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Jahresbericht 2011 - Fritz Thyssen Stiftung

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Spinozas System erscheint als<br />

eine Radikalisierung von<br />

systemisch-systematischen<br />

Grundmomenten des<br />

Vázquez’schen Modells, indem<br />

Spinoza die bei Vázquez<br />

angelegte streng philosophische<br />

Begründung des Naturrechts<br />

kompromisslos zu Ende führt.<br />

32 verstanden, in dem eine sukzessive Ablösung des Naturrechts von theologischen Gründungsfiguren<br />

erfolgt, die zugleich aber die der Neuzeit eigene Tendenz zur »Säkularisierung« noch<br />

nicht radikal vollzieht.<br />

Die bisherige Forschung hat indessen den beschriebenen Prozess einseitig als eine Reihe<br />

zunehmender Versuche verstanden, Naturrecht allein in der menschlichen Vernunft ohne<br />

Rückbezug auf theologische oder metaphysische Momente zu begründen, und sich daher in<br />

der Regel auf eine historische Diskussionslinie verständigt, die über die akademische Philosophie<br />

der Neuzeit zu Kant führt und dort ihr Ende findet. Demgegenüber soll es die systematische<br />

und methodische Grundlegung des beantragten Forschungsvorhabens in der Explikation<br />

des Konnexes von ethischer, metaphysischer und theologischer Theorieform erlauben, eine<br />

historisch viel wirkmächtigere und über Kant weit hinausweisende, indessen in der Forschung<br />

bislang übersehene Entwicklung der Naturrechtsdiskussion zu rekonstruieren. Grundlage der<br />

Kritik Spinozas ist hierbei eine Figur, in der das Verhältnis von Metaphysik, Theologie und<br />

Ethik sowie die Theorie des Naturrechts in »genuin moderner« Weise in Gestalt einer rein<br />

rationalen Systemphilosophie artikuliert wird.<br />

Dass die spanische Spätscholastik bereits systematische Elemente bereitstellt, die auf die<br />

spinozische Philosophie vorwegweisen, soll mit Blick auf den Entwurf von Gabriel Vázquez<br />

deutlich werden. Dessen in der Forschung als »objektivistische Naturrechtslehre« bezeichnete<br />

Konzeption stellt ein radikal über die traditionellen Konzeptionen hinausgehendes Modell dar,<br />

in dem die Geltung naturrechtlicher Normen weder von menschlichem noch göttlichem Willen<br />

oder Intellekt mehr abhängt, sondern vielmehr in ähnlicher Weise wie später bei Spinoza<br />

in einer metaphysischen Verschränkung von göttlicher und menschlicher Essenz gegründet<br />

wird. Dieser Naturrechtsobjektivismus führt zugleich zu einer Naturalisierung, die tendenziell<br />

nicht nur göttliche und menschliche Freiheit nivelliert, sondern im Zuge dessen auch zu<br />

einer Umdeutung der traditionell als Ausdruck des göttlichen Heilsplans verstandenen »lex<br />

aeterna« zu einer bloß metaphysisch-naturalen Prinzipienstruktur der Hervorbringung von<br />

Einzeldingen, die letztlich mit dem Konnex der Ideen im göttlichen Intellekt identisch ist.<br />

Diese Struktur findet ihre Radikalisierung im spinozischen Entwurf, wo das Naturrecht vor<br />

dem Hintergrund einer konsequenten Loslösung der Metaphysik und Ethik von allen offenbarungstheologischen<br />

Momenten in einem naturalistischen und nezessitären Konnex gegründet<br />

wird, in dem Gott in demselben Sinne Ursache seiner selbst (causa sui) ist, als er Ursache der<br />

von ihm hervorgebrachten Dinge (causa rerum) ist. In diesem metaphysischen Konstrukt fungiert<br />

dann die Ethik nicht als eine eigenständige, von der Metaphysik geschiedene philosophische<br />

Disziplin, sondern erfüllt vielmehr im Stil moderner nachkantischer Systemphilosophie<br />

die Funktion der Schließung des Systems.<br />

Philosophie<br />

Eine Schlussbetrachtung soll herausheben, dass Vázquez’ Konzeption nicht etwa dem Systemdenken<br />

Spinozas als historisch früherer und überholter Entwurf bloß gegenübersteht. Wichtig<br />

ist vielmehr, dass Spinozas System als eine Radikalisierung von systemisch-systematischen<br />

Grundmomenten des Vázquez’schen Modells erscheint, indem Spinoza die bei Vázquez angelegte<br />

streng philosophische Begründung des Naturrechts kompromisslos zu Ende führt.<br />

In dieser Perspektive besteht daher die »Säkularisierung« im Übergang zur Neuzeit auch nicht<br />

primär in einer Entkopplung des Naturrechts von einer göttlichen Instanz, sondern in dessen<br />

Einbindung in ein Philosophieren, das sich als ein durch die Ethik sich schließendes metaphysisches<br />

System vollzieht. Von hier aus lässt sich dann auch die Abweichung der Naturrechtskonzeptionen<br />

von Vázquez und Spinoza nicht als bloße Verschiedenheit, sondern vielmehr<br />

als systematischer Lösungsversuch eines nicht zeitgebundenen Problems verstehen. So wird<br />

in methodischer Hinsicht der Schwerpunkt auf dem Nachweis liegen, dass Vázquez’ Entwurf<br />

einer nezessitären Naturrechtskonzeption, deren Kern in einer jeglicher Form von Freiheit<br />

vorgeordneten systemischen Verkopplung von rationaler und göttlicher Essenz besteht, im<br />

Systemdenken Spinozas eine konsequente Weiterentwicklung erfährt, sodass Spinozas<br />

»Ethica« sich gleichsam als eine kritische Weiterführung der neuartigen Ansätze in Vázquez’<br />

»Thomaskommentar« lesen lässt.<br />

Elisabeth von der Pfalz | priv.-doz. dr. s. ebbersmeyer, Seminar für Geistesgeschichte und<br />

Philosophie der Renaissance, Universität München, befasst sich mit »Unsichtbaren Netzen:<br />

Frauen in der Philosophie der Frühen Neuzeit. Rekonstruktion und Dokumentation des intellektuellen<br />

Wirkens von Elisabeth von der Pfalz (1618–1680)«.<br />

Die Erforschung des Beitrags von Frauen zur abendländischen Philosophiegeschichte befindet<br />

sich noch immer in den Anfängen. Dies gilt auch und vor allem für die Historiographie der<br />

Frühen Neuzeit. Obgleich die Bedeutung der intellektuellen Aktivitäten von zahlreichen Denkerinnen<br />

dieser Zeit gut dokumentiert ist, finden sie kaum Eingang in den Kanon der üblichen<br />

Philosophiegeschichtsschreibung. Für diese »Abwesenheit« von Frauen in der Philosophiegeschichte<br />

sind verschiedene Ursachen verantwortlich. Ein zentraler Grund besteht darin, dass<br />

ein bestimmtes akademisches Vorverständnis von Philosophie es verhindert, Frauen überhaupt<br />

als Philosophinnen wahrzunehmen. Da Frauen der Zugang zur akademischen Philosophie<br />

verwehrt war, haben sie in der Regel auch nicht zu akademischen Textformen wie Traktat<br />

und Kommentar gegriffen, sondern zu semi-privaten Formen wie dem Brief. Insofern handelt<br />

es sich bei den Briefwechseln um typische Zeugnisse für die Art und Weise, wie sich Frauen<br />

der Frühen Neuzeit in die Philosophie überhaupt einbringen konnten.<br />

33<br />

Geschichte, Sprache und Kultur

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