />

Nach dem Abfotografieren mehrerer<br />

vietnamesischer Kleinkinder und der<br />

städtischen Gärtnerinnen genießen wir<br />

eine beschauliche Fahrt auf dem Parfumfluss, lassen gemächlich Hausboote,<br />

Parkanlagen und Tempeln an uns vorüberziehen.


Langsam beginnen wir, uns erhaben zu fühlen. Ist auch notwendig, da wir zwei Tage<br />

Klöster, Urnen und Mausoleen vor uns haben. Alles schaut mindestens 500 Jahre<br />

älter aus als es ist, diese alten Kaiser entfalteten offensichtlich ihre größte Pracht erst<br />

unter dem Schutz der Franzosen. Das Volk braucht einen repräsentablen Kaiser,<br />

wenn es von Kolonialherren unterjocht ist. Verständlich. Ich erstarre in Ehrfurcht.


Die Zitadelle mit verbotener Stadt, oder umgekehrt, Ansichtssache, sieht weniger alt<br />

aus, was kein Wunder ist. Die Amerikaner sorgten im <strong>Vietnam</strong>krieg dafür, dass heute<br />

alles in neuer Pracht erstrahlen darf. Sie ersparten dem vietnamesischen Volk das<br />

mühevolle Niederreißen dieses Weltkulturerbes und überließen ihm nur mehr den<br />

vergleichsweise einfachen Wiederaufbau. Man soll nicht meckern, vielleicht hätten<br />

die USA ohnehin ein Disneyland dort gebaut, wenn man sie nicht undankbarerweise<br />

über den großen Ozean nach Hause geschickt hätte. Und die Rekonstruktionen sind<br />

wirklich schön geworden. Schade, dass angeblich nicht einmal die Grundrisse der<br />

Gebäude stimmen. Würden sie aber sicher auch nicht, wenn man den Wiederaufbau<br />

durch Mickey Mouse’ Erben durchführen lassen hätte.<br />

Beim<br />

abendlichen<br />

Kaiserdinner<br />

müssen wir uns<br />

später in höfisch<br />

bunte<br />

Seidentrachten<br />

kleiden, was<br />

eher Anlass zur<br />

Heiterkeit<br />

verursacht als<br />

authentische<br />

Schwermut.<br />

Aber wer fragt schon<br />

nach Originalität, wenn<br />

das Interessanteste<br />

ohnehin die Geschichte<br />

des armen Kaisers ist,<br />

der trotz hunderter<br />

Frauen keinen<br />

Thronfolger zustande<br />

brachte. Die<br />

Depressionen der armen<br />

Kaiser lassen sich in<br />

den diversen Mausoleen<br />

noch intensiver<br />

nacherleben. Wie schön<br />

muss der Tod sein,<br />

wenn er so mühevoll in<br />

so viel Stein gemeißelt<br />

wird?


Das Volk geborener Partisanen.<br />

Sieht auf der Landkarte nicht weit aus die Fahrt von Hue nach Hoi An. Aber<br />

irgendwie zieht sich die Fahrt. Am wenigsten Schuld daran hat die Landschaft. Die<br />

bemüht sich um unser Auge und gebietet uns, unsere Blicke nach außen gerichtet zu<br />

lassen. Den ersten Berg, den unser Bus erklimmt, verwechseln wir mit dem<br />

Wolkenpass. Trotzdem ist unser Fahrer gnädig und hält auf offener Strecke, damit<br />

wir die Aussicht auch fotografisch dokumentieren können.<br />

Nach zwei Minuten wächst eine junge Frau aus dem Boden, die uns Ansichtskarten,<br />

Straßenkarten und ihre Großmutter verkaufen will. Ebenso aus dem Nichts taucht<br />

weitere zwei Minuten später ein kleiner Junge auf. Der ältere Mann, der uns fünf<br />

Minuten darauf auch noch beehrt, hat entweder einen weiteren Weg oder einen<br />

kürzeren Atem. Unglaublich, woher die auf einmal kommen. Neben der Straße geht<br />

es mehr oder weniger senkrecht hinunter. Ob die hier auch solche Tunnels haben<br />

wie in Cu Chi? Die Vermutung drängt sich auf, dass dieses jähe, unvermutete<br />

Auftauchen in den Genen dieses Volkes liegen muss. Ich kann mir den Schreck<br />

amerikanischer Soldaten (oder französischer, oder chinesischer, ist ja egal)<br />

vorstellen, wenn da plötzlich Partisanen aus dem Erdboden wuchsen.<br />

Viele Tage später in der Nähe von Bac Ha würde ich diese Erfahrung noch einmal<br />

machen. Ein Mädchen mit riesigem Tragekorb, das urplötzlich wie ein Geist aus der<br />

Flasche über ein Feld schweben würde, während ich meinen Fotoapparat auf eine<br />

Bäuerin in Tracht fokussiere. Es waren keine Wolken zum Verstecken, wenn das nun<br />

wer vermuten sollte.


Der wolkenverhangene Wolkenpass (no na!) lag schließlich noch vor uns.


Drachen, Brücken, Schneider und ein Schiff aus Beton.<br />

Auf der schöneren Seite<br />

<strong>Vietnam</strong>s (wettermäßig<br />

betrachtet) erreichen wir<br />

Da Nang, den ersten<br />

Landeplatz der<br />

Amerikaner.<br />

Die Brücke steht noch,<br />

was bedeutet, dass es<br />

entweder ein Wunder ist<br />

oder eine<br />

Rekonstruktion. Wie<br />

auch immer, ich glaube<br />

an Wunder. Ich schreibe<br />

nichts über das Cham-<br />

Museum, weil ich<br />

schließlich vorhabe,<br />

nichts über<br />

Sehenswürdigkeiten zu<br />

schreiben. Jeder<br />

Reisebuchautor hat das<br />

schon besser zustande<br />

gebracht .Ist außerdem<br />

nicht mehr weit nach Hoi<br />

An, warum also sich hier<br />

erzählerisch aufhalten?<br />

Von den berühmten<br />

Marmorbergen sehen wir<br />

nur einen<br />

Steinmetzbetrieb mit<br />

Verkaufshalle.<br />

Klar, jeder Fluggast<br />

nimmt sich von hier<br />

einen schönen<br />

Marmorbrunnen mit,<br />

oder zumindest eine<br />

Statue. Aber wenigstens<br />

in der Ferne sind die<br />

Marmorberge erkennbar.<br />

Man soll die<br />

Landesschätze nicht zu<br />

sehr ausbeuten, also<br />

baute man vor den Toren<br />

von Hoi An ein<br />

wunderschönes Schiff<br />

aus Beton in die<br />

Reisfelder. Beton fällt<br />

nicht unter das<br />

Artenschutzabkommen.<br />

Das Restaurant ist aber


trotzdem wunderschön und mit dem besten Service der gesamten Reise. Die<br />

umliegenden Reisfelder, durch die dankenswerterweise ein alter Bauer für uns auf<br />

seinem Wasserbüffel reitet, lassen in ihrer asiatischen Romantik nichts zu wünschen<br />

übrig und machen sogar die Sonne vergessen, die unbarmherzig auf unsere Körper<br />

prallt.<br />

Wir sind bereit, die laut<br />

Reiseführern<br />

asiatischste Stadt von<br />

ganz <strong>Vietnam</strong> zu<br />

besichtigen. Lassen<br />

uns vom Drachen<br />

erzählen, dessen<br />

Schwanz die Japaner<br />

mit einer Brücke<br />

beschwerten, damit er<br />

in ihrer Heimat mit<br />

dem Kopf kein<br />

Erdbeben auslöst.<br />

Irgendwas scheinen<br />

sie falsch gemacht zu<br />

haben. Oder ich hab<br />

schlecht zugehört.<br />

Ob es der Drachen im Brunnen des nahen Tempels ist, hab ich nicht ganz<br />

mitbekommen. Sagen wir halt ja, soll schließlich eine schöne Geschichte sein und ich<br />

habe auch den Titel dieses Kapitels so gewählt.


Also wenn man sich die ganzen Touristen und deren Jäger wegdenkt, die Nase ein<br />

wenig rasten lässt, dann ist diese Stadt wirklich schön und alt. Gelobt seien ihre<br />

Schneider und Schneiderinnen, wie ich annehme. Gelobt ihre geschickten, flinken<br />

Finger, die über Nacht einen Maßanzug fertigen. Und ja. Aus! Keine<br />

Sehenswürdigkeiten, ich hab’s versprochen.


Die <strong>Kinder</strong> von Hiep Duc.<br />

Niemals hätte ich für möglich gehalten, dass in <strong>Vietnam</strong> jemand so schleichen könnte<br />

wie unser Fahrer. Unser Kleinbus ist nagelneu, ich vermute, er wird vom Chef<br />

höchstpersönlich gesteuert. Nichts kann uns aufhalten, nicht einmal die Sorge um ein<br />

neues Fahrzeug. Obwohl, ich kenne mittlerweile die vietnamesischen<br />

Verkehrsverhältnisse, ich verstehe den Fahrer. Ich unterdrücke aufkommendes<br />

Mitleid, bei 200% Steuer wird dieses Fahrzeug hier wahrscheinlich über 100.000<br />

Euro kosten, eine astronomische Summe bei städtischen Durchschnittseinkommen<br />

von ca. 300 Euro im Monat. Lange kann ich nicht an Fahrer und Auto denken.<br />

Immerhin ist heute der absolute Höhepunkt dieser Reise. Wir treffen unsere<br />

Patenkinder im Projektgebiet von Hiep Duc. Ich habe mich im Internet zuvor schlau<br />

gemacht. Eines der Hauptkampfgebiete im <strong>Vietnam</strong>krieg. Unser Reiseführer erläutert<br />

die heutige Situation. Viele Hügel in dieser Provinz wurden von den Amerikanern für<br />

viele Generationen mit Agent Orange vergiftet. Nicht nur, dass auch noch 35 Jahre<br />

später missgebildete <strong>Kinder</strong> zur Welt kommen, ist auch die Vegetation nachhaltig<br />

geschädigt. Viele Hügel sind kahl, auf anderen versucht man mit schnell wachsenden<br />

Eukalyptuswäldern das Gift aus dem Boden zu ziehen, mit dem verdammten Effekt,<br />

dass daneben nichts wächst, weil diese Bäume sehr gründlich wirklich alles aus dem<br />

Boden holen. Also eines der ärmsten Gebiete von <strong>Vietnam</strong>. Die Landschaft<br />

verschont uns gnädig. Was man nicht sehen will, übersieht man außerdem sowieso.<br />

Und da die Vorfreude auf unsere <strong>Kinder</strong> überwiegt, sind wir ziemlich abgelenkt.<br />

Nach zweistündiger Fahrt von Hoi An erreichen wir die Provinzhauptstadt, lassen<br />

eine umständliche Funktionärsrede des Bezirkshauptmannes über uns ergehen, in<br />

der er erstaunlicherweise jede politische Aussage vermeidet. <strong>Vietnam</strong>esen reden<br />

nicht über Politik. Sicher hat er diese Reiseführer gelesen. Also jedenfalls müssen wir


da durch. Gute Miene.<br />

Dann wird’s ohnehin<br />

lustiger. Wir fahren zu<br />

einem<br />

Projektkindergarten von<br />

World Vision. Die<br />

Kleinen müssen für uns<br />

singen und tanzen und<br />

Gedichtlein aufsagen,<br />

die wir sowieso nicht<br />

verstehen. Trotzdem<br />

überkommt uns<br />

Rührung. Als die Sonne<br />

am höchsten steht und<br />

unsere Kleidung am<br />

stärksten vor Schweiß<br />

trieft, bringt man uns<br />

endlich zurück in die<br />

Provinzhauptstadt, wo<br />

man unsere Patenkinder<br />

mit Taferln und<br />

Begrüßungsblumen<br />

versehen in einer Reihe<br />

aufgestellt hat.<br />

Absichtlich oder zufällig,<br />

wer weiß das schon,<br />

müssen wir einen<br />

Graben überwinden, um<br />

zu den Kids zu<br />

gelangen. Nga ist die<br />

Erste, jemand muss<br />

ausgeplaudert haben,<br />

dass ich eine blinde<br />

Brillenschlange bin.<br />

Natürlich bin ich im Vorteil, weil sie ein Taferl hat und ich nicht. Ich weiß also, wer sie<br />

ist und kann sie mal verstohlen mustern. Das hübscheste aller <strong>Kinder</strong>, natürlich. Nur<br />

böse Seelen würden widersprechen. Schüchtern gebe ich mich zu erkennen,<br />

Sekundenbruchteile später umklammert mich ein kleines Händchen, das mich die<br />

nächsten zwei Stunden nicht mehr loslassen würde. Das zweithübscheste aller<br />

<strong>Kinder</strong> steht daneben und beobachtet den Ausbruch von Freude und Rührung, fasst<br />

sich ein Herz und fragt schüchtern: „Karin?“ Sorry, ich kenne keine Karin. Unendlich<br />

traurig blickt mich die Kleine an, ein Stich ins Herz. Überwältigt von den Gefühlen<br />

spüre ich, wie mich jemand von der anderen Seite packt und an sich drückt. Hab ich<br />

nicht in Reiseführern gelesen, <strong>Vietnam</strong>esinnen scheuen Körperkontakt, hab ich nicht<br />

in der Bezirkshauptmannschaft noch einmal unterschrieben, ich dürfte kein Kind<br />

angreifen? Aber hat mir jemand gesagt, wie ich reagieren soll, wenn ich plötzlich von<br />

zwei Seiten umklammert werde, sich ein Kind an mich schmiegt und eine Mutter mich<br />

umarmt? Die Kommunikation ist natürlich ohnehin auf Körperkontakt beschränkt.<br />

Vierzig Pateneltern und einige wenige Übersetzer, die sich redlich bemühen. Einzig<br />

der kleine Bruder unserer Nga scheint vietnamesische Reiseführer gelesen zu<br />

haben, obwohl er noch nicht zur Schule geht. Er meidet uns schüchtern wie <strong>Kinder</strong>


seines Alters<br />

überall auf der<br />

Welt auch.<br />

Langsam<br />

fassen sich die<br />

ersten<br />

Pateneltern und<br />

beginnen ihre<br />

Geschenke zu<br />

überreichen,<br />

also fange ich<br />

auch an, den<br />

prall gefüllten<br />

Rucksack<br />

auszupacken.<br />

Leuchtende<br />

Augen, ein<br />

Lächeln, wie es<br />

nur 9-jährige<br />

<strong>Kinder</strong><br />

hinzaubern können. Plötzlich treiben uns die Reise-, Gruppen-, Projekt- und<br />

sonstigen Leiter zu den drei Kleinbussen, um uns alle, 40 Pateneltern, ca. 25<br />

Patenkinder, deren Eltern, Geschwister, Großmütter, dazu Übersetzer, Leiter und<br />

Fahrer irgendwie unterzubringen. Wie es funktioniert hat, wird keiner mehr später<br />

sagen können, jedenfalls scheinen alle mit zu sein. Die Fahrt geht nicht weit, wir<br />

drängen uns alle in einen noch kleineren Raum, diesmal mit der Erschwernis, dass<br />

auf allen Tischen Essen aufgetürmt ist. Zu meinem großen Erstaunen finden alle, die<br />

zusammen gehören, auch zusammen Platz.<br />

Einmal begegne ich noch dem Mädchen, das immer noch mit traurigem Blick Karin<br />

sucht. Sorry. Ich würde die Kleine gerne mit an unseren Tisch setzen, aber während<br />

mich Nga umklammert, entschwindet Karins Patenkind wieder. Der Kampf ums<br />

bessere Füttern beginnt. Flinke Stäbchen von beiden Seiten füllen meinen Teller,<br />

während ich mich bemühe, Nga und ihre Mutter mit eiweißreicher Nahrung zu<br />

versorgen. Nga ist dünn wie viele <strong>Kinder</strong> ihres Alters, die Mutter jedoch wirklich<br />

erschreckend unterernährt. Wir versprechen ihr, ihr eine Kuh zu kaufen. Kaum mit<br />

dem Essen fertig, werden wir schnell und plötzlich von unseren Patenkindern wieder<br />

getrennt. Ich verstehe, es sollen keine tieferen Bindungen entstehen, wäre nicht im<br />

Sinne des Projektgedankens. Die <strong>Kinder</strong> sollen „Fenster zur Welt“ sein, wie uns<br />

erklärt wurde. Mehr nicht. Wir dürfen schließlich auch nicht die Adressen der <strong>Kinder</strong><br />

erfahren. Kurzer Abschiedsschmerz mit dem Wissen, unsere <strong>Kinder</strong> nie mehr sehen<br />

zu können. Oder doch? Mein Entschluss wieder zu kommen reift. Nächstes Ziel ist<br />

ein neu gebautes Gesundheitszentrum. Alles fertig und in Betrieb, inklusive<br />

Kreißsaal. Irgendwann wird es auch Wasser geben. Riesiger Fortschritt, wie<br />

notwendig so etwas in diesem Land ist, erzählt man mir erst einige Tage später. Es<br />

gibt keine Sozialversicherung in diesem Land, man behilft sich mit Natur- und<br />

Kräutermedizin. Krankenhaus können sich nur die wenigen Wohlhabenden leisten.<br />

Wir wollen keine Kritik am System anbringen. <strong>Vietnam</strong>esen reden nicht über Politik.<br />

Über unwegsames Gelände zu einer ethnischen Minderheit, die auch von World<br />

Vision betreut wird. Hier umfängt uns wirklich bittere Armut, aber wir wissen ja nicht,<br />

ob es in den Dörfern unserer <strong>Kinder</strong> nicht ebenso ist.


Man zeigt uns das mit <strong>Hilfe</strong> von World Vision neu errichtete Gemeinschaftshaus, wir<br />

begrüßen die Dorfältesten und lassen wieder einige Reden über uns ergehen, bevor<br />

wir das Kuhprojekt besichtigen dürfen.<br />

Am Rückweg zur Provinzhauptstadt besuchen wir eine <strong>Kinder</strong>krippe, wo uns die Ein-<br />

bis Dreijährigen tänzerische Anmut in Windelhosen zeigen.<br />

Zum Abschluss noch Besuch der World Vision-Zentrale, wo uns alle Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter vorgestellt werden. Wir gewinnen den Eindruck, dass das Projekt<br />

auch weiterlaufen wird, wenn sich World Vision in wenigen Jahren zurückziehen wird.<br />

Die Eigendynamik ist erkennbar, der Wille, weiter zu machen vorhanden. Natürlich<br />

kann man eine Region mit ein wenig Entwicklungsarbeit nicht wohlhabend machen,<br />

aber eine gut durchwachsene Infrastruktur, die hier mit <strong>Hilfe</strong> von World Vision<br />

geschaffen wird, könnte ausreichend Impulse für die Zukunft liefern.<br />

Guten Mutes und mit schwermütigen Herzen lassen wir uns zurück nach Hoi An<br />

bringen.


Babylonische Sprachverwirrung.<br />

Susanne sucht den Kontakt zu den Menschen. Versucht sich in der uns fremden<br />

Sprache. Und alle haben Riesenspaß. Wir lernen von ihr, wenn auch mit einer<br />

gewissen vorsichtigen Zurückhaltung.<br />

Immer wieder hören wir, wie viele Bedeutungen eine einfache Silbe haben kann, ein<br />

einfaches Wort, wenn man es nur unmerklich anders betont.<br />

Nach einigen Tagen lassen auch wir uns zu einem fröhlichen Xin Chao hinreißen,<br />

was so viel wie Guten Tag heißen soll. Nachdem nach und nach der sprachliche Mut<br />

auf alle Reiseteilnehmer übergreift, demoliert Nam unsere Euphorie, indem er uns<br />

zart und einfühlsam darauf hinweist, dass wir unsere Begeisterung beim Grüßen<br />

dämpfen sollten, weil die Betonung, die diese hervorruft, aus einem „guten Tag“ ein<br />

„ich will eine Nudelsuppe“ macht. Und wir wundern uns, warum wir so oft Suppe<br />

bekommen, bei der Begeisterung, die Susanne hat!<br />

Susanne ist aber im Lern- und Übungsprozess schon längst weiter und nicht zu<br />

bremsen.<br />

Sie weiß inzwischen auch, was „Guten Abend“ heißt und probiert ihr Wissen fleißig<br />

aus. Zuerst fällt es ihr nicht auf. Da aber die herzlich gegrüßten Männer immer<br />

grinsen, kichern oder auch herzhaft lachen, fasst sie sich ein Herz und fragt unseren<br />

Reiseleiter, was denn so große Heiterkeit verursacht. Er lässt sich ihren Gruß<br />

vorsagen und bricht ebenfalls in Lachen aus. Erst eine hochnotpeinliche Befragung<br />

bringt ihn nach einiger Zeit dazu, mit der Wahrheit heraus zu rücken. In Susannes<br />

Betonung hieß der Gruß: “Ich begrüße Deinen Penis“<br />

Ich denke, fortan wird sie sich wieder auf die Nudelsuppe beschränken.<br />

Umgekehrt haben es die <strong>Vietnam</strong>esen auch nicht leicht mit Fremdsprachen. Die<br />

Schulen dürften im Fremdsprachenunterricht eher keine Meisterleistungen bieten,<br />

vielfach spielt sich der Englischunterreicht in Form von extra zu bezahlender<br />

Sonntagsschule ab. In Dörfern scheint es teilweise überhaupt keine<br />

Fremdsprachenlehrer zu geben, was angesichts der Gehaltssituation kaum<br />

verwunderlich ist. Ein Lehrergehalt kann bestenfalls als Zusatzeinkommen zu<br />

betrachten sein, was man so hört, liegen die Gehälter teilweise bei nur 25 bis 30<br />

Euro monatlich.<br />

Dazu kommt, dass jahrelang Russisch als Fremdsprache unterrichtet wurde,<br />

kurzzeitig auch Französisch. Bis zur Wende in Deutschland wurden Akademiker<br />

vorwiegend in Ostdeutschland ausgebildet, sodass sich die<br />

Fremdsprachenkenntnisse auf mehrere Sprachen verteilen.<br />

Vor allem in Städten und in Gegenden,<br />

die von Touristen heimgesucht werden,<br />

besteht großes Interesse, Englisch zu<br />

lernen.<br />

Immer wieder werde ich in Hanoi von<br />

Leuten angesprochen, die Ihr Englisch<br />

ausprobieren wollen und verbessern<br />

wollen. Klar, die meisten, die mich<br />

anreden, wollen nur mein Geld, unter<br />

welchem Vorwand auch immer, aber<br />

eben nicht alle.<br />

Auch später in Sapa mache ich die<br />

Erfahrung, dass manche junge Leute<br />

einfach nur Englisch plaudern wollen, so


wie Ker, oder meine kleine Chi.<br />

Wobei die Bergvölker wahrscheinlich den Vorteil haben, von vorneherein<br />

mehrsprachig aufzuwachsen. Nicht nur, dass in den Bergdörfern meist zwei oder drei<br />

verschiedene Völker zusammenleben, die sich miteinander verständigen müssen,<br />

spätestens wenn die <strong>Kinder</strong> mit sechs Jahren in die Schule kommen, werden sie in<br />

einer ihnen völlig fremden Sprache unterrichtet. Vielleicht ist dann Englisch nur noch<br />

eine Kleinigkeit. Viele Mädchen und Frauen im Bergland sprechen fließend Englisch,<br />

wenn sie Kontakt zu Touristen haben, haben allerdings beim Lesen und Schreiben<br />

Schwierigkeiten, weil sie diese Sprache in der Schule ja nicht gelernt haben.


Ein Hauch von Paris.<br />

Alles gleich und doch ganz anders. Millionen Mopeds, aber nicht ganz so wild wie in<br />

Saigon. Schmale Häuser, aber immer wieder großzügige Boulevards, Bäume, Parks,<br />

so etwas wie ein Hauch von Paris durchweht die Stadt.<br />

Für die USA war Hanoi<br />

viele Jahre lang der Hort<br />

des Bösen, den es zu<br />

vernichten galt. Nichts<br />

erinnert mehr an diese<br />

Zeit, höchstens der<br />

abgeschossene B-52-<br />

Bomber, dessen Trümmer<br />

immer noch in einem<br />

kleinen See liegen. Und<br />

überhaupt. Das Typische<br />

an dieser Stadt sind die<br />

großen und kleinen Seen,<br />

teils dicht verbaut, teils<br />

von großzügigen<br />

Parkanlagen umgeben.<br />

Die Luft ist besser,<br />

wenngleich es genau so<br />

laut ist wie in Saigon.<br />

Eine Stadt, deren heiligstes Innerstes ein Verehrungsort für eine Schildkröte ist, kann<br />

wahrscheinlich nichts wirklich erschüttern. Auch nicht, dass alljährlich ein ganzer<br />

Stadtteil zwei Monate lang unter Wasser steht. Der Rote Fluss braucht in der<br />

Regenzeit Platz wie schon seit immer.<br />

Die Stadt ist durch<br />

einen Damm<br />

geschützt, jedenfalls<br />

beinahe die ganze<br />

Stadt. Zwischen<br />

Fluss und Damm<br />

liegt nämlich ein<br />

Stadtteil, wo die<br />

Gründe und Häuser<br />

billiger sind, dafür<br />

eben nur zehn<br />

Monate pro Jahr<br />

bewohnbar, Als ich<br />

in einen abendlichen<br />

Regen gerate, denke<br />

ich allerdings, auf<br />

der falschen Seite<br />

des Dammes zu<br />

sein. Das Ancient Quarter verwandelt sich in Venedig. Unangenehm der Gedanke,<br />

was da unter dem trüben Wasser sein könnte, durch das man wadentief watet.


Andererseits, man kann zumindest nicht irrtümlich in einen Kanal fallen wie in<br />

Venedig.<br />

Am Morgen danach alles als wäre nichts gewesen. Nicht schmutziger, nicht<br />

sauberer. Ich wundere mich tagtäglich, dass irgendwann die Stadt immer wieder<br />

sauber aussieht, obwohl jeder alles wegwirft. Die Hälfte der Bevölkerung scheint mit<br />

Kehren beschäftigt zu sein, damit die andere Hälfte immer alles wegwerfen kann.<br />

Die Altstadt ist zum Großteil wirklich noch alt, es scheint so etwas wie<br />

Denkmalschutz zu geben, den halt hin und wieder gute Freunde individuell<br />

definieren. Aber noch klotzt nichts, die Korruption scheint einen Rest Anstand<br />

bewahrt zu haben.


Bucht des untertauchenden Drachen.<br />

Ich habe nachgelesen: 1968 Inseln und Inselchen. Jemand wird sie schon gezählt<br />

haben, soll ja Leute geben, denen fad ist. Ich sitze auf dem Bug des Ausflugschiffes<br />

und lasse diese versunkene Landschaft auf mich wirken, die immer wieder<br />

verschieden aussieht und trotzdem eine Einheit ist.<br />

Das Licht ist anders hier in der Halong-Bucht, keine Ahnung, woran das liegt. Bin<br />

schließlich nicht das erste Mal am Meer. Die Felsen wirken manchmal beschwingt,<br />

gleich darauf wieder bedrohlich. Immer wieder schwimmende Dörfer. Eines steuern<br />

wir an. Wahrscheinlich die Bedingung, dass die Leute hier auf dem Wasser leben<br />

dürfen. Müssen sich eben von tausenden Touristen belästigen lassen, die sich über<br />

die Stege drängen, die die einzelnen Boote miteinander verbinden. Die Dorfkinder<br />

rudern mit ihren Booten zu<br />

uns, noch bevor wir<br />

festmachen können und<br />

betteln um Geld. Hübsch<br />

anzusehen, schade, dass ich<br />

nicht taubstumm bin.<br />

Die <strong>Kinder</strong>mafia sorgt dafür,<br />

dass sich andere Kids mit<br />

ihren Booten nicht nähern<br />

dürfen. Ich überlege, ob ich<br />

Böses rufen soll, aber es sind<br />

<strong>Kinder</strong>. Andererseits werden<br />

aus diesen <strong>Kinder</strong>n<br />

irgendwann Erwachsene.<br />

Unschöne Gedanken in der<br />

schönsten Landschaft der<br />

Welt. Die Fische und Meeresfrüchte sagen nichts dazu in ihren Unterwasserkäfigen<br />

zwischen den Booten. Unwirkliche Szenerie. Ich werde das Gefühl nicht los,<br />

unerwünschter Eindringling zu sein und bin froh, als wir weiter fahren, vorbei an<br />

einem Dorf von Perlenzüchtern. Das Wasser muss also trotz des Abfalls, der<br />

unübersehbar herumschwimmt, sauber sein. Dafür sprechen auch die vielen Quallen,<br />

die später die meisten unserer Gruppe abhalten werden, die Schwimmpause für die<br />

dafür vorgesehene Tätigkeit zu nutzen. Ich verlasse mich auf Elfis scharfe<br />

bewachende Augen und stürze mich in die angenehm temperierten Fluten. Echte<br />

Wohltat! Unser Boot heißt Hai Long Dream. Hoffe inständig, dass das nichts mit Hai<br />

zu tun hat.<br />

Der Himmel wartet mit dem Zuziehen<br />

gnädig, bis wir uns Halong City nähern,<br />

dann allerdings wird’s auf der Fahrt<br />

zurück nach Hanoi wirklich finster und<br />

wir sind froh, nicht zu den Millionen<br />

Mopedfahrern zu gehören, als der<br />

Wolkenbruch einsetzt.<br />

Vielleicht will uns nur der Himmelvater<br />

das Wasser aus der Halong-Bucht<br />

nachbringen, weil es uns dort so gut<br />

gefallen hat, wer weiß.


Touristenjäger und andere Menschen.<br />

Zuerst noch die Geschichte eines unserer Reiseleiter:<br />

Im Alter von sieben Jahren war er Napalmopfer bei einem Bombenangriff der<br />

Amerikaner. Er vermeidet böse Worte, der Krieg ist vorbei. Klar…<br />

Sein Vater und ein Onkel kämpften für den Vietcong, vier andere Onkel für<br />

Südvietnam. Man dachte immer an die Zeit danach und wie die Familie überleben<br />

könnte.<br />

Andere zogen vom Norden in den Süden um nach dem Krieg wieder<br />

zurückzukehren. Es wird auch umgekehrte Wanderbewegungen gegeben haben.<br />

Millionen Schicksale.<br />

Auch damit lernt man, das Land und vor allem seine Menschen zu verstehen. Viel<br />

mehr Menschen wollte ich kennen lernen.<br />

Die Trennung von der Gruppe war schwer. Bin nun eine Woche auf mich allein<br />

gestellt. Wahrscheinlich sehe ich das gelassener als meine Frau und der Rest der<br />

Gruppe. Gruppen haben es so an sich, dass sie sich das Leben ohne Gruppe nur<br />

schwer vorstellen können.<br />

Ich bummle noch schnell über den nahen Markt, finde einen Supermarkt, in dem ich<br />

einige Geschenke für die <strong>Kinder</strong> im Bergland kaufen kann. Leider keine Luftballons,<br />

die sich als Hit der vergangenen 10 Tage erwiesen haben.<br />

Die eingeplante Stunde Zeitreserve vergeht viel zu rasch, ich will pünktlich in der<br />

Hotelhalle zurück sein. Wechsle heute von Luxus auf Einfach und habe mit dem<br />

Manager des neuen Hotels vor zwei Tagen telefonisch vereinbart, dass ich hier<br />

abzuholen wäre.<br />

Auf die Sekunde genau spricht mich ein junger Mann an, gutes Englisch, wirkt eher<br />

freundschaftlich als geschäftsmäßig und gibt sich als Manager meines nächsten<br />

Hotels zu erkennen.<br />

Mit meinem Koffer in der Hand fragt er beim Verlassen des Hotels so beiläufig, ob es<br />

mir was ausmacht, wenn wir mit dem Moped fahren. Nun ja, mir nicht, aber was wird<br />

aus dem Koffer? Kein Problem. Hartschalenkoffer, ein bissl muss er den schon<br />

pressen, dass er zwischen Sitz und Kotschützer passt. Ich schwinge mich hinter<br />

Mister Truong auf den Sattel, und ab die Post! Vor einigen Tagen mit der Rikscha, ja,<br />

da bekam ich eine Vorstellung, wie das ist mit dem Verkehr, aber die Bedingungen<br />

haben sich geändert, die Geschwindigkeit vergrößert, und ich weiß, solche Dinger<br />

können umfallen. Ich umklammere Mister Truong, während sich sein Hupe in<br />

Schlangenlinien einen Weg durchs Gassengewirr sucht. Ich wusste nicht, dass man<br />

zwanzig Minuten die Luft anhalten kann ohne ohnmächtig zu werden, aber ich<br />

schaffe es. Werde langsam entspannter, löse etwas die Umklammerung. Am Ende<br />

der Fahrt weiß ich: ich bin süchtig. Mopedsüchtig. Jedes Mal wenn ich in den<br />

nächsten Tagen etwas zum Rauchen angeboten bekomme, denke ich ans<br />

Mopedfahren und sehe keinen Grund, meine Lunge zu schädigen. Scheint alles<br />

geraucht zu werden, was Gott und Staat verboten haben, ich halte mich lieber ans<br />

Moped.<br />

Und dann lauern sie. Verfolgen einen. Umschmeicheln, witzeln, lächeln, fordern,<br />

betteln. Oder geben sich ganz unauffällig, um plötzlich ihr Netz auszuwerfen: Die<br />

Touristenjäger von Hanoi.<br />

Ich schweige in diesem Bericht gnädig. Ich bin reich wie alle Langnasen, also habe<br />

ich meinen Obolus zu leisten. Niemand entkommt. Wäre das der Fall, wäre am


System was falsch. Nichts hilft, man kann sich nicht in Unauffälligkeit tarnen.<br />

Langnasige Monster können anziehen was sie wollen, sie werden immer als<br />

langnasige Monster herausragen.<br />

Ich entscheide mich für die Variante<br />

Dung. Wahrscheinlich nicht die blödeste<br />

Entscheidung, als Einzelperson bietet<br />

man ganz einfach zu viel Angriffsfläche.<br />

Dung ist angeblich Technikabsolvent, der<br />

auf Arbeitssuche ist. Ja klar, das ist er<br />

sicher, und den Arbeitsplatz biete erstmal<br />

ich. Aber er ist freundlich, sehr gebildet<br />

und versichert mir, dass er für seine<br />

Guidetätigkeit nichts verlangt. Ich bin<br />

kein Illusionist, versuche ihm aktiv<br />

Entlohnung anzubieten, was er freundlich<br />

lächelnd ablehnt. Also bin ich<br />

gezwungen, ihn auf alles einzuladen.<br />

Unter dem Strich steige ich<br />

wahrscheinlich pari aus, weil er wirklich<br />

für alles die günstigste Variante kennt.<br />

Mit ihm komme ich auch in den Genuss<br />

öffentlicher Busfahrten, von denen<br />

überall abgeraten wird, wenn man nicht<br />

den letzten Kick eines Abenteuers sucht.<br />

Alles nicht so wild, einer der vielen<br />

Irrtümer von Reisebuchautoren. Mag<br />

sein, dass die Busse nicht pünktlich sind,<br />

aber ich versäume ja nichts.<br />

Und Dung kennt wirklich jeden Winkel<br />

der Stadt, weiß was mich interessiert,<br />

was ich sehen will. Lehnt entsetzt ab,<br />

wenn ich mich in ein Restaurant setzen<br />

will, dass mir einen gewissen<br />

Mindeststandard zu versprechen scheint.<br />

Nein, hier sind nur Touristen, sehr<br />

bestimmt lehnt er ab. Maximal halber<br />

Preis und viel besser ist seine Devise.<br />

Da ich ja für ihn mitzahle, macht es für<br />

mich zwar keinen Unterschied, aber wer<br />

würde mir dann alles über Land und<br />

Leute erzählen?<br />

Dung erklärt mir die <strong>Vietnam</strong>esische<br />

Geschichte der letzten Jahrzehnte,<br />

warum zum Beispiel <strong>Vietnam</strong> in<br />

Kambodscha einmarschiert ist und<br />

gegen das kommunistische Brudervolk<br />

gekämpft hat, gegen dieses blutrünstige<br />

Pol Pot-Regime. Er erzählt über<br />

Verlobungsbräuche, über Ziegenpenisse<br />

als Potenzmittel, erklärt mir die<br />

Arbeitsplatzsituation, hat das eine oder


andere Geschichtlein zu diversen<br />

Sehenswürdigkeiten, erklärt mir das<br />

Wahlsystem und wie das ist mit der<br />

Korruption, warnt vor Betrügern, zeigt mir<br />

Arbeitsplätze, die sonst keine Langnase zu<br />

sehen bekommt, erklärt mir die öffentlichen<br />

Verkehrsmittel, führt mich in ein Kunstcafé,<br />

in dem viele teils berühmte Maler ihre Werke hinterlassen haben und das trotzdem in<br />

keinem Reiseführer angeführt ist, und er erzählt über seine Familie. Schließlich<br />

verbringen wir ganze Tage und halbe Nächte miteinander. Sein Vater ist<br />

pensionierter Französisch-Professor, der heute noch Literatur ins <strong>Vietnam</strong>esische<br />

übersetzt. Seine Schwester ist Lehrerin. Und sein Bruder ist geistig schwer behindert<br />

und belastet seine Familie sehr.


<strong>Kinder</strong>, um einleitende Worte zu hören, bevor<br />

sie in großen Gruppen durchs Museum<br />

schwirren. Naja, vielleicht auch nur immer<br />

100, aber wo ist der Unterschied?<br />

Als sie zu schwirren beginnen, mache ich<br />

den Fehler, freundlich zurück zu grüßen.<br />

Hello. Where you from? Austria. Hello<br />

Austria. Do you know Austria? Yes koala. No<br />

koalas. And no kangaroos in Austria. Hello.<br />

Hello. Hello… Und los geht es. Alle wollen<br />

mir die Hand geben, oder zumindest<br />

abklatschen. Dung verfällt, er will mir doch<br />

noch so viel zeigen!<br />

Wir schaffen es, uns auch in Bewegung zu<br />

setzen. Händeschüttelnd erreiche ich das<br />

Freigelände, wo die nächste Gefahr lauert.<br />

Kleine Schulmädchen zücken Büchlein,<br />

Zettel, Hefte, um Autogramme von mir zu<br />

erheischen. Ich weiß nicht, mit wem mich die<br />

Ethnologisches Museum. Mit<br />

Dung. Wirklich interessant,<br />

aber ich erzähle keine<br />

Details, ihr erinnert Euch:<br />

keine Sehenswürdigkeiten!<br />

Also erzähle ich nur davon,<br />

dass ich tausenden Fans die<br />

Hände schüttle, dutzende<br />

Autogramme schreibe. Wie<br />

das? Das Ethnologische<br />

Museum ist Ziel für alle<br />

Schulklassen von Hanoi.<br />

Zumindest hat es diesen<br />

Anschein. In der großen Halle<br />

versammeln sich immer 5000<br />

Kids hier<br />

verwechseln, was<br />

ihnen von ihren<br />

Lehrerinnen erklärt<br />

worden war. Ich<br />

lasse auch diesen<br />

Kelch an mir<br />

vorübergehen.<br />

Aus einem<br />

Bergvolkhaus<br />

erklingt die Frage<br />

aller Fragen. Where<br />

are you from?<br />

Immerhin gutes<br />

Englisch. Ich<br />

riskiere einen Blick


durch die Fensteröffnung, sehe zwei hübsche Mädchen drinnen sitzen und stelle<br />

klar, dass es in Austria keine Koalabären gibt. Die beiden Aphroditen winken mich<br />

hinein. Zeit haben wir ja, also bleibt auch Dung nichts anderes übrig, als sich die<br />

Schuhe auszuziehen. Wir setzen uns gegenüber, Huong und Loan, zwei<br />

Studentinnen, die hier volontieren, froh sind, ihr Englisch trainieren zu können. Nach<br />

einer halben Stunde wollen sie meine Schwiegertöchter werden, mache also<br />

sicherheitshalber Fotos, damit meine Söhne nicht die Katzen im Sack kaufen<br />

müssen, und lasse mir die E-Mail-Adressen aufschreiben…<br />

Spätabends führt mich Dung einer Massage zu. Not sexual. Ich vergewissere mich<br />

noch einmal. <strong>Vietnam</strong>esische Massage, nicht Thai Massage. Not sexual. Wir<br />

durchqueren finstere Gassen in der Altstadt. Vor einem Haustor lungern sechs<br />

Männer, wir sind am Ziel. Vorsichtshalber habe ich alle Wertgegenstände im Hotel<br />

gelassen und gut versteckt, habe ausnahmsweise meine Kamera nicht mit, und nur<br />

sehr wenig Geld eingesteckt. Meine Güte bin ich froh darüber! Wir gehen in einen<br />

Hinterhof, der stockdunkel ist, ein Mann voran, dann Dung, dann ich, und hinter mir<br />

noch zwei Männer. Es geht im Hinterhaus eine steile finstere Treppe hinauf, jederzeit<br />

rechne ich mit einem Schlag auf den Kopf. Aber nichts tut sich. Eine junge Mutter mit<br />

Kleinkind öffnet, ich schöpfe Hoffnung zu überleben. Schuhe ausziehen, klar. Zwei<br />

offensichtlich frische Badetücher auf zwei Matratzen auf dem Boden, Ausziehen bis<br />

auf die Unterhose, und dann werden mir alle Muskel zerfetzt, alle Gelenke verrenkt<br />

und alle Knochen gebrochen, zum Schluss mein Genick. Kismet. Ich habe mit<br />

meinem Leben ohnehin abgeschlossen, warum nicht hier in einem Hinterhof von<br />

Hanoi?<br />

Wunderbarerweise kann und darf ich mich nach einer Stunde wieder erheben und<br />

anziehen, nachdem mein Masseur noch andächtig meinen Bierbauch bewundert hat.<br />

Ich zahle fast nichts und Dung hindert mich daran, zuviel Trinkgeld zu geben. Die<br />

Burschen seien vom Land, und das sei ohnehin viel. Ich will nicht widersprechen.<br />

Ich schleppe meinen gekneteten und geschundenen Körper auf die Straße hinaus.<br />

Wie ich mich fühle, will Dung wissen. Naja, eh gut, meine ich. Ich meine das ehrlich,<br />

immerhin kann ich mich noch bewegen.<br />

Während wir Richtung Minh’s Jazz Club marschieren, beginne ich mich freier zu<br />

fühlen. Und ja, plötzlich schwebe ich, fühle mich 30 Jahre jünger, könnte mich<br />

wahrscheinlich wie ein Vogel in die Lüfte heben, würden mich nicht die Millionen<br />

Stromleitungen, die kreuz und quer über die Straßen hängen, daran hindern.<br />

Und der Jazz bei Minh ist wirklich gut.


Hoan Kiem See. Zwei Burschen sprechen mich an, der eine hat siebzehn Jahre in<br />

Deutschland gelebt und musste kürzlich zurück, weil er keine<br />

Aufenthaltsgenehmigung mehr hatte. Spricht nicht viel <strong>Vietnam</strong>esisch, hat hier keine<br />

Freunde. Kaum eine Chance auf Job, er müsste den vietnamesischen<br />

Schulabschluss nachholen. Also geht er als Straßenhändler wie tausende andere<br />

auch. Ich brauche keine Ansichtskarten mehr und schenke ihm 20.000 Dong.<br />

Ein junges Mädchen spricht mich an, ob ich Zeit<br />

hätte. Ich mustere sie misstrauisch. Nein, sie<br />

sieht weder gefährlich aus noch wie eine<br />

Prostituierte. Sicherheitshalber frage ich nach<br />

dem Grund. Sie wolle sich mit mir unterhalten,<br />

weil ihr auf der Uni gesagt wurde, am besten<br />

könne sie ihr Englisch trainieren, wenn sie mit<br />

Ausländern spricht. Ja gerne, warum nicht? Sie<br />

heißt Hong und ist eine 19-jährige<br />

Wirtschaftsstudentin, stammt aus einer Provinz<br />

in der Nähe von Hue. Ich erfahre wieder etwas<br />

über das Land und sie kann Englisch trainieren.<br />

Sie bemüht sich krampfhaft, keinen<br />

grammatikalischen Fehler zu machen,<br />

entschuldigt sich immer wieder, wenn sie<br />

nachdenken muss. Ich tröste sie damit, dass wir<br />

ja Zeit hätten, und ihr Englisch ohnehin sehr gut<br />

sei. Ja, als sie nach Hanoi an die Uni kam, war sie auf Stufe 4, mittlerweile konnte sie


sich schon auf Stufe 8 verbessern, 10 sei das Beste. Ich versichere ihr, ich würde ihr<br />

ohne weiteres bereits eine 10 geben, aber beim Schreiben, meint sie, macht sie noch<br />

Fehler. Soll sein, ich denke, das machen Engländer auch. Wir unterhalten uns fast<br />

drei Stunden. Sie möchte so gut und so schnell studieren wie möglich, um ihre<br />

Familie unterstützen zu können. Wie ich später noch aus E-Mails erfahre, ist ihre<br />

Mutter vor zwei Jahren an Leukämie gestorben, und ihr Vater opfert sich auf, um ihr<br />

das Studium im fernen Hanoi zu ermöglichen und für ihre zwei kleinen Brüder zu<br />

sorgen.<br />

Hung. Stolzer Besitzer einer kleinen Agentur. Vermittelt Reisen aller Art. In erster<br />

Linie wohl mit ihm selbst als Fahrer seines Mopeds. So genau will ich es gar nicht<br />

wissen. Heute ist Feiertag, er hat frei. Naja, kein ernsthafter Unternehmer in <strong>Vietnam</strong><br />

hat jemals frei. Ansichtssache. Hung ist spezialisiert auf den amerikanischen Krieg,<br />

betreut wohl viele amerikanische Touristen und ehemalige amerikanische Soldaten.<br />

Teilweise schwingt mehr als Ironie aus seinen Worten. Aber man redet nicht über<br />

Politik in <strong>Vietnam</strong>, Ihr wisst schon. Jedenfalls ist das Wrack des B-52-Bombers in<br />

einem kleinen See in Hanoi fixer Programmpunkt bei ihm, und die Freude schwingt<br />

unverhohlen mit. Egal, ich habe gelesen, dass man den Amerikanern verziehen hat.<br />

Irgendwer muss da Amerikaner mit US-Dollar verwechselt zu haben. Hung’s Vater<br />

scheint eine nicht unwesentliche Rolle in diesem Krieg gespielt zu haben. Und er<br />

verzeiht, Offiziell. Hung hat eine psychisch kranke Schwester daheim. Und er sorgt<br />

für die schwer behinderten <strong>Kinder</strong> Minh und Huong, ermöglicht ihnen eine<br />

Ausbildung. Zumindest erzählt er mir das und ich gebe 10 Dollar, muss für jedes Kind<br />

ein paar Zeilen in ein Büchlein schreiben und Hung hat ein Art Kassabuch, in das er<br />

je 5 Dollar einträgt. Ich hoffe, ich hab mit diesen 10 Dollar nicht einen Beitrag für die<br />

Verschönerung von Hung’s Moped geleistet.


Wasserberge.<br />

Hello, where you<br />

from? Altes Spiel. Ich<br />

sage Austria, verrate<br />

mein Alter, wie viele<br />

<strong>Kinder</strong> ich habe.<br />

Diesmal fehlt die<br />

Frage „You buy for<br />

me?“<br />

Ich lerne Ker kennen,<br />

Schwarzes H’Mong-<br />

Mädchen,<br />

wunderschöne Tracht<br />

wie alle hier in Sapa.<br />

Das Gespräch mit ihr<br />

hält die 500 anderen<br />

Frauen und Mädchen ab, mich zu umringen und Sachen<br />

verkaufen zu wollen. Wenn Ker lächelt, bildet sich ein<br />

neckisches Grübchen auf ihrer rechten Wange, und sie<br />

lächelt oft. 16 Jahre, letzten Sommer hat sie mit der<br />

Schule aufgehört. Zahlt sich nicht aus, länger in die<br />

Schule zu gehen, H’Mong-Mädchen heiraten sehr früh,<br />

erklärt sie mir, oft schon mit 16. Nein, sie hat keinen Boy<br />

Friend, also wird ja wohl doch nichts mit der frühen<br />

Heirat, das behalte ich aber für mich. Ker trollt sich von<br />

dannen, schließlich sind heute viele Touristen da,<br />

verlängertes Wochenende in <strong>Vietnam</strong>, und sie muss<br />

schließlich was verkaufen. Mich fragt sie nicht.<br />

Heute Morgen bin ich mit dem Schlafwagen in Lao Cai<br />

gelandet und mittels Kleinbus über viele Serpentinen<br />

hierher gebracht worden. Bis jetzt hat mit dieser Tour<br />

alles perfekt geklappt. Für 99 US-Dollar, den halben<br />

Preis vom ursprünglich vereinbarten. Ich glaube, ich bin<br />

Mr. Truong sympathisch.<br />

Giang, mein Guide holt mich ab. Ein junger Bursche aus<br />

Hanoi, der beschlossen hat, hier in Sapa zu bleiben, wie<br />

er mir später erzählt. Er kann sich nicht mehr vorstellen,<br />

in Hanoi zu leben. Ich auch nicht.<br />

Ein Japaner, Mr. Koizumi, aber nicht der ehemalige<br />

Ministerpräsident, wie er mir versichert, mit seiner<br />

vietnamesischen Frau, ein koreanisches Pärchen mit einem entzückenden Mäderl,<br />

das abwechselnd alle tragen müssen. Ich nicht, ich habe noch meinen Rucksack um,<br />

weil ich im Hotel nicht eingecheckt bin.<br />

Die ersten beiden Wegelagerinnen auf dem Weg nach Cat Cat sind richtig<br />

positioniert und machen Geschäft mit mir. Pech für alle anderen Wegelagerinnen in<br />

den nächsten Tagen, aber was soll ich tun? Ich kann nicht allen Einheimischen alle<br />

Handarbeiten abkaufen, auch wenn sie schön und spottbillig sind. Übliche<br />

Trekkingtour zur Power Station, brauche ich auch nicht zu schildern, machen alle, die<br />

eine Sapa-Tour über eine Agentur gebucht haben. Erstmals öffnen sich für mich die<br />

Reisterrassen, weiß noch nicht, wie steigerungsfähig das noch sein wird. Bin


gnadenlos begeistert. Am Rückweg, den ich mit Giang allein steil bergauf bewältige,<br />

weil alle anderen das Angebot der Mopedtaxis annehmen, erhalte ich dann erst die<br />

wesentlichen Information über die Völker hier. Oder was eben Giang für wesentlich<br />

hält. Der Mann ist sein Bier wert.<br />

Für Nachmittag überredet er mich zu einer Jeeptour zu einer heißen Quelle. Kann<br />

nicht widerstehen. So etwas ist bei mir ein Reizwort.<br />

Nur der Japaner und seine Frau schließen sich an. Ob die Fahrt billig oder teuer ist,<br />

kann ich nicht beurteilen, ich nehme mal an weit überteuert. Aber was ist schon<br />

teuer? Die Fahrt ist ihren Preis in jedem Fall wert.<br />

Als ich über den Markt zum Jeep schlendere, Rufe hinter meinem Rücken: „You from<br />

Austria! Money!“<br />

Ker schein ganze Arbeit geleistet zu haben, kaum einen halben Tag hier, kennt man<br />

mich in dieser 10.000-Seelen-Stadt bereits wie das falsche Geld.<br />

Als Fahrer haben wir<br />

einen jungen Mann<br />

mit streng<br />

geschnittenem<br />

Oberlippenbart und<br />

Militärhelm, sieht<br />

richtig gefährlich<br />

aus. Aber er fährt<br />

phantastisch gut mit<br />

diesem uralten<br />

russischen Jeep.<br />

Das ist Adventure<br />

Tour in Reinkultur.<br />

Nichts für zarte<br />

Gemüter, aber das<br />

hat uns ja auch<br />

niemand<br />

versprochen.<br />

Einige Male machen wir halt, um die grandiose Aussicht über die Reisterrassen zu<br />

genießen. Das Wasser reicht zum Teil bis auf die Gipfel, die Bauernhöfe wirken von<br />

hier oben, als wären sie im Wasser versunken.<br />

Kurz darauf wird es wirklich<br />

heftig. Baustelle. Man ist dabei,<br />

einen schmalen Weg zu einer<br />

Straße auszubauen und schlägt<br />

dem Berg tiefe Wunden. Der<br />

rächt sich so gut er kann und<br />

lässt alles im Schlamm<br />

versinken. Selbst mit dem Jeep<br />

wird es langsam unpassierbar,<br />

aber wozu haben wir ein Rallye-<br />

Ass als Fahrer?<br />

Über eine Bambusbrücke<br />

erreichen wir einige Hundert<br />

Höhenmeter tiefer zu Fuß die


heiße Quelle. Unser Guide hat sogar Leihbadehosen zur Hand.<br />

So wildromantisch konnte ich noch in keiner Therme entspannen. Unmittelbar neben<br />

dem rauschenden Fluss, Blick auf die Reisterrassen.<br />

Morgen tags darauf, ich warte auf<br />

meine Trekking-Gruppe, warte auf<br />

meinen Guide. Irre in der Zeit, weiter<br />

nicht schlimm, kann ich die H’Mong-<br />

Frauen und -Mädchen<br />

beobachten, die sich immer wieder zu<br />

Überfallkommandos verbünden um<br />

sich bald darauf wieder zu<br />

zerstreuen, je nachdem, ob sich ein<br />

Tourist in ihr Revier verirrt oder nicht.<br />

Ein kleines Mädchen spricht mich an,<br />

ohne Tracht. Sehr klein, ich schätze<br />

es auf sechs Jahre. Where are you<br />

from? Übliche Fragen, übliche<br />

Antworten, aber fließendes und fast<br />

fehlerfreies Englisch. Wie alt sie sei,<br />

zehn. Und nein, sie hat noch kein<br />

Englisch in der Schule, hat es von<br />

Touristen gelernt. Unglaublich,<br />

vielleicht schwänzt sie Schule. Nein,<br />

sie geht jeden Tag. Sie fragt, was ich<br />

vorhabe. Trekking, übernachten in<br />

einem Village. In welchem? Ich hole


meine Karte heraus und zeig es ihr. Das ist ihr Dorf, wo sie lebt. Und sie geht mit mir.<br />

Ich bin unschlüssig. Kann sich mir einfach ein kleines Mädchen anschließen,<br />

erlauben das ihre Eltern? Sie ist sich sicher, kein Problem, sie geht mit mir. Letzter<br />

Ausweg, das muss mein Guide entscheiden, meine ich. Okay, sie ist einverstanden.<br />

Kein Guide weit und breit. Also Unterhaltung mit Chi. So heißt die Kleine. Sie stellt<br />

mir Vu vor, ihr Freundin. Die sieht wieder aus wie alle H’Mong-Mädchen hier. Tracht,<br />

Korb auf dem Rücken, bereit, jedem Handarbeiten zu verkaufen. Sie ist zwölf und ich<br />

habe den Eindruck, Chi ist nur bei ihr, um zu dolmetschen und die Verhandlungen<br />

mit den Touristen zu führen. Langsam beginne ich zu hoffen, dass der Guide erlaubt,<br />

dass sei mitkommt.<br />

Ich denke mir mal, wenn Chi mir schon<br />

nichts verkaufen will, kann ich ihr ja eines<br />

dieser kleinen chinesischen Plastikautos<br />

schenken, von denen ich für 17.000 Dong<br />

10 oder 12 im Supermarkt in Hanoi<br />

gekauft habe, sie wird doch wohl ein<br />

kleines Geschwisterl haben. Sie lächelt,<br />

sie bringt es ihrem kleinen Cousin. Auch<br />

gut. Einige Wegelagerer haben die Szene<br />

beobachtet, alle Mädchen haben<br />

Geschwister, alle Frauen Unmengen von<br />

<strong>Kinder</strong>n. Definitiv nur ein Auto pro<br />

ausgestreckter Hand, so viele habe ich<br />

schließlich auch nicht. Als<br />

Gegengeschenke bekomme ich<br />

Freundschaftsbänder. Keine zwei Minuten<br />

später haben die Mädchen<br />

herausgefunden, dass die Autos einen<br />

Rückzugsmechanismus haben, und Groß<br />

und Klein knien jetzt auf dem Boden und<br />

spielen Auto. Hätte ich das gewusst, ich<br />

hätte 10 Packungen gekauft.<br />

Plötzlich kommt eine wie es scheint etwas<br />

ältere Frau auf mich zu. Heute sei sie mein Guide. Okay, sieht nett aus. Sie heißt<br />

auch Chi. Nein sie heißt Chi. Okay, wie schreibt sich die kleine Chi, wie die große?<br />

Beide schreiben sich Chi. Wenn sie meinen…. Jedenfalls darf Little Chi mit. Wir<br />

müssen nur warten, es fehlen noch die anderen Trekking-Teilnehmer.<br />

Geh ich eben auf ein Bier ins Hotel Royal. Guide Chi sucht inzwischen Sapa nach<br />

der Gruppe ab, Little Chi mit Freundin Vu will nicht mit hinein. Wahrscheinlich dürfen<br />

<strong>Kinder</strong> nicht hinein. Es beginnt zu regnen. Regnen? Am Himmel werden alle<br />

Schleusen geöffnet, aus Straßen werden Flüsse, aus Treppen Wasserfälle. Ich<br />

denke an meinen Schirm in Hanoi. Dünne Regenjacke, die Kälte beginnt in meine<br />

Glieder zu kriechen. Guide Chi findet sich wieder ein um mir zu sagen, dass die<br />

Gruppe immer noch verschollen sei. Meine Frage, ob’s hier Regenschirme zu kaufen<br />

gibt, erheitert sie. Selbstverständlich. Je nach Modell zwischen 25.000 und 35.000<br />

Dong. Ich stelle mir vor, wie ich in meiner Regenjacke langsam erfrieren werde und<br />

frage Little Chi, ob sie mir nicht einen Schirm kaufen gehen mag, da sie einen Knirps<br />

dabei hat. Sie zögert, weiß nicht, worauf ich hinaus will. Also gut, natürlich gebe ich<br />

ihr das Geld, damit sie einen Schirm kaufen kann. Ok, sie nickt. Braves Kind,<br />

allerdings mäßige Begeisterung. Ich verstehe. Bei diesem Wolkenbruch jagt man<br />

nicht einmal einen Wasserbüffel ins Freie. Motivation ist gefragt. Sie versucht nun


ihren Knirps aufzuspannen. Schwierige Sache, der ist ziemlich hinüber. Ich kapiere<br />

ihr Zögern. Das macht keinen Spaß. Während ich ihr helfe, ihren Schirm<br />

zusammenzustecken, erkläre ich ihr, sie kann den Schirm am Abend haben, den sie<br />

mir kaufen geht, ich brauche ihn nur heute. Ein Lächeln huscht über ihr sonst ernstes<br />

kleines Gesicht. Und sie darf sich natürlich den Schirm aussuchen, der ihr am besten<br />

gefällt. 20 Minuten später ist sie vom Markt zurück. Natürlich den Schirm um 35.000<br />

Dong, aber sie konnte auf 32.000 herunterhandeln, meldet sie stolz und überreicht<br />

mir die 18.000 Wechselgeld. Viel Geld für ein kleines Mädchen. Ich sehe wie sie<br />

zittert und greife ihre Hände an. Eiskalt. Kein Wunder bei diesem Wetter. Nein, sie<br />

hat sonst nichts zum Anziehen da. Na bumm, die Kleine erfriert mir, bis wir in ihrem<br />

Dorf sind. Ob ich ihr was zum Anziehen kaufen soll. Ein langer prüfender Blick, dann<br />

ein schüchternes Nicken.<br />

Gemeinsam zum Markt hinauf, Vu im Schlepptau. Die erste Verkäuferin stürzt sich<br />

auf Chi und wickelt sie in eine coole schwarze Jacke. Jeder Teenager bei uns wäre<br />

happy gewesen. Chi wird immer steifer. Ob sie eine andere Jacke will? Kurzes, aber<br />

bestimmtes Nicken. Die Verkäuferin blickt wütend, das Geschäft des Tages beim<br />

Teufel. Chi schält sich steif heraus und hüpft einige Stände weiter. Sie hat klare<br />

Vorstellungen und die nächste Verkäuferin einen noch klareren Blick. Eine weiße,<br />

warm gefütterte Jacke von ganz oben, und sie passt. Chi strahlt. Ob sie die haben<br />

kann? Ja klar. Kurze schnelle Verhandlung, von der ich kein Wort verstehe. Chi<br />

berichtet mir stolz das Ergebnis. Sie konnte auf 180.000 herunterhandeln, und weil<br />

es für sie war, hat die<br />

Verkäuferin noch mal auf<br />

160.000 nachgelassen.<br />

Nicht einmal 8 Euro und so<br />

viel Freude!<br />

Noch schnell bei Vu’s Oma<br />

vorbei, die ganz hinten<br />

links den ganzen Tag<br />

Decken näht. Und dann ist<br />

es Zeit, zurück zu schauen.<br />

Guide Chi kommt schon<br />

entgegen, schaut ein<br />

bisschen sauer. War mein<br />

Fehler, wir sind einfach los,<br />

ohne ihr Bescheid zu<br />

sagen. Inzwischen war bis<br />

auf eine Person die Gruppe<br />

da, und uns hat sie endlich<br />

auch gefunden. Übrigens,<br />

die große Chi ist 20 Jahre<br />

alt, habe sie aufs Doppelte<br />

geschätzt. Beim genaueren<br />

Hinschauen allerdings sieht<br />

man schon, dass sie noch<br />

sehr jung ist.<br />

Der letzte Teilnehmer<br />

kommt nicht, also geht’s<br />

mit zweistündiger<br />

Verspätung los. Die große<br />

Chi wirkt ein bisschen


gestresst, immerhin haben wir eine 5-stündige Wanderung vor uns.<br />

Zwei Weißrussen, eine Französin, ich. Guide Chi, Little Chi mit Freundin Vu und es<br />

schließen sich noch drei Frauen und Mädchen an, die offensichtlich im schwächer<br />

werdenden Regen auch nach Hause streben.<br />

Noch nie im Leben bin ich durch so viel Gatsch marschiert. Roter Lehm wohin man<br />

tritt. Wasser unten, Wasser oben, Wasser von oben. Langsam lichten sich<br />

zwischendrin die Wolken, lassen einen Sonnenstrahl durch, ziehen wieder zu,<br />

spiegeln sich in den Reisterrassen, die verbinden sich mit dem Himmel, Oben und<br />

Unten vermischen sich. Absolute Stille, nur durch das klatschende, saugende<br />

Geräusch unserer Schritte durchbrochen. Trance befällt mich. Hoffentlich rutsche ich<br />

nicht aus, hoffentlich stürze ich nicht ab, teilweise geht’s hunderte Meter hinunter, wo<br />

wir auf den schmalen Dämmen dahinbalancieren. Keine Blöße geben, nicht das<br />

Gesicht verlieren, marschieren.<br />

Tiefer unten beginnen die Reisterrassen zu dampfen. Gleichermaßen ich unter<br />

meiner Regenjacke. Beides – Regenjacke und Regenschirm – erweisen sich<br />

nachträglich als völlig sinnlos, da ich jetzt ohnehin waschelnass durchs Schwitzen<br />

bin.<br />

Chi bastelt mir aus Farnkraut eine<br />

Orchidee. Als die anderen Mädchen das<br />

sehen, basteln sie mir ein Herz aus Farn,<br />

was Chi nicht auf sich sitzen lassen kann.<br />

Mit Gummischlapfen den glitschigen<br />

Abgrund entlang balancierend bastelt sie<br />

also mit geschickten Fingern ein Herz, in<br />

das sie noch Blüten hinein verarbeitet, und<br />

schafft es dabei sogar, ihren Regenschirm<br />

aufgespannt zu halten.


Als wir endlich den Fluss erreicht haben, Pause in einem einfachen Rasthaus. Es<br />

regnet wieder. Die große Chi macht sich in der Küche zu schaffen, um unser Essen<br />

zuzubereiten, die kleine Chi hockt mit Vu draußen unterm Schirm. Sieht erbärmlich<br />

aus. Ich gehe hinaus und versuche, die beiden herein zu holen. No. Ich bestehe<br />

darauf. Sie trauen sich bis zum Eingang, wo auch die H’Mong-Frauen warten. Zum<br />

Tisch zu kommen, trauen sie sich nicht. Dauert nicht lange und ich sehe den Grund.<br />

Die Wirtin will die Kleinen verscheuchen. The girls belong to me!!! Erstaunlicherweise<br />

wirkt das, und sie lässt die beiden in Frieden. Offensichtlich dürfen <strong>Kinder</strong> nicht nur in<br />

keine Hotels, sondern auch in keine Rasthäuser. Angst vorm Betteln kann es nicht<br />

sein, H’Mongs betteln nicht. Man hat sogar Mühe, ihnen Trinkgeld aufzudrängen.<br />

Aber sie wollen eben was verkaufen. Wird nicht erwünscht sein.<br />

Immerhin schaffe ich es, die <strong>Kinder</strong> mit Getränken und ein wenig Essen zu<br />

versorgen. Die hatten den ganzen Tag noch nichts.<br />

Chi hatte mich gewarnt. In ihrem Dorf würden mich alle fragen, ihnen etwas<br />

abzukaufen. Mindestens fünf Mal am Weg hat sie mich darauf vorbereitet. Da sie ein<br />

gutes Kind ist, erklärte sie mir genau, wie ich zu handeln hätte, falls ich doch weich<br />

werden sollte. Also ich war jetzt perfekt im H’Mong Trading ausgebildet.<br />

Und die Wegelagerer warten auch schon. Unsere kleine Gruppe ist sofort von 20<br />

oder 30 Frauen umringt. Ich bleibe erst einmal hart, obwohl mir schon einige lachend<br />

zurufen, dass ich der mit den Autos bin. Chi’s Jacke wird ausgiebig bewundert, was<br />

sich für mich als Nachteil erweist. Ich bin hiermit reich und habe zu kaufen. Die<br />

anderen Trekking -Teilnehmer bleiben vergleichsweise ungeschoren. Leicht verärgert<br />

schalte ich endgültig auf stur.<br />

Begrüßung im Guest House, erst einmal was trinken. Drei verschiedene<br />

Familienmitglieder durchsuchen die unerschöpfliche Kühltruhe, um auch die zwei


Fanta für Little Chi und Vu zu finden. Schon erstaunlich, dass die beiden das kennen<br />

und dem Coca Cola vorziehen, noch erstaunlicher, dass meine Gastfamilie so etwas<br />

schließlich am Boden der Truhe findet.<br />

Drei Russen sitzen da. Verleger, Fotograf, den dritten weiß ich nimmer. Jedenfalls<br />

muss ich erst mal Wodka trinken.<br />

Nachdem ich mich halbwegs trocken umgezogen habe, frage ich die Kids, ob sie mir<br />

nicht ihr Dorf zeigen wollen. Na klar, ich lerne also alle Großmütter, Tanten, Cousins<br />

usw. in ihren Häusern kennen, muss bei Chi’s Großmutter den winzigen Fernseher<br />

als einzigen Einrichtungsgegenstand bewundern. Sonst nur nackter Lehmboden und<br />

ich muss eine reichlich vertrottelte Serie anschauen. Was macht man nicht alles für<br />

die lieben Kleinen.<br />

Zurück im Guest House gibt es ein vielgängiges<br />

Menü, endlich wieder einmal. Schmackhaft wie<br />

immer. Happy Water, Chung lässt sich überreden,<br />

etwas zu singen. Angeblich singt die 19-jährige<br />

Haustochter am schönsten, die jedoch verweigert<br />

sich. Aber auch Chung’s Liebeslieder sind sehr schön,<br />

sehr melodiös.<br />

Als der gemütliche Abend gegen 10 Uhr zu Ende<br />

geht, meint Chung, morgen Früh wäre um halb sechs<br />

Aufbruch. Ich lache, guter Witz. Nein kein Witz, ich<br />

möchte doch nach Bac Ha. Dachte, das Programm<br />

hat sich geändert, schließlich war kein Homestay im<br />

Village vorgesehen für mich. Mich holt morgen ein<br />

Jeep ab und sie bringt mich hin. Okay, ich ergebe<br />

mich. Wollte ja ursprünglich ohnehin nach Bac Ha.


Da ich so früh auf muss, schlafe ich nicht oben bei den anderen Gästen, sondern<br />

unten bei der Familie. Riesen“bett“ mit Moskitonetz, aber beinhart. Dank Happy<br />

Water schlafe ich trotzdem ein bisschen.<br />

Um halb sechs ist Chung natürlich fix und fertig abmarschbereit als ich grad<br />

aufstehe. <strong>Vietnam</strong>esen sind pünktlich, H’Mongs auch. Chung läuft dann ziemlich<br />

schnell, habe Mühe mitzukommen…<br />

Wenn es in <strong>Vietnam</strong> Verspätungen gibt, sind meistens Touristen schuld. Später oben<br />

in Sapa sitze ich im falschen Bus. Wie mich der neue Guide dann unter einem<br />

Dutzend anderer Langnasen zielsicher identifiziert, ist eines der vielen<br />

vietnamesischen Wunder.<br />

Über Bac Ha schreibe ich wieder nichts, ist ebenfalls in jedem besseren Reiseführer<br />

nachzulesen. Ich kann nur bestätigen, dass der Sonntagsmarkt dort höchst<br />

eindrucksvoll ist, ca. 20 verschiedene Bergvölker treffen sich hier in ihren bunten<br />

Trachten. Pittoresk.<br />

Habe nach der nächtlichen Zugfahrt nach Hanoi nur noch einen Tag vor mir.<br />

Viel zu schön geht diese Reise viel zu rasch zu Ende.


Epilog.<br />

Ich bin wieder in Singapur. Sprung zurück ins 21. Jahrhundert. Wo war ich die letzten<br />

zweieinhalb Wochen? Verzeihe, Irene, dass ich nicht versucht habe, Dich anzurufen,<br />

obwohl ich jetzt sechs Stunden Aufenthalt habe. Die Gratis-Tour für Transit-Touristen<br />

ist bereits geschlossen, aber Shuttle-Bus geht noch. Ich glaube, hier werden sie<br />

sogar bestraft, wenn das Auto schmutzig ist. Durchfall, ausgerechnet in einem<br />

zivilisierten Land. Aber die Zivilisation hat Vorteil: Man kann überall auf die Toilette,<br />

sind überall sauber und gratis.<br />

Ich habe keine Zeit, an Irene zu denken. Mein Durchfall und die Lust, von der Stadt<br />

etwas zu sehen treiben mich an. Disneyland auf chinesisch, aber wenn man in einer<br />

Stadt lebt und nicht als Tourist dort ist, hat man es in dieser Variante sicher lieber.<br />

Ker, Hong, Huong, Chung. Ich grüße Euch, wir bleiben in E-Mail-Kontakt.<br />

Zumindest bis ihr heiratet.<br />

Und so lange werdet ihr mich an <strong>Vietnam</strong> erinnern, mich am laufenden halten, und<br />

immer wieder neue Facetten Eures Volkes und Eures Landes bringen.<br />

Good-bye Singapore. Good-bye Nga, good-bye Chi. Good-bye <strong>Vietnam</strong>.<br />

Die Fotos zur Reise sind zu sehen auf:<br />

http://members.aon.at/consult/page_10_2.html


Ansichten. Einsichten. Aussichten.<br />

Das Land <strong>Vietnam</strong>:<br />

Groß geworden zur Zeit des <strong>Vietnam</strong>krieges hatte ich immer schon ganz besonderes<br />

Interesse an diesem Land. Sozusagen mein Traumziel.<br />

Als landschaftlich eines der schönsten Länder der Erde mit jahrtausendealter<br />

Kulturgeschichte verspricht es auf jeden Fall touristische Höhepunkte, die man<br />

allerdings in jedem guten Reiseführer nachlesen kann.<br />

<strong>Vietnam</strong> ist eines der letzen verbliebenen kommunistisch regierten Länder.<br />

Interessant also auch zu sehen: Wo steht dieses Land heute?<br />

Entgegen verschiedener Berichte kann man in <strong>Vietnam</strong> offen über Politik diskutieren,<br />

wobei man – so wie auch in Europa überall – zwischen der Gruppe der<br />

Desinteressierten und der Gruppe der Unzufriedenen unterscheiden kann.<br />

Mit den Desinteressierten freilich lässt sich nirgendwo auf der Welt politisch<br />

diskutieren.<br />

Rein äußerlich ist der Unterschied zwischen Süd- und Nordvietnam eklatant. Im<br />

lebensfrohen Süden ist es schon einmal leichter, freundlichen Kontakt zu den<br />

Menschen zu finden. Auffallend ist die völlige Absenz von Polizei und Militär,<br />

zumindest optisch. Keine Ahnung ob es hier entsprechende Undercoverkräfte gibt.<br />

Im Norden ist mir aufgefallen, dass es im Gegensatz dazu sehr viele<br />

Verkehrskontrollen gibt, und im Straßenbild von Hanoi sind Uniformierte präsent. Das<br />

lässt natürlich noch keine politischen Rückschlüsse zu. Tatsache ist, dass das Land<br />

von der kommunistischen Einheitspartei regiert wird, wobei in einem Wahlkreis 3<br />

Kandidaten aus einer Liste mit 5 gewählt werden können (zumindest in jenem, den<br />

ich in Hanoi angeschaut habe).<br />

Das Wahlsystem scheint auch schon der herausragende Teil des kommunistischen<br />

Systems zu sein.<br />

Für die Schulen muss meist gezahlt werden, ein Sozialsystem gibt es nicht einmal<br />

ansatzweise, also keine Krankenversicherung und Versorgung alter Leute nur, wenn<br />

diese Kriegsveteranen sind.<br />

Das Gesundheitswesen basiert auf Natur- und Kräutermedizin und viele Menschen<br />

wirken unterernährt. Ein großer Teil der Menschen hat keinen Zugang zu<br />

unbedenklichem Wasser und ist angewiesen auf relativ teures, in Plastikflaschen<br />

abgefülltes Wasser.<br />

Nahrungsmittel und einfache Gebrauchsgegenstände sind zwar sehr billig, dafür ist<br />

Wohnen fast so teuer wie bei uns. Und das bei Löhnen, die bei einem Euro pro Tag<br />

beginnen, der Durchschnitt liegt bei 300 bis 400 Euro monatlich. Autos und Mopeds<br />

werden mit 200% Steuer belastet. Daher ist es erstaunlich, wie viele sich ein Moped<br />

in diesem Land leisten können. Ich habe hier vier verschiedene Möglichkeiten<br />

ausfindig machen können: Einnahmen aus dem Tourismus, Arbeitsplatz in einem<br />

westlichen Konzern, Unterstützung durch Auslandsvietnamesen und<br />

Selbstzusammenbau mit gebrauchten Bestandteilen.<br />

Es ist daher nicht verwunderlich, wenn einerseits auch uralte Leute einer<br />

Beschäftigung nachgehen, und andererseits ist es nicht ungewöhnlich, dass <strong>Kinder</strong><br />

bereits im Alter zwischen 8 und 10 Jahren zu arbeiten beginnen, um zum<br />

Lebensunterhalt der Familie beitragen zu können, bzw. das Schulgeld zahlen zu<br />

können.


Viele gut ausgebildete Leute finden keinen qualifizierten Arbeitsplatz, besonders in<br />

Nordvietnam scheint die Lage sehr schlimm zu sein. Die Wirtschaft ist geprägt von<br />

kleinen Bauern und Kleinstgewebebetrieben. Der Rest der Bevölkerung fristet mit<br />

dem Kleinhandel aller möglichen und unmöglichen Waren sein Dasein. Diese<br />

Selbständigkeit im Bereich der Mikrowirtschaft sichert vielen Millionen den<br />

Lebensunterhalt. Hiermit scheint staatlicherseits fast alles erlaubt zu sein, sofern die<br />

relativ hohen Steuern dafür entrichtet werden.<br />

Insgesamt sehe ich daher wenige Möglichkeiten, wie sich dieses Land aus eigener<br />

Kraft wirtschaftlich entwickeln könnte. Die einzige Chance scheinen ausländische<br />

Investitionen zu sein, wobei jeder Konzern hier fleißige und geschickte Arbeiter<br />

vorfindet.<br />

Viele Leute haben die Kraft und den Willen, etwas zu schaffen. Mädchen wie Hong<br />

oder Chi, Burschen wie Hung werden ihre Wege gehen und es zu was bringen.<br />

Leute wie Dung oder Ker werden ihr kleines Glück finden und ein zufriedenes Leben<br />

führen, wenn man sie lässt. Mädchen wie Chung werden zu kämpfen haben, sich<br />

aber nicht unterkriegen lassen. Ich sehe viel Hoffnung für die jungen Leute von<br />

<strong>Vietnam</strong>. Aber mir ist bewusst, dass es vielfach Not und Verzweiflung gibt und wenig<br />

Aussicht auf Verbesserung, wenn nicht Impulse und <strong>Hilfe</strong>n von außen kommen.<br />

Hier sehe ich Sinn zu unterstützen. In ländlichen Gebieten ohne Tourismus gibt es<br />

kaum Hoffnung, wenn nicht Ausbildungsmöglichkeiten und Infrastrukturen<br />

geschaffen werden. Wenn das Geld in diesem Land nicht irgendwo versickert, kann<br />

man mit wenigen Euro sehr viel bewegen und verändern.


Die Bevölkerung <strong>Vietnam</strong>s:<br />

Die meisten Menschen wirken freundlich, offen, intelligent und strebsam, wobei sie<br />

jedoch in ihren Möglichkeiten stärkstens behindert werden. Trotz oft widrigster<br />

Bedingungen versprühen die meisten Menschen in diesem Land große<br />

Lebensfreude. Der Anteil der Jungen ist tatsächlich sehr hoch, der <strong>Kinder</strong>reichtum<br />

groß und die Wohnungen in den Städten sehr klein. Kein Wunder also, dass sich das<br />

Leben auf den Straßen abspielt, wobei nach meiner Beobachtung kein<br />

Bandenunwesen zu erkennen ist.<br />

Wobei man überhaupt sagen muss, dass man sich in diesem Land sehr sicher fühlt,<br />

abgesehen jetzt mal von permanenten Betrugsversuchen oder dem einen oder<br />

anderen Diebstahl, wobei die <strong>Vietnam</strong>esen gerne über die große Unsicherheit reden.<br />

Diese dürfte sich jedoch eher in ihren Köpfen abspielen.<br />

Das Area Development Project von World Vision:<br />

Mit großer Neugierde fuhren wir in ins Entwicklungsgebiet Hiep Duc. Zwar war ich<br />

über die Arbeit und die Verwendung der Spendengelder gut informiert, aber ich<br />

wollte mich gerne mit eigenen Augen überzeugen, ob hier Sinnvolles geschieht.<br />

Um es kurz zu fassen: Ja, ich war echt beeindruckt von den Leistungen der<br />

Organisation. Im Projekt arbeiten vor Ort ausschließlich Einheimische, wobei es<br />

natürlich regelmäßig von der österreichischen World Vision evaluiert wird.<br />

Das Treffen mit unseren Patenkindern war selbstverständlich ein berührender<br />

Höhepunkt der Reise. Nicht verhehlen möchte ich, dass meine Nga das Liebste aller<br />

<strong>Kinder</strong> war ;-)<br />

Wir besuchten auch eine ethnische Minorität im Projektgebiet, die von World Vision<br />

betreut wird. Erschwerend kommt in diesem Gebiet sicher dazu, dass dort die Böden<br />

auch noch 30<br />

Jahre nach dem<br />

<strong>Vietnam</strong>krieg<br />

durch den<br />

massiven<br />

amerikanischen<br />

Einsatz von<br />

Agent Orange<br />

nachhaltig<br />

verseucht sind.<br />

Mit<br />

Eukalyptuspflanz<br />

ungen versucht<br />

man das Gift aus<br />

dem Boden zu<br />

ziehen.<br />

Über World Vision und die Projektarbeit in <strong>Vietnam</strong> können Sie sich in einem eigenen<br />

Dokument informieren.


Die Bergvölker des Nordens:<br />

Meine hohen Erwartungen bezüglich der Trekkingtour an der chinesischen Grenze<br />

wurden noch übertroffen. Nicht nur dass einen die Landschaft der Reisterrassen fast<br />

in Trance versetzt, fand ich auch persönlichen Zugang zum Volk der Schwarzen<br />

H’Mong. In der Gegend von Sapa haben diese Menschen zumindest Gelegenheit,<br />

ihre schönen Handarbeiten an Touristen zu verkaufen. Vom Spinnen über Weben,<br />

Färben bis hin zum Sticken und Nähen sind die Produkte 100% Handarbeit. Die<br />

vollendete Kunst des Handelns lehrte mich die 10-jährige Chi, die sich mir auf der<br />

Trekkingtour angeschlossen hatte…<br />

Resümee der Reise:<br />

Das wichtigste Ergebnis dieser Reise ist die Gründung eines <strong>Verein</strong>es mit einem<br />

<strong>Kinder</strong>patenfonds, an dem man sich auch schon mit kleinsten Spenden beteiligen<br />

kann. Ich werde meine Kunden ermuntern, hier auch einen Teil ihrer Kapitalgewinne<br />

einfließen zu lassen. Selbstverständlich werden 100% der Beiträge, die dem Fonds<br />

zufließen werden, an entsprechende Organisationen weitergeleitet werden oder auch<br />

direkte <strong>Hilfe</strong> damit geleistet. Der Fonds wird der Bündelung und Pufferung der<br />

Spenden dienen, um eine Konstanz der Unterstützungsgelder erreichen zu können,<br />

was für Entwicklungsprojekte und vor allem <strong>Kinder</strong>patenschaften wichtig ist.<br />

Ich werde Sie zu gegebener Zeit über den Fortschritt des Projektes informieren.<br />

Der <strong>Verein</strong> heißt<br />

<strong>Papilio</strong> – <strong>Kinder</strong> <strong>brauchen</strong> <strong>Hilfe</strong><br />

<strong>Papilio</strong> steht für Veränderung, Verwandlung. Wir wollen <strong>Kinder</strong>n ihre Lebenssituation<br />

verändern. Ihnen Hoffnung für die Zukunft geben, sie dabei unterstützen zu lernen,<br />

selbst für ihr Leben verantwortlich zu sein und etwas daraus machen.<br />

Ein zweites Patenkind, Ngoc Huyen im<br />

äußersten Süden von <strong>Vietnam</strong>, gibt es<br />

bereits. Ausbildungshilfe für Ngoc Huyen,<br />

ein etwas größeres Mädchen, diesmal<br />

über die Organisation Menschenhilfe-<br />

<strong>Vietnam</strong>.<br />

Nga hat inzwischen das von uns gespendete Fahrrad und einen Schreibtisch<br />

geliefert bekommen, es blieb sogar noch Geld für eine Schreibtischlampe und ein<br />

neues Paar Plastikschlapfen.<br />

Nga und auch der Vorsitzende des Distriktkomitees haben sich in langen Briefen<br />

dafür bedankt. Die Anschaffungen wurden von diesem auf den Dong genau<br />

abgerechnet. Ich hoffe, dass die Familie inzwischen auch unsere Kuh erhalten hat.


Interessierte für den <strong>Verein</strong><br />

bzw. für Patenschaften mögen<br />

sich bitte an mich wenden!<br />

© Norbert Wallner,<br />

im Mai 2007<br />

<strong>Papilio</strong> – <strong>Kinder</strong> <strong>brauchen</strong> <strong>Hilfe</strong><br />

Mühlgrundweg 43<br />

A-1220 Wien

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