01.12.2012 Aufrufe

69/70 (2010/2011) - Recensio.net

69/70 (2010/2011) - Recensio.net

69/70 (2010/2011) - Recensio.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Rezensionen<br />

durch den Band nahegelegt. Laut Herausgeber umfasste der von 1964 bis 1974 andauernde<br />

Protestzyklus der jugoslawischen Studierendenbewegung jedoch ein ganzes Jahrzehnt (14).<br />

Der Studierendenprotest hatte einen starken innenpolitischen Fokus. Die Streikenden<br />

wandten sich gegen die „rote Bourgeoisie“, gegen deren Privilegien und gegen Bürokratismus,<br />

und verlangten die Demokratisierung der Medien sowie Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.<br />

Vor allem aber wandten sie sich gegen den Widerspruch von Theorie<br />

und Praxis, forderten die konsequente Umsetzung der Werte und Ziele des titoistischen<br />

Selbstverwaltungssozialismus und beriefen sich dabei auf das Programm des BdKJ und die<br />

Verfassung. Die jugoslawischen Kommunisten, die in den globalen Studierendenprotesten<br />

eine Bestätigung für den jugoslawischen Sonderweg gesehen hatten, befanden sich plötzlich<br />

in einer diffizilen Position. Josip Broz Tito versuchte zu beschwichtigen, indem er der Kritik<br />

und den Forderungen der aufmüpfigen Jugend – die in Jugoslawien als der progressive<br />

Hoffnungsträger der sozialistischen Zukunft jedes Jahr in einem großen Spektaktel am Tag<br />

der Jugend gefeiert wurde – zunächst einmal Recht gab.<br />

Der kritische Zeitgeist schlug sich auch in einer studentischen Kultur in den Bereichen<br />

Theater, Film und Literatur nieder. Orte wie das Zagreber „Teatar & TD“, das Belgrader<br />

„Atelier 212“ oder die internationalen Festivals IFSK (Zagreb) und BITEF (Belgrad) bildeten<br />

„sowohl eine politische als auch eine ästhetische Aktionsform der Bewegung“ (24). Junge<br />

Regisseure wie Aleksandar Petrović, Živojin Pavlović, Dušan Makavejev oder Želimir<br />

Žilnik brachten das gesellschaftskritische Kino der sogenannten „Schwarzen Welle“ hervor.<br />

Schriftsteller wie Aleksandar Popović, Bora Ćosić oder Radomir Konstantinović verliehen<br />

der jugoslawischen Studierendenbewegung einen literarischen Ausdruck.<br />

Intellektuelle Schützenhilfe erhielt die Studierendenbewegung durch die philosophische<br />

Schule um die gleichnamige Zeitschrift Praxis. Diese bot mit der Sommerschule auf der<br />

Insel Korčula seit 1963 alljährlich linken Philosophinnen und Philosophen bzw. Neomarxistinnen<br />

und -marxisten aus Ost und West ein Diskussionsforum. Dabei verband sich die<br />

linke Kritik am Selbstverwaltungssozialismus jugoslawischer Professoren wie Gajo Petrović,<br />

Milan Kangrga, Danko Grlić, Svetozar Stojanović oder Mihailo Marković mit den Theorien<br />

der Neuen Linken, die auf der Sommerschule von prominenten internationalen Gästen<br />

wie Herbert Marcuse, Erich Fromm, Leszek Kołakowski, Ernest Mandel, Karel Kosík oder<br />

Agnes Heller vertreten wurden.<br />

Die kritische Intelligenz der Universitäten um die Praxis-Gruppe wurde, zusammen mit<br />

den radikaleren Studierenden, schließlich auch zur Zielscheibe staatlicher Repressionen.<br />

Es kam zu Parteiausschlüssen bzw. Verhaftungen zentraler Akteure wie dem Vorsitzenden<br />

des Studierendenbundes der Belgrader Philosphischen Fakultät, Vladimir Mijanović,<br />

dem im Oktober 19<strong>70</strong> der Prozess gemacht wurde. Die etwas zeitversetzten Ereignisse in<br />

Slowenien und Kroatien mit der Besetzung der Philosophischen Fakultät in Ljubljana im<br />

Mai 1971 und dem Studierendenstreik an der Zagreber Universität im November/Dezember<br />

1971 werden in dem Band – z. B. in den Gesprächen mit Rastko Močnik und Žarko<br />

Puhovski – nur gestreift. Da sich in den kroatischen Protest zunehmend nationalistische<br />

und separatistische Töne mischten, reagierte die Staatsführung dort mit hunderten von<br />

Verhaftungen und tausenden von Parteiausschlüssen, die bis in die Spitzen des kroatischen<br />

BdK reichten. Die Repressionswelle im Zuge des sog. „Kroatischen Frühlings“ zogen auch<br />

Südost-Forschungen <strong>69</strong>/<strong>70</strong> (<strong>2010</strong>/<strong>2011</strong>) 651

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!