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OASe - Zeitung von Senioren für Senioren - Nr. 1/2005 - Stadt Wiehl

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Modernes Märchen Seite 12„Der hundertste Geburtstag“Gestern ist Großmama 100 Jahre altgeworden. Sie saß kerzengerade an derKaffeetafel und strotzte vor Energie. Dabei istsie gerade <strong>von</strong> einer Grippe genesen. Mansorgte sich sehr, denn ihr allzu frühesAbleben wird schon seit Jahrzehntenbefürchtet.Als Oma eine kleinere Wohnung bezog,bekam Tante Meta feuchte Augen undprophezeite der Familie Omas baldigesEnde. „Es ist nur eine Frage der Zeit“, sprachsie, und Onkel Ernst erkundigte sich betrübtnach den Bestimmungen derErbschaftssteuer.Als Oma die siebzig erreichte, war TanteMeta <strong>von</strong> dunklen Ahnungen erfüllt, denn ihrwar nicht entgangen, dass Großmama immerso schwer atmete, wenn sie die Kohlenherauftrug: „Bitte erschreckt nicht“,erschreckte uns Tante Meta, „aber Omamacht es nicht mehr lange“.Zum 75. Geburtstag trug Oma ein neuesKleid in silbergrau und war ganz prächtiganzuschauen. Nur Tante Meta lies sich nichtdarüber hinweg täuschen, dass Oma ziemlichgrau aussehe. „Bald ist es mit ihr soweit“,seufzte sie und beklagte dashereinbrechende Unglück.Als Oma mit 80 ins Krankenhaus kam, warder Lauf der Dinge nicht länger aufzuhalten.„Das überlebt sie nie“, rief Tante Meta undbereitete die Verwandtschaft schonend aufGroßmamas baldigen Heimgang vor. Sieentschloss sich zu dunkler Eiche und weißrotenNelken auf dem Sarg und erklärte sichbereit, Omas Kanarienvogel ins Haus zunehmen.Onkel Ernst stand derweil vor der schwerenEntscheidung, ob er Aktien oder Pfandbriefeden Vorzug geben sollte. Oma entschiedvorläufig anders und erholte sich sechsWochen in Badenweiler.enthüllte Tante Meta, „dass sie nur dieTodesanzeigen liest. Ist es nichtschrecklich, mit welchen Gedanken sie sichträgt?“ Onkel Ernst trug sich mit demGedanken, zunächst das Dachgeschossauszubauen, um eine zusätzlicheMieteinnahme zu erzielen.Am 90. Geburtstag war Oma auffallendeinsilbig, weil ihr Gebiss zur Reparatur war.Tante Meta aber erschrak über so vielSchweigsamkeit und machte uns beimAbschied auf das Allerschlimmste gefasst.Mit 95 schien das Schicksal dann besiegelt.Großmutter war beim Fensterputzen <strong>von</strong>der Leiter gefallen und hatte sich den Fußverrenkt. Tante Meta eilte an ihr Sofa undgab stündlich ein Bulletin heraus. Sie blieb,um ihr die letzten Tage zu erleichtern undkochte Süppchen, die den Magen schonenund auch sonst nichts enthalten, was dasLeben künstlich verlängert. Als OmaKalbshaxe verlangte, ergriff Tante Meta dieFlucht.Seit gestern also ist Großmama hundertJahre alt. Sie saß in ihrem Wohnzimmerund schenkte uns einen Kaffee ein, dassdie Tassen krachten. Onkel Ernst undTante Meta konnten nicht kommen undhatten Blumen geschickt. Wie es denn denbeiden gehe, fragte jemand. „Recht gut“,fand Oma, „ich besuche sie jede Woche imAltersheim“.Dann nahm sie gedankenvoll ein StückchenTorte und schüttelte den Kopf. „Aber Handaufs Herz, Kinder,“ sprach sie, „so ein Heim– das ist doch wirklich nur etwas für alteLeute.“Wandelinus DemografZum 85. stand es um Großmutter dannschlecht, denn sie hatte ihr Abonnement derTageszeitung verlängert. „Ich weiß doch,“

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