Freud über Freud
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Freud über Freud
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Beim Wandern wartet jeder<br />
Tag mit vielen Überraschungen<br />
auf. Beim Erklimmen<br />
einer Anhöhe steigt die<br />
Neugier: Was für eine Landschaft<br />
tut sich hinter der nächsten Hügelkuppe<br />
auf?<br />
Welchen Menschen begegne<br />
ich heute? Ein Auto hält. Bill im<br />
Cowboy-Hut fragt, ob ich mitfahren<br />
wolle. Als ich dankend ablehne,<br />
beginnt er sich für meine<br />
Wanderung zu interessieren. Bald<br />
habe ich einiges aus seinem Leben<br />
erfahren, von der harten Zeit<br />
in Vietnam, den Kriegsverletzungen,<br />
vom Genesungswunder und<br />
von seinem heutigen Farmer-Beruf.<br />
Er drückt mir 10 $ für ein Essen<br />
in die Hand und wünscht mir<br />
Gottes Segen. Eine Weile später<br />
rollt wieder ein Auto heran. Bill<br />
hat die Lokalzeitung angerufen<br />
und mir Joe, den Reporter, nachgeschickt.<br />
Welche Tiere und Pflanzen<br />
werde ich heute sehen? Einen<br />
«Red-Wing Blackbird» mit seinen<br />
leuchtend roten Flecken am<br />
Flügelansatz; den Präriehund, der<br />
mit zahlreichen Artgenossen<br />
Wiesenstädte mit vielen Erdkanälen<br />
baut; die Drecktürmchen mit<br />
zentraler Öffnung, die die Flusskrebse<br />
beim Regulieren ihres<br />
unterirdischen Wasserpegels aufwerfen;<br />
und die grossen Monarch-Falter,<br />
die von den südlicheren<br />
Winterschlafplätzen heimkehren<br />
und mit ihren grossen Flügeln<br />
– sanft braun, dunkle Netzzeichnung<br />
– herumflappen; das<br />
leuchtende Blau der Flockenblumen,<br />
der purpurne Kleeteppich.<br />
Wo werde ich heute schlafen,<br />
wo finde ich etwas zum Essen?<br />
Im nächsten Motel ist nur noch<br />
Wandereindrücke aus Turtle Pond in Gallaway Tennesse<br />
ein stickiges Raucherzimmer frei.<br />
Umso schöner der Zeltplatz, den<br />
ich bald darauf finde. Ein Flüsslein<br />
mäandriert durch einen Auenwald<br />
mit alten Bäumen. Am<br />
Abend sehe ich den Sonnenuntergang<br />
<strong>über</strong> dem waldgesäumten<br />
Feld durch die eine Zeltöffnung,<br />
durch die andere am Morgen den<br />
Sonnenaufgang <strong>über</strong> dem glitzernden<br />
Bach. Nach langen Wanderstunden<br />
zeigt sich plötzlich eine<br />
Tankstelle, wo ich im Laden<br />
etwas zum Essen finde.<br />
Beim Wandern lebt es sich ganz<br />
im Augenblick. Da ist viel Raum<br />
und Zeit für Überraschungen, die<br />
uns reich beschenken und mithelfen,<br />
uns auf intensive Art lebendig<br />
zu fühlen. Überraschung ist<br />
ein Merkmal des Lebendigen. Ist<br />
die <strong>Freud</strong>e an einem Geschenk<br />
nicht besonders gross, wenn wir<br />
es nicht erwartet haben und wenn<br />
es etwas ist, das auf erstaunliche<br />
Art zu uns passt, mit uns zu tun<br />
hat?<br />
Beim Sammeln erfreulicher<br />
Nachrichten in meiner «Wundermappe»<br />
fällt mir auf: Auch<br />
Durchbrüche kommen oft unverhofft,<br />
von einer Seite, wo wir sie<br />
nicht erwarten. Der Atomtest-<br />
stopp wurde durch mehrere <strong>über</strong>raschende<br />
Entwicklungen möglich<br />
– die Wahl Gorbatschows,<br />
seine Bereitschaft, auf die Ärztinnen<br />
und Ärzte zur Verhütung des<br />
Atomkriegs zu hören; aber<br />
schliesslich dann auch durch den<br />
Zerfall des Sowjetreiches und die<br />
Bevölkerung in Kasachstan, die –<br />
plötzlich emanzipiert – sich weigert,<br />
ihr Land für weitere Atomtests<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
Wir können die Energiewende<br />
umsetzen. Der Durchbruch wird<br />
<strong>über</strong>raschend kommen. Vielleicht<br />
sind wir schon mitten drin.<br />
Schaffen wir Zeit und Raum in<br />
unserem Alltag für die Überraschungen,<br />
die das Leben für uns<br />
bereithält.<br />
Martin Vosseler<br />
www.martinvosseler.ch<br />
vossolar@gmx.net<br />
vita sana sonnseitig leben 6/2008<br />
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