20Jahre Mauerfall - Katholische Akademie
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20 Jahre <strong>Mauerfall</strong><br />
<strong>Katholische</strong> Kirche und Friedliche Revolution –<br />
Lernschritte und Bewährungsproben<br />
Eine Dokumentation
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I. Tagungsdokumentation<br />
Die Beiträge wurden auf der Tagung „<strong>Katholische</strong> Kirche und Friedliche Revolution<br />
– Lernschritte und Bewährungsproben“ am 19. und 20. November 2009<br />
in der <strong>Katholische</strong>n <strong>Akademie</strong> in Berlin vorgetragen.<br />
Josef Pilvousek<br />
Kirche in der DDR: Rückschau auf die Erfahrungen S. 4<br />
Hans Joachim Meyer<br />
Das politische Engagement von Katholiken zur Wendezeit und danach S. 18<br />
Karl-Heinz Ducke<br />
Erste Schritte zur Demokratie – Erinnerungen an die „Wende“ in der DDR S. 26<br />
Joachim Wanke<br />
Diasporasituation und gesellschaftliche Umbrüche als seelsorgliche<br />
Herausforderungen der Kirche in den neuen Bundesländern S. 29<br />
II. Das Bonifatiuswerk und der weg zur deutschen Einheit:<br />
zwei Berichte<br />
Alfred Herrmann, Josef Bilstein und Michael Henn<br />
Aufbruch in eine neue Zeit –<br />
Das Bonifatiuswerk zwischen <strong>Mauerfall</strong> und Wiedervereinigung S. 46<br />
Alfred Herrmann<br />
Von LIMEX, GENEX und Tante Paula – Die vielseitige Hilfe des<br />
Bonifatiuswerkes während der deutschen Teilung S. 51<br />
Die Autoren:<br />
Josef Bilstein, Redakteur im Bonifatiuswerk, Karl-Heinz Ducke, Msgr. Dr., Domkapitular<br />
und Pfarrer in Jena, Mitmoderator des Runden Tisches; Michael Henn, Redakteur im<br />
Bonifatiuswerk, Alfred Herrmann, M. A., Pressereferent des Bonifatiuswerkes, Hans<br />
Joachim Meyer,Prof. Dr. Dr. h.c., Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst<br />
a.D., Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken von 1997 – 2009; Josef<br />
Pilvousek, Prof. Dr., Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit,<br />
Universität Erfurt; Joachim wanke, Dr., Bischof des Bistums Erfurt, Vorsitzender der<br />
Pastoral kommission der Deutschen Bischofskonferenz
I. Tagungsdokumentation<br />
Tagungsdokumentation<br />
3
4 Tagungsdokumentation<br />
Kirche in der DDR: Rückschau auf die Erfahrungen<br />
Josef Pilvousek<br />
„Rückschau mit gemischten Gefühlen“ 1 heißt das Resümee eines Aufsatzes des<br />
Leipziger Oratorianers Hans-Friedrich Fischer aus dem Frühjahr 1990: Die katholische<br />
Kirche in der DDR hat Chancen verpasst, indem sie sich, verursacht vor allem durch<br />
ihre Kirchenleitung, der durch das Konzil gewollten Öffnung der Kirche zu Welt und<br />
Gesellschaft verschloss, sich letztlich abschloss und ein Ghettodasein führte. Nun<br />
muss diese Aussage nicht falsch sein, denn tatsächlich könnte man einige Phänomene<br />
in der katholischen Kirche in der DDR so deuten. Auch die persönlichen Gefühle, die<br />
man im Rückblick auf die DDR-Zeit hat, können „gemischt“ sein, ebenso die persönlichen<br />
Erfahrungen des Verfassers, den ich im Übrigen sehr schätze. Bei einem<br />
Rückblick in die Geschichte, noch dazu, wenn es eine persönliche Lebensgeschichte<br />
in einem totalitären System war, darf man gemischte Gefühle haben.<br />
Ich wurde gebeten, eine kirchenhistorische Rückschau auf Erfahrungen der<br />
katholischen Kirche in der DDR anzustellen. Ich beabsichtige bei dieser Reminiszenz<br />
nicht, Vergangenheit zu bewältigen im Sinne von „mit dieser Vergangenheit fertig<br />
zu werden“. Richard Schröder hat einmal seine Anmerkungen zum Begriff der Vergangenheitsbewältigung<br />
gemacht. Ich halte sie für so bemerkenswert, dass ich sie<br />
zitieren möchte. Vergangenheitsbewältigung suggeriert, es ginge um eine zu bewältigende,<br />
in begrenzter Zeit zu schaffende Arbeit, von der man einmal sagen kann:<br />
„So, nun ist Vergangenheit bewältigt“. Vergangenheit, so Schröder, lässt sich, wenn<br />
überhaupt, nur höchstpersönlich bewältigen. „Was sich aus unserer Biographie nicht<br />
gut erzählen lässt, das ist das, was wir gern anders hätten, Schuld und Versagen,<br />
aber auch einfach furchtbare Erlebnisse, an denen wir uns keine Schuld zuschreiben<br />
müssen, die uns aber belasten wie das Erlebnis einer Haft, eine schwere menschliche<br />
Enttäuschung oder ein Schicksalsschlag. Ich komme mit mir und dem, was ich<br />
erlebt habe, nicht zurecht. Für diese Lasten gibt es Hilfen, und hier hat das Wort‚<br />
Vergangenheitsbewältigung‘ einen guten Sinn. Für den Christen, der sich in seiner<br />
Lebensführung zuletzt vor Gott verantwortlich weiß, kann darüber hinaus Gebet und<br />
Beichte zu einer Hilfe für einen Neuanfang werden.“ 2<br />
In diesem Zusammenhang werden Christen aus den Neuen Bundesländern sich<br />
fragen müssen, wie weit sie Chancen verpasst haben und manchen Herausforderungen<br />
nicht gerecht geworden sind. In seinem Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 1990<br />
hatte Bischof Wanke formuliert: „Ja, auch wir (katholische) Christen haben Buße nötig.<br />
Jeder von uns wird bedenken müssen, wo er mit oder gegen seinen Willen in die allgemeine<br />
Unwahrhaftigkeit dieses Landes mitverstrickt war. Ich frage mich, ob ich als<br />
Bischof nicht noch deutlicher Unrecht und Lüge hätte beim Namen nennen müssen.
Tagungsdokumentation<br />
Hatten wir vielleicht zu wenig Mut, besonders in den letzten Jahren, uns in die Gesellschaft<br />
einzumischen, um sie zu verändern? Haben wir Gott zu wenig zugetraut und<br />
uns zu sehr um uns selbst gesorgt? Mancher von uns wird sagen müssen: Ich habe<br />
den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Ja, wir haben Buße und Umkehr nötig<br />
und müssen Gott um Vergebung bitten, dass unser Glaube nicht mutiger und unser<br />
Zeugnis nicht eindeutiger war.“ 3<br />
Das mir gestellte Thema lässt vielfältige Variationen zu. Ich habe mich dazu entschlossen,<br />
keinen kleinteiligen, einzig historischen Rückblick vorzunehmen. Vielmehr<br />
möchte ich an Bilder, Vorgänge und Umschwünge erinnern, die möglicherweise<br />
bis heute bedeutsam sind. Ausgangspunkt soll die katholische Kirche sein, die sich<br />
aus fast zwei Millionen Vertriebenen bildete und deren Gläubige in einer konfessionellen<br />
und ideologischen Diaspora lebten. „Anmerkungen zu einem fragwürdigen<br />
Wettstreit“ habe ich einen zweiten Teil betitelt, der sich mit dem Herbst 1989 beschäftigt.<br />
In einem dritten Schritt möchte ich an die „Kirchenpolitischen Grundsätze“,<br />
ihre intendierten und tatsächlichen Folgen erinnern, um schließlich auf einen<br />
theologischen Paradigmenwechsel hinzuweisen, der mir auch heute bedeutsam erscheint.<br />
Die Auswahl der Quellen und der Literatur sowie die persönlichen Erfahrungen<br />
machen diesen Vortrag zu meinem Rückblick, der, so erwarte ich, nicht von allen<br />
geteilt werden kann und damit genügend Stoff für eine Diskussion bietet.<br />
1. Von einer Flüchtlingskirche zur katholischen Kirche in der DDR: „Von<br />
der Gärtnerei im Norden“ über das „Fremde Haus“ zur „Löwengrube“<br />
Die katholische Kirche in der SBZ/DDR war durch die Fluchtbewegungen am Ende<br />
des Krieges bis zum Jahre 1949 von rund 1 Million auf 3 Millionen Gläubige angewachsen.<br />
4 Die Aufnahme der katholischen Vertriebenen in den ihnen anfangs zugewiesenen<br />
Gebieten vollzog sich in unterschiedlicher Weise und oft unter großen Schwierigkeiten.<br />
Bis zum Jahr 1953 war eine Integration der Vertriebenen in der SBZ/DDR nicht<br />
gelungen, was die große Fluchtbewegung zu belegen scheint. Auffallend ist, dass es<br />
von kirchenamtlicher Seite zur Fluchtbewegung bis 1953 keine Verlautbarungen gab.<br />
Erst mit der Amtsübernahme des früheren Magdeburger Weihbischofs Wilhelm<br />
Weskamm als Bischof von Berlin 1951 und ersten stabilisierenden pastoralen Maßnahmen<br />
sollte sich dies allmählich ändern. 5 Weskamm leitete eine Veränderung im<br />
Verständnis von Kirche in der DDR ein. Sein Vorgänger Kardinal Preysing, westlich<br />
eingestellt und von der Vorstellung getragen, in einem kommunistischen System sei<br />
Kirche auf Dauer nicht denkbar, und so vor allem an der Beseitigung des Systems<br />
interessiert und dessen Diskreditierung betreibend, hatte – nach seinem Verständnis<br />
– keine Wege beschreiten können, die zu einer kirchlichen Stabilisierung hätten<br />
beitragen können. Bischof Weskamm dagegen verglich die kirchliche Situation in der<br />
5
6 Tagungsdokumentation<br />
DDR mit einer Gärtnerei: „Es ist so, wie wenn man eine Gärtnerei im Norden betreiben<br />
würde. Die ganze Atmosphäre ist areligiös und antireligiös.“ Trotz der Schwierigkeiten<br />
sah er aber einen Sinn in dieser „Gärtnerei“. Mit Weskamm begann die katholische<br />
Kirche in der DDR die vorgegebene politische und gesellschaftliche Situation realistischer<br />
zu sehen und anfanghaft darauf zu reagieren. Die Führungsrolle Weskamms<br />
und seine realistische Sicht der kirchlichen Verhältnisse im Raum der DDR führten<br />
aber noch nicht zu einer Zentralisierung kirchlicher Verantwortlichkeit in Berlin. Indem<br />
er aber die Situation der Kirche in der gesamten DDR als Diaspora begriff und<br />
Diaspora als Existenzweise der Kirche theologisch bejahte, in ihr sogar die Chance<br />
für ein „mündigeres“ Christentum sah, nahm er eine Weichenstellung für eine Entwicklung<br />
der Kirche vor, die schließlich zur „Kirche in der DDR“ werden konnte. Die<br />
Bewertung der Abwanderung nach dem Westen änderte sich in der katholischen Kirche<br />
der DDR Mitte der 50er Jahre. Innerhalb der katholischen Kirche der DDR hatte<br />
sich eine Mentalität entwickelt, die der Meißener Bischof Spülbeck auf dem Kölner<br />
Katholikentag 1956 mit dem Bild des Hauses umschreiben konnte, in dem man wohne,<br />
dessen Grundfesten man aber nicht gebaut habe. „Aber wir leben in einem Haus,<br />
dessen Grundfesten wir nicht gebaut haben, dessen tragende Fundamente wir sogar<br />
für falsch halten. Und wenn wir jetzt in diesem Haus miteinander leben, so kann<br />
unser Gespräch nur bedeuten – verzeihen Sie mir die Banalität, aber ich habe es so<br />
gesagt – wer macht in diesem Haus die Treppe sauber? Damit soll keine Abwertung<br />
des ernsten Gespräches zwischen Staat und Kirche gemeint sein, sondern es soll nur<br />
handgreiflich ausgedrückt werden, dass grundsätzliche Gespräche zwischen den<br />
beiden Partnern nicht möglich sind. Wir tragen gerne dazu bei, dass wir selbst in<br />
diesem Haus noch menschenwürdig und als Christen leben können, aber wir können<br />
kein neues Stockwerk draufsetzen, da wir das Fundament für fehlerhaft halten. Das<br />
Menschenbild des Marxismus und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung<br />
stimmt mit dem Bild, das wir haben, nicht überein. Dieses Haus bleibt uns ein fremdes<br />
Haus. Wir leben nicht nur kirchlich in der Diaspora, sondern auch staatlich.“ 6<br />
Das ist der vollständige Wortlaut der Passage der „Spülbeck-Predigt“ vom „Fremden<br />
Haus“, die er auf dem Kölner Katholikentag am 1. September 1956 hielt. 7<br />
Das Diktum vom „Fremden Haus“ wurde und wird bis heute fälschlicherweise<br />
zum historisch fassbaren Meilenstein kirchlicher Abgrenzung gegenüber dem SED-<br />
Regime gemacht. Der Versuch einer objektiven Interpretation dieser Aussage kann<br />
bereits anfanghaft aufzeigen, wie sich Otto Spülbeck, Bischof von Meißen, einem<br />
exemten Diasporabistum in der DDR, verstand. Ordnet man die von ihm vorgetragenen,<br />
jedoch vermutlich nicht im Alleingang formulierten, Grundsätze für die Möglichkeiten<br />
und Grenzen des Engagements der Katholiken im Gemeinwesen in den<br />
Kontext der damaligen kirchlichen Situation ein, so wird deutlich, dass Spülbeck, der<br />
sich bewusst für einen Dienst in der mitteldeutschen Diaspora entschieden hatte,<br />
eine Weichenstellung vornehmen wollte. So sind die Aussagen Spülbecks auch nicht
Tagungsdokumentation<br />
einseitig als Abgrenzung zu verstehen, sondern als Möglichkeit des „Überlebens“<br />
und der Notwendigkeit von Kirche in der DDR, trotz falscher Fundamente. Und obschon<br />
man die tragenden Fundamente dieses Hauses für falsch hält, lebt man doch<br />
gemeinsam in ihm und will dazu beitragen, dass es menschenwürdig zugeht und<br />
man hier als Christ leben kann. Salopp formuliert heißt das: im fremden Haus wohnen,<br />
aber Hausmeisterdienste für die Gesellschaft übernehmen. Die Frage des Bleibens<br />
in der DDR sollte für viele Katholiken bis zum Jahre 1961 eine entscheidende<br />
sein. Und sie war natürlich eine politische Frage. Denn wäre diese Frage durch die<br />
Bischöfe in der Öffentlichkeit angesprochen worden, dann hätte man entweder die<br />
staatliche Propaganda in ihrer Beurteilung der „Republikflucht“ unterstützt oder<br />
aber sich den Vorwurf der Staatsfeindschaft gefallen lassen müssen, der in seiner<br />
Auswirkung vor allem die Gläubigen getroffen hätte. Der Mauerbau von 1961 war<br />
aber nicht nur eine kirchenpolitische Zäsur. Jetzt trat ein Mann an die „Spitze“ der<br />
katholischen Kirche in der DDR, dessen Amtszeit bis zu seinem Tod 1979 als „Ära“<br />
bezeichnet wurde: Alfred Bengsch. 8 Fest steht, dass Bengsch wichtige theologische<br />
Grundentscheidungen für die katholische Kirche in der DDR herbeiführte. Inwieweit<br />
seine theologische Grundkonzeption im kirchenpolitischen Bereich zum Tragen kam,<br />
kann nicht mit gleicher Stringenz verdeutlicht werden. Alfred Bengsch ist es gelungen,<br />
die überaus schwierigen Verhältnisse für die katholische Kirche in der DDR nach<br />
dem Mauerbau 1961 zu ordnen.<br />
Zunächst galt es, Einheit und Zusammenhalt der Kirche zu sichern, was sowohl<br />
sein geteiltes Bistum Berlin betraf als auch die gesamte Kirche in der DDR. In dem<br />
Maße, in dem Berlin zur Hauptstadt der DDR ausgebaut wurde, womit ein Zentralisierungsprozess<br />
auf allen Ebenen einherging, schien auch eine Zentralisierung kirchlicher<br />
Verantwortlichkeiten angezeigt, um notwendige Verhandlungen und Gespräche<br />
mit den verschiedenen Regierungsstellen effizient führen zu können. Prägend für<br />
die katholische Kirche in der DDR wurde Bengsch vor allem als Vorsitzender der BOK/<br />
BBK. Erst ihm gelang es, die Bischöfe und Ordinarien zu einer Konferenz zu formen,<br />
die nach außen mit einer Stimme sprach. Dieses Ziel erreichte er zum einen durch<br />
seine theologische Bildung, deren Explikationen er immer dann Gehorsam fordernd<br />
einsetzte, wenn es galt, theologische Entscheidungen zu treffen, und zum anderen<br />
durch eine kompromisslose Haltung gegenüber dem sozialistischen Staat. Auf der<br />
einen Seite erläuterte er Christsein als In-der-Welt-Sein 9 und definierte caritatives<br />
Handeln als „die Möglichkeit eines Hineinwirkens in die Gesellschaft, wie sie auf keinem<br />
anderen Gebiet in vergleichbarer Weise möglich ist.“ Auf der anderen Seite hatte<br />
er auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gegen die Pastoralkonstitution Gaudium<br />
et spes, die ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft postulierte, gestimmt.<br />
Dieser Dialektik entsprach auch ein Bild, mit der er Christsein in der DDR umschrieb:<br />
„Der Christ sitzt in der Löwengrube. Er wird den Löwen aber weder streicheln noch<br />
am Schwanz ziehen“.<br />
7
8 Tagungsdokumentation<br />
2. Der Herbst 1989. Anmerkungen zu einem fragwürdigen Wettstreit<br />
Die letzten Tage und Wochen haben uns die Ereignisse des Jahres 1989 auf unterschiedlichste<br />
Weise und durch verschiedenartige Medien vor Augen geführt. Die<br />
Benennungen reichen von „Wende“ und <strong>Mauerfall</strong> bis zur Revolution. So spricht man<br />
von protestantischer (Ehrhart Neubert), nachholender (Jürgen Habermas), volkseigener<br />
(Karl-Dieter Opp), abgetriebener (Michael Schneider) oder abgebrochener (Stefan<br />
Bollinger) Revolution. 10 Andere nennen sie friedliche Revolution oder Revolution der<br />
Kerzen. Ein evangelischer Kollege spricht wohl am zutreffendsten von friedlichem<br />
Umbruch. 11 Die Kirchen und frühere Bürgerbewegungen feiern ihre Protagonisten<br />
der „Wendeereignisse“. Einzelne Städte, aber auch Personen nehmen für sich in<br />
Anspruch, die ersten gewesen zu sein, die den gesellschaftlichen und politischen<br />
Umbruch initiiert haben. Ja, der Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989 wird<br />
sogar als das Ereignis dargestellt, das den Zusammenbruch des Kommunismus erst<br />
ermöglicht hat.<br />
Mir liegt es fern, die Rolle der DDR-Bürger und der Christen in diesem Land beim<br />
Zusammenbruch des Ostblocks zu marginalisieren oder den Mut der Menschen und<br />
ihren Ruf nach Freiheit gering zu achten. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob nicht in einigen<br />
Ländern Ostmitteleuropas erst die Voraussetzungen geschaffen wurden, dass<br />
dieser <strong>Mauerfall</strong> überhaupt möglich wurde. Erinnert sei an Michail Gorbatschow mit<br />
Glasnost und Perestroika, die, auch wenn als Rückzugsgefecht des Kommunismus zu<br />
interpretieren, erheblich zum Zusammenbruch beitrugen. Zu denken ist an Ungarn<br />
und die Öffnung der Grenzen, an die damalige Tschechoslowakei und nicht zuletzt<br />
an Polen. Mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc 1980 entstand die erste<br />
erfolgreiche Volksbewegung gegen den Kommunismus. 12 Hinzu kam ein Ereignis, das<br />
eine unvorstellbare Dynamik auslöste: die Wahl Karl Wojtylas zum Papst 1978. Lech<br />
Walesa drückt es in seiner drastischen Sprache so aus: „Nach zwanzig Jahren hatte<br />
ich zehn Leute, die mit mir durch dick und dünn gingen. Ich hätte weitere zwanzig<br />
Jahre gebraucht, um noch einmal zehn zu finden. Aber dann kam der Papst, und aus<br />
den zehn Leuten wurden zehn Millionen.“ 13 Vielleicht sollte man im Anschluss an<br />
Wolfgang Templin die Ereignisse von 1989 deshalb auch treffender als „europäische<br />
Befreiungsrevolution“ 14 bezeichnen, auch wenn die Definition dieser Umbrüche als<br />
Revolution nach wie vor problematisch erscheint.<br />
Der katholischen Kirche wird bei der derzeitigen Diskussion über den Zusammenbruch<br />
der DDR nur eine Nebenrolle zugestanden. Ein eigenartiges Konkurrieren um<br />
kirchliche Macht- und Führungspositionen bei Demonstrationen und Friedensgebeten<br />
ist auch beim Thema „Kirchen und friedliche Revolution“ zu finden. Der Vorwurf,<br />
die katholische Kirche sei zu vorsichtig gewesen und habe sich zu sehr in alte Bastionen<br />
zurückgezogen, ist zu hören. Als Hauptgrund wird vor allem der späte Zeitpunkt
Tagungsdokumentation<br />
genannt, an dem die Bischöfe ihre „Ghettohaltung“ aufgaben und sich vernehmbar<br />
in den Erneuerungsprozess einmischten. Zudem habe man nur auf die Ausreisewelle<br />
fokussiert und zu spät gesellschaftliche Veränderungen gefordert. Kaum unterschieden<br />
wird zwischen Gläubigen, Priestern und Bischöfen, kaum präzisiert, worauf sich<br />
das „Versagen“ eigentlich bezog. Katholiken gehörten zu den „Trittbrettfahrern der<br />
Revolution” 15 , lautete die polemischste Unterstellung. Zu den „Geburtshelfern der<br />
Revolution“ werden die Katholiken nicht gezählt; „Oppositionelle, Basisgruppen und<br />
Teile der evangelischen Kirchen“ hätten vor allem mit ihrer strikten Gewaltfreiheit die<br />
„Oktoberrevolution in der DDR“ ermöglicht. 16<br />
Die Rolle der katholischen Kirche vor und während der gewaltfreien Revolution ist<br />
noch nicht umfassend erforscht, und solange diese Geschichte nicht geschrieben ist,<br />
bleibt man auf zufällige Funde oder Zeugenaussagen angewiesen. Auch ich werde in<br />
meinem Vortrag keine endgültigen Ergebnisse präsentieren können und halte sie aus<br />
theologischer Sicht auch nicht für notwendig. Dennoch möchte ich auf die gar zu<br />
pauschalen Urteile einige ergänzende, differenzierende Antworten geben.<br />
Bei den Friedensgebeten, die 1989 eine wichtige Rolle spielten, sind sowohl evangelische<br />
als auch katholische Christen bei Entstehung und Durchführung beteiligt<br />
gewesen. 17 So war in Halle der „Aktionskreis Halle“ mit seiner ökumenischen Ausrichtung<br />
und seinen Aktivitäten fester Bestandteil kirchlicher Friedensarbeit. 18 An den<br />
Sitzungen der Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung<br />
der Schöpfung nahm auch die katholische Kirche – wenn auch nach kontroversen<br />
Diskussionen – mit ihren Vertretern aktiv teil. Obschon auf Weisung der Berliner<br />
Bischofskonferenz die Kirchen nicht für politische Kundgebungen geöffnet werden<br />
sollten, haben katholische Pfarrer und Kapläne diese Weisung meist nicht beachtet. 19<br />
Zwischen evangelischen und katholischen Pfarrern gab es regelmäßig Absprachen<br />
über Organisation und Durchführung der Demonstrationen. An den Demonstrationen<br />
haben überdurchschnittlich viele Katholiken teilgenommen 20 ; in manchen Fällen,<br />
wie in Dresden und Leinefelde, waren Kapläne federführend und deeskalierend<br />
beteiligt 21 . Selbstverständlich wurden in geschlossenen katholischen Gebieten und<br />
Ortschaften, die größere katholische Kirchen hatten, diese für Friedensgebete genutzt<br />
und so oft Ausgangspunkte für Demonstrationen.<br />
Und schließlich sei der emeritierte evangelische Bischof von Magdeburg Axel Noak<br />
zitiert, der am 24. Oktober 2009 in Erfurt auf die Frage, welche Rolle die evangelische<br />
und die katholische Kirche 1989 spielten, antwortete: „Es gibt nicht die katholische<br />
und die evangelische Kirche. Die katholische Kirche war eine Minderheitenkirche und<br />
deshalb weniger in der Öffentlichkeit präsent. Die Friedensgebete fanden zumeist<br />
in evangelischen Kirchen statt, weil es kaum große katholische Kirchen gab. Viele<br />
katholische Christen haben ebenso an den Demonstrationen mitgewirkt wie evan-<br />
9
10 Tagungsdokumentation<br />
gelische. Die evangelische Kirche hat eine Schutzfunktion übernommen, die sie sich<br />
nicht ausgesucht hat. Die evangelischen Kirchenleitungen haben nicht – anders wie<br />
die katholischen – die Möglichkeiten gehabt, Anordnungen und Weisungen ‚durchzustellen‘.“<br />
22 Meine exemplarischen Aufzählungen sollen lediglich darauf hinweisen,<br />
dass es einen wichtigen katholischen Beitrag zum Herbst 1989 gab. Dennoch schließe<br />
ich mich prinzipiell dem heutigen Pfarrer der <strong>Katholische</strong>n Pfarrei „Sankt Franziskus“<br />
in Crimmitschau an, der eine bedeutsame Einschränkung aller katholischen Aktivitäten<br />
in seiner Pfarrei vornimmt: „Die Tatsache, dass in den Wendeereignissen 1989 der<br />
Pfarrer der katholischen Gemeinde, Joachim Wenzel, sowie einige Gemeindeglieder<br />
und auch die Räumlichkeiten der katholischen Pfarrei eine große Rolle spielten, bedeutet<br />
nicht, dass die Rolle evangelischer Christen in diesem Zusammenhang geringer<br />
anzusetzen ist. In Crimmitschau war 1989 bereits seit Jahrzehnten eine überaus<br />
enge ökumenische Zusammenarbeit gewachsen, aufgrund derer den Konfessionszugehörigkeiten<br />
im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen seitens der Akteure<br />
praktisch keine Bedeutung zugemessen wurde. Dieser Hintergrund ist bei einer<br />
Darstellung der Rolle der katholischen Gemeinde im Zusammenhang mit der Friedlichen<br />
Revolution unbedingt zu berücksichtigen. Crimmitschau eignet sich nicht als<br />
Beispiel für einen Ort, an welchem die katholische Kirche im Unterschied zu anderen<br />
Orten die führende Rolle übernommen hätte.“ 23<br />
Denkbar ist nach letzten historischen Analysen sogar, dass beide Kirchen ihre Rolle<br />
beim friedlichen Umbruch 1989 kritisch prüfen und neu interpretieren müssen. So<br />
warnte beispielsweise der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting vor einer Legendenbildung<br />
beim „<strong>Mauerfall</strong>-Gedenken“: „Auch wenn vielerorts Friedensgebete<br />
und Gottesdienste die Ausgangspunkte der Massendemonstrationen waren, bildeten<br />
die den Kirchen verbundenen Oppositionellen keinesfalls den Motor des Protests.<br />
Sie wurden erst später und auch nur für kurze Zeit vom westdeutschen Politik- und<br />
Medienbetrieb zu Sprachrohren ‚des’ Ostens stilisiert. Unbestritten ist aber andererseits,<br />
dass sich die Demonstrationsbewegung in vieler Hinsicht an den Kirchen<br />
orientierte. Diese stellten nicht nur Räume und Strukturen, sondern auch Symbole<br />
und Sprache, an denen sich die Demonstranten orientierten. […] Die Rolle der Kirche<br />
beim Ende der DDR ist kleiner, als es die Rede von der ‚protestantischen Revolution’<br />
suggeriert. Zugleich aber ist ihr genuiner Anteil an der Ablösung des SED-Regimes<br />
auch nicht gering zu schätzen, […].“ 24<br />
3. Kirchenpolitische Grundsätze<br />
Am 6. November 1989, drei Tage vor dem <strong>Mauerfall</strong>, verfasste der kirchenpolitische<br />
Berater 25 der Berliner Bischofskonferenz eine Vorlage für die Sondersitzung der BBK am<br />
7. November, die überschrieben war: „Die Berliner Bischofskonferenz und die gegenwärtige<br />
Situation. Einschätzung und Aufgaben.“ In ihr wurden die kirchenpolitischen
Tagungsdokumentation<br />
Grundsätze der Bischofskonferenz zusammengefasst. Einige quellenkritische Fragen<br />
müssen gestellt werden, die ich momentan nicht hinlänglich beantworten kann. Warum<br />
wurde drei Tage vor dem <strong>Mauerfall</strong> dieses Papier verfasst, und welche Verbindlichkeit<br />
(juristisch und theologisch) besaßen die Richtlinien davor?<br />
Interessant ist vor allem der erste Teil mit dem Titel: „Die bisherigen Prämissen der<br />
katholischen Staat-Kirche-Politik“ 26 . In sieben Punkten erfolgte eine Art Bilanzierung<br />
des Staat-Kirche-Verhältnisses und seiner Maximen. Nach grundsätzlichen Erwägungen<br />
über das Prinzip der Trennung zwischen Kirche und Staat werden die Grundsätze<br />
aufgeführt. Sie seien aus konkreten Erfahrungen mit der staatlichen restriktiven<br />
Kirchenpolitik erwachsen wie auch auf implizite deutschlandpolitische Positionen<br />
zurückzuführen, vor allem aber auf die fehlende Legitimität des Staates im Sinne der<br />
Volkssouveränität.<br />
Die Grundsätze:<br />
1. „Es gelten die aus der Zeit deutscher Rechtsstaatlichkeit stammenden Rechtsgrundlagen<br />
und -positionen; ‚neues sozialistisches Recht’ soll tunlichst nicht die Rechtsgrundlage<br />
für die Beziehungen zwischen Staat DDR und katholischer Kirche bilden.<br />
(‚Es bleibt alles beim alten!’) In diesem Sinne blieb der Verfassungsartikel 39 (2) –<br />
„Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden“ – außen vor. Eine Ausnahme<br />
bildete der Bereich der „res mixtae“, z.B. im Gesundheitswesen durch den Abschluss<br />
einer Vereinbarung über die Ausbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte.<br />
2. Trotz der dominierenden Rolle der SED in Staat und Gesellschaft unterhält die katholische<br />
Kirche zu ihr keine Beziehungen, sondern sie unterhält einzig ihre Beziehungen<br />
zu den staatlichen Stellen gemäß ihren eigenen Festlegungen. Dabei gilt die „Parität<br />
der Ebenen“ und die Festlegung, dass politische Gespräche den Bischöfen vorbehalten<br />
sind. („Die staatliche Schiene“).<br />
3. In tagespolitischen Fragen legten sich die Bischöfe weitgehende Abstinenz auf; auf<br />
diese Weise suchten sie dem intensiven staatlichen Bemühen, die Kirche zum Propagandisten<br />
eigener politischer Ziele zu machen, entgegenzuwirken. Zu Grundsatz-<br />
und Lebensfragen des Volkes jedoch nahmen sie in öffentlicher Weise Stellung. („Politische<br />
Abstinenz“).<br />
4. Diese politische Abstinenz hatte ihre Entsprechung in der medienpolitischen Abstinenz;<br />
dabei war die Gleichbehandlung der Medien in Ost und West ein wesentlicher<br />
Gesichtspunkt. Maßgebend war auch das Prinzip der ganzen Wahrheit, dergestalt,<br />
dass nicht die eine Hälfte in Ost und die andere in West veröffentlicht wird.<br />
(„Medienpolitische Abstinenz“).<br />
11
12 Tagungsdokumentation<br />
5. Die Bischöfe waren sich einig, in politischen und kirchenpolitischen Angelegenheiten<br />
nach außen mit einer Stimme zu sprechen. Sie hielten dies durch, auch wenn es intern<br />
zu Einzelfragen unterschiedliche Auffassungen gab. („una voce“).<br />
6. In politischen Fragen versagten sich die Bischöfe einem gemeinsamen und abgestimmten<br />
Vorgehen zusammen mit den evangelischen Kirchen und ihren Repräsentanten.<br />
Maßgebend für dieses Verhalten waren die Erfahrungen mit den Wechselwegen<br />
der Kirchenleitungen von Dibelius über Mitzenheim zu Schönherr. („Keine<br />
Ökumene in politicis“).<br />
7. In der Diözesangrenzenfrage vertreten die Bischöfe die Auffassung, nichts zu tun,<br />
was der kirchlichen Trennung von den Diözesen in der Bundesrepublik Vorschub leisten<br />
könnte und alles zu tun, die Einheit des Bistums Berlin zu bewahren. Angesichts<br />
der Liquidierungsabsichten von Partei und Staat gegenüber den Kirchen und Christen<br />
vertraten die Bischöfe die Auffassung, das klug gewählte Maß der Selbstbeschränkung<br />
bestimme das Maß der inneren und äußeren Freiheit der katholischen Kirche in<br />
der DDR.“<br />
Man fragt sich nach dieser „Bilanz“ der bisherigen kirchenpolitischen Linie unwillkürlich,<br />
ob diese Grundsätze von allen Kirchenmitgliedern, natürlich auch Bischöfen,<br />
geteilt wurden. Was geschah mit jenen Kirchenmitgliedern, die diese Grundsätze<br />
ganz oder teilweise ablehnten 27 und anderen, vielleicht sogar theologischen, Grundsätzen<br />
folgten? Vor allem aber interessiert, wie man mit solchen Vorgaben überhaupt<br />
Kirche für andere sein konnte. Mir scheint, dass nicht erst im Herbst 1989 einige dieser<br />
Prämissen, wenn auch nicht alle, obsolet geworden waren. Auf der Ebene der Bischofskonferenz<br />
mag man sich zwar immer wieder an diese Prinzipien erinnert und<br />
sich ihrer Geltung versichert haben. Die kirchenpolitischen Berater mögen das ihre<br />
dazu beigetragen, sie als eine Art dogmatischer Grundsätze im Bewusstsein zu halten.<br />
Ihre Gültigkeit besaßen sie m.E. nur noch partiell auf oberster Ebene, während<br />
sie in den Bistümern und in den einzelnen Pfarreien unterschiedlich dekliniert wurden.<br />
Das „Korsett“ der Bischofskonferenz, das früher einmal geschützt hatte, engte<br />
nun ein. 28<br />
So könnte man auch ein eigenartiges Phänomen aus dem Herbst 1989 erklären,<br />
dass nämlich die Bischofskonferenz erst spät, einzelne Laien, Priester, aber ebenso<br />
Bischöfe hingegen durchaus zeitgerecht auf die gesellschaftlichen Veränderungen<br />
reagierten. Unter anderem ist auf das „Verbot“ der „Ökumene in politicis“ hinzuweisen.<br />
Als vor wenigen Wochen der Band „Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution<br />
1989/1990 in Halle an der Saale“ 29 präsentiert wurde, nannte der Redner Dr. Steffen<br />
Reichert die schon frühzeitig begonnene „politische Ökumene“ als Grund für einen<br />
kreativen politischen Widerstand. 30 Dabei verwies er nicht nur auf die Ökologische
Tagungsdokumentation<br />
Arbeitsgruppe des Evangelischen Kirchenkreises und den Aktionskreis Halle, sondern<br />
auch auf die enge Kooperation protestantischer wie katholischer Akteure. Könnte es<br />
nicht sein, so frage ich mich, dass die intensiven ökumenischen Kontakte vor Ort,<br />
vor allem seit Ende der 1970er Jahre, folgerichtig zu einer politischen Ökumene führen<br />
mussten? Die immer wieder geäußerten Bedenken gegen die Formel „Kirche im<br />
Sozialismus“ scheinen jedenfalls auf dieser Ebene kaum eine Rolle gespielt zu haben.<br />
4. Die Suche nach einem theologischen Weg aus dem „Ghetto“<br />
Wiederholt ist im letzten Jahrzehnt in der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung<br />
betont worden, der Generationswechsel unter den Bischöfen seit Anfang der<br />
1980er Jahre (Joachim Meisner 1980 in Berlin, Joachim Wanke 1981 in Erfurt-Meiningen,<br />
Joachim Reinelt 1988 in Dresden-Meißen, Georg Sterzinsky 1989 in Berlin) sei mit<br />
neuen Akzentsetzungen verbunden gewesen, 31 die zu einer „katholischen Identitätsbildung“<br />
32 unter „weltanschaulichem Generalvorbehalt“ 33 führten. Diese These ist<br />
inzwischen Forschungskonsens.<br />
Dass zunächst staatlicherseits versucht wurde, die „Neuen“ in das gewonnene<br />
Bild einzuordnen, verwundert nicht. Die „neuen“ Bischöfe hielten sich immer weniger<br />
an die so genannten „Geschäftsgrundlagen“. Der Staat konstatierte irritiert und<br />
verärgert, dass öffentliche Großveranstaltungen ohne staatliche Konsultationen angekündigt<br />
wurden, internationale Bindungen durch Einladung von Theologen und<br />
Bischöfen aus Ost und West zu Veranstaltungen in der DDR sich verstärkten, sowie<br />
Hirtenbriefe und Pastoralschreiben die Stellung der Katholiken in der Gesellschaft<br />
konstruktiv und kritisch thematisierten. Die katholische Kirche trat immer öfter in<br />
die gesellschaftliche Öffentlichkeit, so durch das Katholikentreffen 1987 34 und die<br />
Teilnahme an der Ökumenischen Versammlung 35 .<br />
Was hatte sich tatsächlich geändert? Als 1981 der neue Erfurter Bischof Joachim<br />
Wanke den Versuch einer pastoralen Standortbestimmung unternahm, formulierte<br />
er zunächst: „Wir wollen auch hierher gehören, nicht weil wir nicht anders können,<br />
sondern weil wir um dieses Landes willen, um seiner Menschen willen einen Weg<br />
suchen wollen, um das Evangelium Jesu Christi auf ‚mitteldeutsch’ zu buchstabieren.“<br />
36 Was zunächst auffällt, ist, dass der Vortrag ohne „kirchenpolitische Planspiele“<br />
auskommt, d.h. ohne Analysen staatlicher Kirchenpolitik und deren Folgen für<br />
den gläubigen Christen. Die theologische Wirklichkeit der katholischen Kirche in der<br />
DDR wird in den Blick genommen: katholische Kirche ist in diesem Raum DDR eine<br />
Wirklichkeit, kein Los, kein Schicksal, sondern Realität und Chance. Deshalb gilt es,<br />
diese Wirklichkeit auch zuerst mit den Augen des Glaubenden zu sehen. Eine Differenzierung<br />
zwischen Staat und Gesellschaft, die von Wanke als säkularisiert und<br />
materialistisch bezeichnet wurde, ist also nicht ursächlich der Ansatzpunkt des von<br />
13
14 Tagungsdokumentation<br />
Wanke vorgenommenen theologischen Paradigmenwechsels vom kirchenpolitischen<br />
„status quo“ einer Kirche in einem totalitären System hin zur „theologischen Wirklichkeit<br />
der Kirche unseres Raumes“. Die vorbehaltlose Bejahung dieser von Gott gegebenen<br />
Realität, und damit die „Einbettung des Evangeliums in die konkrete Welt“<br />
und die Hinwendung zu den Menschen des Landes ist der Ausgangspunkt.<br />
Wie sehr sich die katholische Kirche in der DDR in der Folge als „theologische<br />
Wirklichkeit“ verstand und die Gläubigen zur Solidarisierung und dienendem Zeugnis<br />
für die Menschen des Landes aufforderte, machen nicht nur die gemeinsamen<br />
Hirtenbriefe der BBK der 1980er Jahre in vielfältiger Weise deutlich. Eine parteiinterne<br />
Analyse aus dem Jahre 1986 zeigt klarer als manche kircheninterne Darstellung, wie<br />
der Staat auf den von Wanke initiierten „Kurswechsel“ reagierte: „Während einerseits<br />
dazu aufgerufen wird, sich für eine gerechte menschenwürdige, friedliche Welt sowie<br />
für das allgemeine Wohl der Gesellschaft einzusetzen, Verantwortung gegenüber<br />
dem gesellschaftlichen Eigentum zu zeigen, eine hohe Arbeitsmoral zu entwickeln<br />
und sich in der Nachbarschaftshilfe sowie im Einsatz für Kranke und Behinderte zu<br />
bewähren, wird andererseits in scharfer Weise das Trennende zwischen dem sozialistischen<br />
Staat und der katholischen Kirche hervorgehoben und der weltanschauliche<br />
Gegensatz in den Vordergrund gerückt. Christsein in der sozialistischen Gesellschaft<br />
wird vorrangig als alternative Existenz deklariert, die künftig mit einem bewußten<br />
Verzicht auf persönliche Entwicklung verbunden sein müsse. Insgesamt bleibt die<br />
katholische Kirche – auch wenn einige konstruktive Aussagen nicht übersehen werden<br />
– hinter den von Staat und Gesellschaft geschaffenen Möglichkeiten zurück.“ 37<br />
Mir scheint, dass eine primär kirchenpolitische Fixierung der katholischen Kirche<br />
aufgegeben wurde, ohne dass es dadurch aber zu einem bis dahin gefürchteten<br />
Aufbrechen der inneren Geschlossenheit und einer Instrumentalisierung der katholischen<br />
Kirche durch den Staat und die sozialistische Gesellschaft gekommen wäre.<br />
Kardinal Sterzinsky erklärte es in einem Interview 2008 so: „Auf der anderen Seite<br />
war ich mit Bischof Wanke einig, dass wir nicht in der Art fortfahren können, wie sie<br />
sich seit Jahrzehnten bewährt hatte: Politische Zurückhaltung, völlige Abstinenz, das<br />
ging nicht mehr. Wir durften das Volk nicht im Stich lassen, das war uns klar.“ 38 Und<br />
an seine Erfurter Zeit als Generalvikar erinnernd fügte er hinzu: „Der Erfurter Bischof<br />
Wanke hatte schon Mitte der 80er Jahre gesagt, wir dürfen nicht das ganze Feld den<br />
Kommunisten überlassen. Wir müssen fein differenzieren, an welcher Stelle wir in<br />
die Speichen greifen, nicht in der Annahme, es würde wirklich zu einer Demokratie<br />
kommen, sondern um das Schlimmste zu verhindern. Wir müssen die Gläubigen<br />
lehren, wie sie – ohne etwas zu tun, was gegen ihr Gewissen geht – gesellschaftlich<br />
mitarbeiten. Es ist so vieles, was zwar atheistisch oder kommunistisch interpretiert<br />
wird, aber eigentlich nicht kommunistisch oder gar atheistisch ist. … Wenn einer im<br />
Sport mitmacht, wird das immer als Beitrag zum Sieg des Sozialismus interpretiert.
Tagungsdokumentation<br />
Das muss man in Kauf nehmen. Vorher hieß es immer, was so interpretiert werden<br />
kann, wollen wir nicht fördern. Damit fördern wir das ganze System. Wir wollen<br />
unterscheiden zwischen den Gläubigen in den Gemeinden, deren Wirken man als<br />
Wirken eines Bürgers der DDR versteht, und dem Handeln der offiziellen Vertreter<br />
der Kirche.“ 39<br />
Resümee<br />
Eine Gesamtdarstellung der katholischen Kirche in der DDR gibt es nicht und<br />
wird es wohl so schnell auch nicht geben können. Der Überblick, den ich zu geben<br />
versucht habe, musste vieles offen lassen. Vor allem aber gilt: Trotz aller bisherigen<br />
wichtigen historischen Forschungen wurde ein bedeutsamer Bereich fast gänzlich<br />
ausgeklammert: die theologischen Entwicklungen in der katholischen Kirche in der<br />
DDR. Wie wurde Diaspora definiert und verstanden? Welche Rolle spielte die Umsetzung<br />
des Konzils, so vor allem von Gaudium et spes und der darin geforderten<br />
Weltverantwortung des Christen? War die Kirche noch missionarisch oder hat sie sich<br />
zu sehr als geschlossene Gemeinschaft verstanden?<br />
Kardinal Sterzinsky hat es vor wenigen Wochen rückblickend und vorausschauend<br />
so formuliert: „Wir haben sehr viel gearbeitet zur Theologie der Diaspora. Diaspora<br />
ist nicht nur verkleinerte Volkskirche in Miniatur. Und wir haben sicherlich verstanden,<br />
dass wir eine gesellschaftliche Verantwortung haben. Der Aspekt, dass Kirche<br />
communio ist, war bei uns lebendig und stark. Aber dass Kirche immer auch missio<br />
ist, war unterentwickelt: Kirche ist communio und missio, missio in die Gesellschaft<br />
hinein, missio im Sinne des missionarischen im umfänglichen Sinne.“ 40<br />
15
16 Tagungsdokumentation<br />
1 FKZE, Sammlung (P), Hans-Friedrich Fischer, Rückschau mit gemischten Gefühlen (Manuskript) 1990.<br />
2 F.A.Z. 39 (16.02.1993)<br />
3 Joachim Wanke, Zur Diskussion um den Umgang mit der DDR-Vergangenheit: Lebendiges Zeugnis 3 (1992) 208.<br />
4 Vgl. Josef Pilvousek, Flüchtlinge, Flucht und die Frage des Bleibens. Überlegungen zu einem traditionellen Problem der<br />
Katholiken im Osten Deutschlands, in: Die ganz alltägliche Freiheit. Christsein zwischen Traum und Wirklichkeit (=EThSt<br />
65), Leipzig 1993, 9-23.<br />
5 Vgl. Josef Pilvousek, „Eine Gärtnerei im Norden“. Wilhelm Weskamm und die „mitteldeutsche“ Diaspora, Manuskript<br />
1999.<br />
6 Vgl. <strong>Katholische</strong> Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945-1990, hrsg. v. Gerhard<br />
Lange, Ursula Pruß, Franz Schrader, Siegfried Seifert, Leipzig 21993, 101-103.<br />
7 Vgl. Josef Pilvousek, Bischof Otto Spülbeck, Manuskript 1999.<br />
8 Vgl. Josef Pilvousek, „Innenansichten”. Von der „Flüchtlingskirche“ zur „katholischen Kirche in der DDR“, in: Materialien<br />
der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” (12. Wahlperiode<br />
des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VI/2: Kirchen in der SED-Diktatur, Frankfurt/M 1995,<br />
1157-1160.<br />
9 Vgl. Gerhard. Lange, Alfred Kardinal Bengsch (1921-1978), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern 7, hrsg. v. Jürgen Aretz, Rudolf<br />
Morsey, Anton Rauscher, Mainz 1994, 170f.<br />
10 Peter Maser, Deutsche Protestanten haben noch niemals eine Revolution veranstaltet, in: Hans-Joachim Veen/Peter<br />
März/Franz-Josef Schlichting (Hgg.) Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989, Köln-<br />
Weimar-Wien 2009, 71-74, hier: 74.<br />
11 Ebd. S. 71.<br />
12 Vgl. Hans Maier, Revolte der Gottesfürchtigen. Warum die erste erfolgreiche Volksbewegung gegen den Kommunismus<br />
in Polen entstand, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland,<br />
Würzburg 2009, 19-21, hier: 19.<br />
13 Zitiert nach ebd. 20.<br />
14 Wolfgang Templin, Es begann mit Solidarnosc. Der Umsturz von 1989 war eine europäische Revolution, in: Thomas Brose<br />
(Hg.), Glaube, Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009,15-18, hier: 18.<br />
15 Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, 158.<br />
16 Hubertus Knabe, Die Geburtshelfer der Revolution, in: G. Maier (Hg.), Die Wende in der DDR; Berlin 21991, 31.<br />
17 Ilse Neumeister, Die Kraft der Kerzen, in: Erfurter Blätter, Oktober/November 2004, S. 4; hier begannen die Friedensgebete<br />
1978 in der katholischen Erfurter Lorenzkirche. Vgl. beispielsweise auch FKZE, Crimmitschau, Pfarrer Michael Gehrke<br />
an Josef Pilvousek, 17.6.2009; vgl. Ökumene. Anonymes Konzert als erster Schritt. Kritisch hinterfragender Vortrag über<br />
die Rolle der katholischen Kirche im Herbst 1989: http://www.freies-wort.de/nachrichten/regional/badsalzungen/fwstzslzlokal/art2446,1064300,<br />
letzter Zugriff, 22.11. 2009, in Bad Salzungen fanden die Friedensgebete nach Absprache der<br />
evangelischen und des katholischen Pfarrers statt; vgl. Thomas Weinrich, Der Ökumenische Arbeitskreis „Gerechtigkeit,<br />
Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ und die Friedensgebete in Sondershausen, in: Sabine Bräunicke, u.a. (Hg.), Die<br />
Friedliche Revolution in Sondershausen. Erinnerungen an 1989/1990, Erfurt 2009, 30-44, hier: 37.<br />
18 Vgl. Steffen Reichert, Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, in: Patrick Wagner (Hg.),<br />
Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, Halle 2009, 12-187, besonders: 44-45,<br />
Gerhard Nachtwei, Aufbrüche. Die Magdeburger „Wende“ im Rückblick, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube, Macht und<br />
Mauer fälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009, 97-106.<br />
19 Andreas Püttmann, Konkurrenz der Konfessionen? Katholiken und Protestanten im vereinigten Deutschland: Neue Ordnung<br />
1/1992, 53-66.
Tagungsdokumentation<br />
20 Frank Richter, Von der Eskalation zum Dialog in Sachsen. Dresden im November 1989, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube,<br />
Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009, 91-96; vgl. Hans Gerd Adler, Brückenköpfe,<br />
Heiligenstadt 2009, 296-300.<br />
21 Vgl. Ausführungen am 24.10. 2009 bei der Tagung der Kommission für Zeitgeschichte in Erfurt.<br />
22 FKZE, Crimmitschau, Pfarrer Michael Gehrke an Josef Pilvousek, 17.6.2009.<br />
23 Thomas Großbölting, „Evangelische Freiheit“? 20 Jahre nach dem <strong>Mauerfall</strong> — und was wir daraus machen, vgl. www. unimuenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/ansichtssachen,<br />
letzter Zugriff 30.10.2009.<br />
24 Es handelt sich um Prälat Gerhard Lange.<br />
25 FKZE, Sammlung BOK/BBK (P), II Politika; 6.11. 1989.<br />
26 Zu erinnern ist an den AKH, der ausgegrenzt wurde und nicht als bischöflich anerkannte Vereinigung galt; vgl. FKZE, AKH,<br />
Rundbrief AKH, 1.2.1990.<br />
27 Josef Pilvousek, Im kirchenpolitischen „Korsett“ der Bischofskonferenz. Bischofskonferenz, Bischöfe und die friedliche<br />
Revolution von 1989, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland,<br />
Würzburg 2009, 82-90.<br />
28 Patrick Wagner (Hg.), Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, Halle 2009.<br />
29 Vgl. Steffen Reichert, Buchpremiere. Schritte zur Freiheit. Manuskript. Ich danke Herrn Dr. Peter Willms für die Überlassung<br />
einer Kopie des Vortrages.<br />
30 Vgl. Josef Pilvousek, „Innenansichten”. Von der „Flüchtlingskirche“ zur „katholischen Kirche in der DDR“, in: Materialien<br />
der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” (12. Wahlperiode<br />
des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Band VI/2: Kirchen in der SED-Diktatur, Frankfurt/M 1995,<br />
1134-1163, 1144f.; Christoph Kösters, Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit in der DDR, in: Hummel,<br />
K.-J., (Hg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn-<br />
München-Wien-Zürich 2004, 131-149, 135-139.<br />
31 Vgl. Christoph Kösters, Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit, 138.<br />
32 Vgl. Ebd.<br />
33 Vgl. dazu, Dieter Grande, / Bernd Schäfer, Zur Kirchenpolitik der SED. Auseinandersetzungen um das Katholikentreffen<br />
1983-1987, Leipzig 1994.<br />
34 Vgl. dazu Katharina Seifert, Glaube und Politik. Die ökumenische Versammlung in der DDR 1988/89, Leipzig 2000.<br />
35 Vgl. dazu Joachim Wanke, Der Weg der Kirche in unserem Raum – Versuch einer pastoralen Standortbestimmung, Vortrag<br />
auf den Priesterkonferenzen in Erfurt und Heiligenstadt, Oktober 1981, abgedruckt in: Josef Pilvousek, (Bearb. u. Hg.),<br />
Kirchliches Leben im totalitären Staat. Quellentexte aus den Ordinariaten 1977-1989, Dokumentenband II, Leipzig 1998,<br />
237-250.<br />
36 Landesparteiarchiv Sachsen der PDS: Bestände der Bezirksleitung Dresden der SED, Akte IV E 2/14/667.<br />
37 Georg Sterzinsky, Getrennt vereint. Georg Kardinal Sterzinsky im Gespräch mit Joachim Jauer, in: Jahrbuch für das Erzbistum<br />
Berlin 2009, Köln 2008, 14-20, 15.<br />
38 Ebd. 16.<br />
39 Gespräch des Verfassers mit Herrn Kardinal Georg Sterzinsky in Berlin, 17. 9. 2009<br />
17
18 Tagungsdokumentation<br />
Das politische Engagement von Katholiken zur<br />
Wendezeit und danach Hans Joachim Meyer<br />
Es gibt zwei Arten des politischen Lernens. Die erste Art bezieht sich auf eine bestehende<br />
Ordnung. Wer in dieser Ordnung und durch diese Ordnung Erfolg haben<br />
will, muss deren Voraussetzungen, deren Eigenheiten und deren innere Mechanismen<br />
kennen und diese daher lernen. Und unabhängig davon, ob man die bestehende<br />
Ordnung innerlich akzeptiert oder sie zu ändern entschlossen ist, so gibt diese<br />
doch – jedenfalls zunächst – die Regeln des Handelns und Lernens vor. Die zweite Art<br />
des politischen Lernens erfolgt dagegen im Prozess. Das Bestehende ist in Bewegung<br />
geraten, unterschiedliche Strömungen ringen miteinander, wohin es letztlich gehen<br />
wird, ist nicht sicher zu erkennen. Was bisher als erwartbar galt, ist nicht mehr verlässlich,<br />
wenn nicht bereits zerstört oder verworfen. Es ist ein Lernen durch Erfahrung<br />
und Experiment, ein Lernen durch Handeln mit ungewissem Ausgang. Aber es ist zugleich<br />
ein Lernweg der offenen Perspektive und des großen Versprechens.<br />
Von der ersten Art politischen Lernens wussten unter den Katholiken in der DDR<br />
nur noch die Älteren aus eigenem Erleben, die meisten jedoch nur aus den Erzählungen<br />
ihrer Eltern und Großeltern. Denn nur kurz und von vornherein nur eingeschränkt<br />
währte die Zeit, als Menschen nach dem Ende des Krieges versuchten, auch in der<br />
sowjetischen Besatzungszone eine neue deutsche Demokratie aufzubauen, natürlich<br />
nach den Normen und Idealen der 1933 untergegangenen deutschen Republik,<br />
aber selbstverständlich auch mit dem Vorsatz, deren Fehler zu vermeiden. Wenn aus<br />
der unmittelbaren Nachkriegszeit unter Katholiken Erfahrungen weitergegeben wurden,<br />
so waren es solche der Einschränkung, der willkürlichen Zurücksetzung und des<br />
Eingriffs von außen, verbunden mit Terror gegen jene, die der Besatzungsmacht oder<br />
der SED entgegen standen oder auch nur entgegen zu stehen schienen. Was schließlich<br />
im Osten Deutschlands für politische Tätigkeit übrig blieb, war die demütigende<br />
Rolle von bedingungslos Hilfswilligen, welche die von der Sowjetunion etablierte und<br />
von ihr abhängige Macht der SED allen anderen politisch Interessierten zugedacht<br />
hatte.<br />
Die meisten Katholiken in der DDR zogen daraus den Schluss, zu dieser Herrschaftsordnung<br />
auf innere und – soweit wie möglich – auch auf äußere Distanz zu<br />
gehen. Damit entfiel aber auch das sich am Bestehenden orientierende politische<br />
Lernen. Stattdessen lernte man, mit der bestehenden Ordnung so umzugehen, dass<br />
sie den Einzelnen oder die Familie persönlich möglichst wenig betraf. Zu dieser Distanz<br />
nahmen viele die Kraft aus dem Zusammenhalt in der Pfarrgemeinde oder<br />
der engen Verbindung mit einer kirchlichen Gemeinschaft oder einem kirchlichen<br />
Gesprächs- und Begegnungskreis, also aus dem konkreten Leben mit der Kirche.
Tagungsdokumentation<br />
Auch das war in einem gewissen Sinne politisches Handeln, nämlich das des sich<br />
Versagens und gelegentlich auch der Renitenz. Was ihm fehlte, war das Moment des<br />
politischen Gestaltens und Gestaltenwollens. Das unterscheidet diese Haltung von<br />
der Zustimmung und Unterstützung einerseits, aber eben auch von dem artikulierten<br />
Dissens und der Opposition andererseits. In ihrer Haltung konnten sich die<br />
Katholiken im Einklang fühlen mit ihrer Kirche und mit ihren Bischöfen, die relativ<br />
früh eine Position der unmissverständlich schweigenden Distanz zur SED-Diktatur<br />
eingenommen hatten und diese dann über Jahrzehnte konsequent durchhielten.<br />
Die Bischöfe nahmen nur dann öffentlich Stellung, wenn dies unabweislich war, weil<br />
kirchliche Grundsätze durch das Handeln der SED unmittelbar berührt oder gar angegriffen<br />
wurden. Dagegen äußerten sie sich in der Regel nicht zu den zahlreichen<br />
Krisen des Systems oder zu angeblich neuen politischen Strategien der bestehenden<br />
Macht. Zugleich ließen sie auch scheinbar unverfängliche Gelegenheiten zum<br />
öffentlichen Auftritt ungenutzt, um nicht in die Nähe der Macht zu geraten und von<br />
dieser benutzt werden zu können.<br />
Die durchgehende Konstante in der Haltung der katholischen Bischöfe und der<br />
meisten Katholiken war es, nicht auf Veränderungen im bestehenden Herrschaftssystem<br />
zu setzen, eine solche Hoffnung eher für illusionär zu halten, darum an<br />
Anzeichen in einer solchen Richtung auch nicht sonderlich interessiert zu sein, ja,<br />
ihnen eher zu misstrauen und darum sie auch nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen<br />
zu wollen. Man hätte gern unter ganz anderen Umständen gelebt, ohne diese<br />
in überschaubarer Zeit für eine realistische Option zu halten. Nur wenige Katholiken<br />
sahen das anders und wurden darum meist – staatlich wie kirchlich – argwöhnisch<br />
betrachtet und gelegentlich auch handfest ausgegrenzt. Welche Haltung orientierte<br />
sich nun an der Realität und welche an Illusionen? Die Antwort ist, wie häufig beim<br />
geschichtlichen Urteil, eine doppelte: Lange Zeit war das Beharren auf Distanz nicht<br />
nur realistisch, sondern selbst auch ein Stück DDR-Realität, das die Herrschenden<br />
vergeblich zu ändern suchten. Aber als das Bestehende und so lange Unveränderliche<br />
nun doch in Bewegung geriet, da sah man die Chance zum realen Wandel nicht oder<br />
doch jedenfalls zu spät. Man wurde also in seiner Sicht und in der davon bestimmten<br />
Haltung zunehmend unrealistisch und hatte damit wiederum auch zu wenig wirksamen<br />
Anteil am Wandel der Realität.<br />
Für unser Thema ist dieser Unterschied in doppelter Weise von Bedeutung. Erstens<br />
in der Unterscheidung von der evangelischen Kirche, die, aus theologischen, geschichtlichen<br />
wie aus strukturellen Gründen, und nicht zuletzt deshalb, weil sie fast<br />
überall in der DDR die traditionelle Mehrheitskirche war, den Anfragen und Anforderungen<br />
aus dem zunehmend sozialistisch geprägten Umfeld viel stärker ausgesetzt<br />
war und sich diesen wohl auch gar nicht entziehen konnte. Das galt nicht zuletzt<br />
für die aus diesem Umfeld kommenden Hoffnungen auf einen Wandel der gesell-<br />
19
20 Tagungsdokumentation<br />
schaftlichen Umstände zum Besseren. Um dieser Haltung gerecht zu werden, muss<br />
man sich einer Tatsache erinnern, die zwanzig Jahre nach dem revolutionären Herbst<br />
des Jahres 89 weithin verdrängt und vergessen worden ist, vorher aber – im Osten<br />
wie im Westen – als selbstverständlich galt: Dass es nämlich nur die Hoffnung auf<br />
eine Veränderung des bestehenden Sozialismus zum Besseren war, welche damals<br />
realistisch genannt werden konnte, zumindest als Beginn einer Entwicklung in einem<br />
überschaubaren Zeitraum. Jeder Wunsch nach Wandel bewegte sich gleichsam auf<br />
dem Boden des Sozialismus, jeder Ruf nach Reform meinte diesen erneuern oder zu<br />
seinen ideellen Ursprüngen zurückführen zu können. Es ist, insbesondere im westlichen<br />
Urteil über die Entwicklung in der DDR, inzwischen weithin üblich geworden,<br />
solche Hoffnungen mehr oder weniger nachsichtig als Irrtum abzutun, wenn nicht<br />
gar der halben Komplizenschaft mit dem Regime zu verdächtigen. Gewiss gibt es<br />
heute gute Gründe, solche Perspektiven als illusionär zu charakterisieren. Das nimmt<br />
ihnen aber nichts von ihrer realen geschichtlichen Wirkung. Es war der Appell an<br />
die Freiheits- und Gerechtigkeitsträume der ursprünglichen sozialistischen Idee, es<br />
war die angemahnte Verbindung von Sozialismus und Demokratie, welche die Herrschenden<br />
immer wieder delegitimierte, ihre überzeugten Anhänger verstörte, aber<br />
auch nachdenklich machte, das Regime zu immer neuen Rechtfertigungskampagnen<br />
zwang und so, wenn auch als krude Karikatur, so etwas wie eine gesellschaftliche<br />
Debatte in Gang hielt.<br />
Natürlich beunruhigten solche Hoffnungen das herrschende Regime. „Hauptsache –<br />
Ruhe im Karton,“ sagte der SED-Chefideologie Kurt Hager zu Forschungsstudenten<br />
der marxistisch-leninistischen Philosophie an der Humboldt-Universität, als diese ihn<br />
in den achtziger Jahren fragten, wie denn ihre Partei auf die wachsende gesellschaftliche<br />
Unruhe reagieren wolle. Es ist das unbestreitbare geschichtliche Verdienst der<br />
Bürgerrechts- und Umweltgruppen in der DDR, durch ihr mutiges Handeln eben jene<br />
Dynamik hervorgerufen und wachgehalten zu haben, ohne die es keine geschichtliche<br />
Bewegung gibt. Denn nur aus einer solchen Dynamik heraus konnte es zu einem<br />
revolutionären Wandel kommen. Und es ist das unbestreitbare Verdienst der<br />
Evangelischen Kirche, solchen Gruppen einen Ort gegeben, deren Stimmen verstärkt<br />
und deren Forderungen aufgegriffen zu haben. Natürlich geschah dies durchaus auch<br />
zögerlich und mit besorgtem, wenn nicht angstvollem Herzen, denn es gefährdete<br />
ja zugleich den so mühsam bewahrten inneren Freiraum der Kirche, wenn nicht sogar<br />
ihre Existenz. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir Katholiken doch gestehen,<br />
dass wir lange ganz überwiegend darauf konzentriert waren, unsere kleine Herde zusammenzuhalten,<br />
und im Übrigen darauf vertrauten, dass es der Herr der Geschichte<br />
irgendwann und irgendwie schon richten würde. Gleichwohl blieb trotz dieser Unterschiede<br />
in der Zeit der DDR entscheidend: Wo der christliche Glaube lebt, gibt<br />
es Hoffnung. Und in diesem die Menschen verplanenden und auf sie zugreifenden
Tagungsdokumentation<br />
Herrschaftssystem erlebten evangelische und katholische Christen ihre Kirchen als<br />
einen Ort der Freiheit.<br />
Es hat in dieser Zeit auch immer wieder Katholiken gegeben, die ein größeres gesellschaftliches<br />
Interesse anmahnten, ohne sich damit dem herrschenden System<br />
als Helfershelfer andienen zu wollen. Die entscheidende Zäsur für eine katholische<br />
Hinwendung zu größerer Wachheit gegenüber dem gesellschaftlichen Geschehen<br />
sehe ich jedoch in dem bedeutsamen Doppeldatum von 1987, nämlich dem großen<br />
Dresdner Katholikentreffen und dem bald darauf folgenden Entschluss der Berliner<br />
Bischofskonferenz, mit der neu gegründeten Kommission Justitia et Pax an der Ökumenischen<br />
Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung<br />
teilzunehmen. Denn diese Versammlung und der sie begleitende und mittragende<br />
Gesprächsprozess in den christlichen Gemeinden und Kreisen ist nach meiner Überzeugung<br />
die wichtigste geistige Grundlegung für den revolutionären Herbst des Jahres<br />
1989 und für die öffentliche Rolle der Kirchen als Garanten der Friedlichkeit dieses<br />
revolutionären Prozesses.<br />
Sie waren ja, wie sich schon bei den dramatischen Tagen Ende September / Anfang<br />
Oktober zeigen sollte und wie es dann jedermann in den stürmischen Wochen<br />
nach dem Durchbruch zur Freiheit am 9. Oktober in Leipzig erleben konnte, die einzig<br />
verbliebene allgemein anerkannte Autorität. Das Katholikentreffen 1987 in Dresden<br />
war nicht mehr, wie die bisherigen Ereignisse öffentlichen Auftretens von Katholiken,<br />
allein eine Wallfahrt. Es war zugleich ein katholischer Gesprächsvorgang und eine<br />
öffentliche Kundgebung von Gottvertrauen und gesellschaftlicher Anteilnahme. Ja,<br />
es war sogar ganz unübersehbar die Manifestation eines selbstbewussten Anspruchs<br />
auf Öffentlichkeit. Die katholische Teilnahme an der Ökumenischen Versammlung<br />
war darum die notwendige Konsequenz des Katholikentreffens. Dennoch war dieser<br />
Entschluss für die Berliner Bischofskonferenz offenbar alles andere als selbstverständlich.<br />
Was wir ab 1988 und dann insbesondere für den Verlauf des Jahres 1989<br />
beobachten können, ist ein sich verstärkendes Engagement von Katholiken für gesellschaftliche<br />
Anliegen, häufig in ökumenischen Zusammenhängen, was ja auch<br />
der in der DDR stark ausgeprägten Praxis der ökumenischen Zusammenarbeit auf<br />
Gemeindeebene entsprach. Dazu kam der zunehmend artikulierte Wunsch nach einer<br />
erkennbaren Rolle der <strong>Katholische</strong>n Kirche in der sich ausbreitenden gesellschaftlichen<br />
Unruhe. Schon in den siebziger Jahren hatte die Pastoralsynode den Vorschlag<br />
einer <strong>Akademie</strong> als einem dialogischen Ort von Kirche und Welt formuliert. <strong>Katholische</strong><br />
Akademikerkreise und Studentengemeinden hatten diese Idee wachgehalten.<br />
Mit der Studienstelle der Bischofskonferenz entstand 1988 immerhin eine Miniform,<br />
in der erste Texte zur Selbstverständigung entstanden und deren Beirat den Ansatz<br />
zu einem DDR-weiten innerkatholischen Gedanken- und Erfahrungsaustausch bot.<br />
Dabei zeigte sich, dass an vielen Orten in der DDR Katholiken sich in gesellschafts-<br />
21
22 Tagungsdokumentation<br />
kritischen Gruppen zu engagieren begannen oder doch jedenfalls im innerkatholischem<br />
Gespräch zu einem solchen Engagement innerlich unterwegs waren. Es war<br />
zugleich Lernen im geschichtlichen Prozess. Was damals in der <strong>Katholische</strong>n Kirche<br />
an Laienengagement über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus begann oder<br />
sich verstärkte, bedarf noch der Aufarbeitung. Zu vergessen wäre dabei nicht, dass<br />
die Kolpingfamilien, die Akademikerkreise und die Studentengemeinden immer<br />
schon einen DDR-weiten Zusammenhang aufrecht erhalten hatten, natürlich nur inoffiziell<br />
und vom MfS argwöhnisch beobachtet und behindert. Daneben oder daraus<br />
entstand jetzt Neues. Hier will ich nur beispielhaft für den Ostteil des Bistums Berlin<br />
erwähnen, dass die Konferenz der Dekanatsräte schon Anfang 1989 alle Pfarrgemeinderäte<br />
dazu aufgerufen hatte, sich intensiv mit den Beschlüssen der Ökumenischen<br />
Versammlung zu beschäftigen und dabei auch die Möglichkeit zu bedenken, wie sie<br />
in die Öffentlichkeit hineinwirken könnten.<br />
Als Abschluss dieses Gesprächsvorgangs wurde für den Oktober 1989 in Berlin ein<br />
Diözesantag aller Pfarrgemeinderäte angekündigt. In der zweiten Hälfte des Jahres<br />
entstanden in Berlin und Potsdam katholische Gruppierungen, die ihre Aufgabe ganz<br />
ausdrücklich im gesellschaftlichen Engagement sahen, nämlich das <strong>Katholische</strong> Gesprächsforum<br />
und die Studiengruppe Kirche und Welt in Berlin und die <strong>Katholische</strong><br />
Laieninitiative in Potsdam. Als sich die Pfarrgemeinderäte im Ostteil des Bistums<br />
Berlin am 28. Oktober 1989, also zwischen dem bedeutsamen 9. Oktober in Leipzig<br />
und dem Berliner <strong>Mauerfall</strong> am 9. November, im Berliner Bernhard-Lichtenberg-Haus<br />
zu der schon Anfang 1989 geplanten Versammlung trafen, stand die öffentliche Verantwortung<br />
der Katholiken im Mittelpunkt und die eben genannten Gruppen präsentierten<br />
zu diesem Thema ihre programmatischen Vorschläge. Von hier aus nahm die<br />
Formierung einer neuen katholischen Laienbewegung im Bistum Berlin ihren Anfang,<br />
die schließlich am 28. November 1989 zur Bildung des Berliner Aktionsausschusses<br />
katholischer Christen führte. Zeitgleich entstanden Initiativen und Zusammenschlüsse<br />
katholischer Laien in den Bistümern Erfurt, Dresden-Meißen und Görlitz sowie<br />
in Schwerin, die sich rasch miteinander vernetzten und beim Zentralen Runden<br />
Tisch durch Beobachter vertreten waren. In Magdeburg hatte man entschieden, sich<br />
zunächst ganz auf die gesellschaftliche Bewegung zu konzentrieren und deren Erfolg<br />
als Voraussetzung für ein eigenes katholisches Engagement anzusehen.<br />
Am 13. Januar 1990 kam es dann in Dresden zur Gründung des Gemeinsamen Aktionsausschusses<br />
katholischer Christen in der DDR, welcher am 17. Februar in Berlin<br />
durch seinen Aufruf zu den geplanten Volkskammerwahlen in die Öffentlichkeit trat.<br />
Es war ein Bekenntnis zur Freiheit im Geist ökumenischer Gemeinsamkeit und nicht<br />
ohne kritischen Rückblick auf uns selbst. Dieser Aufruf, dem sich dann auch unsere<br />
Bischöfe anschlossen, ist ein Text, zu dessen Weitsicht und Realismus wir uns auch<br />
fast zwanzig Jahre später bekennen können, was ganz gewiss nicht für alles gilt, was
Tagungsdokumentation<br />
damals gesagt und geschrieben wurde. Das Entstehen von Ansätzen zu einer katholischen<br />
Laienbewegung in der DDR im Herbst 1989 ist unmittelbar verbunden mit<br />
dem katholischen Engagement für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel.<br />
Wie zum Beginn des deutschen Laienkatholizismus im Jahr 1848 war es auch fast<br />
150 Jahre später der Wille, den revolutionären Prozess zu befördern und zugleich in<br />
die sich Bahn brechende öffentliche Debatte eine katholische Stimme einzubringen,<br />
welcher die sich neu gründenden Gruppen und Initiativen motivierte und ihre<br />
Tätigkeit thematisch prägte. Man verstand sich als Teil der zur Freiheit drängenden<br />
Bürgerbewegung. Das zeigte sich bei den von diesen Gruppen erarbeiteten Forderungen<br />
zu staatlichen und gesellschaftlichen Reformen, bei den zahlreichen von ihnen<br />
veranstalteten Gesprächsforen und durch ihre aktive Teilhabe an den überall gegründeten<br />
Runden Tischen und an den vielen Bürgeraktionen zur demokratischen Kontrolle<br />
der noch bestehenden alten Staatsorgane und zur endgültigen Auflösung des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit und dessen regionalen und lokalen Dienststellen.<br />
Betont werden muss, dass sich auch viele einzelne Katholiken, entweder aus ihrer<br />
Pfarrgemeinde heraus oder in bürgerschaftlichen Gruppen an dem großen Aufbruch<br />
zur Freiheit beteiligten, der damals das ganze Land in Bewegung setzte. Wichtig war<br />
dabei allen katholischen Christen, unabhängig von der Art ihres Engagements, die<br />
ökumenische Gemeinsamkeit mit den evangelischen Christen. Es gab keine spezifisch<br />
konfessionellen Anliegen, welche die Menschen damals bewegten.<br />
Im Rückblick auf diese Zeit scheinen mir zwei geschichtliche Tatsachen unbestreitbar.<br />
Einerseits haben evangelische Christen und Menschen im Schutzraum der<br />
evangelischen Kirche bereits in den siebziger und achtziger Jahren trotz zunehmender<br />
Erstarrung und Resignation immer wieder Zeichen für Frieden und Menschenrechte<br />
und gegen Militarisierung, Umweltverschmutzung und Städteverfall gesetzt<br />
und die Hoffnung auf einen Wandel zu mehr Freiheit gestärkt. Ein noch heute bewegendes<br />
Beispiel ist die Bewegung „Schwerter zur Pflugscharen“, die von der Evangelischen<br />
Kirche ausging und auch junge Katholiken erfasste. Wichtige Ereignisse waren<br />
auch die regionalen Evangelischen Kirchentage. Andererseits haben auch katholische<br />
Christen, dabei zunehmend ermutigt von ihren Bischöfen, einen beachtlichen Anteil<br />
am revolutionären Herbst 89 in der DDR. Sie wurden jedenfalls nicht erst tätig,<br />
als nach dem 9. November die Tore ohnehin schon offen standen. Eindrucksvoll anschaulich<br />
machte dies schon früh die mutige Initiative des katholischen Geistlichen<br />
Frank Richter, durch den während der dramatischen Konfrontation in Dresden Ende<br />
September / Anfang Oktober die Gruppe der Zwanzig entstand und sich so der Wille<br />
der Demonstranten gegenüber der Staatsmacht artikulieren konnte.<br />
Gleichwohl bleibt die herausragende Rolle evangelischer Laien und Amtsträger in<br />
den Jahren davor ein wichtiges Element der geschichtlichen Erinnerung, auch wenn<br />
diese innerhalb ihrer Kirche eher eine Minderheit waren und durchaus auch Gegen-<br />
23
24 Tagungsdokumentation<br />
wind erfuhren. Im Kontrast zur lange beobachteten katholischen Zurückhaltung<br />
steht nun die ebenfalls unbestreitbare Tatsache, dass sich Katholiken im politischen<br />
Prozess, der dann ab November 1989 zur deutschen Einheit und zum Wiederentstehen<br />
der ostdeutschen Länder führte, erkennbar und – wie es manchen scheinen<br />
will – überproportional zum Bevölkerungsanteil engagierten und so auch politische<br />
Verantwortung erhielten. Wenn Überraschendes geschieht, sind meist Spekulationen<br />
nicht fern. Dazu gehörte auch der Verdacht, das sich rasch intensivierende<br />
bürgerschaftliche Engagement katholischer Laien sei zentral und flächendeckend<br />
vom kirchlichen Amt organisiert und auf den Weg gebracht worden. Eine solche<br />
Vermutung kann Kenner innerkatholischer Entscheidungsvorgänge im Allgemeinen<br />
und der damaligen Situation der katholischen Kirche in der DDR im Besonderen nur<br />
Grund zu großer Heiterkeit geben. Diese Ansicht ist der klassische Fall eines klischeegeleiteten<br />
Fehlurteils.<br />
Eine einleuchtende Erklärung bietet sich dagegen an, wenn man, wie wir dies heute<br />
tun wollen, die geschichtlichen Vorgänge dieser Zeit als politischen Lernprozess<br />
verstehen. Zunächst hatten die Katholiken, wie alle Nachzügler, nachholenden Lernbedarf.<br />
Denn wer sich, wie evangelische Christen, schon länger beim Einsatz für bürgerschaftliche<br />
Anliegen im unübersichtlichen Feld der Auseinandersetzungen mit der<br />
staatlichen Macht erprobt hatte, der hatte natürlich auch einen Erfahrungsvorsprung<br />
– praktisch wie theoretisch. Wer sich näher mit den Diskussionen und Texten der<br />
Ökumenischen Versammlung beschäftigt, der kann gar nicht übersehen, dass diese –<br />
naturgemäß – eine deutlich evangelische Handschrift tragen. Allerdings brachten die<br />
bedrohliche Situation Ende September / Anfang Oktober einerseits und der sich rasch<br />
ausweitende Freiraum nach der großen Demonstration am 9. Oktober in Leipzig andererseits<br />
völlig neue Herausforderungen und erforderten von allen ein erprobendes<br />
Lernen im praktischen Prozess. Die Wochen bis zum 9. November waren der Weg zur<br />
Freiheit und stellten zugleich eine Übergangsphase dar. Denn die Freiheit, so ungesichert<br />
und bedroht sie auch vielen noch schien, warf doch unübersehbar zwei Fragen<br />
auf: Erstens, wofür sich denn nun die Deutschen in der DDR entscheiden sollten – für<br />
eine reformierte und erneuerte DDR oder für die deutsche Einheit. Und, zweitens, wie<br />
denn die deutsche Einheit gestaltet werden sollte – als neu zu gründende gesamtdeutsche<br />
Republik oder durch einen Beitritt zur bestehenden Bundesrepublik. Wer<br />
in der Zeit des lernunfähigen und machtversessenen Herrschaftssystem der SED von<br />
einer besseren DDR geträumt, sich dafür mutig eingesetzt und einiges riskiert hatte,<br />
der tat sich naturgemäß schwer mit dem Gedanken, dass die neue Freiheit rasch zur<br />
Einheit führen und das vereinigte Deutschland dann auch noch die Gestalt der Bundesrepublik<br />
haben sollte. Wer diesen Traum nicht geträumt, sondern ihm – trotz aller<br />
Sympathie mit jenen, die ihn träumten – misstraut hatte, der war jetzt eher bereit<br />
und fähig, sich auf die Einheit nicht nur einzulassen, sondern ihr Zustandekommen<br />
wie ihre Konsequenzen entschieden zu betreiben. Und nicht zuletzt bot der Beitritt
Tagungsdokumentation<br />
zur Bundesrepublik nun wiederum ein zu erlernendes Modell. Nicht wenige haben die<br />
Zeit ihres neuen und noch unerfahrenen bürgerschaftlichen Engagements als einen<br />
politischen Intensivkurs verstanden und genutzt. In ihrem Auftreten entsprachen sie<br />
dem Willen der Mehrheit und konnten auch vielfach deren Vertrauen gewinnen, auch<br />
als Angehörige einer kleinen konfessionellen Minderheit.<br />
Darin besteht der zweite Unterschied in der doppelten Wirkung, welche die lange<br />
bewahrte Haltung schweigender Distanz der katholischen Kirche und der meisten<br />
Katholiken auf ihr politisches Verhalten hatte. Es ist eben dieser relativ rasche Wechsel<br />
von der Zurückhaltung zum aktiven Handeln, welcher sich aus der konkreten<br />
historischen Situation und ihren realen Möglichkeiten ergab. Es war zugleich ein<br />
Wandel in der Art des Lernens. Der Verlauf der Geschichte gibt jedoch keinen Grund<br />
zur katholischen Selbstgerechtigkeit. Denn jene, welche – mit welchen Hoffnungen<br />
auch immer – dem politischen und ideologischen Herrschaftswillen der SED mit eigenen<br />
Idealen und Konzepten entgegentraten, trugen zu eben der geschichtlichen<br />
Dynamik bei, welche schließlich zur Freiheit führte und dann das Thema der deutschen<br />
Einheit wieder auf die Tagesordnung setzte. Der Strom der Geschichte lebt<br />
von vielen Quellen. Darum sind eindimensionale Geschichtsbilder, auch wenn sie<br />
eingängig sind, so irreführend, wenn wir den geschichtlichen Prozess wirklich und<br />
ehrlich verstehen wollen.<br />
25
26 Tagungsdokumentation<br />
Erste Schritte zur Demokratie – Erinnerungen<br />
an die „Wende“ in der DDR Karl-Heinz Ducke<br />
Akzente kirchlichen Dienstes<br />
Schon vor der Wende war in der katholischen Kirche bewusst: Die Gestaltung der<br />
Gesellschaft fordert auch uns!<br />
� Die Pastoralsynode im Bereich der damaligen Berliner Bischofskonferenz, die von 1972<br />
bis 1975 in Dresden tagte, formulierte in ihren Beschlüssen Standortbestimmungen<br />
der Kirche in der damaligen konkreten gesellschaftlichen Situation. Erinnert sei hier<br />
besonders an den Beschluss „Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden“.<br />
� Das Katholikentreffen im Juli 1987 brachte eine Neubesinnung auf Öffentlichkeit hin.<br />
Besonders die Erarbeitungen des zugeordneten „Kleinen Katholikentreffens“ versuchten,<br />
in Rückbesinnung auf die Synodenbeschlüsse, die veränderte gesellschaftliche<br />
Situation als Herausforderung für die Existenz der Kirche und das Glaubensbekenntnis<br />
des einzelnen Christen neu bewusst zu machen.<br />
Zu bedauern ist die geringe Rezeption der Texte.<br />
Wesentlich für die Rolle der katholischen Kirche in den folgenden gesellschaftlichen<br />
Umbrüchen war die Beteiligung katholischer Delegierter an der „Ökumenischen<br />
Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ 1988/1989.<br />
Erstmals wurden dabei gesellschaftlich relevante Themen, die bislang „der Partei“<br />
vorbehalten waren, zumindest in innerkirchlicher Öffentlichkeit artikuliert.<br />
„Gott suchen lässt uns nicht die Welt vergessen, sondern lenkt unseren Blick<br />
neu auf die Wirklichkeit unseres Lebens. Die Situation in unserem Land zwingt zu<br />
Deutung und Auseinandersetzung. Wir sind betroffen über die Vorgänge, die unsere<br />
Gesellschaft seit einigen Wochen erschüttern: laut gewordene Resignation, Flucht,<br />
Ausweisung, Anwendung von Gewalt. Wir bekennen, dass wir in der Vergangenheit<br />
nicht mutig genug die für uns in Gott begründete Würde des Menschen der Gesellschaft<br />
vermittelt und verteidigt zu haben.“<br />
Mit diesen Worten wandte sich der Pastoralrat des Bischöflichen Amtes Erfurt-<br />
Meiningen auf dem Pastoraltag am 13./14.10.1989 an die Katholiken und forderte
Tagungsdokumentation<br />
sie auf, „gemeinsam mit den Christen der anderen Konfessionen als einzelne und<br />
gemeinschaftlich uns bedrängende Fragen zu thematisieren, Ideen und Können in<br />
allen Gruppen einzubringen, die ihre Bereitschaft zur Veränderung erkennen lassen.“<br />
Tageszeitungen druckten zu diesem Zeitpunkt einen solchen Aufruf noch nicht<br />
ab. Auch aus der kirchlichen Presse ist er mir nicht bekannt. Trotz der Gefahr einer<br />
permanenten Vereinnahmung durch die verstaatlichte Gesellschaft, die ja nur ein<br />
verordnetes Mitmachen kannte, ist es wohl kirchlichem Dienst zu verdanken, dass<br />
Menschen auf andere als ideologisch vorgegebene Ideen kommen konnten. Die<br />
Verkündigung des Evangeliums mit seiner Botschaft von geistiger Freiheit und der<br />
Anmahnung der Würde des Menschen war für mich die größte Relativierung ideologischer<br />
Beeinflussung. Christliche Verkündigung – auch unter ideologischer Beeinflussung.<br />
Christliche Verkündigung – auch unter den Bedingungen einer kleinen Diasporagemeinde<br />
– verhinderte, dass die offizielle Horizontverengung die Wirklichkeit<br />
gänzlich eingrenzen konnte.<br />
Ausdrücklich gilt es hier all denen Danke zu sagen, die sich nicht durch Kontrollen<br />
und Schikanen an den Grenzen abschrecken ließen, uns durch einfallsreichen Bücherschmuggel<br />
an den geistigen Prozessen im Westen teilhaben zu lassen!<br />
„... da waren wir alle wie Träumende.“<br />
Mit diesen Worten war in der Bibel (Psalm 126,1) die Reaktion des Volkes Israel auf<br />
das plötzliche und unerwartete Ende seiner Gefangenschaft in Babylon beschrieben.<br />
Die „weltliche“ Übersetzung für dieses Gefühl, wirklich Unerwartetes zu erleben,<br />
Grenzen überschreiten zu können, hieß 1989 schlicht „Wahnsinn!“. Die Israeliten<br />
machten sich damals auf, nach Hause zu gehen, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen.<br />
Die Menschen in der DDR machten sich 1989 erst einmal auf den Weg in ein ihnen<br />
bisher verschlossenes, unbekanntes Land. (Leider damals von einigen Politikern als<br />
Weg zur Banane gedeutet!) Bislang Vorenthaltenes wurde erkundet, der bisher verbaute<br />
Horizont erweitert.<br />
Alles war in Bewegung. Aber wie sollte es nun weitergehen? Sollte man die Macht,<br />
die, wie einige heute meinen, auf der Straße lag, einfach an sich reißen? Wäre das der<br />
Weg in die ersehnte Demokratie gewesen? Es ist für mich die bedeutendste Erinnerung<br />
an den Herbst 1989, dass sich Menschen fanden, die Verantwortung übernommen<br />
haben. Sie forderten persönlich – trotz aller erlittener Diskriminierung – nun<br />
öffentlich Freiheit und eine gerechte, friedvolle und zukunftsfähige Gesellschaft.<br />
Klein war ihre Zahl. Aber sie hatten Mut, sich auf einen Dialog mit den bisher an<br />
der Regierung beteiligten Parteien einzulassen. Die Idee eines „Runden Tisches“ war<br />
geboren. Das Beispiel Polen stand Pate.<br />
27
28 Tagungsdokumentation<br />
Aber wer sollte einladen, damit wirklich alle kamen?<br />
Auch die SED versuchte eine Einladung. Wäre da jemand hingegangen, der Veränderungen<br />
wollte?! So erinnerte man sich plötzlich an das „Dach der Kirche“ und bat<br />
die evangelische Kirche, die Einladung zu diesen Gesprächen auszusprechen. Diese<br />
Initiative wurde ökumenisch erweitert. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen<br />
und die katholische Kirche wurden zu Miteinladenden. So wurden Kirchenvertreter<br />
zu Vermittlern, zu Moderatoren des Runden Tisches in Berlin. Die Kirchen wurden in<br />
Dienst genommen, um ihrer ureigensten Verpflichtung gerecht zu werden: für die<br />
Menschen dazusein. Gewiss war es die „Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit,<br />
Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ von 1988 und 1989, die erstmals gesellschaftlich<br />
relevante Themen, die bislang der Partei vorbehalten waren, zumindest in<br />
innerkirchlicher Öffentlichkeit artikulierte, die für Vertrauen in die Kirchen gesorgt<br />
hat. „Rund“ war er nie, der „Runde Tisch“. Aber die Debatten an ihm – live vom DDR-<br />
Fernsehen übertragen – haben Mut gemacht, sich nun selbst um die Zukunftsgestaltung<br />
zu kümmern und sich in die Politik einzubringen.<br />
Ich bin dankbar, als Mitmoderator dieses „Lehrstück in Graswurzelparlamentarismus“<br />
(Uwe Thaysen) miterlebt und auch etwas mitgestaltet zu haben. Der Runde<br />
Tisch hat nur drei Monate lang getagt. Dann war das wichtigste Ziel erreicht: die<br />
ersten freien Wahlen zu einer wirklichen Volkskammer der DDR! Eine neue Republik<br />
konstituierte sich. Diese Monate höchster politischer Aktivitäten – ohne jede parlamentarische<br />
Legitimation, nur von „der Sorge um unser Land“ getragen – sind relativ<br />
vergessen. Andere Erinnerungen überlagern die Zeit bis zur neuen Einheit beider<br />
deutscher Staaten am 3. Oktober 1990. Bildhaft ist die Grenzöffnung in Ungarn, der<br />
Kampf der Botschaftsflüchtlinge, die Oktoberdemonstrationen, der <strong>Mauerfall</strong> am<br />
9. November 1989 und schließlich die Feiern zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober<br />
1990. Die Wegbegleiter dieses Weges sollten nicht vergessen sein! Erinnerung<br />
darf keine Nostalgie oder gar „Ostalgie“ werden. Sie soll, von Zeitzeugen getragen,<br />
der heutigen Generation helfen, sich wesentlicher Wurzeln ihrer Identität bewusst<br />
zu werden.
Tagungsdokumentation<br />
Diasporasituation und gesellschaftliche Umbrüche<br />
als seelsorgliche Herausforderungen der Kirche in<br />
den neuen Bundesländern Joachim Wanke<br />
Es ist heilsam, sich vor Freunden und Weggefährten immer wieder über den inneren<br />
Zustand der eigenen Ortskirche Rechenschaft zu geben. Zum einen verhilft der<br />
Zwang zur gerafften Darstellung der Situation zur Schärfung der eigenen Beobachtung<br />
und zu vertiefter Reflexion, zum anderen weitet das Gespräch den Blick und<br />
hilft, eigene Blindheiten und Engführungen in Pastoral und kirchlichem Alltagsleben<br />
besser zu erkennen. So verstehe ich meine heutigen Ausführungen als Möglichkeit<br />
des gemeinsamen Wahrnehmens und Lernens.<br />
I. Zur derzeitigen Situation der katholischen Kirche<br />
in den neuen Bundesländern<br />
1. Zur geschichtlichen Entwicklung des Katholizismus im Raum zwischen Werra und<br />
Oder braucht es zumindest einige wenige Bemerkungen. Nachreformatorisch gab<br />
es hier, bis auf das Eichsfeld und Teile des Sorbischen Landes, keine geschlossenen<br />
katholischen Siedlungsgebiete mehr. Meist setzte das Leben katholischer Gemeinden<br />
erst im vergangenen Jahrhundert mit der Industrialisierung und den damit gegebenen<br />
Bevölkerungsbewegungen ein. In Thüringen etwa haben meist Rheinländer<br />
und Franken in den vormals durchweg evangelischen Landgebieten, die Stadt Erfurt<br />
und das Eichsfeld einmal ausgenommen, katholische Gemeinden wiederbegründet.<br />
Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gab es den gewaltigen Zustrom der Katholiken aus<br />
Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland, in Thüringen allein etwa 600 000, der<br />
freilich nach und nach in verschiedenen Schüben sich weiter nach West- und Süddeutschland<br />
hin fortbewegte. Ein Teil der zugewanderten Katholiken verlor in evangelischer<br />
bzw. atheistischer Umgebung seine Kirchenbindung, andere aber bildeten<br />
lebensfähige Gemeinden, bei uns durch die katholischen Eichsfelder kräftig unterstützt,<br />
die heute in den Städten Thüringens, weniger in den ländlichen Gebieten,<br />
auch für die profane Öffentlichkeit zum Erscheinungsbild von Kirche gehören. Derzeit<br />
ist auch eine leichte Zuwanderung von Katholiken aus der Alt-Bundesrepublik<br />
bemerkbar, zumindest dort, wo es Arbeitsmöglichkeiten gibt. Diese bringen freilich<br />
oft eine andere, meist weniger intensive Kirchenbindung mit als frühere DDR-Katholiken<br />
gewohnt waren.<br />
Wir haben derzeit in allen östlichen Bundesländern, einschließlich Westberlins<br />
knapp 800 000 Katholiken. Im Bereich des Bistums Erfurt, das abzüglich eines katholischen<br />
Rhöndekanates und eines Diasporadekanates um Gera herum etwa mit<br />
29
30 Tagungsdokumentation<br />
dem politischen Land Thüringen identisch ist, leben derzeit ca. 160 000 Katholiken.<br />
Wir haben zur Zeit 72 Pfarreien bzw. Filialgemeinden, 114 aktive Weltpriester, 6 aktive<br />
Ordenspriester, 14 hauptamtliche Ständige Diakone im Dienst und 62 aktive Gemeindereferentinnen.<br />
Das caritative Leben ist reich entfaltet, es gibt Kindergärten,<br />
Altersheime, Behindertenheime und -schulen, auch Krankenhäuser, aber auch andere<br />
spezielle Dienste (etwa Beratungsdienste) mit vielen Laienmitarbeitern, weithin<br />
durch öffentliche Gelder refinanziert. Wir haben zwei Krankenhausschulen, eine Sozialfachschule,<br />
eine Altenpflegeausbildung und zwei Gymnasien, letztere erst nach<br />
der politischen Wende wiederbegründet. Für viele Besucher ist es oft verwunderlich,<br />
dass wir manche dieser Einrichtungen schon in den DDR-Jahren unterhalten haben,<br />
etwa Kindergärten. Aber das hing mit unserer besonderen deutsch-deutschen Situation<br />
zusammen, die den kommunistischen Machthabern im Osten meist nicht<br />
erlaubte, einfach alle Einrichtungen der Kirche zu schließen. Aber das im Einzelnen<br />
darzustellen, führt hier zu weit. 1<br />
2. Nach der politischen Wende und mit der deutschen Einheit wurden in einem erstaunlich<br />
schnellen Überlegungs- und Entscheidungsprozess die kirchlichen Jurisdiktionen<br />
geordnet, die bislang – seitens der Kirche bewusst – in einem gewissen<br />
Schwebezustand gehalten worden waren. Die DDR hatte seinerzeit auf Abtrennung<br />
der Kirchengebiete von den Westbistümern gedrängt, doch kam das letztendlich<br />
nicht zustande. Freilich gab es faktisch ein Eigenleben der östlichen Bistumsanteile<br />
(nur Meißen, jetzt Dresden-Meißen, war seit 1921 selbständiges Bistum, dazu natürlich<br />
das geteilte Bistum Berlin), dieses jedoch in engster Bindung an die Bistümer<br />
im Westen, geistig, geistlich – und nicht zuletzt – finanziell. Wir haben im Osten für<br />
vielfältigste Unterstützung durch die Katholiken des Westens und ihre Bischöfe zu<br />
danken. Wir konnten beispielsweise die Priesterausbildung in Erfurt aufbauen und<br />
aufrechterhalten, die theologische Entwicklung nach dem 2. Vatikanischen Konzil<br />
mit vollziehen und in mancher Hinsicht sowohl in Pastoral und Caritas mit relativ<br />
wenig Westgeld für östliche Verhältnisse effektiv viel bewirken. Ausdrücklich beziehe<br />
ich auch das Bonifatiuswerk in Paderborn in diesen Dank mit ein.<br />
Was die neuen Bistumsgründungen jetzt im Osten, trotz ihrer quantitativen<br />
Kleinheit signalisieren möchten, ist in keinem Fall die Tendenz zur Separierung vom<br />
Westen. Im Gegenteil: Wir sind strukturell und dem Wollen nach voll und ganz in<br />
die katholische Kirche Deutschlands hineingenommen. Da hatten wir Katholiken im<br />
Osten überhaupt keine Probleme (der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR tat<br />
sich mit der Integration in die EKD m.E. schwerer). Was die Gründung der Bistümer<br />
Magdeburg, Görlitz und Erfurt signalisieren möchten, ist der Wille unserer Kirche,<br />
1 Vgl.: J. Pilvousek, Die katholische Kirche in der DDR, in: E. Gatz (Hrsg.) Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd.1, Paderborn<br />
1998; G. Niemczik, Menschen auf dem Wege. Chronik der Caritasarbeit in Thüringen, Heiligenstadt 1996.
Tagungsdokumentation<br />
sich in den östlichen Ländern wirklich zu verwurzeln, gleichsam einzupflanzen. Wir<br />
wollen und müssen zu der im Osten vorfindlichen kulturellen und gesellschaftlichen<br />
Wirklichkeit „dazugehören“, und zwar so, wie wir sind, was nicht ausschließt,<br />
dass wir weiterhin auf die gesamtdeutsche Solidarität aller Katholiken angewiesen<br />
bleiben. Dabei steht mir vor Augen, dass wir katholischen Christen eine Minderheit<br />
von ca. 5-7 % an der Gesamtbevölkerung darstellen. Unsere evangelischen Kirchen<br />
im Osten mussten jetzt nach der Wende erschreckt feststellen, dass auch sie „Kirche<br />
in der Minderheit“ sind, im besten Falle vielleicht noch 20-25 %, wobei die Teilnahme<br />
am evangelisch-kirchlichen Leben zum Teil ganz schwach ausgeprägt ist.<br />
Das lenkt aber unseren Blick schon auf die innere Situation unserer Kirche. (vgl. II)<br />
3. Nur in Kürze sei der Blick auf die allgemeine gesellschaftliche Befindlichkeit in<br />
den neuen Ländern gelenkt. Ich möchte zunächst hervorheben, dass ich die durch<br />
das alte System verursachten geistigen Schäden, die meist nicht so offen zutage<br />
liegen, für schwerwiegender halte als die ökonomischen Probleme. Letztere wird<br />
man – vermutlich in einem längeren Zeitraum als gedacht – wohl in den Griff bekommen.<br />
Aber wird das auch gelten von dem, was Lüge und Halbwahrheit des<br />
alten ideologischen Systems in den Köpfen und Herzen der Menschen, besonders<br />
der jungen Leute, an Verbiegungen, Ausfällen und Wertblindheiten bewirkt haben?<br />
Ich nenne zwei Beispiele: Das Wort „Solidarität“, in der alten DDR hochgepriesen,<br />
ist ein Ideologie-Wort gewesen und in seinem positiven Gehalt überhaupt<br />
nicht angenommen worden. Die deutsch-polnische Aussöhnung etwa muss trotz<br />
der oft gefeierten Friedensgrenze an der Neiße im Osten Deutschlands noch in<br />
den Herzen der Menschen Wurzel fassen. Oder: Ich verweise auf die nachhaltige<br />
Schädigung des Verantwortungsbewusstseins des Einzelnen. Die Omnipotenz<br />
und Omnipräsenz des alten sozialistischen Staates bis in das Privatleben hinein<br />
hat hier zu Mängelerscheinungen geführt, die sich jetzt bemerkbar machen, etwa<br />
in der Hilflosigkeit, das eigene Leben gestaltend in die Hand zu nehmen bzw. in<br />
der falschen Erwartung an den Staat, für alle Probleme zuständig zu sein. Die<br />
überzogenen Erwartungen an die Politik sind die Kehrseite der eigenen langjährigen<br />
Entwöhnung von politischem Denken und Handeln. Die Gesellschaft im Osten<br />
wird noch lange an den Folgen solcher geistigen Schädigungen zu laborieren<br />
haben.<br />
Kennzeichnend für die derzeitige Situation in den neuen Ländern ist ein Prozess<br />
der beschleunigten „Nachmodernisierung“. Was sich im Westen über 40<br />
Jahre langsam, wenn auch dort nicht ohne Brüche und Spannungen, aber doch<br />
letztendlich kontinuierlich entwickelte und ausdifferenzierte, das rollte bzw.<br />
rollt noch jetzt im Osten wie eine Sturzflut über uns hinweg. Man muss sich das<br />
einmal konkret vorstellen, was ein ehemaliger DDR-Bürger an Lernprozessen zu<br />
31
32 Tagungsdokumentation<br />
bewältigen hatte: zum einen die berufliche Nach- und Umschulung, der sich viele<br />
unterziehen mussten, zum anderen die „Umpolung“ in den meisten alltäglichen<br />
Lebensbereichen, vom Mietrecht angefangen über Eigentumsfragen, Umgang mit<br />
Banken und Krediten, mit neuen Behörden und Formularen, bis hin zum Staunen<br />
über eine merkwürdig verbürokratisierte Justiz und ein Parteiengezänk, das sofort<br />
auch bei uns „Westniveau“ erreicht hatte. Die gesellschaftlichen „Freisetzungen“,<br />
die gleichsam über Nacht und nahezu unvorbereitet die östliche Bevölkerung erreichten,<br />
wurden zwar sicherlich von den meisten vordergründig begrüßt, aber<br />
nicht immer wirklich bewältigt. Viele kamen und kommen mit den neugewonnenen<br />
Freiheiten nicht zurande bzw. gerieten in neue Zwänge, deren Ursachen sie<br />
nicht durchschauten oder denen sie sich nicht entziehen konnten. Ich denke hier<br />
an die älteren Arbeitnehmer, die arbeitslos geworden waren und nicht mehr vermittelt<br />
werden konnten. Ich denke an die oft noch unerfahrene Jugend, die sich<br />
umworben sah von einer Angebotsindustrie, die mit allen trickreichen Mitteln um<br />
Marktanteile kämpfte, aber auch anderen geistigen „Anbietern“, die mit dubiosen<br />
Parolen und Verheißungen um Gefolgschaft warben. Solche Erfahrungen prägen<br />
derzeit die innere Atmosphäre in unserem Land: “Ja – aber ...!“ Ja, wir haben die<br />
Wende gewollt, und wir stehen zu ihr – aber wir haben nicht alles gewollt, was mit<br />
dem Umschwung unser Land und die Menschen überrollte.<br />
Das Spezifische an der beschleunigten Nachmodernisierung, der der Osten<br />
Deutschlands ausgesetzt ist, könnte meines Erachtens in diesen drei Stichworten<br />
eingefangen werden:<br />
(1) Nachholbedarf<br />
Es gibt angesichts der in der alten DDR-Entwicklung angestauten gesellschaftlichen<br />
Probleme jetzt einen Nachholbedarf an Modernisierung, der stärkste wirtschaftliche,<br />
aber eben auch kulturelle und geistige Turbulenzen auslöst. Der Individualisierungsschub,<br />
der auch im Westen erkennbar ist, greift im Osten noch<br />
drastischer. Die sozialen und psychologischen Sicherheiten, die das alte System<br />
(oft unter ideologischen Vorzeichen) geboten hatte, sind entfallen. Die neuen sozialen<br />
Netze greifen erst langsam bzw. die Menschen lernen nur schwer, sich darin<br />
zurechtzufinden. Kennzeichnend etwa sind die starken Rückgänge der Geburten,<br />
mehr noch als in den Kriegsjahren 1941-1945. Man ist sich der Zukunft nicht sicher,<br />
doch gibt es andererseits einen Lebenshunger, der möglichst jetzt und sofort das<br />
nachholen möchte, was bislang nicht möglich war. Die Reisebüros z. B. haben<br />
immer noch Hochkonjunktur – trotz höherer Arbeitslosigkeit. Im Bild: Es ist wie<br />
bei einem Strafgefangenen, der unvermittelt mit der Freiheit konfrontiert wird.<br />
Die „geordnete“ Gefängnissituation erscheint in der „Zugluft“ der Freiheit unter<br />
Umständen romantisch verklärt. Manche Kräfte machen damit politisch Kapital.
(2) Östliche Inferioritätskomplexe<br />
Tagungsdokumentation<br />
Auch das möchte ich ansprechen, weil es ein Spezifikum unserer Situation<br />
ist. Der Ost-West-Gegensatz bestimmt das alltägliche Denken und Verhalten der<br />
Menschen. Wenn auch manches sich jetzt schon verwischt und angleicht: Die östliche<br />
Grundgestimmtheit ist von einem tief eingefressenen Verdacht bestimmt,<br />
von den „Wessis“ nicht ernst genommen zu werden, politisch, wirtschaftlich,<br />
wissenschaftlich, kulturell usw. Angesichts des West-Ost-Gefälles meint man<br />
sich immer wieder behaupten und verteidigen zu müssen. Wenn es humorvoll<br />
geht, mag es angehen, wie das Msgr. Karl-Heinz Ducke einmal gesagt hat: Wir<br />
im Osten hatten zwar kein silbernes Essbesteck wie die im Westen, sondern nur<br />
eines aus Aluminium, aber die Bewegungen beim Essen waren die gleichen! Oftmals<br />
schwingt aber auch Bitterkeit in der Reaktion mit, die sich dann auf den<br />
gesellschaftlichen Alltag und die innere Gestimmtheit belastend auswirkt.<br />
Ich darf hier nur nebenbei, aber dankbar anmerken, dass gerade unsere Kirche<br />
und die von ihr und unseren Katholiken getragenen und auch jetzt wieder stabiler<br />
gewordenen Verbindungen zwischen West und Ost viel zum Abbau solcher<br />
Ressentiments und Minderwertigkeitskomplexe beigetragen haben und beitragen.<br />
Der biographische und institutionelle Austausch von Menschen, die sich im<br />
gemeinsamen Gottesglauben verbunden wissen, bewährte sich auch in dieser<br />
besonderen geschichtlichen Stunde unseres Volkes.<br />
(3) Geistige Orientierungslosigkeit<br />
An dieser Stelle ist zu sprechen von der Problematik, die meines Erachtens<br />
die schwerwiegendste Frage für uns im Osten war und ist: Wer wird das Vakuum<br />
ausfüllen, das durch den Zusammenbruch des alten ideologischen Systems entstanden<br />
ist? Dieses System hatte zwar zuletzt immer mehr an innerer Überzeugungskraft<br />
verloren, aber es hatte eine Mehrzahl von Menschen, die ihre religiöse<br />
Beheimatung in den evangelischen Landeskirchen bzw. auch im katholischen<br />
Glauben verloren hatten, mit einem merkwürdigen quasi-religiösen Welt- und<br />
Lebensbild aufgefangen, das – denken wir nur an das Ritual der Jugendweihe –<br />
nahezu Züge einer atheistisch grundierten Zivilreligion angenommen hatte. Diese,<br />
zum Teil auch durch Anleihen aus einem kleinbürgerlichen, sozialistischen<br />
Humanismus angereicherte Lebensphilosophie des alten DDR-Bürgers ist zusammengebrochen.<br />
Es zeigt sich nun, dass unter dem Firnis der sozialistischen „Kultur“ oft keine<br />
echten tragenden Werte vorhanden sind. Meist ist es ein blanker Materialismus,<br />
der das Handeln und Urteilen bestimmt, manchmal sind es auch obskure, irrati-<br />
33
34 Tagungsdokumentation<br />
onale Heilslehren, die hier und dort Anhänger finden. Die innere Orientierungslosigkeit<br />
ist groß. Auch der Blick gen Westen ist da für nachdenkliche Menschen<br />
nicht sonderlich hilfreich. Erblicken die Menschen im Westen in unserer östlichen<br />
Situation oft ihre eigene Vergangenheit, sehen manche im Osten in der Situation<br />
drüben ihre Zukunft. Aber wenn man nicht gerade im steigenden Bruttosozialprodukt<br />
den Wertmesser für die innere Qualität einer Gesellschaft sieht, stimmt<br />
eine solche Einschätzung auch nicht gerade heiter!<br />
Es wird noch ein langer Weg sein, in der Breite der ostdeutschen Bevölkerung<br />
etwa auch eine Akzeptanz für die parlamentarische Demokratie zu schaffen, für<br />
die Staatsform mit klarer Gewaltenteilung und mit ökonomischen Leitvorstellungen,<br />
die eine komplizierte Balance zwischen sozialer Absicherung und wirtschaftlicher<br />
Effizienz zum Ziel haben. Angesichts der anhaltenden Probleme der<br />
innerdeutschen Einigung, etwa angesichts der sich verschärfenden Verteilungskämpfe,<br />
wird sich diese Herausforderung auch im Westen stellen. Es geht nicht<br />
ohne Vorgabe von Werten. Und ein Staat, geschweige denn eine Ideologie kann<br />
diese nicht hervorbringen, es sei denn um den Preis der Freiheit. Wir im Osten<br />
werden, um es auf eine Formel zu bringen, nach und nach die jahrzehntelange<br />
gesellschaftliche „Denk-Entwöhnung“ überwinden müssen, und im Westen<br />
wird man wohl gegen die jetzt zutage tretende „Denk-Verfettung“ in Politik und<br />
Wirtschaft angehen müssen, die die gesellschaftspolitische Visionsfähigkeit<br />
schrumpfen lässt.<br />
So oder ähnlich wäre „holzschnittartig“ die augenblickliche innere „Gestimmtheit“<br />
eines nachdenklichen Ostbürgers im Blick auf die gesellschaftliche Situation<br />
zu beschreiben, wobei dieser hin- und hergerissen ist zwischen der klaren<br />
Erkenntnis der eigenen defizitären Vergangenheit und dem Gespür, dass wohl<br />
auch nicht alles Gold ist, was da im Westen (und nun bei uns aus dem Westen)<br />
glitzert und glänzt. Wer so bis in die Mitte seiner Existenz verunsichert ist, beraubt<br />
alter Selbstverständlichkeiten, losgelöst aus vertrauten Handlungsmustern<br />
und herausgerissen aus dem Gefüge eines „Betreuungsstaates“, an dessen<br />
sozialistischer Brust alle geborgen sein sollten – der braucht schon ein starkes<br />
Selbstbewusstsein und ein Wertgefüge, das über die Anpassungszwänge des Alltäglichen<br />
hinausreicht. Kann da die Kirche einen Halt bieten?<br />
II. Probleme für die seelsorgliche Arbeit und<br />
das kirchliche Leben in den neuen Ländern<br />
Ehe wir einige Punkte bedenken, in welcher Weise unsere Kirche auf diese Situation<br />
antworten sollte, muss ich deutlich die wichtigsten Probleme unseres<br />
ortskirchlichen Lebens ansprechen. Ich versuche dies in Stichworten anzudeuten:
Tagungsdokumentation<br />
1. Die in der ostdeutschen Mentalität tief verwurzelte Kirchenferne<br />
Manche Besucher aus dem Westen meinten, dass nach der Wende, nach so langer<br />
Unterdrückung allen religiösen und teilweise auch kirchlichen Lebens im Osten<br />
ein Zustrom zu den Kirchen einsetzen müsste. Für Kenner der inneren Mentalität<br />
im Osten war freilich schon vorher klar: Die Ostdeutschen sind „religiös unmusikalisch“<br />
und Kirche ist für sie, wenn nicht Exotisches, so doch zumindest etwas<br />
sehr Fremdes, Unverständliches. Es gibt manche kluge Abhandlungen zu diesem<br />
Befund. In der Diagnose sind sich die meisten Beobachter einig, weniger in der<br />
Darlegung der Ursachen für diesen Befund, geschweige denn in der Therapie. Wir<br />
müssen realistischerweise damit rechnen, dass die Breite der Bevölkerung in den<br />
neuen Bundesländern, verursacht durch Indoktrination, aber auch durch Gewöhnung<br />
an eine totale religiös-kirchliche Abstinenz, für absehbare Zeit kaum Zugang<br />
zu einem religiösen, geschweige denn kirchlich geprägten Gottesglauben finden<br />
wird. Auch das sei am Rande vermerkt: Im Osten „dampft“ es nicht vor lauter Religiosität!<br />
Es mag einige wenige neureligiöse Zirkel und Grüppchen geben, doch<br />
spielen diese in der Breite der Bevölkerung Ost, so meine ich, keine Rolle.<br />
Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass die Akzeptanz der westlichen<br />
Lebenswerte samt ihrer Träger ohnehin im Osten nachgelassen hat, zum anderen<br />
mag es auch eine gewisse Trotzhaltung sein, die sagt: Alles hat uns Ostleuten der<br />
Westen genommen – aber unseren Atheismus, den lassen wir uns nicht nehmen!<br />
(so eine These von E. Neubert „... gründlich ausgetrieben“, Berlin 1996). Das mag ein<br />
wenig überspitzt formuliert sein, aber ich halte diese Herleitung der ostdeutschen<br />
Religions- und Kirchenferne zumindest zum Teil für berechtigt. Der Atheismus ist<br />
bei uns im Osten schon seit drei bis vier Generationen biographisch vererbt, oft<br />
schon aus der Vorkriegszeit. Doch möchte ich hinzufügen: Der explizite Atheismus<br />
ist besonders nach der Wende durchsetzt von einem müden, zum Teil resignativen<br />
Skeptizismus oder Agnostizismus. Wirklicher Atheismus ist ja intellektuell<br />
viel zu anstrengend. Die Menschen im Osten sind weithin eher weltanschauliche<br />
„Lebenskünstler“, die sich ihre Grundüberzeugungen, wenn sie überhaupt welche<br />
haben (wollen), selbst zusammenbasteln – aus Vorurteilen, aus eigenen biographischen<br />
Erfahrungen, aus Bildungsresten der alten DDR-Schule, aus Anleihen aus<br />
dem westlichen Positivismus usw. Wir Kirchen treffen im Osten beileibe nicht nur<br />
auf Ablehnung. Das auch. Aber daneben gibt es durchaus auch Neugier, Interesse,<br />
freundliche Anteilnahme – aber eben selten wirkliche Lebensumkehr aus dem<br />
christlichen Gottesglauben heraus.<br />
35
36 Tagungsdokumentation<br />
2. Kirchlich-katholische Binnenorientierung<br />
Damit meine ich eine durch die lange, zwei bis drei Generationen währende Kampfsituation<br />
der Gläubigen und der Kirche insgesamt sich herausgebildete katholische<br />
Haltung der „Einigelung“. Positiv könnte man dies nennen: „Schulterschlussgemeinschaft“<br />
– in ihr erträgt man ja leichter Benachteiligung und Schikanen, negativ muss<br />
man das aber deutlich als strukturelle Schwäche erkennen, eben als „Einigelung“, die<br />
in der Gefahr steht, die umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr richtig<br />
wahrzunehmen bzw. ihr gerecht zu werden.<br />
Das zeigte sich schlaglichtartig nach der Wende, als es darum ging, bestimmte<br />
Lebensformen des im Westen gewachsenen katholischen Lebens im Osten zu übernehmen:<br />
Verbandsarbeit, schulischen Religionsunterricht, Medienpräsenz, Dialog<br />
mit Kultur und Wissenschaft usw. Sicherlich hat unsere mangelnde Kompetenz auf<br />
solchen Feldern, die den innerkirchlichen Lebensraum überschreiten, mit unserer<br />
fehlenden Erfahrung zu tun, auch z. T. mit unserer quantitativen Schwäche, aber<br />
auch und vor allem mit unserer geistigen und geistlichen Einstellung, die weniger<br />
auf Öffnung und Dialog mit der Umwelt aus war als auf Abgrenzung und Selbstbewahrung.<br />
Diese Stichworte bezeichnen, auf die Spitze und ins Extrem getrieben,<br />
eine pastoral-kirchliche Grundoption, die freilich so chemisch rein und isoliert nicht<br />
existierte. Es gab auch damals durchaus ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft.<br />
Ich denke da allein an unsere caritativen Einrichtungen, auch an die öffentlichen<br />
Wallfahrten und Jubiläen, später dann vor allem an das Katholikentreffen 1987<br />
in Dresden, und nicht zu vergessen ist die katholische Mitbeteiligung an den drei<br />
Ökumenischen Versammlungen kurz vor dem Herbst 1989 in Dresden und Magdeburg.<br />
Doch wollte ich einfach aufmerksam machen auf eine strukturelle und geistige<br />
Schwäche unseres östlichen Diasporakatholizismus: Wir sind zu wenig oder kaum<br />
ausgerichtet auf eine geistige und geistliche Präsenz, die angriffig ist, die anregen<br />
will, die auf andere abzielt, die mehr bewegen als bewahren will. Wir stellen nicht<br />
„das Licht auf den Leuchter“ (so ein pastorales Schwerpunktthema vor einigen Jahren<br />
in unserem Bistum). Damit meine ich nicht unser eigenes Licht, sondern das Licht<br />
eines Gottesglaubens, das auch wir geschenkt bekommen haben, das uns – Gläubige<br />
wie Ungläubige – gemeinsam erleuchten will.<br />
3. Kirchliche Umstellungsprobleme nach der Wende<br />
Nach der Wende meinte ich noch etwas blauäugig, das kirchliche Leben bleibe<br />
doch weithin von den Turbulenzen der gesellschaftlichen Wende verschont. Wir<br />
mussten ja nicht unser Credo ändern, und auch das Kirchenjahr blieb uns erhalten.<br />
Aber ich habe inzwischen mein Urteil gründlich revidiert: Auch unser kirchliches<br />
Leben ist mit hineingezogen in jene Umstellungen, die eine offene, demokratische,
Tagungsdokumentation<br />
aber auch liberale Gesellschaft hervorruft. Ich verweise in diesem Zusammenhang<br />
einfach auf jene Lernprozesse, die uns die Übernahme der westlichen kirchlichen<br />
Strukturen bescherte: ein geordnetes, aber auch uns bindendes Staat-Kirche-Verhältnis,<br />
Militärseelsorge, Präsenz in den Schulen und in der Erwachsenenbildung,<br />
Verbandswesen, Caritas als eigenständiger öffentlicher Wohlfahrtsverband, der<br />
zwar öffentliche Gelder empfängt, dies aber auch abrechnen muss, überhaupt der<br />
heilsame Zwang, die Realität der Finanzierung des kirchlichen Lebens ernst zu nehmen<br />
... Manches ist sehr erfreulich und auch schnell als Lernprozess gelaufen, etwa<br />
gerade im Caritasbereich, aber auch bei der Gründung von Schulen, im Gespräch<br />
mit der Politik (in der wir mehr Gewicht haben als unsere schmale Bevölkerungsbasis<br />
vermuten lässt), im Umgang mit den Medien u. a. mehr. Der „mdr“ z. B. ist ein<br />
für kirchliche Belange erstaunlich offenes Medium, nicht zuletzt dank so mancher<br />
Christen, die dort Verantwortung tragen. Dennoch ist zu sehen: Wir haben gerade<br />
jetzt, in einer Situation des Umbruchs und des Neuanfangs, in einer Situation, in<br />
der gleichsam der gesellschaftliche Acker umgepflügt wird, mehr Möglichkeiten als<br />
wir wahrnehmen. Im gewissen Sinn gilt das natürlich für alle kirchenhistorischen<br />
Situationen. Aber die Nachwendesituation in den neuen Ländern ist weithin noch<br />
nicht so verfestigt und verkrustet, wie das z. T. im Westen der Fall ist. Hier ist noch<br />
manches „flüssig“, geistig und auch strukturell beweglich, wenn wir denn wach<br />
sind und einsatzbereit.<br />
Hier markiere ich auch den Punkt, wo ich immer wieder in den Diözesen des<br />
Westens um geistige und geistliche Hilfe bitte: Die Kirche im Osten braucht gerade<br />
jetzt weitere Solidarität, eben nicht nur finanziell, sondern auch personell und ideell.<br />
Wir sind im Osten geistig und kirchlich gesehen ein Frontabschnitt, in dem sich<br />
auch für die katholische Etappe im Rheinland und in Bayern viel entscheiden wird.<br />
Sicher: Auch in München und in der geistigen Luft einer Geldstadt wie Frankfurt am<br />
Main oder einer liberalen Universität wie Göttingen ist die Kirche auf dem Kampffeld.<br />
Aber im Osten wird sich, so meine ich, exemplarisch entscheiden, ob die Verkündigung<br />
des Evangeliums, und zwar als kirchliche Verkündigung, einen Fuß auf<br />
den Boden bekommt oder nicht. Im Osten wird die Kirche die Kräfte entbinden<br />
müssen, die dem Evangelium in der postmodernen Gesellschaft neuen Glanz zu<br />
geben vermögen. Aber damit meine ich eben nicht die kirchlichen Kräfte im Osten<br />
allein, sondern ich meine alle in Ost und West, die spüren, es sei an der Zeit, dass<br />
sich mit unserer Kirche und der Art, wie wir Kirche sind, etwas ändern muss. Die<br />
neuen Länder müssten für den deutschen Katholizismus, für seine besten Kräfte,<br />
noch stärker als Herausforderung in den Blick kommen. Ich meine, dass die Orden<br />
z. T. die Herausforderung der Stunde erkannt haben und mit ihren oft auch schwachen<br />
Kräften im Osten gut eingestiegen sind und neue pastorale Möglichkeiten<br />
erkunden. Ich werbe sehr dafür, dass diese Einstellung Nachahmung finden möge.<br />
37
38 Tagungsdokumentation<br />
4. Allgemeine Verunsicherung bezüglich unseres kirchlichen Auftrags<br />
Wenn ich das so schildere, wird mir bewusst, wie sehr wir auch im Osten hineingezogen<br />
sind in die derzeit zu beobachtende allgemeine Verunsicherung unserer Ortskirchen.<br />
Das ist oft beschrieben und analysiert worden. Diese Verunsicherung hat<br />
natürlich zu tun mit einem tief greifenden kulturellen Umbruch, der einen nachhaltigen<br />
Schub an „Freisetzung“ hervorbringt, dessen Abschluss noch lange nicht erreicht<br />
ist. Ich bringe es auf die Formel: Der Mensch ist verurteilt dazu, ohne Vorgaben leben<br />
zu müssen. Ihm schwinden die tragenden Fundamente, auf denen sich individuelles<br />
und soziales Leben aufbauen und entfalten kann. (F.-X. Kaufmann: „Verlust der Zentralperspektive“).<br />
Zu diesen schwindenden Vorgaben gehört eben auch die christliche<br />
Tradition. Ich erinnere noch einmal an die Diskussion zum Holocaustdenkmal in<br />
Berlin: bezeichnend etwa der Einwand von Habermas gegen den Vorschlag Richard<br />
Schröders, der bekanntlich angeregt hat, das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“<br />
in hebräischen Lettern am Denkmal anzubringen. Habermas meinte, neben dem<br />
verbreiteten Argument, das werde der Singularität des Holocaust-Geschehens nicht<br />
gerecht: Heute könne man eben beim Mordverbot nicht mehr begründend auf eine<br />
religiöse Tradition zurückgreifen. Sicher: Wir Kirchen dürfen uns das Recht zur ethischen<br />
Mahnung nicht nehmen lassen. Aber wir müssen damit rechnen, dass wir diese<br />
unseren Zeitgenossen nicht allein religiös begründen können. Hier liegt die Herausforderung<br />
der Stunde, auf die wir im Grunde noch keine Antwort wissen. Also doch<br />
„nicht-religiös“ von Gott sprechen (Bonhoeffer)? Oder „steil von oben her“ von Gott<br />
sprechen, so dass Gott nur als Negation einer zu verwerfenden Welt vermittelt wird<br />
(so evangelikale Wege)? Oder nur im Modus der Anknüpfung an menschliche Sehnsüchte<br />
und Ansprüche oder gar nur der Ausweitung und Ausreizung einer innerweltlich<br />
bleibenden Transzendenz des Menschen, wie es die neu-religiösen Bewegungen<br />
versuchen? Fragen über Fragen.<br />
Dass es keine, zumindest derzeit schlüssigen Antworten gibt, macht mich weniger<br />
besorgt. Das ist ja ein Kennzeichen von Umbruchzeiten, in denen alte Horizonte<br />
versinken, aber die neuen noch nicht erkennbar sind. Was mich besorgt sein lässt,<br />
ist vielmehr die Ahnung der Möglichkeit, dass das religiöse Fragen überhaupt verstummt.<br />
Friedrich Nietzsche ist heute wohl aktueller als am Ende des vorigen Jahrhunderts<br />
(vgl. die Positionen von Sloterdijk), zumindest prophetischer als der Marxismus,<br />
der letztlich noch eine Zukunftsvision hatte, freilich rein innerweltlich, eine<br />
Art „Christentum ohne Gott“. Nietzsche dagegen sah schon den „blinzelnden“ Menschen,<br />
der alles durchschaut – bis er am Ende überhaupt nichts mehr sieht. Er sah den<br />
Menschen, der sich seine Lebenswohnung so mit den Produkten seiner Hände und<br />
seines Geistes voll gestellt hat, dass er Gottes nicht mehr ansichtig wird.
Tagungsdokumentation<br />
Darum ist das die wahre Herausforderung unserer Kirche: nicht die Kirchenfrage,<br />
sondern die Gottesfrage. Wir sind gehalten, wieder das Evangelium völlig neu zu entdecken,<br />
vermutlich an der Hand des Lehrers Jesus selbst, im Rückgriff über alle kirchlichen<br />
Traditionen hinweg – die wir als Korrektive brauchen, die aber so nicht mehr<br />
Glaubensleben wecken können.<br />
Wenn ich das so formuliere, wird klar, dass es die von uns machbaren Chancen<br />
für das Evangelium gar nicht gibt. Es gibt nur jenen kairos, den Gott jeder Zeit neu<br />
schenkt. Was wir tun können, ist, noch redlicher die geistige Situation der Zeit wahrzunehmen,<br />
keinen Illusionen nachzujagen, uns zu konzentrieren auf das Wesentliche<br />
und Zentrale dessen, warum es Kirche überhaupt gibt. Wir müssen überzeugt sein,<br />
dass wir, wirklich nur wir (genauer gesagt: nicht wir, sondern Gottes Geist durch uns)<br />
den Menschen auch heute die über Tod oder Leben entscheidende Wahrheit auszurichten<br />
hat. Diese Überzeugung mangelt uns. Und darum wissen wir auch nicht,<br />
wie wir diese Botschaft zu sagen haben. Das wird sich ändern, sobald wir selbst das<br />
Evangelium neu begriffen haben, oder besser: es uns ergriffen und verändert hat.<br />
Anzeichen für eine solche neue Sauerteigbildung innerhalb der Christenheit gibt es.<br />
III. Chancen und Aufgaben kirchlich-katholischen Lebens<br />
in den neuen Ländern<br />
Diese Überlegungen vorausgesetzt, versuche ich einige wenige Hinweise zu geben,<br />
was sich uns, aber wohl eben nicht nur uns im Osten, an neuen Chancen und Möglichkeiten<br />
kirchlichen Wirkens auftut. Wohlgemerkt: Wir stochern im Nebel – aber an<br />
manchen Stellen stoßen wir nicht nur auf Betonwände. Manchmal lichtet sich der<br />
Nebel ein wenig und man erkennt, dass es weiterführende Wege zu geben scheint.<br />
Was uns als Kirchen in Ost und West gemeinsam entgegenkommt ist, so meine ich zu<br />
beobachten, das Ende einer gewissen gesellschaftlichen „Sattheit“. Eine neue Nachdenklichkeit<br />
kehrt ein, die besorgt fragt: Wie kann und wird es mit unserer gesellschaftlichen<br />
Entwicklung weitergehen? Der Tradierungsabbruch trifft ja nicht nur die<br />
Kirche(n). Auch andere gesellschaftliche Institutionen, einschließlich der Ehen und<br />
Familien, sind im Umbruch. Diese Fragen sind immer öfter zu hören: Was hält eigentlich<br />
die Gesellschaft, die Parteien, die Gewerkschaften usw. zusammen? Wie ist<br />
angesichts der auseinanderdriftenden Tendenzen ein gesellschaftlicher Konsens, der<br />
Zukunft sichert, noch möglich? Vermutlich stehen wir vor einer neuen Grundwertediskussion,<br />
in der der Beitrag der Kirche durchaus auch Aufmerksamkeit finden wird,<br />
wenn er sich denn argumentativ präsentiert und sich einer offenen Diskussion stellt.<br />
Meine Überlegungen für den Weg unserer Kirche heute und morgen mache ich an<br />
drei Stichworten fest:<br />
39
40 Tagungsdokumentation<br />
1. Konzentrieren<br />
a) Im Bereich der „verfassten“ Kirche<br />
Unser ortskirchliches Leben im Osten wird nicht umhinkommen, sich auf zentrale<br />
Punkte des kirchlichen Lebens zu konzentrieren. Ähnlich wie in den westlichen Diözesen,<br />
in denen es in naher Zukunft vermutlich nicht ganz ohne Abbau kirchlicher<br />
Aufgabenbereiche abgehen wird, müssen auch wir uns im Osten sorgfältig überlegen,<br />
was wir im Bereich der Verkündigung, der Liturgie, des Gemeindeaufbaus, der<br />
Caritas, der gesellschaftlichen Diakonie usw. festhalten wollen. Das muss angesichts<br />
der geringer werdenden Finanzierungsmöglichkeiten nüchtern durchgerechnet werden.<br />
Diese Konzentration betrifft vor allem den Bereich der verfassten Kirche, also<br />
den Bereich, in dem mit bezahlten Kräften gearbeitet wird. Wir haben im Bistum zum<br />
Beispiel einen unseren Möglichkeiten angepassten Personalschlüssel für den Seelsorgebereich<br />
erarbeitet, den wir mittelfristig umsetzen wollen.<br />
Sicherlich geht es bei uns – wie überall – zunächst um die Grundsicherung des ortskirchlichen<br />
Lebens. Dazu gehören solche Aufgaben wie die Besoldung der Geistlichen<br />
und des weiteren Seelsorgepersonals, die Pensionsverpflichtungen, die Zuschüsse an<br />
die Gemeinden, die Aufrechterhaltung der Verwaltung, die Zuschüsse an die Caritas,<br />
die Erhaltung der Bausubstanz usw. Über die Absicherung des Existenzminimums<br />
hinaus stellt sich freilich die Frage, welche besonderen Schwerpunkte wir in unserem<br />
ortskirchlichen Leben im Osten setzen wollen. Da wären Aufgaben zu benennen, die<br />
im gewissen Sinn auch im Gesamtinteresse unserer Kirche in Deutschland liegen,<br />
etwa die Arbeit unserer Bildungshäuser, der Kindergärten, der katholischen Schulen,<br />
unserer theologischen Fakultät in Erfurt, die Sonderseelsorge, die Öffentlichkeitsarbeit<br />
und anderes mehr. Wir können sicher nicht alles Wünschenswerte machen, doch<br />
im Sinne einer echten Präsenz, die evangelisierende Wirkung hat, können wir uns<br />
nicht nur in der Sakristei verstecken. Dabei liegt mir freilich die qualitative Präsenz<br />
mehr am Herzen als die quantitative!<br />
b) Theologische „Konzentration“<br />
Über diese nüchternen Überlegungen hinaus bewegt mich die Frage, ob wir nicht<br />
auch in einem noch tieferen, theologischen Sinn uns auf die zentralen Aufgaben des<br />
Kirche-Seins konzentrieren müssten. Die Leitfrage dabei sollte sein: Was ist der Auftrag<br />
unseres Herrn? und weiter (im Blick auf die „verfasste“ Kirche und deren Aktivitäten):<br />
Was kann uns von niemand anderem abgenommen werden? Was können<br />
nur wir als Kirche tun? Zum Beispiel: Gottesdienst feiern, das Kirchenjahr mit seinen<br />
Festen prägen; Kindern und Sterbenden Gott vor Augen stellen (das können gottlob<br />
alle Christenmenschen, nicht nur Pfarrer) usw. Vor allem müssten wir darauf achten,<br />
dass unsere Aktivitäten wirklich mit dem Evangelium, letztlich mit Jesus Christus<br />
selbst in Berührung bringen.
Tagungsdokumentation<br />
Es gibt seitens der profanen Gesellschaft die Tendenz, die Kirchen als „religiöse<br />
Dienstleister“ zu vereinnahmen. Zugespitzt formuliert: Wir haben die Leute nicht religiös<br />
zu bedienen, sondern sie mit Jesus Christus und seiner Botschaft in Berührung<br />
zu bringen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, mit Worten und durch<br />
Taten, direkt und indirekt, mehr im Modus der Anknüpfung, manchmal aber auch<br />
im Modus des Widerspruchs und der Warnung. Ist eine kirchlich getragene exzessive<br />
Bildungsarbeit, wie sie z. T. in unseren Häusern geleistet wird, wirklich notwendig?<br />
Nur weil sie mit öffentlichen Geldern gestützt wird? Im Einzelfall ist freilich eine Entscheidung<br />
oft schwierig.<br />
Für mich gilt als ein Kriterium: Löst unsere kirchliche Präsenz etwas aus in Richtung<br />
der Kontaktnahme mit dem Evangelium Christi? Ist unser Tun so, dass ein<br />
„Weg“ eröffnet wird, dass es zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung kommt? Erweitert<br />
unser Tun den Lebens- und Welthorizont der Mitmenschen, hilft es ihnen, die<br />
erfahrenen Realitäten „österlich“ zu deuten (z. B. bei Traueranlässen)? – Dies führt<br />
uns schon zu dem zweiten Stichwort:<br />
2. Profilieren<br />
Unsere kirchliche Präsenz in der Gesellschaft muss profiliert sein. Wir dürfen uns<br />
weder anbiedern noch anpassen, aber wir sollten uns auch nicht verstecken. In den<br />
neuen Ländern müssen wir nüchtern mit einer sehr großen Fremdheit der Menschen<br />
allem Kirchlichen gegenüber rechnen. Das ist hier anders als in der „Altbundesrepublik“.<br />
Auch ist hier bei uns die Angst der Leute groß, „vereinnahmt“ zu werden. Die<br />
Wege der Menschen zur Kirche sind hier länger und das Terrain steiniger. Aber einen<br />
Vorteil haben wir vielleicht im Osten: Es gibt hier vermutlich weniger kirchlich „hausgemachte“<br />
Vorurteile und Missverständnisse. Die Menschen sind unbelasteter von<br />
negativen Kirchenerfahrungen, zumindest was ihre eigene Biographie betrifft. Die<br />
Negativeinflüsse einer einseitigen Mediendarstellung von Kirche nehme ich dabei<br />
aus. Freilich: Die Resistenz, die Widerstandskraft gegenüber dem Verdummungseffekt<br />
ungefilterten und unkritischen Mediengebrauchs gehört zum modernen Christsein.<br />
Ein weiterer Vorteil unseres ortskirchlichen Lebens: Im Normalfall haben wir weniger<br />
kirchliche „Institutionen“ als anderswo. Menschen wollen heutzutage „Gesichter“<br />
sehen, keine Werbezettel in die Hand gedrückt bekommen. Jedes „Ansprechen“<br />
von Menschen geht nur über den Weg persönlicher Begegnung, wobei im<br />
Vorfeld sicher bedacht werden muss, wie man Räume schaffen kann, in denen das<br />
dann erfolgen kann: das Gespräch von Mensch zu Mensch. Unsere Motivation bei<br />
diesem „missionarischen Zeugnis“ muss sein: den Menschen den Heilsweg zu Christus<br />
und seinem Wort hin eröffnen zu wollen. Es geht uns nicht vordergründig um<br />
41
42 Tagungsdokumentation<br />
„Mitgliederwerbung“. Es soll uns um das „Heil-Werden“ unserer Mitmenschen gehen.<br />
Wenn wir das so sagen, spüren wir, dass dies uns selbst auf den Prüfstand stellt:<br />
Glauben wir selbst wirklich daran, dass die Christusberührung uns (in einem ganz<br />
tiefen Sinn) „heil“ macht? Haben wir „österliche Augen“, mit denen wir anders als die<br />
Ungläubigen auf diese Welt und unser Leben schauen können, auch auf das unserer<br />
Mitmenschen? Sehen wir „mehr“ als andere? Diese Einstellung wird uns helfen, eine<br />
gewisse „Absichtslosigkeit“ in der Begegnung mit Nichtgetauften durchzuhalten. (In<br />
Frankreich sagt man: gratuité). Wir stehen nicht unter „Erfolgsdruck“. Die eigentliche<br />
Bekehrung bewirkt ohnehin der Geist Gottes. Wir sind „Zuarbeiter“! Wir leisten<br />
„Hebammen-Dienste“!<br />
Das bedeutet: Das Vorhaben, „offene“, wegweisende und gastfreundliche Kirche<br />
zu sein, erfordert von uns eine ständige „Selbstevangelisierung“. Indem wir andere<br />
einladen, müssen wir uns selbst verändern, und zwar im Sinne einer immer tieferen<br />
Christus-Verähnlichung. Wir müssen immer mehr lernen, mit den Augen Christi zu<br />
sehen, mit seinem Herzen zu fühlen. Da gibt es keinen Rollenunterschied zwischen<br />
„Hauptamtlichen“ (Geweihten und Nichtgeweihten) und den Gläubigen ohne „Amt“.<br />
Die in der Seelsorge Tätigen haben einen zusätzlichen Auftrag: Sie sollen und dürfen<br />
die Gemeinden so zurüsten und begleiten, dass sie diese „Offenheit“ für das Weltzeugnis<br />
heute erwerben bzw. ausbauen, diese Zeugniskompetenz, ohne die „Kirche<br />
nur ein Ofen wäre, der sich selbst wärmt“ (nach einem Wort von Kardinal Alfred<br />
Bengsch). Nur sich selbst evangelisierende Christen sind in der Lage, andere mit dem<br />
Evangelium in Kontakt zu bringen. Und allein deswegen ist Kirche da. Das ist ihr Sinn.<br />
3. Begleiten<br />
In diesem Stichwort klingt für mich die Art der Seelsorge mit, die Gott selbst an<br />
uns allen treibt. Er „begleitet“ uns – helfend, mahnend, warnend, manchmal auch<br />
uns erschreckend, aber niemals verurteilend. Ich spüre bei den Menschen bei uns<br />
im Osten eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen, nach menschlicher<br />
Nähe und nach Angenommen-Sein. Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen<br />
gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirkliche absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft<br />
zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten<br />
Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt:<br />
„Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!“<br />
Übrigens sagen das manche auch zu einem aus dem Pfarrgemeinderat, der im Namen<br />
der Gemeinde einen Besuch macht.<br />
Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden<br />
Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren<br />
in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen.
Tagungsdokumentation<br />
Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen<br />
ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit Sehnsucht nach menschlicher Nähe<br />
und Annahme gibt. „Du bist angenommen!“ Diese Grundbotschaft des Evangeliums<br />
hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, das weit über den kirchlichen<br />
Raum hinein in die Gesellschaft ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt. Das<br />
Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese „Melodie“<br />
muss durch uns erklingen. Dann kann sich auch in einem zweiten Schritt die<br />
Einladung zur Umkehr, zum Neuanfang, zur Nachfolge Christi entfalten. Begleiten<br />
erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien<br />
auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht<br />
ganz „Stubenreinen“ umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Unabhängig<br />
von der Frage nach der Zulassung zu den Sakramenten müssen die Menschen<br />
das Gefühl haben, dass sie in der Kirche willkommen sind. Zeichen des Willkommen-<br />
Seins sind ja nicht nur die Sakramente.<br />
Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch<br />
reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen<br />
Ungläubigen und „Halbgläubigen“, die punktuell Berührung mit der Kirche suchen,<br />
etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei<br />
der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen<br />
usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, eine Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens,<br />
des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist<br />
die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben<br />
zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht<br />
muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung<br />
dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst<br />
freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!<br />
Ich beende unseren Blick auf die Situation unserer Kirche im Osten, indem ich<br />
noch einmal meine Grundeinstellung zum Ausdruck bringe: Es ist gut, auch für unsere<br />
Kirche und ihr Leben, dass die Wende gekommen ist. Ich ermuntere unsere Priester<br />
und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen,<br />
auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren.<br />
Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, auch der sublime Druck, mit dem uns<br />
das alte System früher die Gemeinden im „Schulterschluss“ zusammengehalten hat.<br />
Wir leben jetzt ehrlicher. Wir müssen uns auf unsere Substanz besinnen. Und das ist<br />
vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.<br />
43
II. Das Bonifatiuswerk und<br />
der Weg zur deutschen Einheit:<br />
zwei Berichte<br />
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
45
46 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Aufbruch in eine neue Zeit<br />
Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />
zwischen <strong>Mauerfall</strong> und Wiedervereinigung<br />
Alfred Herrmann, Josef Bilstein und Michael Henn<br />
„Schwerpunkt ist und bleibt unsere Arbeit für die DDR!“, bekräftigte der<br />
Präsident des Bonifatiuswerkes, Dr. Winfried Florian, noch auf der 58. Generalversammlung<br />
des Werkes, die vom 1. bis zum 3. Oktober 1989 in Würzburg tagte.<br />
Keiner der Anwesenden ahnte, dass die Mauer nur wenige Wochen später Geschichte<br />
war und sich genau ein Jahr danach die politische Wiedervereinigung<br />
Deutschlands vollzieht. Die rasante Entwicklung zu Freiheit, Demokratie und<br />
Einheit vor 20 Jahren konfrontierte das Bonifatiuswerk mit sich völlig verändernden<br />
Voraussetzungen in der Diaspora Ostdeutschlands und stellte es vor ganz<br />
neue Herausforderungen.<br />
Die angespannte Situation in der DDR im Herbst 1989 entging den Verantwortlichen<br />
natürlich nicht: „Bei der derzeitigen Lage in der DDR ist ungewiss, wie es dort<br />
auch wirtschaftlich weitergeht. Man kann wohl nicht ganz ausschließen, dass unter<br />
bestimmten Umständen weitere Hilfe von uns erbeten werden muss“, erklärte der<br />
damalige Generalsekretär, Prälat Georg Walf, in Würzburg. Die Geschwindigkeit der<br />
politischen Veränderungen zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990<br />
überraschten das Bonifatiuswerk. Umso aufmerksamer beobachtete es die Umbrüche<br />
und handelte schließlich entschlossen. Das führen die Protokolle des Diasporahilfswerkes<br />
aus jenen spannenden elf Monaten der Jahre 1989/90 vor Augen.<br />
Erstmalig nach dem <strong>Mauerfall</strong> kam der Generalvorstand am 8. Dezember 1989<br />
zusammen. Dabei diskutierte er die veränderte politische Situation in der DDR und<br />
die Auswirkungen auf die Diasporahilfe. Vorsicht sei geboten bei der finanziellen Hilfe,<br />
merkte der Generalvorstand an, da die finanzielle Situation sich mit Sicherheit<br />
ändern werde. Allein der Umtauschkurs für die Hilfe, der aufgrund der politischen<br />
Verhältnisse bislang zumeist bei einer Ostmark für eine D-Mark lag, galt als nicht<br />
mehr haltbar. Außerdem müsse man sich auf neue gesellschaftspolitische Aufgaben<br />
der Kirche in der DDR, wie die Mitwirkung im Bildungswesen oder die Errichtung von<br />
Kindergärten, rechtzeitig einstellen, betrachtete der Generalvorstand die neue Situation<br />
weitsichtig.
Erste Veränderungen<br />
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Schon auf der darauffolgenden Sitzung des Generalvorstandes im Mai 1990, zwischen<br />
der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März und der Währungsunion am<br />
1. Juli, zeigten sich erste Veränderungen in der Arbeit des Werkes. Das Bonifatiuswerk<br />
und seine Diasporahilfe konnte endlich unter den Katholiken der DDR bekannter gemacht<br />
werden. So durfte das Bonifatiusblatt und das Priesterjahrheft nun auch in<br />
die DDR geliefert und der Diaspora-Sonntag in den Gemeinden beworben werden.<br />
Auch dachte man an die Gründung von Diözesan-Bonifatiuswerken. Bei der Motorisierungshilfe<br />
sollten künftig statt Wartburg, Trabant und Barkas Autos angeschafft<br />
werden, die in der Bundesrepublik hergestellt wurden.<br />
Der Generalvorstand beschloss, im Herbst erstmals seit der deutschen Teilung auf<br />
dem Gebiet der DDR zu tagen. Am 14. September 1990 begrüßte Bischof Dr. Joachim<br />
Wanke den Generalvorstand im Haus St. Ursula in Erfurt auf das Herzlichste und<br />
drückte seine Freude aus, dass die neue politische Situation diese Tagung erlaube.<br />
Die Diaspora habe dem Bonifatiuswerk unendlich viel zu verdanken, erklärte Bischof<br />
Wanke. Auch für die Zukunft knüpften sich viele Hoffnungen an das Diasporahilfswerk.<br />
Bei allen Ängsten und Sorgen, die in der gegenwärtigen Umbruchsituation<br />
überall feststellbar seien, überwiege die Dankbarkeit, so der Bischof in Erfurt.<br />
Hoher Sanierungsbedarf<br />
Die Lage der Kirche in der DDR änderte sich in diesen Monaten rasant. Während der<br />
SED-Diktatur war es beispielsweise für die Kirche in der DDR verboten, neben den seit<br />
1945 bestehenden katholischen Kindergärten neue zu eröffnen. Von Schulen ganz<br />
zu schweigen. Plötzlich stand die Anfrage nach ebendiesen katholischen Einrichtungen<br />
im Raum. Ebenso die Frage nach Religionsunterricht in staatlichen Schulen und<br />
daraus folgend die Frage nach genügend Fachlehrern und ausreichend Unterrichtsmaterialien.<br />
Doch schon die Finanzierung des Bestehenden machte den Gemeinden<br />
mehr und mehr Probleme. So heißt es in einem der Protokolle: Die Kostensteigerung<br />
bei den Kindergärten sei so, dass sich die Gemeinden eigentlich keinen Kindergarten<br />
leisten könnten, diese aber für die Pastoral einen sehr hohen Stellenwert haben. Die<br />
finanzielle Situation der Kirche im Osten war plötzlich eine ganz andere, und auch die<br />
Unterstützung des Bonifatiuswerkes musste neu bewertet werden. Zum einen veränderte<br />
sich der Wert des Geldes und zum anderen erhöhten sich die Preise in vielen<br />
Lebensbereichen. Zugleich rechnete man aufgrund des Wegfalls staatlicher Subventionen<br />
beispielsweise bei den Energiekosten und Postgebühren mit einer Steigerung<br />
bis zu 300 Prozent, bei den Verwaltungskosten um bis zu 200 Prozent. Bei den Baukosten<br />
sah man eine Verdopplung der Preise kommen. Heute könne man mit einer<br />
Million D-Mark nicht mehr so viel fertig stellen wie noch ein Jahr zuvor, mussten die<br />
47
48 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Verantwortlichen des Bonifatiuswerkes feststellen. Zugleich ergab sich ein ganz neuer<br />
Förderbedarf: „Ich habe bei meinen Reisen des Öfteren Pfarrhäuser angetroffen, wo<br />
das Dach und die sanitären Anlagen in einem für uns unvorstellbaren Zustand sind“,<br />
berichtete Generalsekretär Georg Walf dem Generalvorstand. Ein hoher Sanierungs-<br />
und vor allem Modernisierungsbedarf zeichnete sich ab, besonders im Bereich Heizungen,<br />
Sanitäranlagen und Dächer. Allein was an Heizungserneuerungen notwendig<br />
sei, wurde als „schwindelerregend“ bezeichnet. Die Beschickung alter Heizungsanlagen<br />
hemme viele pastorale Aktivitäten, hieß es aus den Gemeinden vor Ort.<br />
Feuerwehrfonds für schnelle Hilfe<br />
Die Diaspora-Gemeinden und Bischöflichen Ämter konnten die erforderlichen<br />
Summen nicht stemmen. Und so beschloss am 12. Dezember 1990 der Generalvorstand<br />
des Bonifatiuswerkes, zu handeln und den dringenden Bedarf der Diasporakirche<br />
in den neuen Bundesländern zu unterstützen. Im Jahreshaushalt 1991 wurde<br />
dafür zunächst eine Hilfe über rund 12,23 Millionen DM fest zugesagt. Sie war wie<br />
in den Vorjahren bestimmt für Baumaßnahmen, turnusmäßige Verkehrshilfe, Förderung<br />
der Priesterausbildung, Unterhalt und Betrieb katholischer Kinderheime und<br />
Kindergärten. Für drei Jahre wurde zusätzlich ein so genannter „Feuerwehrfonds“<br />
eingerichtet. Dieser Fonds belief sich auf rund 13 Millionen DM. Er wurde in der Generalvorstandssitzung<br />
vom 1. April 1992 in Schwerin auf 20 Millionen DM aufgestockt.<br />
Der Feuerwehrfonds half in akuten Notsituationen auf dem Bausektor. Dafür wurden<br />
von den Bischöfen einzelne Objekte benannt. Pfarrgemeinden konnten so auf zusätzliche<br />
Mittel zurückgreifen, wenn außerplanmäßige Arbeiten anfielen und schnelle<br />
Hilfe geboten war. Ende 1992 waren die Mittel zum überwiegenden Teil in Anspruch<br />
genommen worden.<br />
Foto: Über 40 Jahre diente diese ehemalige Baracke des Reichsarbeitsdienstes im sächsischen<br />
Doberschütz als Gotteshaus. Im Februar 1991 packten alle mit an und rissen sie ab. | Foto: Bonifatiuswerk
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Foto: Dank des Feuerwehrfonds entstand die neue Kapelle in Doberschütz. | Foto: Bonifatiuswerk<br />
Zudem erhöhte die Diaspora-Kinderhilfe die Unterstützung der „Religiösen<br />
Kinderwochen“ (RKW) in Ostdeutschland von jährlich 600.000 DM auf jährlich 1,2<br />
Millionen DM. Denn rechnete Generalsekretär Walf im Frühjahr 1990 noch mit einem<br />
Rückgang der Teilnehmerzahlen für den Sommer, konnte er auf der Generalvorstandssitzung<br />
im September ganz anders bilanzieren. Nach der Währungsunion<br />
seien die Anmeldungen gestiegen. An vielen Stellen seien höhere Teilnehmerzahlen<br />
erreicht worden als in früheren Jahren, erklärte Walf in Erfurt. Die Kosten stiegen<br />
entsprechend. In der meist einwöchigen Ferienfreizeit RKW bekommen die Kinder<br />
und Jugendlichen in der Diaspora einen intensiven Glaubensunterricht und können<br />
die Gemeinschaft der Kirche erleben.<br />
Diese rasche finanzielle Hilfe für die Diaspora in den neuen Bundesländern ermöglichten<br />
andere Diasporadiözesen. Sie erklärten sich bereit, zugunsten der Katholiken<br />
im Osten ihre Anträge einzuschränken. Damit erwies sich das Bonifatiuswerk<br />
in dieser besonderen historischen Situation als großes Werk der Solidarität.<br />
Heute sind die Sanierungen von Kirchen und Gemeindehäusern sowie entsprechende<br />
Neubauten weitgehend abgeschlossen.<br />
49
50 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Die Kirche in der DDR während der deutschen Teilung<br />
Die heutigen (Erz-)Diözesen Erfurt, Magdeburg, Görlitz und Hamburg errichtete der Vatikan<br />
erst weit nach der Wende im Jahr 1994. Bis dahin gehörten die ostdeutschen Regionen<br />
zu den Bistümern Osnabrück, Paderborn, Fulda, Würzburg und Hildesheim. Görlitz trennte<br />
der Vatikan 1972 im Zuge der Neuordnung der Kirchenstruktur in Polen vom ehemaligen<br />
Erzbistum Breslau ab und erhob es zur Apostolischen Administratur. Zum selbstständigen<br />
Bistum Berlin gehörte auch weiterhin West-Berlin. Das Bistum Dresden-Meißen lag als einziges<br />
Bistum mit seinem Gesamtterritorium in der DDR.<br />
Die Bischöfe in den Bischöflichen Ämtern Erfurt-Meiningen, Magdeburg und Schwerin<br />
unterstanden als Apostolische Administratoren zwar direkt dem Vatikan und nicht mehr<br />
den Ortsbischöfen der entsprechenden West-Bistümer, jedoch blieben die Gebiete der Diözesen<br />
unangetastet. Die sogenannte Berliner Bischofskonferenz<br />
blieb vom Status her eine Regional-Bischofskonferenz<br />
und wurde keine nationale<br />
Bischofskonferenz. Dass der Vatikan<br />
die Kirche in der DDR und in der<br />
Bundesrepublik bis zum Fall des<br />
Eisernen Vorhangs als eine Nationalkirche<br />
begriff, zeigten unter<br />
anderem die Bischofsernennungen.<br />
So wechselte Bischof Julius<br />
Döpfner 1957 von Würzburg nach<br />
Berlin und 1988 Kardinal Joachim<br />
Meisner aus dem West-Ost-Bistum<br />
Berlin auf den Kölner Bischofsstuhl.<br />
Meiningen<br />
MEININGEN<br />
(Würzburg)<br />
ERFURT<br />
(Fulda)<br />
Erfurt<br />
Schwerin<br />
SCHWERIN<br />
(Osnabrück)<br />
Magdeburg<br />
MAGDEBURG<br />
(Paderborn)<br />
zu Hildesheim<br />
zu Hildesheim<br />
BERLIN<br />
Berlin<br />
DRESDEN-<br />
MEISSEN<br />
GÖRLITZ<br />
Dresden<br />
Görlitz
Von LIMEX, GENEX und Tante Paula<br />
Die vielseitige Hilfe des Bonifatiuswerkes<br />
während der deutschen Teilung<br />
Alfred Herrmann<br />
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
„Die katholische Kirche in Deutschland ist stets davon ausgegangen, dass<br />
die kulturelle und politische Einheit des deutschen Volkes unaufgebbar sei“, formulierte<br />
der langjährige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz und spätere Bischof<br />
von Hildesheim, Dr. Josef Homeyer, 1996 rückblickend. Die katholische Kirche<br />
war die einzige Großorganisation, die die Teilung Deutschlands nicht mit vollzog.<br />
Dass dies unter den Katholiken in der DDR wie in der Bundesrepublik spürbar und<br />
greifbar wurde, ist nicht zuletzt ein Verdienst des Bonifatiuswerkes der deutschen<br />
Katholiken. Auch während der deutschen Teilung blieb die Diaspora des früheren<br />
Mitteldeutschlands Hauptfördergebiet des Bonifatiuswerkes.<br />
Die wichtigste Klammer der katholischen Kirche in Deutschland zeigte sich vor allem<br />
in der Solidarität der Gläubigen untereinander, in den unzähligen persönlichen<br />
Kontakten und Beziehungen. Gegenseitige Unterstützung und Austausch zwischen<br />
Gemeinden, Verbänden und Institutionen ließen den Faden zwischen den Katholiken<br />
in Ost und West nie abreißen. Einen Weg der Solidarität eröffnete das Bonifatiuswerk.<br />
Seit seiner Gründung als Bonifatiusverein 1849 in Regensburg nahm sich das deutsche<br />
Diasporahilfswerk auch der Region zwischen Erzgebirge und Ostseeküste an. Somit<br />
rief die Stunde der deutschen Teilung das Bonifatiuswerk in die besondere Pflicht.<br />
Sein langjähriger Generalsekretär Anton Kötter nennt in einem Artikel aus dem Jahr<br />
1996 eine Gesamthilfe in Höhe von 743 Millionen DM, die zwischen 1949 und 1990 aus<br />
dem Bonifatiushaus in Paderborn der Kirche in der DDR zugeleitet wurde. Er rechnet<br />
in diese Zahl die knapp 289 Millionen DM ein, die das „Diaspora-Kommissariat<br />
der deutschen Bischöfe – Diasporahilfe der Priester“ – großteils als Gehaltshilfe –<br />
in die DDR gab, wie auch die Gelder der Deutschen Bischofskonferenz, die über das Bonifatiuswerk<br />
weitergegeben wurden.<br />
Pakete verbinden West und Ost<br />
Von Anfang an bestand ein wesentlicher Teil der Bonifatiuswerkhilfe aus Sachspenden.<br />
So lieferte das Werk beispielsweise über 17 Jahre lang Messwein in großen Mengen<br />
51
52 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
in die DDR. Der St. Benno-Verlag in Leipzig wurde mit Papier unterstützt. Paramente<br />
und liturgische Geräte gab das Bonifatiuswerk in beträchtlicher Anzahl weiter. Allein<br />
im Jahr 1985 waren es zum Beispiel 14 Chormäntel, 297 Messgewänder, 105 Stolen<br />
46 Hostienschalen, 69 Paar Messkännchen, sieben Monstranzen und vieles mehr.<br />
Die Pakethilfe des Bonifatiuswerkes, hier ein Foto aus den 50er Jahren aus dem Bonifatiushaus, versorgte<br />
die Katholiken in der DDR mit liturgischem Gerät, Bastelmaterial und katechetischen Schriften.<br />
Die Bibliotheken der Ausbildungsstätten für Priester und pastorales Personal hielt<br />
die Buchhilfe des Bonifatiuswerkes auf dem neuesten Stand. Hinzu kamen unzählige<br />
Hilfspäckchen mit Lebensmitteln, Kleidung und Bastelmaterialien. Ganze Jahrgänge<br />
von Kommunionkindern wurden mit der Unterstützung durch die Diaspora-<br />
Kinderhilfe auf die Erstkommunion vorbereitet und durch das Bonifatiuswerk für ihren<br />
Festtag eingekleidet. Hilfe kam auf diese Weise auch für die Frohen Herrgottsstunden,<br />
damit die Kleinsten von Anfang an mit dem Glauben in Berührung kommen konnten.<br />
„Unser Versand glich einem Warenlager mit Schuhen, Spielsachen, Kaffee, Lebensmitteln<br />
und vielem mehr“, erinnert sich Daniela Koch, langjährige Mitarbeiterin im Bonifatiuswerk.<br />
Doch Pakete als westdeutsches katholisches Hilfswerk in die DDR zu versenden,
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. „Pakete durften nur von Privatperson zu<br />
Privatperson versendet werden“, erklärt Koch. Die Pakete habe man deshalb nie an einen<br />
Kindergarten oder eine Kirchengemeinde direkt adressieren können, sondern nur an<br />
Privatleute. „Und jedes Paket, das wir im Bonifatiushaus gepackt haben, brauchte einen<br />
privaten Absender“, gibt Koch zu bedenken. Das hatte über lange Jahre zur Folge, dass<br />
jedes Paket vom Bonifatiuswerk zunächst an eine Privatperson in der Bundesrepublik<br />
verschickt wurde. Diese Privatperson gab das Paket erneut bei der Post auf, diesmal mit<br />
seiner Privatadresse als Absender. Ein System, das zahlreiche West-Katholiken direkt in<br />
die solidarische Hilfe für die Katholiken in der Diaspora der DDR mit einband.<br />
Neue Kirchen gegen Devisen<br />
Das meiste Geld der Hilfe des Bonifatiuswerkes für die Kirche in der DDR floss aber in<br />
den Bau und die Instandhaltung von Kirchen und Gemeindehäusern. Doch besonders in<br />
Erscheinung trat das Diasporahilfswerk aus dem Westen mit dieser Unterstützung nicht.<br />
„Nach der Wende war es mir, als wenn sie einem Blinden die Augenklappe weggenommen<br />
hätten. Plötzlich sah ich überall die kleinen Bronzetafeln, die das Bonifatiuswerk nachträglich<br />
an die von ihm unterstützten Bauten anbringen ließ.“ Heinrich Kuhlage, einst<br />
Pfarrer der Thomas-Morus-Gemeinde in Rostock, die als neugegründete Gemeinde 1983<br />
eine Kirche erhielt, spricht aus, was viele andere bestätigen: das Bonifatiuswerk trat in<br />
der Bauhilfe nicht offensiv als Förderer auf. Das war so gewollt. „Das größte deutsche<br />
Diaspora-Schiff aber – mitteldeutsche Diaspora-Kirche ist sein Name – ist ständig von<br />
dichtem Nebel, künstlichem Nebel allerdings, eingehüllt. Denn es darf aus Klugheit sich<br />
nur selten und auch nur in Umrissen zeigen“, hieß es im Grundsatzreferat von Generalsekretär<br />
Anton Kötter auf der Generalversammlung 1971 in Freiburg. „Wir sind verschwiegen<br />
und werden verschwiegen, weil wir verschwiegen sind“, zitiert Prälat Gerhard Lange, der<br />
frühere kirchenpolitische Beauftragte der Bischöfe in der DDR, ein geflügeltes Wort.<br />
„Es funktionierte für uns“, berichtet Pfarrer Klaus-Peter Kaschubowski, „so bohrte<br />
man nicht nach.“ In seiner Zeit als Pfarrer der Gemeinde „Von der Verklärung des<br />
Herrn“ in Berlin-Marzahn entstanden 1984 Kirche und Gemeindezentrum in dem Plattenbaubezirk.<br />
Die Organisation und die Finanzierung des Baus, so Kaschubowski, sei<br />
komplett über das Ordinariat abgewickelt worden. Der Komplex entstand im Rahmen<br />
des so genannten Sonderbauprogramms, das erstmals 1974 aufgelegt wurde. Danach<br />
wurden staatlicherseits den christlichen Kirchen die Möglichkeit eröffnet, Kirchen und<br />
kirchliche Gebäude auch in Neubaugebieten zu errichten und darüber hinaus auch für<br />
kirchliche Einrichtungen Baumaßnahmen durchzuführen. Bis 1981 waren laut Priesterjahrheft<br />
16 Kirchenneubauten und Kirchenrekonstruktionen, 32 Gemeinde- und Pfarrhäuser,<br />
23 kirchliche Sozial- und Verwaltungsbauten im Bau oder schon fertig gestellt.<br />
„Dem Staat ging es beim Sonderbauprogramm um Devisen“, erklärt Prälat Roland<br />
Steinke. Als Leiter der Zentralstelle Berlin-Ost des Deutschen Caritasverbandes war er<br />
53
54 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Der Berliner Bischof Joachim Kardinal Meisner bei der Grundsteinlegung der Kirche in Berlin-Marzahn im Oktober 1984.<br />
Finanziert wurde das Gotteshaus über das Sonderbauprogramm. Foto: Bonifatiuswerk<br />
von 1973 bis 1982 verantwortlich für das Sonderbauprogramm auf Ost-Seite. Über die<br />
staatliche Firma im Außenhandel „LIMEX-Bau Import-Export“ seien die Kirchenneubauten<br />
in der DDR abgewickelt worden wie ein Exportgeschäft. „Das Geschäft verhielt sich<br />
so, als hätte die DDR einen Auftrag zum Bau von Kirchen im Ausland, zum Beispiel in<br />
Schweden, übernommen, nur dass die Kirchen im Inland gebaut wurden.“ Als Auftraggeber<br />
des Exportgutes Kirchenneubau, der in der DDR fertigen ließ, fungierte die Kirche<br />
in Westdeutschland. Und darin mit eingeschlossen das Bonifatiuswerk. „Auf diese Weise<br />
bekamen wir die Genehmigung für Kirchbauten, wo sonst niemals welche entstanden<br />
wären“, betont Steinke die Absurdität der DDR-Politik. So habe auch der sozialistische<br />
Vorzeige-Neubaubezirk Berlin-Marzahn ein Gotteshaus bekommen. Das Bonifatiuswerk<br />
investierte von 1976 bis 1989 rund 24 Millionen DM in das Sonderbauprogramm.<br />
Unabhängig davon flossen zusätzlich vom Bonifatiuswerk aus im selben Zeitraum<br />
rund 80 Millionen DM an Bau- und Motorisierungshilfe an die Katholiken der DDR.<br />
Verkehrshilfe für die Flächendiaspora<br />
„Als ich 1981 in Berlin-Marzahn anfing, bekam ich einen Wartburg-Tourist in Rot. Das<br />
war ein Bonifatiusauto“, erinnert sich Pfarrer Klaus-Peter Kaschubowski an die Verkehrs-
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
hilfe des Bonifatiuswerkes. Sie war im Gegensatz zur Bauhilfe fest im Bewusstsein<br />
der DDR-Katholiken verankert. Die weiten Entfernungen in der Diaspora Ostdeutschlands<br />
machten eine umfangreiche Motorisierung notwendig. „Gemeinden leben<br />
vom Zusammenkommen“, betonte Hugo Aufderbeck, Bischof im Bischöflichen<br />
Amt Erfurt-Meiningen. Und so organisierten Diaspora-MIVA und Bonifatiuswerk<br />
Trabis, Wartburgs, Barkas-Kleinbusse und Tankkreditscheine für die Katholiken in<br />
der DDR. Allein in den Jahren 1960 bis 1963 kamen 431 Autos und fünf Mopeds zur<br />
Auslieferung. Im Jahr 1976 bestellte der Generalvorstand des Bonifatiuswerkes Benzingutscheine<br />
für 932.000 Liter Treibstoff. Im Jahr 1988 wies der Generalvorstand<br />
2,6 Millionen DM an Motorisierungshilfe für die Berliner Bischofskonferenz aus.<br />
Vom Bau der Mauer 1961 bis zur Wende musste die gesamte Motorisierungshilfe<br />
über den GENEX, den sogenannten Geschenkdienst-Export, abgewickelt werden. Diese<br />
von der DDR gegründete Handelsorganisation sollte wie LIMEX Devisen in die Staatskasse<br />
spülen. In Büros in der Schweiz, in Österreich und Dänemark – in punkto Motorisierungshilfe<br />
arbeitete das Bonifatiuswerk mit der Firma Jauerfood in Kopenhagen<br />
zusammen – konnten Organisationen und Einzelpersonen aus dem Westen sich die<br />
gewünschten Waren versandhausähnlich aus Warenkatalogen aussuchen, bestellen<br />
und schließlich in DM oder Dollar bei einem Umtauschwert von zumeist eins zu eins<br />
bezahlen. Trabants, Wartburgs, Barkas und Tankgutscheine mussten für ein ganzes<br />
Jahr bestellt werden. Einen Vorteil brachte dieser überteuerte Handel mit sich: Die<br />
Ware wurde zeitnah ausgeliefert. Während DDR-Bürger auf ihre privat bestellten Autos<br />
viele Jahre warten mussten, konnte der Pfarrer für die Kirchengemeinde umgehend<br />
ein Fahrzeug erhalten.<br />
Die Motorisierungshilfe des Bonifatiuswerkes brachte die Katholiken auch<br />
in der DDR zusammen, wie hier mit einem Barkas-Bus in Röbel an der Müritz.<br />
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56 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Unterstützung der Glaubensweitergabe<br />
„Für so manche Stunde Religionsunterricht war ich zwei, drei Stunden vorher<br />
unterwegs, um alle Kinder zusammenzuholen.“ Dorothea Dubiel arbeitete während<br />
der deutschen Teilung als Seelsorgehelferin in der Diaspora Mecklenburgs und lernte<br />
die Verkehrshilfe des Bonifatiuswerkes schätzen. Religionsunterricht an Schulen<br />
untersagte die Staatsführung und so fand er in den Gemeinden statt, einmal in der<br />
Woche für eine Stunde.<br />
„Diese eine Stunde reichte nicht aus, deshalb waren die Religiösen Kinderwochen<br />
ein wichtiger Bestandteil unserer katechetischen Arbeit“, bekennt Dubiel.<br />
Die Religiösen Kinderwochen, kurz RKW, wollten Kindern für ein paar Tage, in der<br />
Regel eine Woche bei Glaubensunterricht und Gottesdienst, gemeinsamem Essen<br />
und Ausflügen, Tanzen und Singen gemeinschaftliches kirchliches Leben erfahren<br />
lassen, was sie sonst in ihrer Vereinzelung in der Diaspora und dem kirchenfeindlichen<br />
Umfeld der SED-Ideologie in ihrem Alltag nicht erleben konnten. Sie galten<br />
als Gegenpol zu den staatlichen Ferienfreizeiten. Diese besondere Chance der<br />
Glaubensweitergabe unterstützte das „Bonifatiuswerk der Kinder“ jedes Jahr allein<br />
von 1966 bis 1989 mit über 11 Millionen DM. „Wenn ich heute Eltern auf die RKW<br />
anspreche, leuchten die Augen. Viele verbinden positive Erinnerungen mit dieser<br />
Zeit“, erzählt Dubiel.<br />
Als Seelsorgehelferin verdiente Dorothea Dubiel nur das in der DDR vorgeschriebene<br />
Mindestgehalt. Ein karger Lohn für eine wichtige Arbeit, der kaum für das Notwendigste<br />
ausreichte, geschweige denn für theologische Fachliteratur oder Arbeitsmaterialien.<br />
„Zweimal im Jahr erhielten wir deshalb vom Bonifatiuswerk einen finanziellen<br />
Ausgleich sowie pro Monat Kleidungs- und Nahrungsmittelbeihilfe“ berichtet Dubiel.<br />
Das Geld bekamen die Seelsorgehelferinnen nicht direkt auf ihr Gehaltskonto<br />
in der DDR. Das war nicht möglich. Vielmehr zahlte das „Bonifatiuswerk der Kinder“<br />
die Unterstützung auf ein westdeutsches Konto, das von einem Paten, einer Patin<br />
verwaltet wurde. „In Briefen hieß das Bonifatiuswerk bei mir nur Tante Paula und den<br />
Kontostand verschlüsselten wir als Datumsangabe.“ Dubiels Patin schickte für das<br />
Geld über GENEX Pakete mit Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs. „Spiele ließ<br />
man sich privat zusenden, katechetische Bücher durch Boten mitbringen“, erinnert<br />
sich die heutige Leiterin der pastoralen Dienststelle Mecklenburg.<br />
Zum Abschluss ihrer Ausbildung 1972 erhielt Dubiel vom Bonifatiuswerk ein besonderes<br />
Geschenk: „Wir wurden für unsere Sendungsfeier mit Kostüm, Bluse und<br />
Schuhen ausstaffiert. Ich bekam Schuhe mit Absätzen, obwohl ich solche nie trage,<br />
und musste mich damit dann vor dem Bischof niederknien“, erinnert sie sich noch<br />
heute schmunzelnd an die kleine akrobatische Übung an ihrem großen Tag.
Neue Propsteikirche in Leipzig schließt alte Wunden<br />
Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
20 Jahre nach dem Fall der Mauer plant die katholische Kirche in Leipzig Großes. Die Propsteikirche<br />
soll mitten im Zentrum der sächsischen Großstadt neu entstehen. Den Turm und die Reste der im<br />
Krieg zerstörten alten Kirche ließen einst die DDR-Machthaber sprengen und wiesen der Trinitatis-<br />
Gemeinde erst Jahrzehnte später ein neues Grundstück, außerhalb des Zentrums zu.<br />
Die künftige Leipziger Propsteikirche im Modell.<br />
Bis heute blieb Leipzig die einzige deutsche Großstadt ohne katholische Kirche in ihrem Zentrum.<br />
Eine Wunde, die die DDR-Machthaber hinterlassen haben. Das soll sich nun ändern.<br />
Die Trinitatis-Gemeinde erhält gegenüber dem Neuen Rathaus die Möglichkeit, eine neue<br />
Innenstadt-Kirche mit Gemeindezentrum zu bauen, um diese Wunde zu schließen. Ihre Betonkirche<br />
am Innenstadtrand, die Dank des Sonderbauprogramms mit der Unterstützung des<br />
Bonifatiuswerkes in der DDR gebaut werden konnte, weist große Mängel auf. Sie gilt als nicht<br />
mehr sanierbar.<br />
Der Neubau erweist sich als besonderer Auftrag. Denn von den Einwohnern Leipzigs sind weniger<br />
als 16 Prozent christlich getauft, nur 4 Prozent der Leipziger sind katholisch. In solch einer<br />
Glaubensdiaspora braucht es Orte, an denen der christliche Glaube, die katholische Kirche<br />
anfragbar wird. So ist der Neubau auch ein besonderes Anliegen der katholischen Kirche in<br />
Deutschland als Zeichen des Aufbruchs in der Diaspora und eines neuen missionarischen Verständnisses.<br />
Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken unterstützt dieses großartige Projekt.<br />
Helfen auch Sie mit, dass Leipzig wieder ein katholisches Zentrum in seinem Herzen erhält.<br />
Spendenkonto: Stichwort: Propstei Leipzig<br />
Bonifatiuswerk Konto 10 000 100<br />
Bank für Kirche und Caritas Paderborn BLZ 472 603 07<br />
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58 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />
Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />
Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken ist von der Deutschen Bischofskonferenz mit der<br />
Förderung der Diaspora-Seelsorge beauftragt. Das Hilfswerk mit Sitz in Paderborn unterstützt Katholiken,<br />
die weit verstreut als Minderheit unter Anders- und Nichtglaubenden leben, vornehmlich<br />
in Ost- und Norddeutschland, Nordeuropa, Estland und Lettland. In diesen Regionen und Ländern<br />
beträgt der Katholikenanteil an der Gesamtbevölkerung oft nur zwischen einem und fünf Prozent.<br />
Mit Spenden fördert das Bonifatiuswerk, das 1849 in Regensburg gegründet wurde, den Bau<br />
und die Renovierung von Kirchen und Gemeindezentren, Jugend- und Bildungshäusern, katholischen<br />
Schulen und Kindergärten sowie die Motorisierung von Pfarreien mit der Diaspora-<br />
MIVA. Es unterstützt mit der Diaspora-Kinder- und -Jugendhilfe Projekte der Glaubensweitergabe<br />
wie die Religiösen Kinderwochen (RKW) und Frohen Herrgottsstunden sowie pastorale<br />
und sozial-karitative Projekte. Mit missionarischen Initiativen wie der „Weihnachtsmannfreien<br />
Zone“, bundesweit versandten Erstkommunion- und Firmmaterialen sowie jüngst mit<br />
Neugeborenentaschen und Glaubensrucksäcken bringt sich das Bonifatiuswerk in die praktische<br />
Glaubensverkündigung in ganz Deutschland ein.<br />
Die Diasporagebiete zwischen Elbe und Oder gehören seit jeher zum Fördergebiet des Bonifatiuswerkes,<br />
vor wie während und nach der deutschen Teilung. Das Werk der Solidarität der<br />
deutschen Katholiken untereinander stellt damit einen festen Bestandteil der Geschichte der<br />
Kirche in den fünf ostdeutschen Bundesländern dar. Jedes Jahr führt das Bonifatiuswerk den<br />
traditionellen Diaspora-Sonntag durch, an dem in allen Gemeinden Deutschlands in einer Solidaritätsaktion<br />
für die Katholiken in der Vereinzelung gesammelt wird.<br />
Weitere Informationen im Internet unter www.bonifatiuswerk.de sowie unter<br />
Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, Kamp 22, 33098 Paderborn, Telefon 0 52 51/29 96-0,<br />
E-Mail: info@bonifatiuswerk.de.
Impressum:<br />
Diese Broschüre wurde herausgegeben von:<br />
Maria-Luise Schneider, Stellv. Direktorin der <strong>Katholische</strong>n <strong>Akademie</strong> in Berlin e.V.,<br />
und Alfred Herrmann, M. A., Pressereferent des Bonifatiuswerkes.<br />
Wir danken den Autoren für ihre Beiträge.<br />
Adresse:<br />
<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> in Berlin e.V.<br />
Hannoversche Straße 5<br />
10115 Berlin<br />
Tel.: +49 (0)30 - 28 30 95 - 0<br />
Fax: +49 (0)30 - 28 30 95 - 147<br />
Gestaltung: publicgarden GmbH<br />
Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />
Kamp 22<br />
33098 Paderborn<br />
Tel.: +49 (0)52 51 - 29 96 - 0<br />
Fax: +49 (0)52 51 - 29 96 - 88<br />
Internet: www.katholische-akademie-berlin.de Internet: www.bonifatiuswerk.de<br />
E-Mail: information@katholische-akademie-berlin.de E-Mail: info@bonifatiuswerk.de
KATHOLISCHE AKADEMIE IN BERLIN e.V.<br />
Hannoversche Straße 5 · 10115 Berlin<br />
Tel.: +49 (0)30 - 28 30 95 - 0<br />
Fax: +49 (0)30 - 28 30 95 - 147<br />
E-Mail: information@katholische-akademie-berlin.de<br />
BONIfATIuSwERK DER DEuTSCHEN KATHOLIKEN<br />
Kamp 22 · 33098 Paderborn<br />
Tel.: +49 (0)52 51 - 29 96 - 0<br />
Fax: +49 (0)52 51 - 29 96 - 88<br />
E-Mail: info@bonifatiuswerk.de