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20Jahre Mauerfall - Katholische Akademie

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20 Jahre <strong>Mauerfall</strong><br />

<strong>Katholische</strong> Kirche und Friedliche Revolution –<br />

Lernschritte und Bewährungsproben<br />

Eine Dokumentation


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I. Tagungsdokumentation<br />

Die Beiträge wurden auf der Tagung „<strong>Katholische</strong> Kirche und Friedliche Revolution<br />

– Lernschritte und Bewährungsproben“ am 19. und 20. November 2009<br />

in der <strong>Katholische</strong>n <strong>Akademie</strong> in Berlin vorgetragen.<br />

Josef Pilvousek<br />

Kirche in der DDR: Rückschau auf die Erfahrungen S. 4<br />

Hans Joachim Meyer<br />

Das politische Engagement von Katholiken zur Wendezeit und danach S. 18<br />

Karl-Heinz Ducke<br />

Erste Schritte zur Demokratie – Erinnerungen an die „Wende“ in der DDR S. 26<br />

Joachim Wanke<br />

Diasporasituation und gesellschaftliche Umbrüche als seelsorgliche<br />

Herausforderungen der Kirche in den neuen Bundesländern S. 29<br />

II. Das Bonifatiuswerk und der weg zur deutschen Einheit:<br />

zwei Berichte<br />

Alfred Herrmann, Josef Bilstein und Michael Henn<br />

Aufbruch in eine neue Zeit –<br />

Das Bonifatiuswerk zwischen <strong>Mauerfall</strong> und Wiedervereinigung S. 46<br />

Alfred Herrmann<br />

Von LIMEX, GENEX und Tante Paula – Die vielseitige Hilfe des<br />

Bonifatiuswerkes während der deutschen Teilung S. 51<br />

Die Autoren:<br />

Josef Bilstein, Redakteur im Bonifatiuswerk, Karl-Heinz Ducke, Msgr. Dr., Domkapitular<br />

und Pfarrer in Jena, Mitmoderator des Runden Tisches; Michael Henn, Redakteur im<br />

Bonifatiuswerk, Alfred Herrmann, M. A., Pressereferent des Bonifatiuswerkes, Hans<br />

Joachim Meyer,Prof. Dr. Dr. h.c., Sächsischer Staatsminister für Wissenschaft und Kunst<br />

a.D., Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken von 1997 – 2009; Josef<br />

Pilvousek, Prof. Dr., Lehrstuhl für Kirchengeschichte des Mittelalters und der Neuzeit,<br />

Universität Erfurt; Joachim wanke, Dr., Bischof des Bistums Erfurt, Vorsitzender der<br />

Pastoral kommission der Deutschen Bischofskonferenz


I. Tagungsdokumentation<br />

Tagungsdokumentation<br />

3


4 Tagungsdokumentation<br />

Kirche in der DDR: Rückschau auf die Erfahrungen<br />

Josef Pilvousek<br />

„Rückschau mit gemischten Gefühlen“ 1 heißt das Resümee eines Aufsatzes des<br />

Leipziger Oratorianers Hans-Friedrich Fischer aus dem Frühjahr 1990: Die katholische<br />

Kirche in der DDR hat Chancen verpasst, indem sie sich, verursacht vor allem durch<br />

ihre Kirchenleitung, der durch das Konzil gewollten Öffnung der Kirche zu Welt und<br />

Gesellschaft verschloss, sich letztlich abschloss und ein Ghettodasein führte. Nun<br />

muss diese Aussage nicht falsch sein, denn tatsächlich könnte man einige Phänomene<br />

in der katholischen Kirche in der DDR so deuten. Auch die persönlichen Gefühle, die<br />

man im Rückblick auf die DDR-Zeit hat, können „gemischt“ sein, ebenso die persönlichen<br />

Erfahrungen des Verfassers, den ich im Übrigen sehr schätze. Bei einem<br />

Rückblick in die Geschichte, noch dazu, wenn es eine persönliche Lebensgeschichte<br />

in einem totalitären System war, darf man gemischte Gefühle haben.<br />

Ich wurde gebeten, eine kirchenhistorische Rückschau auf Erfahrungen der<br />

katholischen Kirche in der DDR anzustellen. Ich beabsichtige bei dieser Reminiszenz<br />

nicht, Vergangenheit zu bewältigen im Sinne von „mit dieser Vergangenheit fertig<br />

zu werden“. Richard Schröder hat einmal seine Anmerkungen zum Begriff der Vergangenheitsbewältigung<br />

gemacht. Ich halte sie für so bemerkenswert, dass ich sie<br />

zitieren möchte. Vergangenheitsbewältigung suggeriert, es ginge um eine zu bewältigende,<br />

in begrenzter Zeit zu schaffende Arbeit, von der man einmal sagen kann:<br />

„So, nun ist Vergangenheit bewältigt“. Vergangenheit, so Schröder, lässt sich, wenn<br />

überhaupt, nur höchstpersönlich bewältigen. „Was sich aus unserer Biographie nicht<br />

gut erzählen lässt, das ist das, was wir gern anders hätten, Schuld und Versagen,<br />

aber auch einfach furchtbare Erlebnisse, an denen wir uns keine Schuld zuschreiben<br />

müssen, die uns aber belasten wie das Erlebnis einer Haft, eine schwere menschliche<br />

Enttäuschung oder ein Schicksalsschlag. Ich komme mit mir und dem, was ich<br />

erlebt habe, nicht zurecht. Für diese Lasten gibt es Hilfen, und hier hat das Wort‚<br />

Vergangenheitsbewältigung‘ einen guten Sinn. Für den Christen, der sich in seiner<br />

Lebensführung zuletzt vor Gott verantwortlich weiß, kann darüber hinaus Gebet und<br />

Beichte zu einer Hilfe für einen Neuanfang werden.“ 2<br />

In diesem Zusammenhang werden Christen aus den Neuen Bundesländern sich<br />

fragen müssen, wie weit sie Chancen verpasst haben und manchen Herausforderungen<br />

nicht gerecht geworden sind. In seinem Hirtenbrief zur österlichen Bußzeit 1990<br />

hatte Bischof Wanke formuliert: „Ja, auch wir (katholische) Christen haben Buße nötig.<br />

Jeder von uns wird bedenken müssen, wo er mit oder gegen seinen Willen in die allgemeine<br />

Unwahrhaftigkeit dieses Landes mitverstrickt war. Ich frage mich, ob ich als<br />

Bischof nicht noch deutlicher Unrecht und Lüge hätte beim Namen nennen müssen.


Tagungsdokumentation<br />

Hatten wir vielleicht zu wenig Mut, besonders in den letzten Jahren, uns in die Gesellschaft<br />

einzumischen, um sie zu verändern? Haben wir Gott zu wenig zugetraut und<br />

uns zu sehr um uns selbst gesorgt? Mancher von uns wird sagen müssen: Ich habe<br />

den Weg des geringsten Widerstandes gewählt. Ja, wir haben Buße und Umkehr nötig<br />

und müssen Gott um Vergebung bitten, dass unser Glaube nicht mutiger und unser<br />

Zeugnis nicht eindeutiger war.“ 3<br />

Das mir gestellte Thema lässt vielfältige Variationen zu. Ich habe mich dazu entschlossen,<br />

keinen kleinteiligen, einzig historischen Rückblick vorzunehmen. Vielmehr<br />

möchte ich an Bilder, Vorgänge und Umschwünge erinnern, die möglicherweise<br />

bis heute bedeutsam sind. Ausgangspunkt soll die katholische Kirche sein, die sich<br />

aus fast zwei Millionen Vertriebenen bildete und deren Gläubige in einer konfessionellen<br />

und ideologischen Diaspora lebten. „Anmerkungen zu einem fragwürdigen<br />

Wettstreit“ habe ich einen zweiten Teil betitelt, der sich mit dem Herbst 1989 beschäftigt.<br />

In einem dritten Schritt möchte ich an die „Kirchenpolitischen Grundsätze“,<br />

ihre intendierten und tatsächlichen Folgen erinnern, um schließlich auf einen<br />

theologischen Paradigmenwechsel hinzuweisen, der mir auch heute bedeutsam erscheint.<br />

Die Auswahl der Quellen und der Literatur sowie die persönlichen Erfahrungen<br />

machen diesen Vortrag zu meinem Rückblick, der, so erwarte ich, nicht von allen<br />

geteilt werden kann und damit genügend Stoff für eine Diskussion bietet.<br />

1. Von einer Flüchtlingskirche zur katholischen Kirche in der DDR: „Von<br />

der Gärtnerei im Norden“ über das „Fremde Haus“ zur „Löwengrube“<br />

Die katholische Kirche in der SBZ/DDR war durch die Fluchtbewegungen am Ende<br />

des Krieges bis zum Jahre 1949 von rund 1 Million auf 3 Millionen Gläubige angewachsen.<br />

4 Die Aufnahme der katholischen Vertriebenen in den ihnen anfangs zugewiesenen<br />

Gebieten vollzog sich in unterschiedlicher Weise und oft unter großen Schwierigkeiten.<br />

Bis zum Jahr 1953 war eine Integration der Vertriebenen in der SBZ/DDR nicht<br />

gelungen, was die große Fluchtbewegung zu belegen scheint. Auffallend ist, dass es<br />

von kirchenamtlicher Seite zur Fluchtbewegung bis 1953 keine Verlautbarungen gab.<br />

Erst mit der Amtsübernahme des früheren Magdeburger Weihbischofs Wilhelm<br />

Weskamm als Bischof von Berlin 1951 und ersten stabilisierenden pastoralen Maßnahmen<br />

sollte sich dies allmählich ändern. 5 Weskamm leitete eine Veränderung im<br />

Verständnis von Kirche in der DDR ein. Sein Vorgänger Kardinal Preysing, westlich<br />

eingestellt und von der Vorstellung getragen, in einem kommunistischen System sei<br />

Kirche auf Dauer nicht denkbar, und so vor allem an der Beseitigung des Systems<br />

interessiert und dessen Diskreditierung betreibend, hatte – nach seinem Verständnis<br />

– keine Wege beschreiten können, die zu einer kirchlichen Stabilisierung hätten<br />

beitragen können. Bischof Weskamm dagegen verglich die kirchliche Situation in der<br />

5


6 Tagungsdokumentation<br />

DDR mit einer Gärtnerei: „Es ist so, wie wenn man eine Gärtnerei im Norden betreiben<br />

würde. Die ganze Atmosphäre ist areligiös und antireligiös.“ Trotz der Schwierigkeiten<br />

sah er aber einen Sinn in dieser „Gärtnerei“. Mit Weskamm begann die katholische<br />

Kirche in der DDR die vorgegebene politische und gesellschaftliche Situation realistischer<br />

zu sehen und anfanghaft darauf zu reagieren. Die Führungsrolle Weskamms<br />

und seine realistische Sicht der kirchlichen Verhältnisse im Raum der DDR führten<br />

aber noch nicht zu einer Zentralisierung kirchlicher Verantwortlichkeit in Berlin. Indem<br />

er aber die Situation der Kirche in der gesamten DDR als Diaspora begriff und<br />

Diaspora als Existenzweise der Kirche theologisch bejahte, in ihr sogar die Chance<br />

für ein „mündigeres“ Christentum sah, nahm er eine Weichenstellung für eine Entwicklung<br />

der Kirche vor, die schließlich zur „Kirche in der DDR“ werden konnte. Die<br />

Bewertung der Abwanderung nach dem Westen änderte sich in der katholischen Kirche<br />

der DDR Mitte der 50er Jahre. Innerhalb der katholischen Kirche der DDR hatte<br />

sich eine Mentalität entwickelt, die der Meißener Bischof Spülbeck auf dem Kölner<br />

Katholikentag 1956 mit dem Bild des Hauses umschreiben konnte, in dem man wohne,<br />

dessen Grundfesten man aber nicht gebaut habe. „Aber wir leben in einem Haus,<br />

dessen Grundfesten wir nicht gebaut haben, dessen tragende Fundamente wir sogar<br />

für falsch halten. Und wenn wir jetzt in diesem Haus miteinander leben, so kann<br />

unser Gespräch nur bedeuten – verzeihen Sie mir die Banalität, aber ich habe es so<br />

gesagt – wer macht in diesem Haus die Treppe sauber? Damit soll keine Abwertung<br />

des ernsten Gespräches zwischen Staat und Kirche gemeint sein, sondern es soll nur<br />

handgreiflich ausgedrückt werden, dass grundsätzliche Gespräche zwischen den<br />

beiden Partnern nicht möglich sind. Wir tragen gerne dazu bei, dass wir selbst in<br />

diesem Haus noch menschenwürdig und als Christen leben können, aber wir können<br />

kein neues Stockwerk draufsetzen, da wir das Fundament für fehlerhaft halten. Das<br />

Menschenbild des Marxismus und seine Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassung<br />

stimmt mit dem Bild, das wir haben, nicht überein. Dieses Haus bleibt uns ein fremdes<br />

Haus. Wir leben nicht nur kirchlich in der Diaspora, sondern auch staatlich.“ 6<br />

Das ist der vollständige Wortlaut der Passage der „Spülbeck-Predigt“ vom „Fremden<br />

Haus“, die er auf dem Kölner Katholikentag am 1. September 1956 hielt. 7<br />

Das Diktum vom „Fremden Haus“ wurde und wird bis heute fälschlicherweise<br />

zum historisch fassbaren Meilenstein kirchlicher Abgrenzung gegenüber dem SED-<br />

Regime gemacht. Der Versuch einer objektiven Interpretation dieser Aussage kann<br />

bereits anfanghaft aufzeigen, wie sich Otto Spülbeck, Bischof von Meißen, einem<br />

exemten Diasporabistum in der DDR, verstand. Ordnet man die von ihm vorgetragenen,<br />

jedoch vermutlich nicht im Alleingang formulierten, Grundsätze für die Möglichkeiten<br />

und Grenzen des Engagements der Katholiken im Gemeinwesen in den<br />

Kontext der damaligen kirchlichen Situation ein, so wird deutlich, dass Spülbeck, der<br />

sich bewusst für einen Dienst in der mitteldeutschen Diaspora entschieden hatte,<br />

eine Weichenstellung vornehmen wollte. So sind die Aussagen Spülbecks auch nicht


Tagungsdokumentation<br />

einseitig als Abgrenzung zu verstehen, sondern als Möglichkeit des „Überlebens“<br />

und der Notwendigkeit von Kirche in der DDR, trotz falscher Fundamente. Und obschon<br />

man die tragenden Fundamente dieses Hauses für falsch hält, lebt man doch<br />

gemeinsam in ihm und will dazu beitragen, dass es menschenwürdig zugeht und<br />

man hier als Christ leben kann. Salopp formuliert heißt das: im fremden Haus wohnen,<br />

aber Hausmeisterdienste für die Gesellschaft übernehmen. Die Frage des Bleibens<br />

in der DDR sollte für viele Katholiken bis zum Jahre 1961 eine entscheidende<br />

sein. Und sie war natürlich eine politische Frage. Denn wäre diese Frage durch die<br />

Bischöfe in der Öffentlichkeit angesprochen worden, dann hätte man entweder die<br />

staatliche Propaganda in ihrer Beurteilung der „Republikflucht“ unterstützt oder<br />

aber sich den Vorwurf der Staatsfeindschaft gefallen lassen müssen, der in seiner<br />

Auswirkung vor allem die Gläubigen getroffen hätte. Der Mauerbau von 1961 war<br />

aber nicht nur eine kirchenpolitische Zäsur. Jetzt trat ein Mann an die „Spitze“ der<br />

katholischen Kirche in der DDR, dessen Amtszeit bis zu seinem Tod 1979 als „Ära“<br />

bezeichnet wurde: Alfred Bengsch. 8 Fest steht, dass Bengsch wichtige theologische<br />

Grundentscheidungen für die katholische Kirche in der DDR herbeiführte. Inwieweit<br />

seine theologische Grundkonzeption im kirchenpolitischen Bereich zum Tragen kam,<br />

kann nicht mit gleicher Stringenz verdeutlicht werden. Alfred Bengsch ist es gelungen,<br />

die überaus schwierigen Verhältnisse für die katholische Kirche in der DDR nach<br />

dem Mauerbau 1961 zu ordnen.<br />

Zunächst galt es, Einheit und Zusammenhalt der Kirche zu sichern, was sowohl<br />

sein geteiltes Bistum Berlin betraf als auch die gesamte Kirche in der DDR. In dem<br />

Maße, in dem Berlin zur Hauptstadt der DDR ausgebaut wurde, womit ein Zentralisierungsprozess<br />

auf allen Ebenen einherging, schien auch eine Zentralisierung kirchlicher<br />

Verantwortlichkeiten angezeigt, um notwendige Verhandlungen und Gespräche<br />

mit den verschiedenen Regierungsstellen effizient führen zu können. Prägend für<br />

die katholische Kirche in der DDR wurde Bengsch vor allem als Vorsitzender der BOK/<br />

BBK. Erst ihm gelang es, die Bischöfe und Ordinarien zu einer Konferenz zu formen,<br />

die nach außen mit einer Stimme sprach. Dieses Ziel erreichte er zum einen durch<br />

seine theologische Bildung, deren Explikationen er immer dann Gehorsam fordernd<br />

einsetzte, wenn es galt, theologische Entscheidungen zu treffen, und zum anderen<br />

durch eine kompromisslose Haltung gegenüber dem sozialistischen Staat. Auf der<br />

einen Seite erläuterte er Christsein als In-der-Welt-Sein 9 und definierte caritatives<br />

Handeln als „die Möglichkeit eines Hineinwirkens in die Gesellschaft, wie sie auf keinem<br />

anderen Gebiet in vergleichbarer Weise möglich ist.“ Auf der anderen Seite hatte<br />

er auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil gegen die Pastoralkonstitution Gaudium<br />

et spes, die ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft postulierte, gestimmt.<br />

Dieser Dialektik entsprach auch ein Bild, mit der er Christsein in der DDR umschrieb:<br />

„Der Christ sitzt in der Löwengrube. Er wird den Löwen aber weder streicheln noch<br />

am Schwanz ziehen“.<br />

7


8 Tagungsdokumentation<br />

2. Der Herbst 1989. Anmerkungen zu einem fragwürdigen Wettstreit<br />

Die letzten Tage und Wochen haben uns die Ereignisse des Jahres 1989 auf unterschiedlichste<br />

Weise und durch verschiedenartige Medien vor Augen geführt. Die<br />

Benennungen reichen von „Wende“ und <strong>Mauerfall</strong> bis zur Revolution. So spricht man<br />

von protestantischer (Ehrhart Neubert), nachholender (Jürgen Habermas), volkseigener<br />

(Karl-Dieter Opp), abgetriebener (Michael Schneider) oder abgebrochener (Stefan<br />

Bollinger) Revolution. 10 Andere nennen sie friedliche Revolution oder Revolution der<br />

Kerzen. Ein evangelischer Kollege spricht wohl am zutreffendsten von friedlichem<br />

Umbruch. 11 Die Kirchen und frühere Bürgerbewegungen feiern ihre Protagonisten<br />

der „Wendeereignisse“. Einzelne Städte, aber auch Personen nehmen für sich in<br />

Anspruch, die ersten gewesen zu sein, die den gesellschaftlichen und politischen<br />

Umbruch initiiert haben. Ja, der Fall der Mauer in Berlin am 9. November 1989 wird<br />

sogar als das Ereignis dargestellt, das den Zusammenbruch des Kommunismus erst<br />

ermöglicht hat.<br />

Mir liegt es fern, die Rolle der DDR-Bürger und der Christen in diesem Land beim<br />

Zusammenbruch des Ostblocks zu marginalisieren oder den Mut der Menschen und<br />

ihren Ruf nach Freiheit gering zu achten. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob nicht in einigen<br />

Ländern Ostmitteleuropas erst die Voraussetzungen geschaffen wurden, dass<br />

dieser <strong>Mauerfall</strong> überhaupt möglich wurde. Erinnert sei an Michail Gorbatschow mit<br />

Glasnost und Perestroika, die, auch wenn als Rückzugsgefecht des Kommunismus zu<br />

interpretieren, erheblich zum Zusammenbruch beitrugen. Zu denken ist an Ungarn<br />

und die Öffnung der Grenzen, an die damalige Tschechoslowakei und nicht zuletzt<br />

an Polen. Mit der Gründung der Gewerkschaft Solidarnosc 1980 entstand die erste<br />

erfolgreiche Volksbewegung gegen den Kommunismus. 12 Hinzu kam ein Ereignis, das<br />

eine unvorstellbare Dynamik auslöste: die Wahl Karl Wojtylas zum Papst 1978. Lech<br />

Walesa drückt es in seiner drastischen Sprache so aus: „Nach zwanzig Jahren hatte<br />

ich zehn Leute, die mit mir durch dick und dünn gingen. Ich hätte weitere zwanzig<br />

Jahre gebraucht, um noch einmal zehn zu finden. Aber dann kam der Papst, und aus<br />

den zehn Leuten wurden zehn Millionen.“ 13 Vielleicht sollte man im Anschluss an<br />

Wolfgang Templin die Ereignisse von 1989 deshalb auch treffender als „europäische<br />

Befreiungsrevolution“ 14 bezeichnen, auch wenn die Definition dieser Umbrüche als<br />

Revolution nach wie vor problematisch erscheint.<br />

Der katholischen Kirche wird bei der derzeitigen Diskussion über den Zusammenbruch<br />

der DDR nur eine Nebenrolle zugestanden. Ein eigenartiges Konkurrieren um<br />

kirchliche Macht- und Führungspositionen bei Demonstrationen und Friedensgebeten<br />

ist auch beim Thema „Kirchen und friedliche Revolution“ zu finden. Der Vorwurf,<br />

die katholische Kirche sei zu vorsichtig gewesen und habe sich zu sehr in alte Bastionen<br />

zurückgezogen, ist zu hören. Als Hauptgrund wird vor allem der späte Zeitpunkt


Tagungsdokumentation<br />

genannt, an dem die Bischöfe ihre „Ghettohaltung“ aufgaben und sich vernehmbar<br />

in den Erneuerungsprozess einmischten. Zudem habe man nur auf die Ausreisewelle<br />

fokussiert und zu spät gesellschaftliche Veränderungen gefordert. Kaum unterschieden<br />

wird zwischen Gläubigen, Priestern und Bischöfen, kaum präzisiert, worauf sich<br />

das „Versagen“ eigentlich bezog. Katholiken gehörten zu den „Trittbrettfahrern der<br />

Revolution” 15 , lautete die polemischste Unterstellung. Zu den „Geburtshelfern der<br />

Revolution“ werden die Katholiken nicht gezählt; „Oppositionelle, Basisgruppen und<br />

Teile der evangelischen Kirchen“ hätten vor allem mit ihrer strikten Gewaltfreiheit die<br />

„Oktoberrevolution in der DDR“ ermöglicht. 16<br />

Die Rolle der katholischen Kirche vor und während der gewaltfreien Revolution ist<br />

noch nicht umfassend erforscht, und solange diese Geschichte nicht geschrieben ist,<br />

bleibt man auf zufällige Funde oder Zeugenaussagen angewiesen. Auch ich werde in<br />

meinem Vortrag keine endgültigen Ergebnisse präsentieren können und halte sie aus<br />

theologischer Sicht auch nicht für notwendig. Dennoch möchte ich auf die gar zu<br />

pauschalen Urteile einige ergänzende, differenzierende Antworten geben.<br />

Bei den Friedensgebeten, die 1989 eine wichtige Rolle spielten, sind sowohl evangelische<br />

als auch katholische Christen bei Entstehung und Durchführung beteiligt<br />

gewesen. 17 So war in Halle der „Aktionskreis Halle“ mit seiner ökumenischen Ausrichtung<br />

und seinen Aktivitäten fester Bestandteil kirchlicher Friedensarbeit. 18 An den<br />

Sitzungen der Ökumenischen Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung<br />

der Schöpfung nahm auch die katholische Kirche – wenn auch nach kontroversen<br />

Diskussionen – mit ihren Vertretern aktiv teil. Obschon auf Weisung der Berliner<br />

Bischofskonferenz die Kirchen nicht für politische Kundgebungen geöffnet werden<br />

sollten, haben katholische Pfarrer und Kapläne diese Weisung meist nicht beachtet. 19<br />

Zwischen evangelischen und katholischen Pfarrern gab es regelmäßig Absprachen<br />

über Organisation und Durchführung der Demonstrationen. An den Demonstrationen<br />

haben überdurchschnittlich viele Katholiken teilgenommen 20 ; in manchen Fällen,<br />

wie in Dresden und Leinefelde, waren Kapläne federführend und deeskalierend<br />

beteiligt 21 . Selbstverständlich wurden in geschlossenen katholischen Gebieten und<br />

Ortschaften, die größere katholische Kirchen hatten, diese für Friedensgebete genutzt<br />

und so oft Ausgangspunkte für Demonstrationen.<br />

Und schließlich sei der emeritierte evangelische Bischof von Magdeburg Axel Noak<br />

zitiert, der am 24. Oktober 2009 in Erfurt auf die Frage, welche Rolle die evangelische<br />

und die katholische Kirche 1989 spielten, antwortete: „Es gibt nicht die katholische<br />

und die evangelische Kirche. Die katholische Kirche war eine Minderheitenkirche und<br />

deshalb weniger in der Öffentlichkeit präsent. Die Friedensgebete fanden zumeist<br />

in evangelischen Kirchen statt, weil es kaum große katholische Kirchen gab. Viele<br />

katholische Christen haben ebenso an den Demonstrationen mitgewirkt wie evan-<br />

9


10 Tagungsdokumentation<br />

gelische. Die evangelische Kirche hat eine Schutzfunktion übernommen, die sie sich<br />

nicht ausgesucht hat. Die evangelischen Kirchenleitungen haben nicht – anders wie<br />

die katholischen – die Möglichkeiten gehabt, Anordnungen und Weisungen ‚durchzustellen‘.“<br />

22 Meine exemplarischen Aufzählungen sollen lediglich darauf hinweisen,<br />

dass es einen wichtigen katholischen Beitrag zum Herbst 1989 gab. Dennoch schließe<br />

ich mich prinzipiell dem heutigen Pfarrer der <strong>Katholische</strong>n Pfarrei „Sankt Franziskus“<br />

in Crimmitschau an, der eine bedeutsame Einschränkung aller katholischen Aktivitäten<br />

in seiner Pfarrei vornimmt: „Die Tatsache, dass in den Wendeereignissen 1989 der<br />

Pfarrer der katholischen Gemeinde, Joachim Wenzel, sowie einige Gemeindeglieder<br />

und auch die Räumlichkeiten der katholischen Pfarrei eine große Rolle spielten, bedeutet<br />

nicht, dass die Rolle evangelischer Christen in diesem Zusammenhang geringer<br />

anzusetzen ist. In Crimmitschau war 1989 bereits seit Jahrzehnten eine überaus<br />

enge ökumenische Zusammenarbeit gewachsen, aufgrund derer den Konfessionszugehörigkeiten<br />

im Zusammenhang mit den politischen Ereignissen seitens der Akteure<br />

praktisch keine Bedeutung zugemessen wurde. Dieser Hintergrund ist bei einer<br />

Darstellung der Rolle der katholischen Gemeinde im Zusammenhang mit der Friedlichen<br />

Revolution unbedingt zu berücksichtigen. Crimmitschau eignet sich nicht als<br />

Beispiel für einen Ort, an welchem die katholische Kirche im Unterschied zu anderen<br />

Orten die führende Rolle übernommen hätte.“ 23<br />

Denkbar ist nach letzten historischen Analysen sogar, dass beide Kirchen ihre Rolle<br />

beim friedlichen Umbruch 1989 kritisch prüfen und neu interpretieren müssen. So<br />

warnte beispielsweise der Münsteraner Historiker Thomas Großbölting vor einer Legendenbildung<br />

beim „<strong>Mauerfall</strong>-Gedenken“: „Auch wenn vielerorts Friedensgebete<br />

und Gottesdienste die Ausgangspunkte der Massendemonstrationen waren, bildeten<br />

die den Kirchen verbundenen Oppositionellen keinesfalls den Motor des Protests.<br />

Sie wurden erst später und auch nur für kurze Zeit vom westdeutschen Politik- und<br />

Medienbetrieb zu Sprachrohren ‚des’ Ostens stilisiert. Unbestritten ist aber andererseits,<br />

dass sich die Demonstrationsbewegung in vieler Hinsicht an den Kirchen<br />

orientierte. Diese stellten nicht nur Räume und Strukturen, sondern auch Symbole<br />

und Sprache, an denen sich die Demonstranten orientierten. […] Die Rolle der Kirche<br />

beim Ende der DDR ist kleiner, als es die Rede von der ‚protestantischen Revolution’<br />

suggeriert. Zugleich aber ist ihr genuiner Anteil an der Ablösung des SED-Regimes<br />

auch nicht gering zu schätzen, […].“ 24<br />

3. Kirchenpolitische Grundsätze<br />

Am 6. November 1989, drei Tage vor dem <strong>Mauerfall</strong>, verfasste der kirchenpolitische<br />

Berater 25 der Berliner Bischofskonferenz eine Vorlage für die Sondersitzung der BBK am<br />

7. November, die überschrieben war: „Die Berliner Bischofskonferenz und die gegenwärtige<br />

Situation. Einschätzung und Aufgaben.“ In ihr wurden die kirchenpolitischen


Tagungsdokumentation<br />

Grundsätze der Bischofskonferenz zusammengefasst. Einige quellenkritische Fragen<br />

müssen gestellt werden, die ich momentan nicht hinlänglich beantworten kann. Warum<br />

wurde drei Tage vor dem <strong>Mauerfall</strong> dieses Papier verfasst, und welche Verbindlichkeit<br />

(juristisch und theologisch) besaßen die Richtlinien davor?<br />

Interessant ist vor allem der erste Teil mit dem Titel: „Die bisherigen Prämissen der<br />

katholischen Staat-Kirche-Politik“ 26 . In sieben Punkten erfolgte eine Art Bilanzierung<br />

des Staat-Kirche-Verhältnisses und seiner Maximen. Nach grundsätzlichen Erwägungen<br />

über das Prinzip der Trennung zwischen Kirche und Staat werden die Grundsätze<br />

aufgeführt. Sie seien aus konkreten Erfahrungen mit der staatlichen restriktiven<br />

Kirchenpolitik erwachsen wie auch auf implizite deutschlandpolitische Positionen<br />

zurückzuführen, vor allem aber auf die fehlende Legitimität des Staates im Sinne der<br />

Volkssouveränität.<br />

Die Grundsätze:<br />

1. „Es gelten die aus der Zeit deutscher Rechtsstaatlichkeit stammenden Rechtsgrundlagen<br />

und -positionen; ‚neues sozialistisches Recht’ soll tunlichst nicht die Rechtsgrundlage<br />

für die Beziehungen zwischen Staat DDR und katholischer Kirche bilden.<br />

(‚Es bleibt alles beim alten!’) In diesem Sinne blieb der Verfassungsartikel 39 (2) –<br />

„Näheres kann durch Vereinbarungen geregelt werden“ – außen vor. Eine Ausnahme<br />

bildete der Bereich der „res mixtae“, z.B. im Gesundheitswesen durch den Abschluss<br />

einer Vereinbarung über die Ausbildung mittlerer medizinischer Fachkräfte.<br />

2. Trotz der dominierenden Rolle der SED in Staat und Gesellschaft unterhält die katholische<br />

Kirche zu ihr keine Beziehungen, sondern sie unterhält einzig ihre Beziehungen<br />

zu den staatlichen Stellen gemäß ihren eigenen Festlegungen. Dabei gilt die „Parität<br />

der Ebenen“ und die Festlegung, dass politische Gespräche den Bischöfen vorbehalten<br />

sind. („Die staatliche Schiene“).<br />

3. In tagespolitischen Fragen legten sich die Bischöfe weitgehende Abstinenz auf; auf<br />

diese Weise suchten sie dem intensiven staatlichen Bemühen, die Kirche zum Propagandisten<br />

eigener politischer Ziele zu machen, entgegenzuwirken. Zu Grundsatz-<br />

und Lebensfragen des Volkes jedoch nahmen sie in öffentlicher Weise Stellung. („Politische<br />

Abstinenz“).<br />

4. Diese politische Abstinenz hatte ihre Entsprechung in der medienpolitischen Abstinenz;<br />

dabei war die Gleichbehandlung der Medien in Ost und West ein wesentlicher<br />

Gesichtspunkt. Maßgebend war auch das Prinzip der ganzen Wahrheit, dergestalt,<br />

dass nicht die eine Hälfte in Ost und die andere in West veröffentlicht wird.<br />

(„Medienpolitische Abstinenz“).<br />

11


12 Tagungsdokumentation<br />

5. Die Bischöfe waren sich einig, in politischen und kirchenpolitischen Angelegenheiten<br />

nach außen mit einer Stimme zu sprechen. Sie hielten dies durch, auch wenn es intern<br />

zu Einzelfragen unterschiedliche Auffassungen gab. („una voce“).<br />

6. In politischen Fragen versagten sich die Bischöfe einem gemeinsamen und abgestimmten<br />

Vorgehen zusammen mit den evangelischen Kirchen und ihren Repräsentanten.<br />

Maßgebend für dieses Verhalten waren die Erfahrungen mit den Wechselwegen<br />

der Kirchenleitungen von Dibelius über Mitzenheim zu Schönherr. („Keine<br />

Ökumene in politicis“).<br />

7. In der Diözesangrenzenfrage vertreten die Bischöfe die Auffassung, nichts zu tun,<br />

was der kirchlichen Trennung von den Diözesen in der Bundesrepublik Vorschub leisten<br />

könnte und alles zu tun, die Einheit des Bistums Berlin zu bewahren. Angesichts<br />

der Liquidierungsabsichten von Partei und Staat gegenüber den Kirchen und Christen<br />

vertraten die Bischöfe die Auffassung, das klug gewählte Maß der Selbstbeschränkung<br />

bestimme das Maß der inneren und äußeren Freiheit der katholischen Kirche in<br />

der DDR.“<br />

Man fragt sich nach dieser „Bilanz“ der bisherigen kirchenpolitischen Linie unwillkürlich,<br />

ob diese Grundsätze von allen Kirchenmitgliedern, natürlich auch Bischöfen,<br />

geteilt wurden. Was geschah mit jenen Kirchenmitgliedern, die diese Grundsätze<br />

ganz oder teilweise ablehnten 27 und anderen, vielleicht sogar theologischen, Grundsätzen<br />

folgten? Vor allem aber interessiert, wie man mit solchen Vorgaben überhaupt<br />

Kirche für andere sein konnte. Mir scheint, dass nicht erst im Herbst 1989 einige dieser<br />

Prämissen, wenn auch nicht alle, obsolet geworden waren. Auf der Ebene der Bischofskonferenz<br />

mag man sich zwar immer wieder an diese Prinzipien erinnert und<br />

sich ihrer Geltung versichert haben. Die kirchenpolitischen Berater mögen das ihre<br />

dazu beigetragen, sie als eine Art dogmatischer Grundsätze im Bewusstsein zu halten.<br />

Ihre Gültigkeit besaßen sie m.E. nur noch partiell auf oberster Ebene, während<br />

sie in den Bistümern und in den einzelnen Pfarreien unterschiedlich dekliniert wurden.<br />

Das „Korsett“ der Bischofskonferenz, das früher einmal geschützt hatte, engte<br />

nun ein. 28<br />

So könnte man auch ein eigenartiges Phänomen aus dem Herbst 1989 erklären,<br />

dass nämlich die Bischofskonferenz erst spät, einzelne Laien, Priester, aber ebenso<br />

Bischöfe hingegen durchaus zeitgerecht auf die gesellschaftlichen Veränderungen<br />

reagierten. Unter anderem ist auf das „Verbot“ der „Ökumene in politicis“ hinzuweisen.<br />

Als vor wenigen Wochen der Band „Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution<br />

1989/1990 in Halle an der Saale“ 29 präsentiert wurde, nannte der Redner Dr. Steffen<br />

Reichert die schon frühzeitig begonnene „politische Ökumene“ als Grund für einen<br />

kreativen politischen Widerstand. 30 Dabei verwies er nicht nur auf die Ökologische


Tagungsdokumentation<br />

Arbeitsgruppe des Evangelischen Kirchenkreises und den Aktionskreis Halle, sondern<br />

auch auf die enge Kooperation protestantischer wie katholischer Akteure. Könnte es<br />

nicht sein, so frage ich mich, dass die intensiven ökumenischen Kontakte vor Ort,<br />

vor allem seit Ende der 1970er Jahre, folgerichtig zu einer politischen Ökumene führen<br />

mussten? Die immer wieder geäußerten Bedenken gegen die Formel „Kirche im<br />

Sozialismus“ scheinen jedenfalls auf dieser Ebene kaum eine Rolle gespielt zu haben.<br />

4. Die Suche nach einem theologischen Weg aus dem „Ghetto“<br />

Wiederholt ist im letzten Jahrzehnt in der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung<br />

betont worden, der Generationswechsel unter den Bischöfen seit Anfang der<br />

1980er Jahre (Joachim Meisner 1980 in Berlin, Joachim Wanke 1981 in Erfurt-Meiningen,<br />

Joachim Reinelt 1988 in Dresden-Meißen, Georg Sterzinsky 1989 in Berlin) sei mit<br />

neuen Akzentsetzungen verbunden gewesen, 31 die zu einer „katholischen Identitätsbildung“<br />

32 unter „weltanschaulichem Generalvorbehalt“ 33 führten. Diese These ist<br />

inzwischen Forschungskonsens.<br />

Dass zunächst staatlicherseits versucht wurde, die „Neuen“ in das gewonnene<br />

Bild einzuordnen, verwundert nicht. Die „neuen“ Bischöfe hielten sich immer weniger<br />

an die so genannten „Geschäftsgrundlagen“. Der Staat konstatierte irritiert und<br />

verärgert, dass öffentliche Großveranstaltungen ohne staatliche Konsultationen angekündigt<br />

wurden, internationale Bindungen durch Einladung von Theologen und<br />

Bischöfen aus Ost und West zu Veranstaltungen in der DDR sich verstärkten, sowie<br />

Hirtenbriefe und Pastoralschreiben die Stellung der Katholiken in der Gesellschaft<br />

konstruktiv und kritisch thematisierten. Die katholische Kirche trat immer öfter in<br />

die gesellschaftliche Öffentlichkeit, so durch das Katholikentreffen 1987 34 und die<br />

Teilnahme an der Ökumenischen Versammlung 35 .<br />

Was hatte sich tatsächlich geändert? Als 1981 der neue Erfurter Bischof Joachim<br />

Wanke den Versuch einer pastoralen Standortbestimmung unternahm, formulierte<br />

er zunächst: „Wir wollen auch hierher gehören, nicht weil wir nicht anders können,<br />

sondern weil wir um dieses Landes willen, um seiner Menschen willen einen Weg<br />

suchen wollen, um das Evangelium Jesu Christi auf ‚mitteldeutsch’ zu buchstabieren.“<br />

36 Was zunächst auffällt, ist, dass der Vortrag ohne „kirchenpolitische Planspiele“<br />

auskommt, d.h. ohne Analysen staatlicher Kirchenpolitik und deren Folgen für<br />

den gläubigen Christen. Die theologische Wirklichkeit der katholischen Kirche in der<br />

DDR wird in den Blick genommen: katholische Kirche ist in diesem Raum DDR eine<br />

Wirklichkeit, kein Los, kein Schicksal, sondern Realität und Chance. Deshalb gilt es,<br />

diese Wirklichkeit auch zuerst mit den Augen des Glaubenden zu sehen. Eine Differenzierung<br />

zwischen Staat und Gesellschaft, die von Wanke als säkularisiert und<br />

materialistisch bezeichnet wurde, ist also nicht ursächlich der Ansatzpunkt des von<br />

13


14 Tagungsdokumentation<br />

Wanke vorgenommenen theologischen Paradigmenwechsels vom kirchenpolitischen<br />

„status quo“ einer Kirche in einem totalitären System hin zur „theologischen Wirklichkeit<br />

der Kirche unseres Raumes“. Die vorbehaltlose Bejahung dieser von Gott gegebenen<br />

Realität, und damit die „Einbettung des Evangeliums in die konkrete Welt“<br />

und die Hinwendung zu den Menschen des Landes ist der Ausgangspunkt.<br />

Wie sehr sich die katholische Kirche in der DDR in der Folge als „theologische<br />

Wirklichkeit“ verstand und die Gläubigen zur Solidarisierung und dienendem Zeugnis<br />

für die Menschen des Landes aufforderte, machen nicht nur die gemeinsamen<br />

Hirtenbriefe der BBK der 1980er Jahre in vielfältiger Weise deutlich. Eine parteiinterne<br />

Analyse aus dem Jahre 1986 zeigt klarer als manche kircheninterne Darstellung, wie<br />

der Staat auf den von Wanke initiierten „Kurswechsel“ reagierte: „Während einerseits<br />

dazu aufgerufen wird, sich für eine gerechte menschenwürdige, friedliche Welt sowie<br />

für das allgemeine Wohl der Gesellschaft einzusetzen, Verantwortung gegenüber<br />

dem gesellschaftlichen Eigentum zu zeigen, eine hohe Arbeitsmoral zu entwickeln<br />

und sich in der Nachbarschaftshilfe sowie im Einsatz für Kranke und Behinderte zu<br />

bewähren, wird andererseits in scharfer Weise das Trennende zwischen dem sozialistischen<br />

Staat und der katholischen Kirche hervorgehoben und der weltanschauliche<br />

Gegensatz in den Vordergrund gerückt. Christsein in der sozialistischen Gesellschaft<br />

wird vorrangig als alternative Existenz deklariert, die künftig mit einem bewußten<br />

Verzicht auf persönliche Entwicklung verbunden sein müsse. Insgesamt bleibt die<br />

katholische Kirche – auch wenn einige konstruktive Aussagen nicht übersehen werden<br />

– hinter den von Staat und Gesellschaft geschaffenen Möglichkeiten zurück.“ 37<br />

Mir scheint, dass eine primär kirchenpolitische Fixierung der katholischen Kirche<br />

aufgegeben wurde, ohne dass es dadurch aber zu einem bis dahin gefürchteten<br />

Aufbrechen der inneren Geschlossenheit und einer Instrumentalisierung der katholischen<br />

Kirche durch den Staat und die sozialistische Gesellschaft gekommen wäre.<br />

Kardinal Sterzinsky erklärte es in einem Interview 2008 so: „Auf der anderen Seite<br />

war ich mit Bischof Wanke einig, dass wir nicht in der Art fortfahren können, wie sie<br />

sich seit Jahrzehnten bewährt hatte: Politische Zurückhaltung, völlige Abstinenz, das<br />

ging nicht mehr. Wir durften das Volk nicht im Stich lassen, das war uns klar.“ 38 Und<br />

an seine Erfurter Zeit als Generalvikar erinnernd fügte er hinzu: „Der Erfurter Bischof<br />

Wanke hatte schon Mitte der 80er Jahre gesagt, wir dürfen nicht das ganze Feld den<br />

Kommunisten überlassen. Wir müssen fein differenzieren, an welcher Stelle wir in<br />

die Speichen greifen, nicht in der Annahme, es würde wirklich zu einer Demokratie<br />

kommen, sondern um das Schlimmste zu verhindern. Wir müssen die Gläubigen<br />

lehren, wie sie – ohne etwas zu tun, was gegen ihr Gewissen geht – gesellschaftlich<br />

mitarbeiten. Es ist so vieles, was zwar atheistisch oder kommunistisch interpretiert<br />

wird, aber eigentlich nicht kommunistisch oder gar atheistisch ist. … Wenn einer im<br />

Sport mitmacht, wird das immer als Beitrag zum Sieg des Sozialismus interpretiert.


Tagungsdokumentation<br />

Das muss man in Kauf nehmen. Vorher hieß es immer, was so interpretiert werden<br />

kann, wollen wir nicht fördern. Damit fördern wir das ganze System. Wir wollen<br />

unterscheiden zwischen den Gläubigen in den Gemeinden, deren Wirken man als<br />

Wirken eines Bürgers der DDR versteht, und dem Handeln der offiziellen Vertreter<br />

der Kirche.“ 39<br />

Resümee<br />

Eine Gesamtdarstellung der katholischen Kirche in der DDR gibt es nicht und<br />

wird es wohl so schnell auch nicht geben können. Der Überblick, den ich zu geben<br />

versucht habe, musste vieles offen lassen. Vor allem aber gilt: Trotz aller bisherigen<br />

wichtigen historischen Forschungen wurde ein bedeutsamer Bereich fast gänzlich<br />

ausgeklammert: die theologischen Entwicklungen in der katholischen Kirche in der<br />

DDR. Wie wurde Diaspora definiert und verstanden? Welche Rolle spielte die Umsetzung<br />

des Konzils, so vor allem von Gaudium et spes und der darin geforderten<br />

Weltverantwortung des Christen? War die Kirche noch missionarisch oder hat sie sich<br />

zu sehr als geschlossene Gemeinschaft verstanden?<br />

Kardinal Sterzinsky hat es vor wenigen Wochen rückblickend und vorausschauend<br />

so formuliert: „Wir haben sehr viel gearbeitet zur Theologie der Diaspora. Diaspora<br />

ist nicht nur verkleinerte Volkskirche in Miniatur. Und wir haben sicherlich verstanden,<br />

dass wir eine gesellschaftliche Verantwortung haben. Der Aspekt, dass Kirche<br />

communio ist, war bei uns lebendig und stark. Aber dass Kirche immer auch missio<br />

ist, war unterentwickelt: Kirche ist communio und missio, missio in die Gesellschaft<br />

hinein, missio im Sinne des missionarischen im umfänglichen Sinne.“ 40<br />

15


16 Tagungsdokumentation<br />

1 FKZE, Sammlung (P), Hans-Friedrich Fischer, Rückschau mit gemischten Gefühlen (Manuskript) 1990.<br />

2 F.A.Z. 39 (16.02.1993)<br />

3 Joachim Wanke, Zur Diskussion um den Umgang mit der DDR-Vergangenheit: Lebendiges Zeugnis 3 (1992) 208.<br />

4 Vgl. Josef Pilvousek, Flüchtlinge, Flucht und die Frage des Bleibens. Überlegungen zu einem traditionellen Problem der<br />

Katholiken im Osten Deutschlands, in: Die ganz alltägliche Freiheit. Christsein zwischen Traum und Wirklichkeit (=EThSt<br />

65), Leipzig 1993, 9-23.<br />

5 Vgl. Josef Pilvousek, „Eine Gärtnerei im Norden“. Wilhelm Weskamm und die „mitteldeutsche“ Diaspora, Manuskript<br />

1999.<br />

6 Vgl. <strong>Katholische</strong> Kirche – Sozialistischer Staat DDR. Dokumente und öffentliche Äußerungen 1945-1990, hrsg. v. Gerhard<br />

Lange, Ursula Pruß, Franz Schrader, Siegfried Seifert, Leipzig 21993, 101-103.<br />

7 Vgl. Josef Pilvousek, Bischof Otto Spülbeck, Manuskript 1999.<br />

8 Vgl. Josef Pilvousek, „Innenansichten”. Von der „Flüchtlingskirche“ zur „katholischen Kirche in der DDR“, in: Materialien<br />

der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” (12. Wahlperiode<br />

des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Band VI/2: Kirchen in der SED-Diktatur, Frankfurt/M 1995,<br />

1157-1160.<br />

9 Vgl. Gerhard. Lange, Alfred Kardinal Bengsch (1921-1978), in: Zeitgeschichte in Lebensbildern 7, hrsg. v. Jürgen Aretz, Rudolf<br />

Morsey, Anton Rauscher, Mainz 1994, 170f.<br />

10 Peter Maser, Deutsche Protestanten haben noch niemals eine Revolution veranstaltet, in: Hans-Joachim Veen/Peter<br />

März/Franz-Josef Schlichting (Hgg.) Kirche und Revolution. Das Christentum in Ostmitteleuropa vor und nach 1989, Köln-<br />

Weimar-Wien 2009, 71-74, hier: 74.<br />

11 Ebd. S. 71.<br />

12 Vgl. Hans Maier, Revolte der Gottesfürchtigen. Warum die erste erfolgreiche Volksbewegung gegen den Kommunismus<br />

in Polen entstand, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland,<br />

Würzburg 2009, 19-21, hier: 19.<br />

13 Zitiert nach ebd. 20.<br />

14 Wolfgang Templin, Es begann mit Solidarnosc. Der Umsturz von 1989 war eine europäische Revolution, in: Thomas Brose<br />

(Hg.), Glaube, Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009,15-18, hier: 18.<br />

15 Uwe Thaysen, Der Runde Tisch oder: Wo blieb das Volk? Der Weg der DDR in die Demokratie, Opladen 1990, 158.<br />

16 Hubertus Knabe, Die Geburtshelfer der Revolution, in: G. Maier (Hg.), Die Wende in der DDR; Berlin 21991, 31.<br />

17 Ilse Neumeister, Die Kraft der Kerzen, in: Erfurter Blätter, Oktober/November 2004, S. 4; hier begannen die Friedensgebete<br />

1978 in der katholischen Erfurter Lorenzkirche. Vgl. beispielsweise auch FKZE, Crimmitschau, Pfarrer Michael Gehrke<br />

an Josef Pilvousek, 17.6.2009; vgl. Ökumene. Anonymes Konzert als erster Schritt. Kritisch hinterfragender Vortrag über<br />

die Rolle der katholischen Kirche im Herbst 1989: http://www.freies-wort.de/nachrichten/regional/badsalzungen/fwstzslzlokal/art2446,1064300,<br />

letzter Zugriff, 22.11. 2009, in Bad Salzungen fanden die Friedensgebete nach Absprache der<br />

evangelischen und des katholischen Pfarrers statt; vgl. Thomas Weinrich, Der Ökumenische Arbeitskreis „Gerechtigkeit,<br />

Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ und die Friedensgebete in Sondershausen, in: Sabine Bräunicke, u.a. (Hg.), Die<br />

Friedliche Revolution in Sondershausen. Erinnerungen an 1989/1990, Erfurt 2009, 30-44, hier: 37.<br />

18 Vgl. Steffen Reichert, Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, in: Patrick Wagner (Hg.),<br />

Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, Halle 2009, 12-187, besonders: 44-45,<br />

Gerhard Nachtwei, Aufbrüche. Die Magdeburger „Wende“ im Rückblick, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube, Macht und<br />

Mauer fälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009, 97-106.<br />

19 Andreas Püttmann, Konkurrenz der Konfessionen? Katholiken und Protestanten im vereinigten Deutschland: Neue Ordnung<br />

1/1992, 53-66.


Tagungsdokumentation<br />

20 Frank Richter, Von der Eskalation zum Dialog in Sachsen. Dresden im November 1989, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube,<br />

Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland, Würzburg 2009, 91-96; vgl. Hans Gerd Adler, Brückenköpfe,<br />

Heiligenstadt 2009, 296-300.<br />

21 Vgl. Ausführungen am 24.10. 2009 bei der Tagung der Kommission für Zeitgeschichte in Erfurt.<br />

22 FKZE, Crimmitschau, Pfarrer Michael Gehrke an Josef Pilvousek, 17.6.2009.<br />

23 Thomas Großbölting, „Evangelische Freiheit“? 20 Jahre nach dem <strong>Mauerfall</strong> — und was wir daraus machen, vgl. www. unimuenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/ansichtssachen,<br />

letzter Zugriff 30.10.2009.<br />

24 Es handelt sich um Prälat Gerhard Lange.<br />

25 FKZE, Sammlung BOK/BBK (P), II Politika; 6.11. 1989.<br />

26 Zu erinnern ist an den AKH, der ausgegrenzt wurde und nicht als bischöflich anerkannte Vereinigung galt; vgl. FKZE, AKH,<br />

Rundbrief AKH, 1.2.1990.<br />

27 Josef Pilvousek, Im kirchenpolitischen „Korsett“ der Bischofskonferenz. Bischofskonferenz, Bischöfe und die friedliche<br />

Revolution von 1989, in: Thomas Brose (Hg.), Glaube Macht und Mauerfälle. Von der friedlichen Revolution ins Neuland,<br />

Würzburg 2009, 82-90.<br />

28 Patrick Wagner (Hg.), Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle an der Saale, Halle 2009.<br />

29 Vgl. Steffen Reichert, Buchpremiere. Schritte zur Freiheit. Manuskript. Ich danke Herrn Dr. Peter Willms für die Überlassung<br />

einer Kopie des Vortrages.<br />

30 Vgl. Josef Pilvousek, „Innenansichten”. Von der „Flüchtlingskirche“ zur „katholischen Kirche in der DDR“, in: Materialien<br />

der Enquete Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” (12. Wahlperiode<br />

des Deutschen Bundestages), hg. vom Deutschen Bundestag, Band VI/2: Kirchen in der SED-Diktatur, Frankfurt/M 1995,<br />

1134-1163, 1144f.; Christoph Kösters, Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit in der DDR, in: Hummel,<br />

K.-J., (Hg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, Paderborn-<br />

München-Wien-Zürich 2004, 131-149, 135-139.<br />

31 Vgl. Christoph Kösters, Sozialistische Gesellschaft und konfessionelle Minderheit, 138.<br />

32 Vgl. Ebd.<br />

33 Vgl. dazu, Dieter Grande, / Bernd Schäfer, Zur Kirchenpolitik der SED. Auseinandersetzungen um das Katholikentreffen<br />

1983-1987, Leipzig 1994.<br />

34 Vgl. dazu Katharina Seifert, Glaube und Politik. Die ökumenische Versammlung in der DDR 1988/89, Leipzig 2000.<br />

35 Vgl. dazu Joachim Wanke, Der Weg der Kirche in unserem Raum – Versuch einer pastoralen Standortbestimmung, Vortrag<br />

auf den Priesterkonferenzen in Erfurt und Heiligenstadt, Oktober 1981, abgedruckt in: Josef Pilvousek, (Bearb. u. Hg.),<br />

Kirchliches Leben im totalitären Staat. Quellentexte aus den Ordinariaten 1977-1989, Dokumentenband II, Leipzig 1998,<br />

237-250.<br />

36 Landesparteiarchiv Sachsen der PDS: Bestände der Bezirksleitung Dresden der SED, Akte IV E 2/14/667.<br />

37 Georg Sterzinsky, Getrennt vereint. Georg Kardinal Sterzinsky im Gespräch mit Joachim Jauer, in: Jahrbuch für das Erzbistum<br />

Berlin 2009, Köln 2008, 14-20, 15.<br />

38 Ebd. 16.<br />

39 Gespräch des Verfassers mit Herrn Kardinal Georg Sterzinsky in Berlin, 17. 9. 2009<br />

17


18 Tagungsdokumentation<br />

Das politische Engagement von Katholiken zur<br />

Wendezeit und danach Hans Joachim Meyer<br />

Es gibt zwei Arten des politischen Lernens. Die erste Art bezieht sich auf eine bestehende<br />

Ordnung. Wer in dieser Ordnung und durch diese Ordnung Erfolg haben<br />

will, muss deren Voraussetzungen, deren Eigenheiten und deren innere Mechanismen<br />

kennen und diese daher lernen. Und unabhängig davon, ob man die bestehende<br />

Ordnung innerlich akzeptiert oder sie zu ändern entschlossen ist, so gibt diese<br />

doch – jedenfalls zunächst – die Regeln des Handelns und Lernens vor. Die zweite Art<br />

des politischen Lernens erfolgt dagegen im Prozess. Das Bestehende ist in Bewegung<br />

geraten, unterschiedliche Strömungen ringen miteinander, wohin es letztlich gehen<br />

wird, ist nicht sicher zu erkennen. Was bisher als erwartbar galt, ist nicht mehr verlässlich,<br />

wenn nicht bereits zerstört oder verworfen. Es ist ein Lernen durch Erfahrung<br />

und Experiment, ein Lernen durch Handeln mit ungewissem Ausgang. Aber es ist zugleich<br />

ein Lernweg der offenen Perspektive und des großen Versprechens.<br />

Von der ersten Art politischen Lernens wussten unter den Katholiken in der DDR<br />

nur noch die Älteren aus eigenem Erleben, die meisten jedoch nur aus den Erzählungen<br />

ihrer Eltern und Großeltern. Denn nur kurz und von vornherein nur eingeschränkt<br />

währte die Zeit, als Menschen nach dem Ende des Krieges versuchten, auch in der<br />

sowjetischen Besatzungszone eine neue deutsche Demokratie aufzubauen, natürlich<br />

nach den Normen und Idealen der 1933 untergegangenen deutschen Republik,<br />

aber selbstverständlich auch mit dem Vorsatz, deren Fehler zu vermeiden. Wenn aus<br />

der unmittelbaren Nachkriegszeit unter Katholiken Erfahrungen weitergegeben wurden,<br />

so waren es solche der Einschränkung, der willkürlichen Zurücksetzung und des<br />

Eingriffs von außen, verbunden mit Terror gegen jene, die der Besatzungsmacht oder<br />

der SED entgegen standen oder auch nur entgegen zu stehen schienen. Was schließlich<br />

im Osten Deutschlands für politische Tätigkeit übrig blieb, war die demütigende<br />

Rolle von bedingungslos Hilfswilligen, welche die von der Sowjetunion etablierte und<br />

von ihr abhängige Macht der SED allen anderen politisch Interessierten zugedacht<br />

hatte.<br />

Die meisten Katholiken in der DDR zogen daraus den Schluss, zu dieser Herrschaftsordnung<br />

auf innere und – soweit wie möglich – auch auf äußere Distanz zu<br />

gehen. Damit entfiel aber auch das sich am Bestehenden orientierende politische<br />

Lernen. Stattdessen lernte man, mit der bestehenden Ordnung so umzugehen, dass<br />

sie den Einzelnen oder die Familie persönlich möglichst wenig betraf. Zu dieser Distanz<br />

nahmen viele die Kraft aus dem Zusammenhalt in der Pfarrgemeinde oder<br />

der engen Verbindung mit einer kirchlichen Gemeinschaft oder einem kirchlichen<br />

Gesprächs- und Begegnungskreis, also aus dem konkreten Leben mit der Kirche.


Tagungsdokumentation<br />

Auch das war in einem gewissen Sinne politisches Handeln, nämlich das des sich<br />

Versagens und gelegentlich auch der Renitenz. Was ihm fehlte, war das Moment des<br />

politischen Gestaltens und Gestaltenwollens. Das unterscheidet diese Haltung von<br />

der Zustimmung und Unterstützung einerseits, aber eben auch von dem artikulierten<br />

Dissens und der Opposition andererseits. In ihrer Haltung konnten sich die<br />

Katholiken im Einklang fühlen mit ihrer Kirche und mit ihren Bischöfen, die relativ<br />

früh eine Position der unmissverständlich schweigenden Distanz zur SED-Diktatur<br />

eingenommen hatten und diese dann über Jahrzehnte konsequent durchhielten.<br />

Die Bischöfe nahmen nur dann öffentlich Stellung, wenn dies unabweislich war, weil<br />

kirchliche Grundsätze durch das Handeln der SED unmittelbar berührt oder gar angegriffen<br />

wurden. Dagegen äußerten sie sich in der Regel nicht zu den zahlreichen<br />

Krisen des Systems oder zu angeblich neuen politischen Strategien der bestehenden<br />

Macht. Zugleich ließen sie auch scheinbar unverfängliche Gelegenheiten zum<br />

öffentlichen Auftritt ungenutzt, um nicht in die Nähe der Macht zu geraten und von<br />

dieser benutzt werden zu können.<br />

Die durchgehende Konstante in der Haltung der katholischen Bischöfe und der<br />

meisten Katholiken war es, nicht auf Veränderungen im bestehenden Herrschaftssystem<br />

zu setzen, eine solche Hoffnung eher für illusionär zu halten, darum an<br />

Anzeichen in einer solchen Richtung auch nicht sonderlich interessiert zu sein, ja,<br />

ihnen eher zu misstrauen und darum sie auch nicht unbedingt zur Kenntnis nehmen<br />

zu wollen. Man hätte gern unter ganz anderen Umständen gelebt, ohne diese<br />

in überschaubarer Zeit für eine realistische Option zu halten. Nur wenige Katholiken<br />

sahen das anders und wurden darum meist – staatlich wie kirchlich – argwöhnisch<br />

betrachtet und gelegentlich auch handfest ausgegrenzt. Welche Haltung orientierte<br />

sich nun an der Realität und welche an Illusionen? Die Antwort ist, wie häufig beim<br />

geschichtlichen Urteil, eine doppelte: Lange Zeit war das Beharren auf Distanz nicht<br />

nur realistisch, sondern selbst auch ein Stück DDR-Realität, das die Herrschenden<br />

vergeblich zu ändern suchten. Aber als das Bestehende und so lange Unveränderliche<br />

nun doch in Bewegung geriet, da sah man die Chance zum realen Wandel nicht oder<br />

doch jedenfalls zu spät. Man wurde also in seiner Sicht und in der davon bestimmten<br />

Haltung zunehmend unrealistisch und hatte damit wiederum auch zu wenig wirksamen<br />

Anteil am Wandel der Realität.<br />

Für unser Thema ist dieser Unterschied in doppelter Weise von Bedeutung. Erstens<br />

in der Unterscheidung von der evangelischen Kirche, die, aus theologischen, geschichtlichen<br />

wie aus strukturellen Gründen, und nicht zuletzt deshalb, weil sie fast<br />

überall in der DDR die traditionelle Mehrheitskirche war, den Anfragen und Anforderungen<br />

aus dem zunehmend sozialistisch geprägten Umfeld viel stärker ausgesetzt<br />

war und sich diesen wohl auch gar nicht entziehen konnte. Das galt nicht zuletzt<br />

für die aus diesem Umfeld kommenden Hoffnungen auf einen Wandel der gesell-<br />

19


20 Tagungsdokumentation<br />

schaftlichen Umstände zum Besseren. Um dieser Haltung gerecht zu werden, muss<br />

man sich einer Tatsache erinnern, die zwanzig Jahre nach dem revolutionären Herbst<br />

des Jahres 89 weithin verdrängt und vergessen worden ist, vorher aber – im Osten<br />

wie im Westen – als selbstverständlich galt: Dass es nämlich nur die Hoffnung auf<br />

eine Veränderung des bestehenden Sozialismus zum Besseren war, welche damals<br />

realistisch genannt werden konnte, zumindest als Beginn einer Entwicklung in einem<br />

überschaubaren Zeitraum. Jeder Wunsch nach Wandel bewegte sich gleichsam auf<br />

dem Boden des Sozialismus, jeder Ruf nach Reform meinte diesen erneuern oder zu<br />

seinen ideellen Ursprüngen zurückführen zu können. Es ist, insbesondere im westlichen<br />

Urteil über die Entwicklung in der DDR, inzwischen weithin üblich geworden,<br />

solche Hoffnungen mehr oder weniger nachsichtig als Irrtum abzutun, wenn nicht<br />

gar der halben Komplizenschaft mit dem Regime zu verdächtigen. Gewiss gibt es<br />

heute gute Gründe, solche Perspektiven als illusionär zu charakterisieren. Das nimmt<br />

ihnen aber nichts von ihrer realen geschichtlichen Wirkung. Es war der Appell an<br />

die Freiheits- und Gerechtigkeitsträume der ursprünglichen sozialistischen Idee, es<br />

war die angemahnte Verbindung von Sozialismus und Demokratie, welche die Herrschenden<br />

immer wieder delegitimierte, ihre überzeugten Anhänger verstörte, aber<br />

auch nachdenklich machte, das Regime zu immer neuen Rechtfertigungskampagnen<br />

zwang und so, wenn auch als krude Karikatur, so etwas wie eine gesellschaftliche<br />

Debatte in Gang hielt.<br />

Natürlich beunruhigten solche Hoffnungen das herrschende Regime. „Hauptsache –<br />

Ruhe im Karton,“ sagte der SED-Chefideologie Kurt Hager zu Forschungsstudenten<br />

der marxistisch-leninistischen Philosophie an der Humboldt-Universität, als diese ihn<br />

in den achtziger Jahren fragten, wie denn ihre Partei auf die wachsende gesellschaftliche<br />

Unruhe reagieren wolle. Es ist das unbestreitbare geschichtliche Verdienst der<br />

Bürgerrechts- und Umweltgruppen in der DDR, durch ihr mutiges Handeln eben jene<br />

Dynamik hervorgerufen und wachgehalten zu haben, ohne die es keine geschichtliche<br />

Bewegung gibt. Denn nur aus einer solchen Dynamik heraus konnte es zu einem<br />

revolutionären Wandel kommen. Und es ist das unbestreitbare Verdienst der<br />

Evangelischen Kirche, solchen Gruppen einen Ort gegeben, deren Stimmen verstärkt<br />

und deren Forderungen aufgegriffen zu haben. Natürlich geschah dies durchaus auch<br />

zögerlich und mit besorgtem, wenn nicht angstvollem Herzen, denn es gefährdete<br />

ja zugleich den so mühsam bewahrten inneren Freiraum der Kirche, wenn nicht sogar<br />

ihre Existenz. Aber wenn wir ehrlich sind, müssen wir Katholiken doch gestehen,<br />

dass wir lange ganz überwiegend darauf konzentriert waren, unsere kleine Herde zusammenzuhalten,<br />

und im Übrigen darauf vertrauten, dass es der Herr der Geschichte<br />

irgendwann und irgendwie schon richten würde. Gleichwohl blieb trotz dieser Unterschiede<br />

in der Zeit der DDR entscheidend: Wo der christliche Glaube lebt, gibt<br />

es Hoffnung. Und in diesem die Menschen verplanenden und auf sie zugreifenden


Tagungsdokumentation<br />

Herrschaftssystem erlebten evangelische und katholische Christen ihre Kirchen als<br />

einen Ort der Freiheit.<br />

Es hat in dieser Zeit auch immer wieder Katholiken gegeben, die ein größeres gesellschaftliches<br />

Interesse anmahnten, ohne sich damit dem herrschenden System<br />

als Helfershelfer andienen zu wollen. Die entscheidende Zäsur für eine katholische<br />

Hinwendung zu größerer Wachheit gegenüber dem gesellschaftlichen Geschehen<br />

sehe ich jedoch in dem bedeutsamen Doppeldatum von 1987, nämlich dem großen<br />

Dresdner Katholikentreffen und dem bald darauf folgenden Entschluss der Berliner<br />

Bischofskonferenz, mit der neu gegründeten Kommission Justitia et Pax an der Ökumenischen<br />

Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung<br />

teilzunehmen. Denn diese Versammlung und der sie begleitende und mittragende<br />

Gesprächsprozess in den christlichen Gemeinden und Kreisen ist nach meiner Überzeugung<br />

die wichtigste geistige Grundlegung für den revolutionären Herbst des Jahres<br />

1989 und für die öffentliche Rolle der Kirchen als Garanten der Friedlichkeit dieses<br />

revolutionären Prozesses.<br />

Sie waren ja, wie sich schon bei den dramatischen Tagen Ende September / Anfang<br />

Oktober zeigen sollte und wie es dann jedermann in den stürmischen Wochen<br />

nach dem Durchbruch zur Freiheit am 9. Oktober in Leipzig erleben konnte, die einzig<br />

verbliebene allgemein anerkannte Autorität. Das Katholikentreffen 1987 in Dresden<br />

war nicht mehr, wie die bisherigen Ereignisse öffentlichen Auftretens von Katholiken,<br />

allein eine Wallfahrt. Es war zugleich ein katholischer Gesprächsvorgang und eine<br />

öffentliche Kundgebung von Gottvertrauen und gesellschaftlicher Anteilnahme. Ja,<br />

es war sogar ganz unübersehbar die Manifestation eines selbstbewussten Anspruchs<br />

auf Öffentlichkeit. Die katholische Teilnahme an der Ökumenischen Versammlung<br />

war darum die notwendige Konsequenz des Katholikentreffens. Dennoch war dieser<br />

Entschluss für die Berliner Bischofskonferenz offenbar alles andere als selbstverständlich.<br />

Was wir ab 1988 und dann insbesondere für den Verlauf des Jahres 1989<br />

beobachten können, ist ein sich verstärkendes Engagement von Katholiken für gesellschaftliche<br />

Anliegen, häufig in ökumenischen Zusammenhängen, was ja auch<br />

der in der DDR stark ausgeprägten Praxis der ökumenischen Zusammenarbeit auf<br />

Gemeindeebene entsprach. Dazu kam der zunehmend artikulierte Wunsch nach einer<br />

erkennbaren Rolle der <strong>Katholische</strong>n Kirche in der sich ausbreitenden gesellschaftlichen<br />

Unruhe. Schon in den siebziger Jahren hatte die Pastoralsynode den Vorschlag<br />

einer <strong>Akademie</strong> als einem dialogischen Ort von Kirche und Welt formuliert. <strong>Katholische</strong><br />

Akademikerkreise und Studentengemeinden hatten diese Idee wachgehalten.<br />

Mit der Studienstelle der Bischofskonferenz entstand 1988 immerhin eine Miniform,<br />

in der erste Texte zur Selbstverständigung entstanden und deren Beirat den Ansatz<br />

zu einem DDR-weiten innerkatholischen Gedanken- und Erfahrungsaustausch bot.<br />

Dabei zeigte sich, dass an vielen Orten in der DDR Katholiken sich in gesellschafts-<br />

21


22 Tagungsdokumentation<br />

kritischen Gruppen zu engagieren begannen oder doch jedenfalls im innerkatholischem<br />

Gespräch zu einem solchen Engagement innerlich unterwegs waren. Es war<br />

zugleich Lernen im geschichtlichen Prozess. Was damals in der <strong>Katholische</strong>n Kirche<br />

an Laienengagement über die Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus begann oder<br />

sich verstärkte, bedarf noch der Aufarbeitung. Zu vergessen wäre dabei nicht, dass<br />

die Kolpingfamilien, die Akademikerkreise und die Studentengemeinden immer<br />

schon einen DDR-weiten Zusammenhang aufrecht erhalten hatten, natürlich nur inoffiziell<br />

und vom MfS argwöhnisch beobachtet und behindert. Daneben oder daraus<br />

entstand jetzt Neues. Hier will ich nur beispielhaft für den Ostteil des Bistums Berlin<br />

erwähnen, dass die Konferenz der Dekanatsräte schon Anfang 1989 alle Pfarrgemeinderäte<br />

dazu aufgerufen hatte, sich intensiv mit den Beschlüssen der Ökumenischen<br />

Versammlung zu beschäftigen und dabei auch die Möglichkeit zu bedenken, wie sie<br />

in die Öffentlichkeit hineinwirken könnten.<br />

Als Abschluss dieses Gesprächsvorgangs wurde für den Oktober 1989 in Berlin ein<br />

Diözesantag aller Pfarrgemeinderäte angekündigt. In der zweiten Hälfte des Jahres<br />

entstanden in Berlin und Potsdam katholische Gruppierungen, die ihre Aufgabe ganz<br />

ausdrücklich im gesellschaftlichen Engagement sahen, nämlich das <strong>Katholische</strong> Gesprächsforum<br />

und die Studiengruppe Kirche und Welt in Berlin und die <strong>Katholische</strong><br />

Laieninitiative in Potsdam. Als sich die Pfarrgemeinderäte im Ostteil des Bistums<br />

Berlin am 28. Oktober 1989, also zwischen dem bedeutsamen 9. Oktober in Leipzig<br />

und dem Berliner <strong>Mauerfall</strong> am 9. November, im Berliner Bernhard-Lichtenberg-Haus<br />

zu der schon Anfang 1989 geplanten Versammlung trafen, stand die öffentliche Verantwortung<br />

der Katholiken im Mittelpunkt und die eben genannten Gruppen präsentierten<br />

zu diesem Thema ihre programmatischen Vorschläge. Von hier aus nahm die<br />

Formierung einer neuen katholischen Laienbewegung im Bistum Berlin ihren Anfang,<br />

die schließlich am 28. November 1989 zur Bildung des Berliner Aktionsausschusses<br />

katholischer Christen führte. Zeitgleich entstanden Initiativen und Zusammenschlüsse<br />

katholischer Laien in den Bistümern Erfurt, Dresden-Meißen und Görlitz sowie<br />

in Schwerin, die sich rasch miteinander vernetzten und beim Zentralen Runden<br />

Tisch durch Beobachter vertreten waren. In Magdeburg hatte man entschieden, sich<br />

zunächst ganz auf die gesellschaftliche Bewegung zu konzentrieren und deren Erfolg<br />

als Voraussetzung für ein eigenes katholisches Engagement anzusehen.<br />

Am 13. Januar 1990 kam es dann in Dresden zur Gründung des Gemeinsamen Aktionsausschusses<br />

katholischer Christen in der DDR, welcher am 17. Februar in Berlin<br />

durch seinen Aufruf zu den geplanten Volkskammerwahlen in die Öffentlichkeit trat.<br />

Es war ein Bekenntnis zur Freiheit im Geist ökumenischer Gemeinsamkeit und nicht<br />

ohne kritischen Rückblick auf uns selbst. Dieser Aufruf, dem sich dann auch unsere<br />

Bischöfe anschlossen, ist ein Text, zu dessen Weitsicht und Realismus wir uns auch<br />

fast zwanzig Jahre später bekennen können, was ganz gewiss nicht für alles gilt, was


Tagungsdokumentation<br />

damals gesagt und geschrieben wurde. Das Entstehen von Ansätzen zu einer katholischen<br />

Laienbewegung in der DDR im Herbst 1989 ist unmittelbar verbunden mit<br />

dem katholischen Engagement für einen grundsätzlichen gesellschaftlichen Wandel.<br />

Wie zum Beginn des deutschen Laienkatholizismus im Jahr 1848 war es auch fast<br />

150 Jahre später der Wille, den revolutionären Prozess zu befördern und zugleich in<br />

die sich Bahn brechende öffentliche Debatte eine katholische Stimme einzubringen,<br />

welcher die sich neu gründenden Gruppen und Initiativen motivierte und ihre<br />

Tätigkeit thematisch prägte. Man verstand sich als Teil der zur Freiheit drängenden<br />

Bürgerbewegung. Das zeigte sich bei den von diesen Gruppen erarbeiteten Forderungen<br />

zu staatlichen und gesellschaftlichen Reformen, bei den zahlreichen von ihnen<br />

veranstalteten Gesprächsforen und durch ihre aktive Teilhabe an den überall gegründeten<br />

Runden Tischen und an den vielen Bürgeraktionen zur demokratischen Kontrolle<br />

der noch bestehenden alten Staatsorgane und zur endgültigen Auflösung des<br />

Ministeriums für Staatssicherheit und dessen regionalen und lokalen Dienststellen.<br />

Betont werden muss, dass sich auch viele einzelne Katholiken, entweder aus ihrer<br />

Pfarrgemeinde heraus oder in bürgerschaftlichen Gruppen an dem großen Aufbruch<br />

zur Freiheit beteiligten, der damals das ganze Land in Bewegung setzte. Wichtig war<br />

dabei allen katholischen Christen, unabhängig von der Art ihres Engagements, die<br />

ökumenische Gemeinsamkeit mit den evangelischen Christen. Es gab keine spezifisch<br />

konfessionellen Anliegen, welche die Menschen damals bewegten.<br />

Im Rückblick auf diese Zeit scheinen mir zwei geschichtliche Tatsachen unbestreitbar.<br />

Einerseits haben evangelische Christen und Menschen im Schutzraum der<br />

evangelischen Kirche bereits in den siebziger und achtziger Jahren trotz zunehmender<br />

Erstarrung und Resignation immer wieder Zeichen für Frieden und Menschenrechte<br />

und gegen Militarisierung, Umweltverschmutzung und Städteverfall gesetzt<br />

und die Hoffnung auf einen Wandel zu mehr Freiheit gestärkt. Ein noch heute bewegendes<br />

Beispiel ist die Bewegung „Schwerter zur Pflugscharen“, die von der Evangelischen<br />

Kirche ausging und auch junge Katholiken erfasste. Wichtige Ereignisse waren<br />

auch die regionalen Evangelischen Kirchentage. Andererseits haben auch katholische<br />

Christen, dabei zunehmend ermutigt von ihren Bischöfen, einen beachtlichen Anteil<br />

am revolutionären Herbst 89 in der DDR. Sie wurden jedenfalls nicht erst tätig,<br />

als nach dem 9. November die Tore ohnehin schon offen standen. Eindrucksvoll anschaulich<br />

machte dies schon früh die mutige Initiative des katholischen Geistlichen<br />

Frank Richter, durch den während der dramatischen Konfrontation in Dresden Ende<br />

September / Anfang Oktober die Gruppe der Zwanzig entstand und sich so der Wille<br />

der Demonstranten gegenüber der Staatsmacht artikulieren konnte.<br />

Gleichwohl bleibt die herausragende Rolle evangelischer Laien und Amtsträger in<br />

den Jahren davor ein wichtiges Element der geschichtlichen Erinnerung, auch wenn<br />

diese innerhalb ihrer Kirche eher eine Minderheit waren und durchaus auch Gegen-<br />

23


24 Tagungsdokumentation<br />

wind erfuhren. Im Kontrast zur lange beobachteten katholischen Zurückhaltung<br />

steht nun die ebenfalls unbestreitbare Tatsache, dass sich Katholiken im politischen<br />

Prozess, der dann ab November 1989 zur deutschen Einheit und zum Wiederentstehen<br />

der ostdeutschen Länder führte, erkennbar und – wie es manchen scheinen<br />

will – überproportional zum Bevölkerungsanteil engagierten und so auch politische<br />

Verantwortung erhielten. Wenn Überraschendes geschieht, sind meist Spekulationen<br />

nicht fern. Dazu gehörte auch der Verdacht, das sich rasch intensivierende<br />

bürgerschaftliche Engagement katholischer Laien sei zentral und flächendeckend<br />

vom kirchlichen Amt organisiert und auf den Weg gebracht worden. Eine solche<br />

Vermutung kann Kenner innerkatholischer Entscheidungsvorgänge im Allgemeinen<br />

und der damaligen Situation der katholischen Kirche in der DDR im Besonderen nur<br />

Grund zu großer Heiterkeit geben. Diese Ansicht ist der klassische Fall eines klischeegeleiteten<br />

Fehlurteils.<br />

Eine einleuchtende Erklärung bietet sich dagegen an, wenn man, wie wir dies heute<br />

tun wollen, die geschichtlichen Vorgänge dieser Zeit als politischen Lernprozess<br />

verstehen. Zunächst hatten die Katholiken, wie alle Nachzügler, nachholenden Lernbedarf.<br />

Denn wer sich, wie evangelische Christen, schon länger beim Einsatz für bürgerschaftliche<br />

Anliegen im unübersichtlichen Feld der Auseinandersetzungen mit der<br />

staatlichen Macht erprobt hatte, der hatte natürlich auch einen Erfahrungsvorsprung<br />

– praktisch wie theoretisch. Wer sich näher mit den Diskussionen und Texten der<br />

Ökumenischen Versammlung beschäftigt, der kann gar nicht übersehen, dass diese –<br />

naturgemäß – eine deutlich evangelische Handschrift tragen. Allerdings brachten die<br />

bedrohliche Situation Ende September / Anfang Oktober einerseits und der sich rasch<br />

ausweitende Freiraum nach der großen Demonstration am 9. Oktober in Leipzig andererseits<br />

völlig neue Herausforderungen und erforderten von allen ein erprobendes<br />

Lernen im praktischen Prozess. Die Wochen bis zum 9. November waren der Weg zur<br />

Freiheit und stellten zugleich eine Übergangsphase dar. Denn die Freiheit, so ungesichert<br />

und bedroht sie auch vielen noch schien, warf doch unübersehbar zwei Fragen<br />

auf: Erstens, wofür sich denn nun die Deutschen in der DDR entscheiden sollten – für<br />

eine reformierte und erneuerte DDR oder für die deutsche Einheit. Und, zweitens, wie<br />

denn die deutsche Einheit gestaltet werden sollte – als neu zu gründende gesamtdeutsche<br />

Republik oder durch einen Beitritt zur bestehenden Bundesrepublik. Wer<br />

in der Zeit des lernunfähigen und machtversessenen Herrschaftssystem der SED von<br />

einer besseren DDR geträumt, sich dafür mutig eingesetzt und einiges riskiert hatte,<br />

der tat sich naturgemäß schwer mit dem Gedanken, dass die neue Freiheit rasch zur<br />

Einheit führen und das vereinigte Deutschland dann auch noch die Gestalt der Bundesrepublik<br />

haben sollte. Wer diesen Traum nicht geträumt, sondern ihm – trotz aller<br />

Sympathie mit jenen, die ihn träumten – misstraut hatte, der war jetzt eher bereit<br />

und fähig, sich auf die Einheit nicht nur einzulassen, sondern ihr Zustandekommen<br />

wie ihre Konsequenzen entschieden zu betreiben. Und nicht zuletzt bot der Beitritt


Tagungsdokumentation<br />

zur Bundesrepublik nun wiederum ein zu erlernendes Modell. Nicht wenige haben die<br />

Zeit ihres neuen und noch unerfahrenen bürgerschaftlichen Engagements als einen<br />

politischen Intensivkurs verstanden und genutzt. In ihrem Auftreten entsprachen sie<br />

dem Willen der Mehrheit und konnten auch vielfach deren Vertrauen gewinnen, auch<br />

als Angehörige einer kleinen konfessionellen Minderheit.<br />

Darin besteht der zweite Unterschied in der doppelten Wirkung, welche die lange<br />

bewahrte Haltung schweigender Distanz der katholischen Kirche und der meisten<br />

Katholiken auf ihr politisches Verhalten hatte. Es ist eben dieser relativ rasche Wechsel<br />

von der Zurückhaltung zum aktiven Handeln, welcher sich aus der konkreten<br />

historischen Situation und ihren realen Möglichkeiten ergab. Es war zugleich ein<br />

Wandel in der Art des Lernens. Der Verlauf der Geschichte gibt jedoch keinen Grund<br />

zur katholischen Selbstgerechtigkeit. Denn jene, welche – mit welchen Hoffnungen<br />

auch immer – dem politischen und ideologischen Herrschaftswillen der SED mit eigenen<br />

Idealen und Konzepten entgegentraten, trugen zu eben der geschichtlichen<br />

Dynamik bei, welche schließlich zur Freiheit führte und dann das Thema der deutschen<br />

Einheit wieder auf die Tagesordnung setzte. Der Strom der Geschichte lebt<br />

von vielen Quellen. Darum sind eindimensionale Geschichtsbilder, auch wenn sie<br />

eingängig sind, so irreführend, wenn wir den geschichtlichen Prozess wirklich und<br />

ehrlich verstehen wollen.<br />

25


26 Tagungsdokumentation<br />

Erste Schritte zur Demokratie – Erinnerungen<br />

an die „Wende“ in der DDR Karl-Heinz Ducke<br />

Akzente kirchlichen Dienstes<br />

Schon vor der Wende war in der katholischen Kirche bewusst: Die Gestaltung der<br />

Gesellschaft fordert auch uns!<br />

� Die Pastoralsynode im Bereich der damaligen Berliner Bischofskonferenz, die von 1972<br />

bis 1975 in Dresden tagte, formulierte in ihren Beschlüssen Standortbestimmungen<br />

der Kirche in der damaligen konkreten gesellschaftlichen Situation. Erinnert sei hier<br />

besonders an den Beschluss „Dienst der Kirche für Versöhnung und Frieden“.<br />

� Das Katholikentreffen im Juli 1987 brachte eine Neubesinnung auf Öffentlichkeit hin.<br />

Besonders die Erarbeitungen des zugeordneten „Kleinen Katholikentreffens“ versuchten,<br />

in Rückbesinnung auf die Synodenbeschlüsse, die veränderte gesellschaftliche<br />

Situation als Herausforderung für die Existenz der Kirche und das Glaubensbekenntnis<br />

des einzelnen Christen neu bewusst zu machen.<br />

Zu bedauern ist die geringe Rezeption der Texte.<br />

Wesentlich für die Rolle der katholischen Kirche in den folgenden gesellschaftlichen<br />

Umbrüchen war die Beteiligung katholischer Delegierter an der „Ökumenischen<br />

Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ 1988/1989.<br />

Erstmals wurden dabei gesellschaftlich relevante Themen, die bislang „der Partei“<br />

vorbehalten waren, zumindest in innerkirchlicher Öffentlichkeit artikuliert.<br />

„Gott suchen lässt uns nicht die Welt vergessen, sondern lenkt unseren Blick<br />

neu auf die Wirklichkeit unseres Lebens. Die Situation in unserem Land zwingt zu<br />

Deutung und Auseinandersetzung. Wir sind betroffen über die Vorgänge, die unsere<br />

Gesellschaft seit einigen Wochen erschüttern: laut gewordene Resignation, Flucht,<br />

Ausweisung, Anwendung von Gewalt. Wir bekennen, dass wir in der Vergangenheit<br />

nicht mutig genug die für uns in Gott begründete Würde des Menschen der Gesellschaft<br />

vermittelt und verteidigt zu haben.“<br />

Mit diesen Worten wandte sich der Pastoralrat des Bischöflichen Amtes Erfurt-<br />

Meiningen auf dem Pastoraltag am 13./14.10.1989 an die Katholiken und forderte


Tagungsdokumentation<br />

sie auf, „gemeinsam mit den Christen der anderen Konfessionen als einzelne und<br />

gemeinschaftlich uns bedrängende Fragen zu thematisieren, Ideen und Können in<br />

allen Gruppen einzubringen, die ihre Bereitschaft zur Veränderung erkennen lassen.“<br />

Tageszeitungen druckten zu diesem Zeitpunkt einen solchen Aufruf noch nicht<br />

ab. Auch aus der kirchlichen Presse ist er mir nicht bekannt. Trotz der Gefahr einer<br />

permanenten Vereinnahmung durch die verstaatlichte Gesellschaft, die ja nur ein<br />

verordnetes Mitmachen kannte, ist es wohl kirchlichem Dienst zu verdanken, dass<br />

Menschen auf andere als ideologisch vorgegebene Ideen kommen konnten. Die<br />

Verkündigung des Evangeliums mit seiner Botschaft von geistiger Freiheit und der<br />

Anmahnung der Würde des Menschen war für mich die größte Relativierung ideologischer<br />

Beeinflussung. Christliche Verkündigung – auch unter ideologischer Beeinflussung.<br />

Christliche Verkündigung – auch unter den Bedingungen einer kleinen Diasporagemeinde<br />

– verhinderte, dass die offizielle Horizontverengung die Wirklichkeit<br />

gänzlich eingrenzen konnte.<br />

Ausdrücklich gilt es hier all denen Danke zu sagen, die sich nicht durch Kontrollen<br />

und Schikanen an den Grenzen abschrecken ließen, uns durch einfallsreichen Bücherschmuggel<br />

an den geistigen Prozessen im Westen teilhaben zu lassen!<br />

„... da waren wir alle wie Träumende.“<br />

Mit diesen Worten war in der Bibel (Psalm 126,1) die Reaktion des Volkes Israel auf<br />

das plötzliche und unerwartete Ende seiner Gefangenschaft in Babylon beschrieben.<br />

Die „weltliche“ Übersetzung für dieses Gefühl, wirklich Unerwartetes zu erleben,<br />

Grenzen überschreiten zu können, hieß 1989 schlicht „Wahnsinn!“. Die Israeliten<br />

machten sich damals auf, nach Hause zu gehen, ihr zerstörtes Land wieder aufzubauen.<br />

Die Menschen in der DDR machten sich 1989 erst einmal auf den Weg in ein ihnen<br />

bisher verschlossenes, unbekanntes Land. (Leider damals von einigen Politikern als<br />

Weg zur Banane gedeutet!) Bislang Vorenthaltenes wurde erkundet, der bisher verbaute<br />

Horizont erweitert.<br />

Alles war in Bewegung. Aber wie sollte es nun weitergehen? Sollte man die Macht,<br />

die, wie einige heute meinen, auf der Straße lag, einfach an sich reißen? Wäre das der<br />

Weg in die ersehnte Demokratie gewesen? Es ist für mich die bedeutendste Erinnerung<br />

an den Herbst 1989, dass sich Menschen fanden, die Verantwortung übernommen<br />

haben. Sie forderten persönlich – trotz aller erlittener Diskriminierung – nun<br />

öffentlich Freiheit und eine gerechte, friedvolle und zukunftsfähige Gesellschaft.<br />

Klein war ihre Zahl. Aber sie hatten Mut, sich auf einen Dialog mit den bisher an<br />

der Regierung beteiligten Parteien einzulassen. Die Idee eines „Runden Tisches“ war<br />

geboren. Das Beispiel Polen stand Pate.<br />

27


28 Tagungsdokumentation<br />

Aber wer sollte einladen, damit wirklich alle kamen?<br />

Auch die SED versuchte eine Einladung. Wäre da jemand hingegangen, der Veränderungen<br />

wollte?! So erinnerte man sich plötzlich an das „Dach der Kirche“ und bat<br />

die evangelische Kirche, die Einladung zu diesen Gesprächen auszusprechen. Diese<br />

Initiative wurde ökumenisch erweitert. Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen<br />

und die katholische Kirche wurden zu Miteinladenden. So wurden Kirchenvertreter<br />

zu Vermittlern, zu Moderatoren des Runden Tisches in Berlin. Die Kirchen wurden in<br />

Dienst genommen, um ihrer ureigensten Verpflichtung gerecht zu werden: für die<br />

Menschen dazusein. Gewiss war es die „Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit,<br />

Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ von 1988 und 1989, die erstmals gesellschaftlich<br />

relevante Themen, die bislang der Partei vorbehalten waren, zumindest in<br />

innerkirchlicher Öffentlichkeit artikulierte, die für Vertrauen in die Kirchen gesorgt<br />

hat. „Rund“ war er nie, der „Runde Tisch“. Aber die Debatten an ihm – live vom DDR-<br />

Fernsehen übertragen – haben Mut gemacht, sich nun selbst um die Zukunftsgestaltung<br />

zu kümmern und sich in die Politik einzubringen.<br />

Ich bin dankbar, als Mitmoderator dieses „Lehrstück in Graswurzelparlamentarismus“<br />

(Uwe Thaysen) miterlebt und auch etwas mitgestaltet zu haben. Der Runde<br />

Tisch hat nur drei Monate lang getagt. Dann war das wichtigste Ziel erreicht: die<br />

ersten freien Wahlen zu einer wirklichen Volkskammer der DDR! Eine neue Republik<br />

konstituierte sich. Diese Monate höchster politischer Aktivitäten – ohne jede parlamentarische<br />

Legitimation, nur von „der Sorge um unser Land“ getragen – sind relativ<br />

vergessen. Andere Erinnerungen überlagern die Zeit bis zur neuen Einheit beider<br />

deutscher Staaten am 3. Oktober 1990. Bildhaft ist die Grenzöffnung in Ungarn, der<br />

Kampf der Botschaftsflüchtlinge, die Oktoberdemonstrationen, der <strong>Mauerfall</strong> am<br />

9. November 1989 und schließlich die Feiern zum Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober<br />

1990. Die Wegbegleiter dieses Weges sollten nicht vergessen sein! Erinnerung<br />

darf keine Nostalgie oder gar „Ostalgie“ werden. Sie soll, von Zeitzeugen getragen,<br />

der heutigen Generation helfen, sich wesentlicher Wurzeln ihrer Identität bewusst<br />

zu werden.


Tagungsdokumentation<br />

Diasporasituation und gesellschaftliche Umbrüche<br />

als seelsorgliche Herausforderungen der Kirche in<br />

den neuen Bundesländern Joachim Wanke<br />

Es ist heilsam, sich vor Freunden und Weggefährten immer wieder über den inneren<br />

Zustand der eigenen Ortskirche Rechenschaft zu geben. Zum einen verhilft der<br />

Zwang zur gerafften Darstellung der Situation zur Schärfung der eigenen Beobachtung<br />

und zu vertiefter Reflexion, zum anderen weitet das Gespräch den Blick und<br />

hilft, eigene Blindheiten und Engführungen in Pastoral und kirchlichem Alltagsleben<br />

besser zu erkennen. So verstehe ich meine heutigen Ausführungen als Möglichkeit<br />

des gemeinsamen Wahrnehmens und Lernens.<br />

I. Zur derzeitigen Situation der katholischen Kirche<br />

in den neuen Bundesländern<br />

1. Zur geschichtlichen Entwicklung des Katholizismus im Raum zwischen Werra und<br />

Oder braucht es zumindest einige wenige Bemerkungen. Nachreformatorisch gab<br />

es hier, bis auf das Eichsfeld und Teile des Sorbischen Landes, keine geschlossenen<br />

katholischen Siedlungsgebiete mehr. Meist setzte das Leben katholischer Gemeinden<br />

erst im vergangenen Jahrhundert mit der Industrialisierung und den damit gegebenen<br />

Bevölkerungsbewegungen ein. In Thüringen etwa haben meist Rheinländer<br />

und Franken in den vormals durchweg evangelischen Landgebieten, die Stadt Erfurt<br />

und das Eichsfeld einmal ausgenommen, katholische Gemeinden wiederbegründet.<br />

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges gab es den gewaltigen Zustrom der Katholiken aus<br />

Schlesien, Ostpreußen und dem Sudetenland, in Thüringen allein etwa 600 000, der<br />

freilich nach und nach in verschiedenen Schüben sich weiter nach West- und Süddeutschland<br />

hin fortbewegte. Ein Teil der zugewanderten Katholiken verlor in evangelischer<br />

bzw. atheistischer Umgebung seine Kirchenbindung, andere aber bildeten<br />

lebensfähige Gemeinden, bei uns durch die katholischen Eichsfelder kräftig unterstützt,<br />

die heute in den Städten Thüringens, weniger in den ländlichen Gebieten,<br />

auch für die profane Öffentlichkeit zum Erscheinungsbild von Kirche gehören. Derzeit<br />

ist auch eine leichte Zuwanderung von Katholiken aus der Alt-Bundesrepublik<br />

bemerkbar, zumindest dort, wo es Arbeitsmöglichkeiten gibt. Diese bringen freilich<br />

oft eine andere, meist weniger intensive Kirchenbindung mit als frühere DDR-Katholiken<br />

gewohnt waren.<br />

Wir haben derzeit in allen östlichen Bundesländern, einschließlich Westberlins<br />

knapp 800 000 Katholiken. Im Bereich des Bistums Erfurt, das abzüglich eines katholischen<br />

Rhöndekanates und eines Diasporadekanates um Gera herum etwa mit<br />

29


30 Tagungsdokumentation<br />

dem politischen Land Thüringen identisch ist, leben derzeit ca. 160 000 Katholiken.<br />

Wir haben zur Zeit 72 Pfarreien bzw. Filialgemeinden, 114 aktive Weltpriester, 6 aktive<br />

Ordenspriester, 14 hauptamtliche Ständige Diakone im Dienst und 62 aktive Gemeindereferentinnen.<br />

Das caritative Leben ist reich entfaltet, es gibt Kindergärten,<br />

Altersheime, Behindertenheime und -schulen, auch Krankenhäuser, aber auch andere<br />

spezielle Dienste (etwa Beratungsdienste) mit vielen Laienmitarbeitern, weithin<br />

durch öffentliche Gelder refinanziert. Wir haben zwei Krankenhausschulen, eine Sozialfachschule,<br />

eine Altenpflegeausbildung und zwei Gymnasien, letztere erst nach<br />

der politischen Wende wiederbegründet. Für viele Besucher ist es oft verwunderlich,<br />

dass wir manche dieser Einrichtungen schon in den DDR-Jahren unterhalten haben,<br />

etwa Kindergärten. Aber das hing mit unserer besonderen deutsch-deutschen Situation<br />

zusammen, die den kommunistischen Machthabern im Osten meist nicht<br />

erlaubte, einfach alle Einrichtungen der Kirche zu schließen. Aber das im Einzelnen<br />

darzustellen, führt hier zu weit. 1<br />

2. Nach der politischen Wende und mit der deutschen Einheit wurden in einem erstaunlich<br />

schnellen Überlegungs- und Entscheidungsprozess die kirchlichen Jurisdiktionen<br />

geordnet, die bislang – seitens der Kirche bewusst – in einem gewissen<br />

Schwebezustand gehalten worden waren. Die DDR hatte seinerzeit auf Abtrennung<br />

der Kirchengebiete von den Westbistümern gedrängt, doch kam das letztendlich<br />

nicht zustande. Freilich gab es faktisch ein Eigenleben der östlichen Bistumsanteile<br />

(nur Meißen, jetzt Dresden-Meißen, war seit 1921 selbständiges Bistum, dazu natürlich<br />

das geteilte Bistum Berlin), dieses jedoch in engster Bindung an die Bistümer<br />

im Westen, geistig, geistlich – und nicht zuletzt – finanziell. Wir haben im Osten für<br />

vielfältigste Unterstützung durch die Katholiken des Westens und ihre Bischöfe zu<br />

danken. Wir konnten beispielsweise die Priesterausbildung in Erfurt aufbauen und<br />

aufrechterhalten, die theologische Entwicklung nach dem 2. Vatikanischen Konzil<br />

mit vollziehen und in mancher Hinsicht sowohl in Pastoral und Caritas mit relativ<br />

wenig Westgeld für östliche Verhältnisse effektiv viel bewirken. Ausdrücklich beziehe<br />

ich auch das Bonifatiuswerk in Paderborn in diesen Dank mit ein.<br />

Was die neuen Bistumsgründungen jetzt im Osten, trotz ihrer quantitativen<br />

Kleinheit signalisieren möchten, ist in keinem Fall die Tendenz zur Separierung vom<br />

Westen. Im Gegenteil: Wir sind strukturell und dem Wollen nach voll und ganz in<br />

die katholische Kirche Deutschlands hineingenommen. Da hatten wir Katholiken im<br />

Osten überhaupt keine Probleme (der Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR tat<br />

sich mit der Integration in die EKD m.E. schwerer). Was die Gründung der Bistümer<br />

Magdeburg, Görlitz und Erfurt signalisieren möchten, ist der Wille unserer Kirche,<br />

1 Vgl.: J. Pilvousek, Die katholische Kirche in der DDR, in: E. Gatz (Hrsg.) Kirche und Katholizismus seit 1945, Bd.1, Paderborn<br />

1998; G. Niemczik, Menschen auf dem Wege. Chronik der Caritasarbeit in Thüringen, Heiligenstadt 1996.


Tagungsdokumentation<br />

sich in den östlichen Ländern wirklich zu verwurzeln, gleichsam einzupflanzen. Wir<br />

wollen und müssen zu der im Osten vorfindlichen kulturellen und gesellschaftlichen<br />

Wirklichkeit „dazugehören“, und zwar so, wie wir sind, was nicht ausschließt,<br />

dass wir weiterhin auf die gesamtdeutsche Solidarität aller Katholiken angewiesen<br />

bleiben. Dabei steht mir vor Augen, dass wir katholischen Christen eine Minderheit<br />

von ca. 5-7 % an der Gesamtbevölkerung darstellen. Unsere evangelischen Kirchen<br />

im Osten mussten jetzt nach der Wende erschreckt feststellen, dass auch sie „Kirche<br />

in der Minderheit“ sind, im besten Falle vielleicht noch 20-25 %, wobei die Teilnahme<br />

am evangelisch-kirchlichen Leben zum Teil ganz schwach ausgeprägt ist.<br />

Das lenkt aber unseren Blick schon auf die innere Situation unserer Kirche. (vgl. II)<br />

3. Nur in Kürze sei der Blick auf die allgemeine gesellschaftliche Befindlichkeit in<br />

den neuen Ländern gelenkt. Ich möchte zunächst hervorheben, dass ich die durch<br />

das alte System verursachten geistigen Schäden, die meist nicht so offen zutage<br />

liegen, für schwerwiegender halte als die ökonomischen Probleme. Letztere wird<br />

man – vermutlich in einem längeren Zeitraum als gedacht – wohl in den Griff bekommen.<br />

Aber wird das auch gelten von dem, was Lüge und Halbwahrheit des<br />

alten ideologischen Systems in den Köpfen und Herzen der Menschen, besonders<br />

der jungen Leute, an Verbiegungen, Ausfällen und Wertblindheiten bewirkt haben?<br />

Ich nenne zwei Beispiele: Das Wort „Solidarität“, in der alten DDR hochgepriesen,<br />

ist ein Ideologie-Wort gewesen und in seinem positiven Gehalt überhaupt<br />

nicht angenommen worden. Die deutsch-polnische Aussöhnung etwa muss trotz<br />

der oft gefeierten Friedensgrenze an der Neiße im Osten Deutschlands noch in<br />

den Herzen der Menschen Wurzel fassen. Oder: Ich verweise auf die nachhaltige<br />

Schädigung des Verantwortungsbewusstseins des Einzelnen. Die Omnipotenz<br />

und Omnipräsenz des alten sozialistischen Staates bis in das Privatleben hinein<br />

hat hier zu Mängelerscheinungen geführt, die sich jetzt bemerkbar machen, etwa<br />

in der Hilflosigkeit, das eigene Leben gestaltend in die Hand zu nehmen bzw. in<br />

der falschen Erwartung an den Staat, für alle Probleme zuständig zu sein. Die<br />

überzogenen Erwartungen an die Politik sind die Kehrseite der eigenen langjährigen<br />

Entwöhnung von politischem Denken und Handeln. Die Gesellschaft im Osten<br />

wird noch lange an den Folgen solcher geistigen Schädigungen zu laborieren<br />

haben.<br />

Kennzeichnend für die derzeitige Situation in den neuen Ländern ist ein Prozess<br />

der beschleunigten „Nachmodernisierung“. Was sich im Westen über 40<br />

Jahre langsam, wenn auch dort nicht ohne Brüche und Spannungen, aber doch<br />

letztendlich kontinuierlich entwickelte und ausdifferenzierte, das rollte bzw.<br />

rollt noch jetzt im Osten wie eine Sturzflut über uns hinweg. Man muss sich das<br />

einmal konkret vorstellen, was ein ehemaliger DDR-Bürger an Lernprozessen zu<br />

31


32 Tagungsdokumentation<br />

bewältigen hatte: zum einen die berufliche Nach- und Umschulung, der sich viele<br />

unterziehen mussten, zum anderen die „Umpolung“ in den meisten alltäglichen<br />

Lebensbereichen, vom Mietrecht angefangen über Eigentumsfragen, Umgang mit<br />

Banken und Krediten, mit neuen Behörden und Formularen, bis hin zum Staunen<br />

über eine merkwürdig verbürokratisierte Justiz und ein Parteiengezänk, das sofort<br />

auch bei uns „Westniveau“ erreicht hatte. Die gesellschaftlichen „Freisetzungen“,<br />

die gleichsam über Nacht und nahezu unvorbereitet die östliche Bevölkerung erreichten,<br />

wurden zwar sicherlich von den meisten vordergründig begrüßt, aber<br />

nicht immer wirklich bewältigt. Viele kamen und kommen mit den neugewonnenen<br />

Freiheiten nicht zurande bzw. gerieten in neue Zwänge, deren Ursachen sie<br />

nicht durchschauten oder denen sie sich nicht entziehen konnten. Ich denke hier<br />

an die älteren Arbeitnehmer, die arbeitslos geworden waren und nicht mehr vermittelt<br />

werden konnten. Ich denke an die oft noch unerfahrene Jugend, die sich<br />

umworben sah von einer Angebotsindustrie, die mit allen trickreichen Mitteln um<br />

Marktanteile kämpfte, aber auch anderen geistigen „Anbietern“, die mit dubiosen<br />

Parolen und Verheißungen um Gefolgschaft warben. Solche Erfahrungen prägen<br />

derzeit die innere Atmosphäre in unserem Land: “Ja – aber ...!“ Ja, wir haben die<br />

Wende gewollt, und wir stehen zu ihr – aber wir haben nicht alles gewollt, was mit<br />

dem Umschwung unser Land und die Menschen überrollte.<br />

Das Spezifische an der beschleunigten Nachmodernisierung, der der Osten<br />

Deutschlands ausgesetzt ist, könnte meines Erachtens in diesen drei Stichworten<br />

eingefangen werden:<br />

(1) Nachholbedarf<br />

Es gibt angesichts der in der alten DDR-Entwicklung angestauten gesellschaftlichen<br />

Probleme jetzt einen Nachholbedarf an Modernisierung, der stärkste wirtschaftliche,<br />

aber eben auch kulturelle und geistige Turbulenzen auslöst. Der Individualisierungsschub,<br />

der auch im Westen erkennbar ist, greift im Osten noch<br />

drastischer. Die sozialen und psychologischen Sicherheiten, die das alte System<br />

(oft unter ideologischen Vorzeichen) geboten hatte, sind entfallen. Die neuen sozialen<br />

Netze greifen erst langsam bzw. die Menschen lernen nur schwer, sich darin<br />

zurechtzufinden. Kennzeichnend etwa sind die starken Rückgänge der Geburten,<br />

mehr noch als in den Kriegsjahren 1941-1945. Man ist sich der Zukunft nicht sicher,<br />

doch gibt es andererseits einen Lebenshunger, der möglichst jetzt und sofort das<br />

nachholen möchte, was bislang nicht möglich war. Die Reisebüros z. B. haben<br />

immer noch Hochkonjunktur – trotz höherer Arbeitslosigkeit. Im Bild: Es ist wie<br />

bei einem Strafgefangenen, der unvermittelt mit der Freiheit konfrontiert wird.<br />

Die „geordnete“ Gefängnissituation erscheint in der „Zugluft“ der Freiheit unter<br />

Umständen romantisch verklärt. Manche Kräfte machen damit politisch Kapital.


(2) Östliche Inferioritätskomplexe<br />

Tagungsdokumentation<br />

Auch das möchte ich ansprechen, weil es ein Spezifikum unserer Situation<br />

ist. Der Ost-West-Gegensatz bestimmt das alltägliche Denken und Verhalten der<br />

Menschen. Wenn auch manches sich jetzt schon verwischt und angleicht: Die östliche<br />

Grundgestimmtheit ist von einem tief eingefressenen Verdacht bestimmt,<br />

von den „Wessis“ nicht ernst genommen zu werden, politisch, wirtschaftlich,<br />

wissenschaftlich, kulturell usw. Angesichts des West-Ost-Gefälles meint man<br />

sich immer wieder behaupten und verteidigen zu müssen. Wenn es humorvoll<br />

geht, mag es angehen, wie das Msgr. Karl-Heinz Ducke einmal gesagt hat: Wir<br />

im Osten hatten zwar kein silbernes Essbesteck wie die im Westen, sondern nur<br />

eines aus Aluminium, aber die Bewegungen beim Essen waren die gleichen! Oftmals<br />

schwingt aber auch Bitterkeit in der Reaktion mit, die sich dann auf den<br />

gesellschaftlichen Alltag und die innere Gestimmtheit belastend auswirkt.<br />

Ich darf hier nur nebenbei, aber dankbar anmerken, dass gerade unsere Kirche<br />

und die von ihr und unseren Katholiken getragenen und auch jetzt wieder stabiler<br />

gewordenen Verbindungen zwischen West und Ost viel zum Abbau solcher<br />

Ressentiments und Minderwertigkeitskomplexe beigetragen haben und beitragen.<br />

Der biographische und institutionelle Austausch von Menschen, die sich im<br />

gemeinsamen Gottesglauben verbunden wissen, bewährte sich auch in dieser<br />

besonderen geschichtlichen Stunde unseres Volkes.<br />

(3) Geistige Orientierungslosigkeit<br />

An dieser Stelle ist zu sprechen von der Problematik, die meines Erachtens<br />

die schwerwiegendste Frage für uns im Osten war und ist: Wer wird das Vakuum<br />

ausfüllen, das durch den Zusammenbruch des alten ideologischen Systems entstanden<br />

ist? Dieses System hatte zwar zuletzt immer mehr an innerer Überzeugungskraft<br />

verloren, aber es hatte eine Mehrzahl von Menschen, die ihre religiöse<br />

Beheimatung in den evangelischen Landeskirchen bzw. auch im katholischen<br />

Glauben verloren hatten, mit einem merkwürdigen quasi-religiösen Welt- und<br />

Lebensbild aufgefangen, das – denken wir nur an das Ritual der Jugendweihe –<br />

nahezu Züge einer atheistisch grundierten Zivilreligion angenommen hatte. Diese,<br />

zum Teil auch durch Anleihen aus einem kleinbürgerlichen, sozialistischen<br />

Humanismus angereicherte Lebensphilosophie des alten DDR-Bürgers ist zusammengebrochen.<br />

Es zeigt sich nun, dass unter dem Firnis der sozialistischen „Kultur“ oft keine<br />

echten tragenden Werte vorhanden sind. Meist ist es ein blanker Materialismus,<br />

der das Handeln und Urteilen bestimmt, manchmal sind es auch obskure, irrati-<br />

33


34 Tagungsdokumentation<br />

onale Heilslehren, die hier und dort Anhänger finden. Die innere Orientierungslosigkeit<br />

ist groß. Auch der Blick gen Westen ist da für nachdenkliche Menschen<br />

nicht sonderlich hilfreich. Erblicken die Menschen im Westen in unserer östlichen<br />

Situation oft ihre eigene Vergangenheit, sehen manche im Osten in der Situation<br />

drüben ihre Zukunft. Aber wenn man nicht gerade im steigenden Bruttosozialprodukt<br />

den Wertmesser für die innere Qualität einer Gesellschaft sieht, stimmt<br />

eine solche Einschätzung auch nicht gerade heiter!<br />

Es wird noch ein langer Weg sein, in der Breite der ostdeutschen Bevölkerung<br />

etwa auch eine Akzeptanz für die parlamentarische Demokratie zu schaffen, für<br />

die Staatsform mit klarer Gewaltenteilung und mit ökonomischen Leitvorstellungen,<br />

die eine komplizierte Balance zwischen sozialer Absicherung und wirtschaftlicher<br />

Effizienz zum Ziel haben. Angesichts der anhaltenden Probleme der<br />

innerdeutschen Einigung, etwa angesichts der sich verschärfenden Verteilungskämpfe,<br />

wird sich diese Herausforderung auch im Westen stellen. Es geht nicht<br />

ohne Vorgabe von Werten. Und ein Staat, geschweige denn eine Ideologie kann<br />

diese nicht hervorbringen, es sei denn um den Preis der Freiheit. Wir im Osten<br />

werden, um es auf eine Formel zu bringen, nach und nach die jahrzehntelange<br />

gesellschaftliche „Denk-Entwöhnung“ überwinden müssen, und im Westen<br />

wird man wohl gegen die jetzt zutage tretende „Denk-Verfettung“ in Politik und<br />

Wirtschaft angehen müssen, die die gesellschaftspolitische Visionsfähigkeit<br />

schrumpfen lässt.<br />

So oder ähnlich wäre „holzschnittartig“ die augenblickliche innere „Gestimmtheit“<br />

eines nachdenklichen Ostbürgers im Blick auf die gesellschaftliche Situation<br />

zu beschreiben, wobei dieser hin- und hergerissen ist zwischen der klaren<br />

Erkenntnis der eigenen defizitären Vergangenheit und dem Gespür, dass wohl<br />

auch nicht alles Gold ist, was da im Westen (und nun bei uns aus dem Westen)<br />

glitzert und glänzt. Wer so bis in die Mitte seiner Existenz verunsichert ist, beraubt<br />

alter Selbstverständlichkeiten, losgelöst aus vertrauten Handlungsmustern<br />

und herausgerissen aus dem Gefüge eines „Betreuungsstaates“, an dessen<br />

sozialistischer Brust alle geborgen sein sollten – der braucht schon ein starkes<br />

Selbstbewusstsein und ein Wertgefüge, das über die Anpassungszwänge des Alltäglichen<br />

hinausreicht. Kann da die Kirche einen Halt bieten?<br />

II. Probleme für die seelsorgliche Arbeit und<br />

das kirchliche Leben in den neuen Ländern<br />

Ehe wir einige Punkte bedenken, in welcher Weise unsere Kirche auf diese Situation<br />

antworten sollte, muss ich deutlich die wichtigsten Probleme unseres<br />

ortskirchlichen Lebens ansprechen. Ich versuche dies in Stichworten anzudeuten:


Tagungsdokumentation<br />

1. Die in der ostdeutschen Mentalität tief verwurzelte Kirchenferne<br />

Manche Besucher aus dem Westen meinten, dass nach der Wende, nach so langer<br />

Unterdrückung allen religiösen und teilweise auch kirchlichen Lebens im Osten<br />

ein Zustrom zu den Kirchen einsetzen müsste. Für Kenner der inneren Mentalität<br />

im Osten war freilich schon vorher klar: Die Ostdeutschen sind „religiös unmusikalisch“<br />

und Kirche ist für sie, wenn nicht Exotisches, so doch zumindest etwas<br />

sehr Fremdes, Unverständliches. Es gibt manche kluge Abhandlungen zu diesem<br />

Befund. In der Diagnose sind sich die meisten Beobachter einig, weniger in der<br />

Darlegung der Ursachen für diesen Befund, geschweige denn in der Therapie. Wir<br />

müssen realistischerweise damit rechnen, dass die Breite der Bevölkerung in den<br />

neuen Bundesländern, verursacht durch Indoktrination, aber auch durch Gewöhnung<br />

an eine totale religiös-kirchliche Abstinenz, für absehbare Zeit kaum Zugang<br />

zu einem religiösen, geschweige denn kirchlich geprägten Gottesglauben finden<br />

wird. Auch das sei am Rande vermerkt: Im Osten „dampft“ es nicht vor lauter Religiosität!<br />

Es mag einige wenige neureligiöse Zirkel und Grüppchen geben, doch<br />

spielen diese in der Breite der Bevölkerung Ost, so meine ich, keine Rolle.<br />

Das mag zum einen damit zusammenhängen, dass die Akzeptanz der westlichen<br />

Lebenswerte samt ihrer Träger ohnehin im Osten nachgelassen hat, zum anderen<br />

mag es auch eine gewisse Trotzhaltung sein, die sagt: Alles hat uns Ostleuten der<br />

Westen genommen – aber unseren Atheismus, den lassen wir uns nicht nehmen!<br />

(so eine These von E. Neubert „... gründlich ausgetrieben“, Berlin 1996). Das mag ein<br />

wenig überspitzt formuliert sein, aber ich halte diese Herleitung der ostdeutschen<br />

Religions- und Kirchenferne zumindest zum Teil für berechtigt. Der Atheismus ist<br />

bei uns im Osten schon seit drei bis vier Generationen biographisch vererbt, oft<br />

schon aus der Vorkriegszeit. Doch möchte ich hinzufügen: Der explizite Atheismus<br />

ist besonders nach der Wende durchsetzt von einem müden, zum Teil resignativen<br />

Skeptizismus oder Agnostizismus. Wirklicher Atheismus ist ja intellektuell<br />

viel zu anstrengend. Die Menschen im Osten sind weithin eher weltanschauliche<br />

„Lebenskünstler“, die sich ihre Grundüberzeugungen, wenn sie überhaupt welche<br />

haben (wollen), selbst zusammenbasteln – aus Vorurteilen, aus eigenen biographischen<br />

Erfahrungen, aus Bildungsresten der alten DDR-Schule, aus Anleihen aus<br />

dem westlichen Positivismus usw. Wir Kirchen treffen im Osten beileibe nicht nur<br />

auf Ablehnung. Das auch. Aber daneben gibt es durchaus auch Neugier, Interesse,<br />

freundliche Anteilnahme – aber eben selten wirkliche Lebensumkehr aus dem<br />

christlichen Gottesglauben heraus.<br />

35


36 Tagungsdokumentation<br />

2. Kirchlich-katholische Binnenorientierung<br />

Damit meine ich eine durch die lange, zwei bis drei Generationen währende Kampfsituation<br />

der Gläubigen und der Kirche insgesamt sich herausgebildete katholische<br />

Haltung der „Einigelung“. Positiv könnte man dies nennen: „Schulterschlussgemeinschaft“<br />

– in ihr erträgt man ja leichter Benachteiligung und Schikanen, negativ muss<br />

man das aber deutlich als strukturelle Schwäche erkennen, eben als „Einigelung“, die<br />

in der Gefahr steht, die umgebende gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr richtig<br />

wahrzunehmen bzw. ihr gerecht zu werden.<br />

Das zeigte sich schlaglichtartig nach der Wende, als es darum ging, bestimmte<br />

Lebensformen des im Westen gewachsenen katholischen Lebens im Osten zu übernehmen:<br />

Verbandsarbeit, schulischen Religionsunterricht, Medienpräsenz, Dialog<br />

mit Kultur und Wissenschaft usw. Sicherlich hat unsere mangelnde Kompetenz auf<br />

solchen Feldern, die den innerkirchlichen Lebensraum überschreiten, mit unserer<br />

fehlenden Erfahrung zu tun, auch z. T. mit unserer quantitativen Schwäche, aber<br />

auch und vor allem mit unserer geistigen und geistlichen Einstellung, die weniger<br />

auf Öffnung und Dialog mit der Umwelt aus war als auf Abgrenzung und Selbstbewahrung.<br />

Diese Stichworte bezeichnen, auf die Spitze und ins Extrem getrieben,<br />

eine pastoral-kirchliche Grundoption, die freilich so chemisch rein und isoliert nicht<br />

existierte. Es gab auch damals durchaus ein Hineinwirken der Kirche in die Gesellschaft.<br />

Ich denke da allein an unsere caritativen Einrichtungen, auch an die öffentlichen<br />

Wallfahrten und Jubiläen, später dann vor allem an das Katholikentreffen 1987<br />

in Dresden, und nicht zu vergessen ist die katholische Mitbeteiligung an den drei<br />

Ökumenischen Versammlungen kurz vor dem Herbst 1989 in Dresden und Magdeburg.<br />

Doch wollte ich einfach aufmerksam machen auf eine strukturelle und geistige<br />

Schwäche unseres östlichen Diasporakatholizismus: Wir sind zu wenig oder kaum<br />

ausgerichtet auf eine geistige und geistliche Präsenz, die angriffig ist, die anregen<br />

will, die auf andere abzielt, die mehr bewegen als bewahren will. Wir stellen nicht<br />

„das Licht auf den Leuchter“ (so ein pastorales Schwerpunktthema vor einigen Jahren<br />

in unserem Bistum). Damit meine ich nicht unser eigenes Licht, sondern das Licht<br />

eines Gottesglaubens, das auch wir geschenkt bekommen haben, das uns – Gläubige<br />

wie Ungläubige – gemeinsam erleuchten will.<br />

3. Kirchliche Umstellungsprobleme nach der Wende<br />

Nach der Wende meinte ich noch etwas blauäugig, das kirchliche Leben bleibe<br />

doch weithin von den Turbulenzen der gesellschaftlichen Wende verschont. Wir<br />

mussten ja nicht unser Credo ändern, und auch das Kirchenjahr blieb uns erhalten.<br />

Aber ich habe inzwischen mein Urteil gründlich revidiert: Auch unser kirchliches<br />

Leben ist mit hineingezogen in jene Umstellungen, die eine offene, demokratische,


Tagungsdokumentation<br />

aber auch liberale Gesellschaft hervorruft. Ich verweise in diesem Zusammenhang<br />

einfach auf jene Lernprozesse, die uns die Übernahme der westlichen kirchlichen<br />

Strukturen bescherte: ein geordnetes, aber auch uns bindendes Staat-Kirche-Verhältnis,<br />

Militärseelsorge, Präsenz in den Schulen und in der Erwachsenenbildung,<br />

Verbandswesen, Caritas als eigenständiger öffentlicher Wohlfahrtsverband, der<br />

zwar öffentliche Gelder empfängt, dies aber auch abrechnen muss, überhaupt der<br />

heilsame Zwang, die Realität der Finanzierung des kirchlichen Lebens ernst zu nehmen<br />

... Manches ist sehr erfreulich und auch schnell als Lernprozess gelaufen, etwa<br />

gerade im Caritasbereich, aber auch bei der Gründung von Schulen, im Gespräch<br />

mit der Politik (in der wir mehr Gewicht haben als unsere schmale Bevölkerungsbasis<br />

vermuten lässt), im Umgang mit den Medien u. a. mehr. Der „mdr“ z. B. ist ein<br />

für kirchliche Belange erstaunlich offenes Medium, nicht zuletzt dank so mancher<br />

Christen, die dort Verantwortung tragen. Dennoch ist zu sehen: Wir haben gerade<br />

jetzt, in einer Situation des Umbruchs und des Neuanfangs, in einer Situation, in<br />

der gleichsam der gesellschaftliche Acker umgepflügt wird, mehr Möglichkeiten als<br />

wir wahrnehmen. Im gewissen Sinn gilt das natürlich für alle kirchenhistorischen<br />

Situationen. Aber die Nachwendesituation in den neuen Ländern ist weithin noch<br />

nicht so verfestigt und verkrustet, wie das z. T. im Westen der Fall ist. Hier ist noch<br />

manches „flüssig“, geistig und auch strukturell beweglich, wenn wir denn wach<br />

sind und einsatzbereit.<br />

Hier markiere ich auch den Punkt, wo ich immer wieder in den Diözesen des<br />

Westens um geistige und geistliche Hilfe bitte: Die Kirche im Osten braucht gerade<br />

jetzt weitere Solidarität, eben nicht nur finanziell, sondern auch personell und ideell.<br />

Wir sind im Osten geistig und kirchlich gesehen ein Frontabschnitt, in dem sich<br />

auch für die katholische Etappe im Rheinland und in Bayern viel entscheiden wird.<br />

Sicher: Auch in München und in der geistigen Luft einer Geldstadt wie Frankfurt am<br />

Main oder einer liberalen Universität wie Göttingen ist die Kirche auf dem Kampffeld.<br />

Aber im Osten wird sich, so meine ich, exemplarisch entscheiden, ob die Verkündigung<br />

des Evangeliums, und zwar als kirchliche Verkündigung, einen Fuß auf<br />

den Boden bekommt oder nicht. Im Osten wird die Kirche die Kräfte entbinden<br />

müssen, die dem Evangelium in der postmodernen Gesellschaft neuen Glanz zu<br />

geben vermögen. Aber damit meine ich eben nicht die kirchlichen Kräfte im Osten<br />

allein, sondern ich meine alle in Ost und West, die spüren, es sei an der Zeit, dass<br />

sich mit unserer Kirche und der Art, wie wir Kirche sind, etwas ändern muss. Die<br />

neuen Länder müssten für den deutschen Katholizismus, für seine besten Kräfte,<br />

noch stärker als Herausforderung in den Blick kommen. Ich meine, dass die Orden<br />

z. T. die Herausforderung der Stunde erkannt haben und mit ihren oft auch schwachen<br />

Kräften im Osten gut eingestiegen sind und neue pastorale Möglichkeiten<br />

erkunden. Ich werbe sehr dafür, dass diese Einstellung Nachahmung finden möge.<br />

37


38 Tagungsdokumentation<br />

4. Allgemeine Verunsicherung bezüglich unseres kirchlichen Auftrags<br />

Wenn ich das so schildere, wird mir bewusst, wie sehr wir auch im Osten hineingezogen<br />

sind in die derzeit zu beobachtende allgemeine Verunsicherung unserer Ortskirchen.<br />

Das ist oft beschrieben und analysiert worden. Diese Verunsicherung hat<br />

natürlich zu tun mit einem tief greifenden kulturellen Umbruch, der einen nachhaltigen<br />

Schub an „Freisetzung“ hervorbringt, dessen Abschluss noch lange nicht erreicht<br />

ist. Ich bringe es auf die Formel: Der Mensch ist verurteilt dazu, ohne Vorgaben leben<br />

zu müssen. Ihm schwinden die tragenden Fundamente, auf denen sich individuelles<br />

und soziales Leben aufbauen und entfalten kann. (F.-X. Kaufmann: „Verlust der Zentralperspektive“).<br />

Zu diesen schwindenden Vorgaben gehört eben auch die christliche<br />

Tradition. Ich erinnere noch einmal an die Diskussion zum Holocaustdenkmal in<br />

Berlin: bezeichnend etwa der Einwand von Habermas gegen den Vorschlag Richard<br />

Schröders, der bekanntlich angeregt hat, das biblische Gebot „Du sollst nicht töten“<br />

in hebräischen Lettern am Denkmal anzubringen. Habermas meinte, neben dem<br />

verbreiteten Argument, das werde der Singularität des Holocaust-Geschehens nicht<br />

gerecht: Heute könne man eben beim Mordverbot nicht mehr begründend auf eine<br />

religiöse Tradition zurückgreifen. Sicher: Wir Kirchen dürfen uns das Recht zur ethischen<br />

Mahnung nicht nehmen lassen. Aber wir müssen damit rechnen, dass wir diese<br />

unseren Zeitgenossen nicht allein religiös begründen können. Hier liegt die Herausforderung<br />

der Stunde, auf die wir im Grunde noch keine Antwort wissen. Also doch<br />

„nicht-religiös“ von Gott sprechen (Bonhoeffer)? Oder „steil von oben her“ von Gott<br />

sprechen, so dass Gott nur als Negation einer zu verwerfenden Welt vermittelt wird<br />

(so evangelikale Wege)? Oder nur im Modus der Anknüpfung an menschliche Sehnsüchte<br />

und Ansprüche oder gar nur der Ausweitung und Ausreizung einer innerweltlich<br />

bleibenden Transzendenz des Menschen, wie es die neu-religiösen Bewegungen<br />

versuchen? Fragen über Fragen.<br />

Dass es keine, zumindest derzeit schlüssigen Antworten gibt, macht mich weniger<br />

besorgt. Das ist ja ein Kennzeichen von Umbruchzeiten, in denen alte Horizonte<br />

versinken, aber die neuen noch nicht erkennbar sind. Was mich besorgt sein lässt,<br />

ist vielmehr die Ahnung der Möglichkeit, dass das religiöse Fragen überhaupt verstummt.<br />

Friedrich Nietzsche ist heute wohl aktueller als am Ende des vorigen Jahrhunderts<br />

(vgl. die Positionen von Sloterdijk), zumindest prophetischer als der Marxismus,<br />

der letztlich noch eine Zukunftsvision hatte, freilich rein innerweltlich, eine<br />

Art „Christentum ohne Gott“. Nietzsche dagegen sah schon den „blinzelnden“ Menschen,<br />

der alles durchschaut – bis er am Ende überhaupt nichts mehr sieht. Er sah den<br />

Menschen, der sich seine Lebenswohnung so mit den Produkten seiner Hände und<br />

seines Geistes voll gestellt hat, dass er Gottes nicht mehr ansichtig wird.


Tagungsdokumentation<br />

Darum ist das die wahre Herausforderung unserer Kirche: nicht die Kirchenfrage,<br />

sondern die Gottesfrage. Wir sind gehalten, wieder das Evangelium völlig neu zu entdecken,<br />

vermutlich an der Hand des Lehrers Jesus selbst, im Rückgriff über alle kirchlichen<br />

Traditionen hinweg – die wir als Korrektive brauchen, die aber so nicht mehr<br />

Glaubensleben wecken können.<br />

Wenn ich das so formuliere, wird klar, dass es die von uns machbaren Chancen<br />

für das Evangelium gar nicht gibt. Es gibt nur jenen kairos, den Gott jeder Zeit neu<br />

schenkt. Was wir tun können, ist, noch redlicher die geistige Situation der Zeit wahrzunehmen,<br />

keinen Illusionen nachzujagen, uns zu konzentrieren auf das Wesentliche<br />

und Zentrale dessen, warum es Kirche überhaupt gibt. Wir müssen überzeugt sein,<br />

dass wir, wirklich nur wir (genauer gesagt: nicht wir, sondern Gottes Geist durch uns)<br />

den Menschen auch heute die über Tod oder Leben entscheidende Wahrheit auszurichten<br />

hat. Diese Überzeugung mangelt uns. Und darum wissen wir auch nicht,<br />

wie wir diese Botschaft zu sagen haben. Das wird sich ändern, sobald wir selbst das<br />

Evangelium neu begriffen haben, oder besser: es uns ergriffen und verändert hat.<br />

Anzeichen für eine solche neue Sauerteigbildung innerhalb der Christenheit gibt es.<br />

III. Chancen und Aufgaben kirchlich-katholischen Lebens<br />

in den neuen Ländern<br />

Diese Überlegungen vorausgesetzt, versuche ich einige wenige Hinweise zu geben,<br />

was sich uns, aber wohl eben nicht nur uns im Osten, an neuen Chancen und Möglichkeiten<br />

kirchlichen Wirkens auftut. Wohlgemerkt: Wir stochern im Nebel – aber an<br />

manchen Stellen stoßen wir nicht nur auf Betonwände. Manchmal lichtet sich der<br />

Nebel ein wenig und man erkennt, dass es weiterführende Wege zu geben scheint.<br />

Was uns als Kirchen in Ost und West gemeinsam entgegenkommt ist, so meine ich zu<br />

beobachten, das Ende einer gewissen gesellschaftlichen „Sattheit“. Eine neue Nachdenklichkeit<br />

kehrt ein, die besorgt fragt: Wie kann und wird es mit unserer gesellschaftlichen<br />

Entwicklung weitergehen? Der Tradierungsabbruch trifft ja nicht nur die<br />

Kirche(n). Auch andere gesellschaftliche Institutionen, einschließlich der Ehen und<br />

Familien, sind im Umbruch. Diese Fragen sind immer öfter zu hören: Was hält eigentlich<br />

die Gesellschaft, die Parteien, die Gewerkschaften usw. zusammen? Wie ist<br />

angesichts der auseinanderdriftenden Tendenzen ein gesellschaftlicher Konsens, der<br />

Zukunft sichert, noch möglich? Vermutlich stehen wir vor einer neuen Grundwertediskussion,<br />

in der der Beitrag der Kirche durchaus auch Aufmerksamkeit finden wird,<br />

wenn er sich denn argumentativ präsentiert und sich einer offenen Diskussion stellt.<br />

Meine Überlegungen für den Weg unserer Kirche heute und morgen mache ich an<br />

drei Stichworten fest:<br />

39


40 Tagungsdokumentation<br />

1. Konzentrieren<br />

a) Im Bereich der „verfassten“ Kirche<br />

Unser ortskirchliches Leben im Osten wird nicht umhinkommen, sich auf zentrale<br />

Punkte des kirchlichen Lebens zu konzentrieren. Ähnlich wie in den westlichen Diözesen,<br />

in denen es in naher Zukunft vermutlich nicht ganz ohne Abbau kirchlicher<br />

Aufgabenbereiche abgehen wird, müssen auch wir uns im Osten sorgfältig überlegen,<br />

was wir im Bereich der Verkündigung, der Liturgie, des Gemeindeaufbaus, der<br />

Caritas, der gesellschaftlichen Diakonie usw. festhalten wollen. Das muss angesichts<br />

der geringer werdenden Finanzierungsmöglichkeiten nüchtern durchgerechnet werden.<br />

Diese Konzentration betrifft vor allem den Bereich der verfassten Kirche, also<br />

den Bereich, in dem mit bezahlten Kräften gearbeitet wird. Wir haben im Bistum zum<br />

Beispiel einen unseren Möglichkeiten angepassten Personalschlüssel für den Seelsorgebereich<br />

erarbeitet, den wir mittelfristig umsetzen wollen.<br />

Sicherlich geht es bei uns – wie überall – zunächst um die Grundsicherung des ortskirchlichen<br />

Lebens. Dazu gehören solche Aufgaben wie die Besoldung der Geistlichen<br />

und des weiteren Seelsorgepersonals, die Pensionsverpflichtungen, die Zuschüsse an<br />

die Gemeinden, die Aufrechterhaltung der Verwaltung, die Zuschüsse an die Caritas,<br />

die Erhaltung der Bausubstanz usw. Über die Absicherung des Existenzminimums<br />

hinaus stellt sich freilich die Frage, welche besonderen Schwerpunkte wir in unserem<br />

ortskirchlichen Leben im Osten setzen wollen. Da wären Aufgaben zu benennen, die<br />

im gewissen Sinn auch im Gesamtinteresse unserer Kirche in Deutschland liegen,<br />

etwa die Arbeit unserer Bildungshäuser, der Kindergärten, der katholischen Schulen,<br />

unserer theologischen Fakultät in Erfurt, die Sonderseelsorge, die Öffentlichkeitsarbeit<br />

und anderes mehr. Wir können sicher nicht alles Wünschenswerte machen, doch<br />

im Sinne einer echten Präsenz, die evangelisierende Wirkung hat, können wir uns<br />

nicht nur in der Sakristei verstecken. Dabei liegt mir freilich die qualitative Präsenz<br />

mehr am Herzen als die quantitative!<br />

b) Theologische „Konzentration“<br />

Über diese nüchternen Überlegungen hinaus bewegt mich die Frage, ob wir nicht<br />

auch in einem noch tieferen, theologischen Sinn uns auf die zentralen Aufgaben des<br />

Kirche-Seins konzentrieren müssten. Die Leitfrage dabei sollte sein: Was ist der Auftrag<br />

unseres Herrn? und weiter (im Blick auf die „verfasste“ Kirche und deren Aktivitäten):<br />

Was kann uns von niemand anderem abgenommen werden? Was können<br />

nur wir als Kirche tun? Zum Beispiel: Gottesdienst feiern, das Kirchenjahr mit seinen<br />

Festen prägen; Kindern und Sterbenden Gott vor Augen stellen (das können gottlob<br />

alle Christenmenschen, nicht nur Pfarrer) usw. Vor allem müssten wir darauf achten,<br />

dass unsere Aktivitäten wirklich mit dem Evangelium, letztlich mit Jesus Christus<br />

selbst in Berührung bringen.


Tagungsdokumentation<br />

Es gibt seitens der profanen Gesellschaft die Tendenz, die Kirchen als „religiöse<br />

Dienstleister“ zu vereinnahmen. Zugespitzt formuliert: Wir haben die Leute nicht religiös<br />

zu bedienen, sondern sie mit Jesus Christus und seiner Botschaft in Berührung<br />

zu bringen. Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen, mit Worten und durch<br />

Taten, direkt und indirekt, mehr im Modus der Anknüpfung, manchmal aber auch<br />

im Modus des Widerspruchs und der Warnung. Ist eine kirchlich getragene exzessive<br />

Bildungsarbeit, wie sie z. T. in unseren Häusern geleistet wird, wirklich notwendig?<br />

Nur weil sie mit öffentlichen Geldern gestützt wird? Im Einzelfall ist freilich eine Entscheidung<br />

oft schwierig.<br />

Für mich gilt als ein Kriterium: Löst unsere kirchliche Präsenz etwas aus in Richtung<br />

der Kontaktnahme mit dem Evangelium Christi? Ist unser Tun so, dass ein<br />

„Weg“ eröffnet wird, dass es zum Nachdenken und zur Selbstbesinnung kommt? Erweitert<br />

unser Tun den Lebens- und Welthorizont der Mitmenschen, hilft es ihnen, die<br />

erfahrenen Realitäten „österlich“ zu deuten (z. B. bei Traueranlässen)? – Dies führt<br />

uns schon zu dem zweiten Stichwort:<br />

2. Profilieren<br />

Unsere kirchliche Präsenz in der Gesellschaft muss profiliert sein. Wir dürfen uns<br />

weder anbiedern noch anpassen, aber wir sollten uns auch nicht verstecken. In den<br />

neuen Ländern müssen wir nüchtern mit einer sehr großen Fremdheit der Menschen<br />

allem Kirchlichen gegenüber rechnen. Das ist hier anders als in der „Altbundesrepublik“.<br />

Auch ist hier bei uns die Angst der Leute groß, „vereinnahmt“ zu werden. Die<br />

Wege der Menschen zur Kirche sind hier länger und das Terrain steiniger. Aber einen<br />

Vorteil haben wir vielleicht im Osten: Es gibt hier vermutlich weniger kirchlich „hausgemachte“<br />

Vorurteile und Missverständnisse. Die Menschen sind unbelasteter von<br />

negativen Kirchenerfahrungen, zumindest was ihre eigene Biographie betrifft. Die<br />

Negativeinflüsse einer einseitigen Mediendarstellung von Kirche nehme ich dabei<br />

aus. Freilich: Die Resistenz, die Widerstandskraft gegenüber dem Verdummungseffekt<br />

ungefilterten und unkritischen Mediengebrauchs gehört zum modernen Christsein.<br />

Ein weiterer Vorteil unseres ortskirchlichen Lebens: Im Normalfall haben wir weniger<br />

kirchliche „Institutionen“ als anderswo. Menschen wollen heutzutage „Gesichter“<br />

sehen, keine Werbezettel in die Hand gedrückt bekommen. Jedes „Ansprechen“<br />

von Menschen geht nur über den Weg persönlicher Begegnung, wobei im<br />

Vorfeld sicher bedacht werden muss, wie man Räume schaffen kann, in denen das<br />

dann erfolgen kann: das Gespräch von Mensch zu Mensch. Unsere Motivation bei<br />

diesem „missionarischen Zeugnis“ muss sein: den Menschen den Heilsweg zu Christus<br />

und seinem Wort hin eröffnen zu wollen. Es geht uns nicht vordergründig um<br />

41


42 Tagungsdokumentation<br />

„Mitgliederwerbung“. Es soll uns um das „Heil-Werden“ unserer Mitmenschen gehen.<br />

Wenn wir das so sagen, spüren wir, dass dies uns selbst auf den Prüfstand stellt:<br />

Glauben wir selbst wirklich daran, dass die Christusberührung uns (in einem ganz<br />

tiefen Sinn) „heil“ macht? Haben wir „österliche Augen“, mit denen wir anders als die<br />

Ungläubigen auf diese Welt und unser Leben schauen können, auch auf das unserer<br />

Mitmenschen? Sehen wir „mehr“ als andere? Diese Einstellung wird uns helfen, eine<br />

gewisse „Absichtslosigkeit“ in der Begegnung mit Nichtgetauften durchzuhalten. (In<br />

Frankreich sagt man: gratuité). Wir stehen nicht unter „Erfolgsdruck“. Die eigentliche<br />

Bekehrung bewirkt ohnehin der Geist Gottes. Wir sind „Zuarbeiter“! Wir leisten<br />

„Hebammen-Dienste“!<br />

Das bedeutet: Das Vorhaben, „offene“, wegweisende und gastfreundliche Kirche<br />

zu sein, erfordert von uns eine ständige „Selbstevangelisierung“. Indem wir andere<br />

einladen, müssen wir uns selbst verändern, und zwar im Sinne einer immer tieferen<br />

Christus-Verähnlichung. Wir müssen immer mehr lernen, mit den Augen Christi zu<br />

sehen, mit seinem Herzen zu fühlen. Da gibt es keinen Rollenunterschied zwischen<br />

„Hauptamtlichen“ (Geweihten und Nichtgeweihten) und den Gläubigen ohne „Amt“.<br />

Die in der Seelsorge Tätigen haben einen zusätzlichen Auftrag: Sie sollen und dürfen<br />

die Gemeinden so zurüsten und begleiten, dass sie diese „Offenheit“ für das Weltzeugnis<br />

heute erwerben bzw. ausbauen, diese Zeugniskompetenz, ohne die „Kirche<br />

nur ein Ofen wäre, der sich selbst wärmt“ (nach einem Wort von Kardinal Alfred<br />

Bengsch). Nur sich selbst evangelisierende Christen sind in der Lage, andere mit dem<br />

Evangelium in Kontakt zu bringen. Und allein deswegen ist Kirche da. Das ist ihr Sinn.<br />

3. Begleiten<br />

In diesem Stichwort klingt für mich die Art der Seelsorge mit, die Gott selbst an<br />

uns allen treibt. Er „begleitet“ uns – helfend, mahnend, warnend, manchmal auch<br />

uns erschreckend, aber niemals verurteilend. Ich spüre bei den Menschen bei uns<br />

im Osten eine tiefe Sehnsucht nach gelingenden Beziehungen, nach menschlicher<br />

Nähe und nach Angenommen-Sein. Wenn es irgendwie gelingt, das erste Misstrauen<br />

gegenüber Kirche zu zerstreuen, wirkliche absichtslose Nähe zum anderen glaubhaft<br />

zu machen, dann öffnen sich oftmals sehr bald die Herzen. Es gehört zu den schönsten<br />

Erfahrungen im Leben eines Priesters, wenn er bei einem Hausbesuch gesagt bekommt:<br />

„Das ist aber schön, Herr Pfarrer, dass die Kirche (!) einmal nach mir schaut!“<br />

Übrigens sagen das manche auch zu einem aus dem Pfarrgemeinderat, der im Namen<br />

der Gemeinde einen Besuch macht.<br />

Die Chance kirchlich-pastoralen Wirkens besteht heute darin, in der zunehmenden<br />

Vereinzelung der Menschen Beziehungsnetze zu knüpfen. Ich gebe zu: Wir erfahren<br />

in diesem Bemühen auch Ablehnung, wir begegnen Vorbehalten und Misstrauen.


Tagungsdokumentation<br />

Doch sehe ich auch, dass es in unserer Leistungsgesellschaft, vielleicht gerade wegen<br />

ihrer oft unerbittlichen Härte und Stressigkeit Sehnsucht nach menschlicher Nähe<br />

und Annahme gibt. „Du bist angenommen!“ Diese Grundbotschaft des Evangeliums<br />

hat auch heute ihren kairos. Das Elisabethjahr 2007, das weit über den kirchlichen<br />

Raum hinein in die Gesellschaft ausstrahlte, hat mir das eindrucksvoll gezeigt. Das<br />

Evangelium hat mehr Sympathisanten als wir meinen. Diese Botschaft, diese „Melodie“<br />

muss durch uns erklingen. Dann kann sich auch in einem zweiten Schritt die<br />

Einladung zur Umkehr, zum Neuanfang, zur Nachfolge Christi entfalten. Begleiten<br />

erfordert die Bereitschaft, die Buntheit und Unterschiedlichkeit menschlicher Biographien<br />

auszuhalten. Ich sage gern: Wir müssen lernen, auch mit den kirchlich nicht<br />

ganz „Stubenreinen“ umzugehen. Hier tun wir uns bekanntlich sehr schwer. Unabhängig<br />

von der Frage nach der Zulassung zu den Sakramenten müssen die Menschen<br />

das Gefühl haben, dass sie in der Kirche willkommen sind. Zeichen des Willkommen-<br />

Seins sind ja nicht nur die Sakramente.<br />

Der ganze Bereich der vorsakramentalen Seelsorge, in dem die Kirche an sich doch<br />

reiche Erfahrung hat, wird zunehmend Bedeutung erlangen. Ich denke an die vielen<br />

Ungläubigen und „Halbgläubigen“, die punktuell Berührung mit der Kirche suchen,<br />

etwa beim festlichen Weihnachtsgottesdienst, bei der Einschulung ihrer Kinder, bei<br />

der Beerdigung eines Angehörigen, in eigener Krankheit oder anderen Notsituationen<br />

usw. Die Kirche, das Pfarrhaus, eine Gruppe von Gläubigen muss als Ort des Erbarmens,<br />

des Angenommen-Seins, der mitmenschlichen Nähe bekannt sein. Derzeit ist<br />

die Kirche mehr im Verdacht, die Menschen zu verschrecken und ihnen das Leben<br />

zu vermiesen, als sie für Gott und füreinander freizusetzen. Diesem Grundverdacht<br />

muss energisch entgegengewirkt werden. Dass aus einer echten Christusbeziehung<br />

dann auch Lebensumkehr erwächst, steht auf einem anderen Blatt. Umkehr erwächst<br />

freilich aus Annahme, nicht umgekehrt!<br />

Ich beende unseren Blick auf die Situation unserer Kirche im Osten, indem ich<br />

noch einmal meine Grundeinstellung zum Ausdruck bringe: Es ist gut, auch für unsere<br />

Kirche und ihr Leben, dass die Wende gekommen ist. Ich ermuntere unsere Priester<br />

und Mitarbeiter in der Pastoral, die gewandelten Verhältnisse auch innerlich anzunehmen,<br />

auch wenn diese Verhältnisse uns mancherlei neue Probleme bescheren.<br />

Aber die Freiheit ist immer besser als Zwang, auch der sublime Druck, mit dem uns<br />

das alte System früher die Gemeinden im „Schulterschluss“ zusammengehalten hat.<br />

Wir leben jetzt ehrlicher. Wir müssen uns auf unsere Substanz besinnen. Und das ist<br />

vermutlich ganz im Sinne der Heilspläne Gottes.<br />

43


II. Das Bonifatiuswerk und<br />

der Weg zur deutschen Einheit:<br />

zwei Berichte<br />

Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

45


46 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Aufbruch in eine neue Zeit<br />

Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />

zwischen <strong>Mauerfall</strong> und Wiedervereinigung<br />

Alfred Herrmann, Josef Bilstein und Michael Henn<br />

„Schwerpunkt ist und bleibt unsere Arbeit für die DDR!“, bekräftigte der<br />

Präsident des Bonifatiuswerkes, Dr. Winfried Florian, noch auf der 58. Generalversammlung<br />

des Werkes, die vom 1. bis zum 3. Oktober 1989 in Würzburg tagte.<br />

Keiner der Anwesenden ahnte, dass die Mauer nur wenige Wochen später Geschichte<br />

war und sich genau ein Jahr danach die politische Wiedervereinigung<br />

Deutschlands vollzieht. Die rasante Entwicklung zu Freiheit, Demokratie und<br />

Einheit vor 20 Jahren konfrontierte das Bonifatiuswerk mit sich völlig verändernden<br />

Voraussetzungen in der Diaspora Ostdeutschlands und stellte es vor ganz<br />

neue Herausforderungen.<br />

Die angespannte Situation in der DDR im Herbst 1989 entging den Verantwortlichen<br />

natürlich nicht: „Bei der derzeitigen Lage in der DDR ist ungewiss, wie es dort<br />

auch wirtschaftlich weitergeht. Man kann wohl nicht ganz ausschließen, dass unter<br />

bestimmten Umständen weitere Hilfe von uns erbeten werden muss“, erklärte der<br />

damalige Generalsekretär, Prälat Georg Walf, in Würzburg. Die Geschwindigkeit der<br />

politischen Veränderungen zwischen dem 9. November 1989 und dem 3. Oktober 1990<br />

überraschten das Bonifatiuswerk. Umso aufmerksamer beobachtete es die Umbrüche<br />

und handelte schließlich entschlossen. Das führen die Protokolle des Diasporahilfswerkes<br />

aus jenen spannenden elf Monaten der Jahre 1989/90 vor Augen.<br />

Erstmalig nach dem <strong>Mauerfall</strong> kam der Generalvorstand am 8. Dezember 1989<br />

zusammen. Dabei diskutierte er die veränderte politische Situation in der DDR und<br />

die Auswirkungen auf die Diasporahilfe. Vorsicht sei geboten bei der finanziellen Hilfe,<br />

merkte der Generalvorstand an, da die finanzielle Situation sich mit Sicherheit<br />

ändern werde. Allein der Umtauschkurs für die Hilfe, der aufgrund der politischen<br />

Verhältnisse bislang zumeist bei einer Ostmark für eine D-Mark lag, galt als nicht<br />

mehr haltbar. Außerdem müsse man sich auf neue gesellschaftspolitische Aufgaben<br />

der Kirche in der DDR, wie die Mitwirkung im Bildungswesen oder die Errichtung von<br />

Kindergärten, rechtzeitig einstellen, betrachtete der Generalvorstand die neue Situation<br />

weitsichtig.


Erste Veränderungen<br />

Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Schon auf der darauffolgenden Sitzung des Generalvorstandes im Mai 1990, zwischen<br />

der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März und der Währungsunion am<br />

1. Juli, zeigten sich erste Veränderungen in der Arbeit des Werkes. Das Bonifatiuswerk<br />

und seine Diasporahilfe konnte endlich unter den Katholiken der DDR bekannter gemacht<br />

werden. So durfte das Bonifatiusblatt und das Priesterjahrheft nun auch in<br />

die DDR geliefert und der Diaspora-Sonntag in den Gemeinden beworben werden.<br />

Auch dachte man an die Gründung von Diözesan-Bonifatiuswerken. Bei der Motorisierungshilfe<br />

sollten künftig statt Wartburg, Trabant und Barkas Autos angeschafft<br />

werden, die in der Bundesrepublik hergestellt wurden.<br />

Der Generalvorstand beschloss, im Herbst erstmals seit der deutschen Teilung auf<br />

dem Gebiet der DDR zu tagen. Am 14. September 1990 begrüßte Bischof Dr. Joachim<br />

Wanke den Generalvorstand im Haus St. Ursula in Erfurt auf das Herzlichste und<br />

drückte seine Freude aus, dass die neue politische Situation diese Tagung erlaube.<br />

Die Diaspora habe dem Bonifatiuswerk unendlich viel zu verdanken, erklärte Bischof<br />

Wanke. Auch für die Zukunft knüpften sich viele Hoffnungen an das Diasporahilfswerk.<br />

Bei allen Ängsten und Sorgen, die in der gegenwärtigen Umbruchsituation<br />

überall feststellbar seien, überwiege die Dankbarkeit, so der Bischof in Erfurt.<br />

Hoher Sanierungsbedarf<br />

Die Lage der Kirche in der DDR änderte sich in diesen Monaten rasant. Während der<br />

SED-Diktatur war es beispielsweise für die Kirche in der DDR verboten, neben den seit<br />

1945 bestehenden katholischen Kindergärten neue zu eröffnen. Von Schulen ganz<br />

zu schweigen. Plötzlich stand die Anfrage nach ebendiesen katholischen Einrichtungen<br />

im Raum. Ebenso die Frage nach Religionsunterricht in staatlichen Schulen und<br />

daraus folgend die Frage nach genügend Fachlehrern und ausreichend Unterrichtsmaterialien.<br />

Doch schon die Finanzierung des Bestehenden machte den Gemeinden<br />

mehr und mehr Probleme. So heißt es in einem der Protokolle: Die Kostensteigerung<br />

bei den Kindergärten sei so, dass sich die Gemeinden eigentlich keinen Kindergarten<br />

leisten könnten, diese aber für die Pastoral einen sehr hohen Stellenwert haben. Die<br />

finanzielle Situation der Kirche im Osten war plötzlich eine ganz andere, und auch die<br />

Unterstützung des Bonifatiuswerkes musste neu bewertet werden. Zum einen veränderte<br />

sich der Wert des Geldes und zum anderen erhöhten sich die Preise in vielen<br />

Lebensbereichen. Zugleich rechnete man aufgrund des Wegfalls staatlicher Subventionen<br />

beispielsweise bei den Energiekosten und Postgebühren mit einer Steigerung<br />

bis zu 300 Prozent, bei den Verwaltungskosten um bis zu 200 Prozent. Bei den Baukosten<br />

sah man eine Verdopplung der Preise kommen. Heute könne man mit einer<br />

Million D-Mark nicht mehr so viel fertig stellen wie noch ein Jahr zuvor, mussten die<br />

47


48 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Verantwortlichen des Bonifatiuswerkes feststellen. Zugleich ergab sich ein ganz neuer<br />

Förderbedarf: „Ich habe bei meinen Reisen des Öfteren Pfarrhäuser angetroffen, wo<br />

das Dach und die sanitären Anlagen in einem für uns unvorstellbaren Zustand sind“,<br />

berichtete Generalsekretär Georg Walf dem Generalvorstand. Ein hoher Sanierungs-<br />

und vor allem Modernisierungsbedarf zeichnete sich ab, besonders im Bereich Heizungen,<br />

Sanitäranlagen und Dächer. Allein was an Heizungserneuerungen notwendig<br />

sei, wurde als „schwindelerregend“ bezeichnet. Die Beschickung alter Heizungsanlagen<br />

hemme viele pastorale Aktivitäten, hieß es aus den Gemeinden vor Ort.<br />

Feuerwehrfonds für schnelle Hilfe<br />

Die Diaspora-Gemeinden und Bischöflichen Ämter konnten die erforderlichen<br />

Summen nicht stemmen. Und so beschloss am 12. Dezember 1990 der Generalvorstand<br />

des Bonifatiuswerkes, zu handeln und den dringenden Bedarf der Diasporakirche<br />

in den neuen Bundesländern zu unterstützen. Im Jahreshaushalt 1991 wurde<br />

dafür zunächst eine Hilfe über rund 12,23 Millionen DM fest zugesagt. Sie war wie<br />

in den Vorjahren bestimmt für Baumaßnahmen, turnusmäßige Verkehrshilfe, Förderung<br />

der Priesterausbildung, Unterhalt und Betrieb katholischer Kinderheime und<br />

Kindergärten. Für drei Jahre wurde zusätzlich ein so genannter „Feuerwehrfonds“<br />

eingerichtet. Dieser Fonds belief sich auf rund 13 Millionen DM. Er wurde in der Generalvorstandssitzung<br />

vom 1. April 1992 in Schwerin auf 20 Millionen DM aufgestockt.<br />

Der Feuerwehrfonds half in akuten Notsituationen auf dem Bausektor. Dafür wurden<br />

von den Bischöfen einzelne Objekte benannt. Pfarrgemeinden konnten so auf zusätzliche<br />

Mittel zurückgreifen, wenn außerplanmäßige Arbeiten anfielen und schnelle<br />

Hilfe geboten war. Ende 1992 waren die Mittel zum überwiegenden Teil in Anspruch<br />

genommen worden.<br />

Foto: Über 40 Jahre diente diese ehemalige Baracke des Reichsarbeitsdienstes im sächsischen<br />

Doberschütz als Gotteshaus. Im Februar 1991 packten alle mit an und rissen sie ab. | Foto: Bonifatiuswerk


Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Foto: Dank des Feuerwehrfonds entstand die neue Kapelle in Doberschütz. | Foto: Bonifatiuswerk<br />

Zudem erhöhte die Diaspora-Kinderhilfe die Unterstützung der „Religiösen<br />

Kinderwochen“ (RKW) in Ostdeutschland von jährlich 600.000 DM auf jährlich 1,2<br />

Millionen DM. Denn rechnete Generalsekretär Walf im Frühjahr 1990 noch mit einem<br />

Rückgang der Teilnehmerzahlen für den Sommer, konnte er auf der Generalvorstandssitzung<br />

im September ganz anders bilanzieren. Nach der Währungsunion<br />

seien die Anmeldungen gestiegen. An vielen Stellen seien höhere Teilnehmerzahlen<br />

erreicht worden als in früheren Jahren, erklärte Walf in Erfurt. Die Kosten stiegen<br />

entsprechend. In der meist einwöchigen Ferienfreizeit RKW bekommen die Kinder<br />

und Jugendlichen in der Diaspora einen intensiven Glaubensunterricht und können<br />

die Gemeinschaft der Kirche erleben.<br />

Diese rasche finanzielle Hilfe für die Diaspora in den neuen Bundesländern ermöglichten<br />

andere Diasporadiözesen. Sie erklärten sich bereit, zugunsten der Katholiken<br />

im Osten ihre Anträge einzuschränken. Damit erwies sich das Bonifatiuswerk<br />

in dieser besonderen historischen Situation als großes Werk der Solidarität.<br />

Heute sind die Sanierungen von Kirchen und Gemeindehäusern sowie entsprechende<br />

Neubauten weitgehend abgeschlossen.<br />

49


50 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Die Kirche in der DDR während der deutschen Teilung<br />

Die heutigen (Erz-)Diözesen Erfurt, Magdeburg, Görlitz und Hamburg errichtete der Vatikan<br />

erst weit nach der Wende im Jahr 1994. Bis dahin gehörten die ostdeutschen Regionen<br />

zu den Bistümern Osnabrück, Paderborn, Fulda, Würzburg und Hildesheim. Görlitz trennte<br />

der Vatikan 1972 im Zuge der Neuordnung der Kirchenstruktur in Polen vom ehemaligen<br />

Erzbistum Breslau ab und erhob es zur Apostolischen Administratur. Zum selbstständigen<br />

Bistum Berlin gehörte auch weiterhin West-Berlin. Das Bistum Dresden-Meißen lag als einziges<br />

Bistum mit seinem Gesamtterritorium in der DDR.<br />

Die Bischöfe in den Bischöflichen Ämtern Erfurt-Meiningen, Magdeburg und Schwerin<br />

unterstanden als Apostolische Administratoren zwar direkt dem Vatikan und nicht mehr<br />

den Ortsbischöfen der entsprechenden West-Bistümer, jedoch blieben die Gebiete der Diözesen<br />

unangetastet. Die sogenannte Berliner Bischofskonferenz<br />

blieb vom Status her eine Regional-Bischofskonferenz<br />

und wurde keine nationale<br />

Bischofskonferenz. Dass der Vatikan<br />

die Kirche in der DDR und in der<br />

Bundesrepublik bis zum Fall des<br />

Eisernen Vorhangs als eine Nationalkirche<br />

begriff, zeigten unter<br />

anderem die Bischofsernennungen.<br />

So wechselte Bischof Julius<br />

Döpfner 1957 von Würzburg nach<br />

Berlin und 1988 Kardinal Joachim<br />

Meisner aus dem West-Ost-Bistum<br />

Berlin auf den Kölner Bischofsstuhl.<br />

Meiningen<br />

MEININGEN<br />

(Würzburg)<br />

ERFURT<br />

(Fulda)<br />

Erfurt<br />

Schwerin<br />

SCHWERIN<br />

(Osnabrück)<br />

Magdeburg<br />

MAGDEBURG<br />

(Paderborn)<br />

zu Hildesheim<br />

zu Hildesheim<br />

BERLIN<br />

Berlin<br />

DRESDEN-<br />

MEISSEN<br />

GÖRLITZ<br />

Dresden<br />

Görlitz


Von LIMEX, GENEX und Tante Paula<br />

Die vielseitige Hilfe des Bonifatiuswerkes<br />

während der deutschen Teilung<br />

Alfred Herrmann<br />

Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

„Die katholische Kirche in Deutschland ist stets davon ausgegangen, dass<br />

die kulturelle und politische Einheit des deutschen Volkes unaufgebbar sei“, formulierte<br />

der langjährige Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz und spätere Bischof<br />

von Hildesheim, Dr. Josef Homeyer, 1996 rückblickend. Die katholische Kirche<br />

war die einzige Großorganisation, die die Teilung Deutschlands nicht mit vollzog.<br />

Dass dies unter den Katholiken in der DDR wie in der Bundesrepublik spürbar und<br />

greifbar wurde, ist nicht zuletzt ein Verdienst des Bonifatiuswerkes der deutschen<br />

Katholiken. Auch während der deutschen Teilung blieb die Diaspora des früheren<br />

Mitteldeutschlands Hauptfördergebiet des Bonifatiuswerkes.<br />

Die wichtigste Klammer der katholischen Kirche in Deutschland zeigte sich vor allem<br />

in der Solidarität der Gläubigen untereinander, in den unzähligen persönlichen<br />

Kontakten und Beziehungen. Gegenseitige Unterstützung und Austausch zwischen<br />

Gemeinden, Verbänden und Institutionen ließen den Faden zwischen den Katholiken<br />

in Ost und West nie abreißen. Einen Weg der Solidarität eröffnete das Bonifatiuswerk.<br />

Seit seiner Gründung als Bonifatiusverein 1849 in Regensburg nahm sich das deutsche<br />

Diasporahilfswerk auch der Region zwischen Erzgebirge und Ostseeküste an. Somit<br />

rief die Stunde der deutschen Teilung das Bonifatiuswerk in die besondere Pflicht.<br />

Sein langjähriger Generalsekretär Anton Kötter nennt in einem Artikel aus dem Jahr<br />

1996 eine Gesamthilfe in Höhe von 743 Millionen DM, die zwischen 1949 und 1990 aus<br />

dem Bonifatiushaus in Paderborn der Kirche in der DDR zugeleitet wurde. Er rechnet<br />

in diese Zahl die knapp 289 Millionen DM ein, die das „Diaspora-Kommissariat<br />

der deutschen Bischöfe – Diasporahilfe der Priester“ – großteils als Gehaltshilfe –<br />

in die DDR gab, wie auch die Gelder der Deutschen Bischofskonferenz, die über das Bonifatiuswerk<br />

weitergegeben wurden.<br />

Pakete verbinden West und Ost<br />

Von Anfang an bestand ein wesentlicher Teil der Bonifatiuswerkhilfe aus Sachspenden.<br />

So lieferte das Werk beispielsweise über 17 Jahre lang Messwein in großen Mengen<br />

51


52 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

in die DDR. Der St. Benno-Verlag in Leipzig wurde mit Papier unterstützt. Paramente<br />

und liturgische Geräte gab das Bonifatiuswerk in beträchtlicher Anzahl weiter. Allein<br />

im Jahr 1985 waren es zum Beispiel 14 Chormäntel, 297 Messgewänder, 105 Stolen<br />

46 Hostienschalen, 69 Paar Messkännchen, sieben Monstranzen und vieles mehr.<br />

Die Pakethilfe des Bonifatiuswerkes, hier ein Foto aus den 50er Jahren aus dem Bonifatiushaus, versorgte<br />

die Katholiken in der DDR mit liturgischem Gerät, Bastelmaterial und katechetischen Schriften.<br />

Die Bibliotheken der Ausbildungsstätten für Priester und pastorales Personal hielt<br />

die Buchhilfe des Bonifatiuswerkes auf dem neuesten Stand. Hinzu kamen unzählige<br />

Hilfspäckchen mit Lebensmitteln, Kleidung und Bastelmaterialien. Ganze Jahrgänge<br />

von Kommunionkindern wurden mit der Unterstützung durch die Diaspora-<br />

Kinderhilfe auf die Erstkommunion vorbereitet und durch das Bonifatiuswerk für ihren<br />

Festtag eingekleidet. Hilfe kam auf diese Weise auch für die Frohen Herrgottsstunden,<br />

damit die Kleinsten von Anfang an mit dem Glauben in Berührung kommen konnten.<br />

„Unser Versand glich einem Warenlager mit Schuhen, Spielsachen, Kaffee, Lebensmitteln<br />

und vielem mehr“, erinnert sich Daniela Koch, langjährige Mitarbeiterin im Bonifatiuswerk.<br />

Doch Pakete als westdeutsches katholisches Hilfswerk in die DDR zu versenden,


Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. „Pakete durften nur von Privatperson zu<br />

Privatperson versendet werden“, erklärt Koch. Die Pakete habe man deshalb nie an einen<br />

Kindergarten oder eine Kirchengemeinde direkt adressieren können, sondern nur an<br />

Privatleute. „Und jedes Paket, das wir im Bonifatiushaus gepackt haben, brauchte einen<br />

privaten Absender“, gibt Koch zu bedenken. Das hatte über lange Jahre zur Folge, dass<br />

jedes Paket vom Bonifatiuswerk zunächst an eine Privatperson in der Bundesrepublik<br />

verschickt wurde. Diese Privatperson gab das Paket erneut bei der Post auf, diesmal mit<br />

seiner Privatadresse als Absender. Ein System, das zahlreiche West-Katholiken direkt in<br />

die solidarische Hilfe für die Katholiken in der Diaspora der DDR mit einband.<br />

Neue Kirchen gegen Devisen<br />

Das meiste Geld der Hilfe des Bonifatiuswerkes für die Kirche in der DDR floss aber in<br />

den Bau und die Instandhaltung von Kirchen und Gemeindehäusern. Doch besonders in<br />

Erscheinung trat das Diasporahilfswerk aus dem Westen mit dieser Unterstützung nicht.<br />

„Nach der Wende war es mir, als wenn sie einem Blinden die Augenklappe weggenommen<br />

hätten. Plötzlich sah ich überall die kleinen Bronzetafeln, die das Bonifatiuswerk nachträglich<br />

an die von ihm unterstützten Bauten anbringen ließ.“ Heinrich Kuhlage, einst<br />

Pfarrer der Thomas-Morus-Gemeinde in Rostock, die als neugegründete Gemeinde 1983<br />

eine Kirche erhielt, spricht aus, was viele andere bestätigen: das Bonifatiuswerk trat in<br />

der Bauhilfe nicht offensiv als Förderer auf. Das war so gewollt. „Das größte deutsche<br />

Diaspora-Schiff aber – mitteldeutsche Diaspora-Kirche ist sein Name – ist ständig von<br />

dichtem Nebel, künstlichem Nebel allerdings, eingehüllt. Denn es darf aus Klugheit sich<br />

nur selten und auch nur in Umrissen zeigen“, hieß es im Grundsatzreferat von Generalsekretär<br />

Anton Kötter auf der Generalversammlung 1971 in Freiburg. „Wir sind verschwiegen<br />

und werden verschwiegen, weil wir verschwiegen sind“, zitiert Prälat Gerhard Lange, der<br />

frühere kirchenpolitische Beauftragte der Bischöfe in der DDR, ein geflügeltes Wort.<br />

„Es funktionierte für uns“, berichtet Pfarrer Klaus-Peter Kaschubowski, „so bohrte<br />

man nicht nach.“ In seiner Zeit als Pfarrer der Gemeinde „Von der Verklärung des<br />

Herrn“ in Berlin-Marzahn entstanden 1984 Kirche und Gemeindezentrum in dem Plattenbaubezirk.<br />

Die Organisation und die Finanzierung des Baus, so Kaschubowski, sei<br />

komplett über das Ordinariat abgewickelt worden. Der Komplex entstand im Rahmen<br />

des so genannten Sonderbauprogramms, das erstmals 1974 aufgelegt wurde. Danach<br />

wurden staatlicherseits den christlichen Kirchen die Möglichkeit eröffnet, Kirchen und<br />

kirchliche Gebäude auch in Neubaugebieten zu errichten und darüber hinaus auch für<br />

kirchliche Einrichtungen Baumaßnahmen durchzuführen. Bis 1981 waren laut Priesterjahrheft<br />

16 Kirchenneubauten und Kirchenrekonstruktionen, 32 Gemeinde- und Pfarrhäuser,<br />

23 kirchliche Sozial- und Verwaltungsbauten im Bau oder schon fertig gestellt.<br />

„Dem Staat ging es beim Sonderbauprogramm um Devisen“, erklärt Prälat Roland<br />

Steinke. Als Leiter der Zentralstelle Berlin-Ost des Deutschen Caritasverbandes war er<br />

53


54 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Der Berliner Bischof Joachim Kardinal Meisner bei der Grundsteinlegung der Kirche in Berlin-Marzahn im Oktober 1984.<br />

Finanziert wurde das Gotteshaus über das Sonderbauprogramm. Foto: Bonifatiuswerk<br />

von 1973 bis 1982 verantwortlich für das Sonderbauprogramm auf Ost-Seite. Über die<br />

staatliche Firma im Außenhandel „LIMEX-Bau Import-Export“ seien die Kirchenneubauten<br />

in der DDR abgewickelt worden wie ein Exportgeschäft. „Das Geschäft verhielt sich<br />

so, als hätte die DDR einen Auftrag zum Bau von Kirchen im Ausland, zum Beispiel in<br />

Schweden, übernommen, nur dass die Kirchen im Inland gebaut wurden.“ Als Auftraggeber<br />

des Exportgutes Kirchenneubau, der in der DDR fertigen ließ, fungierte die Kirche<br />

in Westdeutschland. Und darin mit eingeschlossen das Bonifatiuswerk. „Auf diese Weise<br />

bekamen wir die Genehmigung für Kirchbauten, wo sonst niemals welche entstanden<br />

wären“, betont Steinke die Absurdität der DDR-Politik. So habe auch der sozialistische<br />

Vorzeige-Neubaubezirk Berlin-Marzahn ein Gotteshaus bekommen. Das Bonifatiuswerk<br />

investierte von 1976 bis 1989 rund 24 Millionen DM in das Sonderbauprogramm.<br />

Unabhängig davon flossen zusätzlich vom Bonifatiuswerk aus im selben Zeitraum<br />

rund 80 Millionen DM an Bau- und Motorisierungshilfe an die Katholiken der DDR.<br />

Verkehrshilfe für die Flächendiaspora<br />

„Als ich 1981 in Berlin-Marzahn anfing, bekam ich einen Wartburg-Tourist in Rot. Das<br />

war ein Bonifatiusauto“, erinnert sich Pfarrer Klaus-Peter Kaschubowski an die Verkehrs-


Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

hilfe des Bonifatiuswerkes. Sie war im Gegensatz zur Bauhilfe fest im Bewusstsein<br />

der DDR-Katholiken verankert. Die weiten Entfernungen in der Diaspora Ostdeutschlands<br />

machten eine umfangreiche Motorisierung notwendig. „Gemeinden leben<br />

vom Zusammenkommen“, betonte Hugo Aufderbeck, Bischof im Bischöflichen<br />

Amt Erfurt-Meiningen. Und so organisierten Diaspora-MIVA und Bonifatiuswerk<br />

Trabis, Wartburgs, Barkas-Kleinbusse und Tankkreditscheine für die Katholiken in<br />

der DDR. Allein in den Jahren 1960 bis 1963 kamen 431 Autos und fünf Mopeds zur<br />

Auslieferung. Im Jahr 1976 bestellte der Generalvorstand des Bonifatiuswerkes Benzingutscheine<br />

für 932.000 Liter Treibstoff. Im Jahr 1988 wies der Generalvorstand<br />

2,6 Millionen DM an Motorisierungshilfe für die Berliner Bischofskonferenz aus.<br />

Vom Bau der Mauer 1961 bis zur Wende musste die gesamte Motorisierungshilfe<br />

über den GENEX, den sogenannten Geschenkdienst-Export, abgewickelt werden. Diese<br />

von der DDR gegründete Handelsorganisation sollte wie LIMEX Devisen in die Staatskasse<br />

spülen. In Büros in der Schweiz, in Österreich und Dänemark – in punkto Motorisierungshilfe<br />

arbeitete das Bonifatiuswerk mit der Firma Jauerfood in Kopenhagen<br />

zusammen – konnten Organisationen und Einzelpersonen aus dem Westen sich die<br />

gewünschten Waren versandhausähnlich aus Warenkatalogen aussuchen, bestellen<br />

und schließlich in DM oder Dollar bei einem Umtauschwert von zumeist eins zu eins<br />

bezahlen. Trabants, Wartburgs, Barkas und Tankgutscheine mussten für ein ganzes<br />

Jahr bestellt werden. Einen Vorteil brachte dieser überteuerte Handel mit sich: Die<br />

Ware wurde zeitnah ausgeliefert. Während DDR-Bürger auf ihre privat bestellten Autos<br />

viele Jahre warten mussten, konnte der Pfarrer für die Kirchengemeinde umgehend<br />

ein Fahrzeug erhalten.<br />

Die Motorisierungshilfe des Bonifatiuswerkes brachte die Katholiken auch<br />

in der DDR zusammen, wie hier mit einem Barkas-Bus in Röbel an der Müritz.<br />

55


56 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Unterstützung der Glaubensweitergabe<br />

„Für so manche Stunde Religionsunterricht war ich zwei, drei Stunden vorher<br />

unterwegs, um alle Kinder zusammenzuholen.“ Dorothea Dubiel arbeitete während<br />

der deutschen Teilung als Seelsorgehelferin in der Diaspora Mecklenburgs und lernte<br />

die Verkehrshilfe des Bonifatiuswerkes schätzen. Religionsunterricht an Schulen<br />

untersagte die Staatsführung und so fand er in den Gemeinden statt, einmal in der<br />

Woche für eine Stunde.<br />

„Diese eine Stunde reichte nicht aus, deshalb waren die Religiösen Kinderwochen<br />

ein wichtiger Bestandteil unserer katechetischen Arbeit“, bekennt Dubiel.<br />

Die Religiösen Kinderwochen, kurz RKW, wollten Kindern für ein paar Tage, in der<br />

Regel eine Woche bei Glaubensunterricht und Gottesdienst, gemeinsamem Essen<br />

und Ausflügen, Tanzen und Singen gemeinschaftliches kirchliches Leben erfahren<br />

lassen, was sie sonst in ihrer Vereinzelung in der Diaspora und dem kirchenfeindlichen<br />

Umfeld der SED-Ideologie in ihrem Alltag nicht erleben konnten. Sie galten<br />

als Gegenpol zu den staatlichen Ferienfreizeiten. Diese besondere Chance der<br />

Glaubensweitergabe unterstützte das „Bonifatiuswerk der Kinder“ jedes Jahr allein<br />

von 1966 bis 1989 mit über 11 Millionen DM. „Wenn ich heute Eltern auf die RKW<br />

anspreche, leuchten die Augen. Viele verbinden positive Erinnerungen mit dieser<br />

Zeit“, erzählt Dubiel.<br />

Als Seelsorgehelferin verdiente Dorothea Dubiel nur das in der DDR vorgeschriebene<br />

Mindestgehalt. Ein karger Lohn für eine wichtige Arbeit, der kaum für das Notwendigste<br />

ausreichte, geschweige denn für theologische Fachliteratur oder Arbeitsmaterialien.<br />

„Zweimal im Jahr erhielten wir deshalb vom Bonifatiuswerk einen finanziellen<br />

Ausgleich sowie pro Monat Kleidungs- und Nahrungsmittelbeihilfe“ berichtet Dubiel.<br />

Das Geld bekamen die Seelsorgehelferinnen nicht direkt auf ihr Gehaltskonto<br />

in der DDR. Das war nicht möglich. Vielmehr zahlte das „Bonifatiuswerk der Kinder“<br />

die Unterstützung auf ein westdeutsches Konto, das von einem Paten, einer Patin<br />

verwaltet wurde. „In Briefen hieß das Bonifatiuswerk bei mir nur Tante Paula und den<br />

Kontostand verschlüsselten wir als Datumsangabe.“ Dubiels Patin schickte für das<br />

Geld über GENEX Pakete mit Kleidung und Dingen des täglichen Bedarfs. „Spiele ließ<br />

man sich privat zusenden, katechetische Bücher durch Boten mitbringen“, erinnert<br />

sich die heutige Leiterin der pastoralen Dienststelle Mecklenburg.<br />

Zum Abschluss ihrer Ausbildung 1972 erhielt Dubiel vom Bonifatiuswerk ein besonderes<br />

Geschenk: „Wir wurden für unsere Sendungsfeier mit Kostüm, Bluse und<br />

Schuhen ausstaffiert. Ich bekam Schuhe mit Absätzen, obwohl ich solche nie trage,<br />

und musste mich damit dann vor dem Bischof niederknien“, erinnert sie sich noch<br />

heute schmunzelnd an die kleine akrobatische Übung an ihrem großen Tag.


Neue Propsteikirche in Leipzig schließt alte Wunden<br />

Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

20 Jahre nach dem Fall der Mauer plant die katholische Kirche in Leipzig Großes. Die Propsteikirche<br />

soll mitten im Zentrum der sächsischen Großstadt neu entstehen. Den Turm und die Reste der im<br />

Krieg zerstörten alten Kirche ließen einst die DDR-Machthaber sprengen und wiesen der Trinitatis-<br />

Gemeinde erst Jahrzehnte später ein neues Grundstück, außerhalb des Zentrums zu.<br />

Die künftige Leipziger Propsteikirche im Modell.<br />

Bis heute blieb Leipzig die einzige deutsche Großstadt ohne katholische Kirche in ihrem Zentrum.<br />

Eine Wunde, die die DDR-Machthaber hinterlassen haben. Das soll sich nun ändern.<br />

Die Trinitatis-Gemeinde erhält gegenüber dem Neuen Rathaus die Möglichkeit, eine neue<br />

Innenstadt-Kirche mit Gemeindezentrum zu bauen, um diese Wunde zu schließen. Ihre Betonkirche<br />

am Innenstadtrand, die Dank des Sonderbauprogramms mit der Unterstützung des<br />

Bonifatiuswerkes in der DDR gebaut werden konnte, weist große Mängel auf. Sie gilt als nicht<br />

mehr sanierbar.<br />

Der Neubau erweist sich als besonderer Auftrag. Denn von den Einwohnern Leipzigs sind weniger<br />

als 16 Prozent christlich getauft, nur 4 Prozent der Leipziger sind katholisch. In solch einer<br />

Glaubensdiaspora braucht es Orte, an denen der christliche Glaube, die katholische Kirche<br />

anfragbar wird. So ist der Neubau auch ein besonderes Anliegen der katholischen Kirche in<br />

Deutschland als Zeichen des Aufbruchs in der Diaspora und eines neuen missionarischen Verständnisses.<br />

Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken unterstützt dieses großartige Projekt.<br />

Helfen auch Sie mit, dass Leipzig wieder ein katholisches Zentrum in seinem Herzen erhält.<br />

Spendenkonto: Stichwort: Propstei Leipzig<br />

Bonifatiuswerk Konto 10 000 100<br />

Bank für Kirche und Caritas Paderborn BLZ 472 603 07<br />

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58 Das Bonifatiuswerk und der Weg zur deutschen Einheit<br />

Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />

Das Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken ist von der Deutschen Bischofskonferenz mit der<br />

Förderung der Diaspora-Seelsorge beauftragt. Das Hilfswerk mit Sitz in Paderborn unterstützt Katholiken,<br />

die weit verstreut als Minderheit unter Anders- und Nichtglaubenden leben, vornehmlich<br />

in Ost- und Norddeutschland, Nordeuropa, Estland und Lettland. In diesen Regionen und Ländern<br />

beträgt der Katholikenanteil an der Gesamtbevölkerung oft nur zwischen einem und fünf Prozent.<br />

Mit Spenden fördert das Bonifatiuswerk, das 1849 in Regensburg gegründet wurde, den Bau<br />

und die Renovierung von Kirchen und Gemeindezentren, Jugend- und Bildungshäusern, katholischen<br />

Schulen und Kindergärten sowie die Motorisierung von Pfarreien mit der Diaspora-<br />

MIVA. Es unterstützt mit der Diaspora-Kinder- und -Jugendhilfe Projekte der Glaubensweitergabe<br />

wie die Religiösen Kinderwochen (RKW) und Frohen Herrgottsstunden sowie pastorale<br />

und sozial-karitative Projekte. Mit missionarischen Initiativen wie der „Weihnachtsmannfreien<br />

Zone“, bundesweit versandten Erstkommunion- und Firmmaterialen sowie jüngst mit<br />

Neugeborenentaschen und Glaubensrucksäcken bringt sich das Bonifatiuswerk in die praktische<br />

Glaubensverkündigung in ganz Deutschland ein.<br />

Die Diasporagebiete zwischen Elbe und Oder gehören seit jeher zum Fördergebiet des Bonifatiuswerkes,<br />

vor wie während und nach der deutschen Teilung. Das Werk der Solidarität der<br />

deutschen Katholiken untereinander stellt damit einen festen Bestandteil der Geschichte der<br />

Kirche in den fünf ostdeutschen Bundesländern dar. Jedes Jahr führt das Bonifatiuswerk den<br />

traditionellen Diaspora-Sonntag durch, an dem in allen Gemeinden Deutschlands in einer Solidaritätsaktion<br />

für die Katholiken in der Vereinzelung gesammelt wird.<br />

Weitere Informationen im Internet unter www.bonifatiuswerk.de sowie unter<br />

Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken, Kamp 22, 33098 Paderborn, Telefon 0 52 51/29 96-0,<br />

E-Mail: info@bonifatiuswerk.de.


Impressum:<br />

Diese Broschüre wurde herausgegeben von:<br />

Maria-Luise Schneider, Stellv. Direktorin der <strong>Katholische</strong>n <strong>Akademie</strong> in Berlin e.V.,<br />

und Alfred Herrmann, M. A., Pressereferent des Bonifatiuswerkes.<br />

Wir danken den Autoren für ihre Beiträge.<br />

Adresse:<br />

<strong>Katholische</strong> <strong>Akademie</strong> in Berlin e.V.<br />

Hannoversche Straße 5<br />

10115 Berlin<br />

Tel.: +49 (0)30 - 28 30 95 - 0<br />

Fax: +49 (0)30 - 28 30 95 - 147<br />

Gestaltung: publicgarden GmbH<br />

Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken<br />

Kamp 22<br />

33098 Paderborn<br />

Tel.: +49 (0)52 51 - 29 96 - 0<br />

Fax: +49 (0)52 51 - 29 96 - 88<br />

Internet: www.katholische-akademie-berlin.de Internet: www.bonifatiuswerk.de<br />

E-Mail: information@katholische-akademie-berlin.de E-Mail: info@bonifatiuswerk.de


KATHOLISCHE AKADEMIE IN BERLIN e.V.<br />

Hannoversche Straße 5 · 10115 Berlin<br />

Tel.: +49 (0)30 - 28 30 95 - 0<br />

Fax: +49 (0)30 - 28 30 95 - 147<br />

E-Mail: information@katholische-akademie-berlin.de<br />

BONIfATIuSwERK DER DEuTSCHEN KATHOLIKEN<br />

Kamp 22 · 33098 Paderborn<br />

Tel.: +49 (0)52 51 - 29 96 - 0<br />

Fax: +49 (0)52 51 - 29 96 - 88<br />

E-Mail: info@bonifatiuswerk.de

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