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Treffen der Marientaler – Vortrag Geschichte Mariental als PDF

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DIE VOLKSGRUPPES chon um zehn Uhr trafen dieersten Gäste im Foyer des Gymnasiums"In <strong>der</strong> Wüste" in Osnabrückein. Es waren die ehemaligen<strong><strong>Mariental</strong>er</strong> aus Kaiserslautern, Karlsruheund Marburg. Ihnen folgten dieLandsleute aus Bremen, Siegen, Kassel,Pa<strong>der</strong>born... Viele kamen mit Kin<strong>der</strong>n,manche mit Enkelkin<strong>der</strong>n. Der ältesteheißt Eduard Weigel, 97, dem die Tochterseinen Wunsch erfüllte und ihn nachOsnabrück brachte.Sie hielten alle die hübsche Einladungskartein <strong>der</strong> Hand, die die stattliche Kirche,Weizenähren, getrocknete Blumen sowiedas Wappen von <strong>Mariental</strong> darstellte. Undrechts -die nostalgischen Zeilen: "Niekommt mir aus dem Sinn die ferne Gegend/ im trauten wolgablauen Steppenraum, /dort steht mein Vaterhaus nicht weit vomWege, / und vor dem Haus grünt immernoch ein Baum. "Schülern aus Sowjetskoje(eh. <strong>Mariental</strong>) und einzelnenPersonen ein.Der Kern des Programmswar das kurze (30 Minuten),aber sehr inhaltsreiche Referatdes Lehrers im Ruhestandund stellvertretendenVorsitzenden <strong>der</strong> Landsmannschaft<strong>der</strong> Wolgadeutschen,Helmut Lobes (siehenachstehenden Wortlaut).Anband von Dokumenten Der landsmann. 8chaftliche Chor aus Osnabrück trat beim MaundBeispielen schil<strong>der</strong>te rientaler TreffeJ " auf.er die <strong>Geschichte</strong> von <strong>Mariental</strong>,angefangen von <strong>der</strong> Gründung imJuni 1766 bis zur Vertreibung im September1941. Es war ganz still im Raum, dieAnwesenden lauschten jedem Wort desReferenten. Der <strong>Vortrag</strong> kam gut an. Ihmfolgte die Totenehrung, die Dr. Alexan<strong>der</strong>Hoffrnann von <strong>der</strong> Seelsorgestelle fiir katholischeDeutsche aus Russland in Bonndurchführte, und danach sang <strong>der</strong> ganzeSaal "Großer Gott, wir loben dich".Nach dem schmackhaften Mittagessen,Etwa 150 waren es an <strong>der</strong> Zahl, die etwasspäter im geräumigen ZuschauerraumPlatz genommen hatten, um dem <strong>Treffen</strong> das ebenfalls von Landsleuten vorbereitetwurde, gab die Laiengruppe <strong>der</strong> landsmannschaftlichenOrtsgruppe Osnabrückein buntes Konzertprogramm zum Besten.Deutsche und russische Volkslie<strong>der</strong>, ukrainische,kasachische und russische Tänze,Humoresken und Schnörkel wechselteneinan<strong>der</strong> ab. Vertreter dreier Generationen<strong>der</strong> Landsleute beizuwohnen. Zunächstgingen sie aber zu den Informationstafeln,die die Umgebung von <strong>Mariental</strong>, die erhaltengebliebenen Holz- und Backsteinhäuser,die Schulen, die Kirche und denFriedhof in tragischer Entwicklung darstelltensowie über den Gelehrten FranzSchiller, über Schüler und Lehrer, über<strong><strong>Mariental</strong>er</strong> in <strong>der</strong> Zaren- und Roten Armeeberichteten. Bald gesellte sich zu diesenTafeln noch eine, die von ehemaligenEinwohnern des Dorfes Herzog gebrachtwurde. Sie stellte den Plan des Dorfes mitallen Straßen und Gebäuden dar.Das Fest eröffnete Frieda Dercho, geb.Hermann, Vorsitzende <strong>der</strong> OrtsgruppeOsnabrück <strong>der</strong> Landsmannschaft, die seitJahren gute Beziehungen zu ihrem Heimatdorfpflegt, es mehrm<strong>als</strong> besucht hatund mit <strong>der</strong> Arbeitsgruppe die Veranstaltungvorbereitete. Das Grußwort sprachHermann Rickers, Domkapitular des BistumsOsnabrück. Eine nette Eröffnungsredehielt Burkhard Jaspes, Bürgermeister<strong>der</strong> Stadt Osnabrück, in <strong>der</strong> er unter an<strong>der</strong>emauch die Arbeit <strong>der</strong> Ortsgruppe lobte.Der Chor, <strong>der</strong> schon 18 Jahre bei allenVeranstaltungen <strong>der</strong> Landsmannschaft <strong>der</strong>Deutschen a~s Russland mitwirkt, sangunter Leitung von Richard Fis~her dasLied "Dort, in' dem Wolgaland". Glückwünschetrafen von <strong>der</strong> Landsmannschaft<strong>der</strong> Wolgadeutschen, <strong>der</strong> Schulleitung undHelmut Lobes<strong>Mariental</strong> am Kar'man -unser Schmerz und unsere LiebeReferat zur <strong>Geschichte</strong> des Ortesbeim <strong>Treffen</strong> <strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> in OsnabrückLiebe Landsleute,schön ist's, dass wir <strong>als</strong> treue <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>trotz allem, was uns an Zeit undRaum von unserem lieben Heimatdorfso schmerzhaftrennt, uns doch mal zusammengefundenhaben. In diesem Sinnemein herzliches Grüß Gott und Dank allenTeilnehmern und Gäst~n. Vielleicht setzenwir damit ein Zeichen, dem auch die Katharinenstädter,die Franker, die Balzerer,die Seelmänner -kurzum, die Nachkommenaller 22 Kantone <strong>der</strong> Wolgarepublikfolgen würden. Dann kämen wir vielleichtdoch mal zu <strong>der</strong> Erkenntnis, dass wir heimatvertriebeneWolgadeutsche sind undbilden die Laiengruppe, alle sind sehr musikalischund bieten die Konzertnummemstets mit viel Können dar.Abgeschlossen wurde das Programm mitdem Lied "Auf Wie<strong>der</strong>sehen", und zurmusikalischen Begleitung erklangen lautdie Worte: "Könnten alle Menschen auf<strong>der</strong> Welt sich gut verstehn, gäb es keinenZank und keinen Streit. Mit dem letztenGruß, bevor wir auseinan<strong>der</strong> gehen, sagenwir: Es hat uns sehr gefreut. "Die Stunden unter den Landsleuten (manchehatte sich 40 und mehr Jahre nichtmehr gesehen) vergingen wie im Fluge.Es war ein wun<strong>der</strong>bares Fest, bei demsich alle Teilnehmer und Gäste gut erholthaben.Emma Rische,Karlsruhedaher es fiir uns in dieser wild ge~ordenenWelt etwas zu erhalten gibt, nämlichunsere Wurzeln in den Heimatdörfem undunser Vätererbe in <strong>der</strong> Wolgaheimat.So hoffe ich, liebe Landsleute, auf IhreZustimmung, wenn ich mir erlaube zu behaupten,dass wir heute im Sinne dieserhohen Aufgabe uns hier pflichtbewusstversammelt haben. Denn wie heißt es dochim Volksmunde: "Ein Heimatvertriebenermuss um so mehr Heimat in sich tragen,je weniger er davon hat. " Auf unser Heimatdort<strong>Mariental</strong> bezogen, betrifft dieseBehauptung in beson<strong>der</strong>em Maße seine42VOLK AUF DEM WEG Nr. 7/2010


DIE VOLKSGRUPPEDaher zurück in die Kolonie. Dort, obwohldie meisten bei dem Überfall entführtenMenschen so auch das Vieh durch dienachgeschickten Husaren gerettet werdenkonnten, sah es schrecklich aus. Die Überlebendenbefanden sich nun im völlig zerstörten,ausgebrannten und ausgeplün<strong>der</strong>tenPfannenstiel. Auf dem Kerchhof <strong>der</strong>Kolonie ruhten unter den Hügeln zweierMassengräber die" Alten Deutschen" -dieOpfer <strong>der</strong> Schreckenstage zu <strong>Mariental</strong>vom 15. August 1776...Sechs Wagen vQll sollten es insgesamt ge~wesen sein. Die Anzahl <strong>der</strong> Bevölkerungwar somit bis über die Hälfte dezimiert.Eltern verloren ihre Kin<strong>der</strong>. Kin<strong>der</strong> ihreEltern. Eheleute waren getrennt. GanzeFamilien ausgelöscht. Die zaghafte Ord~nung im Dorfe, die so schmerzhaft gesammelteErfahrung im wirtschaftlichenBereich -alles war zerstört und zerstreut.Und obendrauf die unüberwindliche Todesangst<strong>der</strong> Schutzlosigkeit. So soll unsnicht wundem, dass kurz darauf eine Scharaus Pfannenstielern und den benachbartenKolonien sich auf den Weg nach Deutschlandmachten. Sie kamen freilich nur bisnach Pokrowsk und wurden von den Kosakeneingefangen und in ihre Wohnortezurückgepeitscht.Es musste in einem nahezu neuen Anfanggekämpft, geblutet und gelebt werden.Zuerst galt es dem Gemeindeleben. Dadas bisherige Bethaus von den Kirgisenzerstört war und "die Lust hier weiter zubleiben schwankte", so bauten sie sichaus Eichen- und Tannenholz eine kleine,für ihre damalige Gemeinde räumlicheKirche unter dem Titel "Himmelfahrt <strong>der</strong>Allerheiligsten Jungfrau Maria". ZurgleichenZeit benamsten unsere Ahnen auchPfannenstiel zu <strong>Mariental</strong> um, wohl nichtzuletzt des schönen Karmant<strong>als</strong> wegen.Derweilen lebte die Generation <strong>der</strong>" AltenDeutschen", ihr schreckliches Los erfüllt1lDd dabei zum größten Teil ermordet, aufSklavenmärkte verschleppt o<strong>der</strong> vorzeitigdurch Hunger und Seuche gestorben, instiller Wehmut ab und ging...Und wenn heute, liebe Landsleute, dieLandsmannschaft <strong>der</strong> Wolgadeutschenam Rheinufer <strong>der</strong> Hessischen FJ.auptstadteinen Gedenkstein zu errichten bemühtist, so soll je<strong>der</strong> von uns und weit darüberhinaus doch wissen: Dieser Gedenksteinsoll diesen "Alten Deutschen" geweihtwerden; Sie haben das mehr <strong>als</strong> verdient.Und wir, ihre Nachkommen, schulden dasihnen schon lange.Ihren Kin<strong>der</strong>n, das heißt den ersten wolgadeutschen<strong><strong>Mariental</strong>er</strong>n, vererbten die"Alten" keine Reichtümer in unseremheutigem Sinne. Sie hinterließen ihnendie im Kampf ums Überleben abgehärteten"Pfannenstieler Charakterzüge" wieFleiß, Mut, Tapferkeit, Standhaftigkeitund Treue. Sie hinterließen ihnen dieersten guten und bösen Erfahrungen unddas aufkeimende Gefühl <strong>der</strong> Ehrfurchtund Ergebenheit dem mit ihrem Blut undSchweiß getränktem Boden und ihrer neuenHeimat gegenüber.Aber auch die Generation <strong>der</strong> Söhnekonnte sich kaum den wirtschaftlichen,.geschweige den kulturellen Aufbauarbeitenzuwenden. Auch ihre physischen undmoralischen Anstrengungen galten vor allemdem nackten Überleben. Allein schondie Entfiihrongen des Viehs; die von denKirgisen über das Jahr 1800 hinaus gar <strong>als</strong>offenes Gewerbe betrieben wurden, mussteeigentlich jede Entwicklung <strong>der</strong> Kolonistenundenkbar machen.Nimmt man aber den unerhörten Vandalismushinzu, unter dem unsere Väterverwaltet wurden, insbeson<strong>der</strong>e <strong>als</strong> ihnen1782 die Son<strong>der</strong>rechte genommen wurden,so ist es erstaunlich, wie die Ahnensich behaupten konnten und ihre Bevölkerungszahlbeträchtlich wuchs.Erst 1797, <strong>als</strong> Kaiser Paul I. die Verordnungenseiner Mutter von 1782 aufhobund den Kolonisten ihre Verwaltung durchdas saratowsche Vormundschaftskontorzurückgab, fand auch bei den <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>Bauern ein allmählicher wirtschaftlicherAufstieg statt. Unsere Vorfahren gelangtenzu einem bestimmten Grad an Wohlstand,die Bevölkerungszahl wuchs, und im Jahre1800 baute die <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> Gemeindeeine neue Kirche. Allerdings musste auchdiese schon 1816 vergrößert werden. Esbegann eine Periode von 1815 bis 1871,die allgemein <strong>als</strong> Blütezeit nicht nur in<strong>der</strong><strong>Geschichte</strong> <strong>Mariental</strong>s bezeichnet wird.Zu Beginn dieser, möchte man sagen,glückseligen Zeit unserer Vorväter,wurden, um es mit den Worten unseresDorfchronisten, des Schulmeisters AntonSchnei<strong>der</strong>, auszudrücken, die bisherGottvergessenen Geistlichen durch diePatres, die Jesuiten, ersetzt, die 1802 in<strong>Mariental</strong> eintrafen.A; Schnei<strong>der</strong> schreibt über diese ehrwürdigenGeistlichen: "Sie bewahrten dieReinigkeit des Herzens und des Gewissensweit sorgfältiger <strong>als</strong> ihre Gesundheitund eigenes Leben, und diese Reinigkeitwar das starke Band <strong>der</strong> Freundschaftund Gnade Gottes." Einer dieser beachtenswertenGeistlichen, Pater AloisiusMoritz, stand, nach A. Schnei<strong>der</strong>, schonzu seiner Lebzeit im Rufe des Heiligen.Er starb 1805 bei seinen Eingepfarrten <strong>als</strong>Heiliger und wurde auf dem alten Kirchhofzu <strong>Mariental</strong> begraben. Über seinemGrabe wurde später eine Kapelle, dieKerchhofskapelle, errichtet.Eine zweite Kapelle, 's Kapelje, stand amgegenüberliegenden Ufer des Kar'mans,hoch über die Obstgärten im Tal hinausragend,am sanften Hange des ~isenbergs.Etwas im Voraus sei hier bemerkt, dassauch diese Kapelle <strong>der</strong> "Großen sozialistischenKulturrevolution", welcher, wiebekannt, überall Raub und Zerstörung zuGrunde liegen, zum Opfer gefallen ist.Merkwürdig, man sang Anfang <strong>der</strong> 30erJahre im wettbewerb lichen Sinne n'Schnärchelche':D'r erschte Kolektivhat'n Volkshaus,Un' d'r zwete gibt'm nix 'raus.Un' d'r drite, liwe Lait,<strong>der</strong> find' ke' Haus,Ai jai, jai usw.Im Ergebnis wurde das Kapelje "am Kirgisenberg"vom "Kolchos Nummer 3" abgerissenund ein Klubhaus daraus gebaut.Einige Jahre später traf dasselbe Schicksaldie Herzoger Pfarrkirche, <strong>der</strong>en Ziegelsteineam Bau <strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> Mittelschuleverwendet wurden. Das alles geschahaber einige Jahrzenten später, schon zuunserer Väter turbulenten Zeiten...Aber zurück zu den Vorvätern. Im Jahre1820 mussten die <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> sich vonden Jesuiten-Patres, die Russland zu verlassengezwungen waren, schweren Herzensverabschieden.Unter dieser Patres Obhut sich geistig,aber auch materiell gut erholt, ist die Gemeinde<strong>Mariental</strong> zahlenmäßig<strong>der</strong>maßengewachsen, dass de~ Bau einer neuen,großen, steinernen K*che nicht mehr auszuweichenwar. 1834 war <strong>der</strong> Kirchenbauabgeschlossen und, wie uns <strong>der</strong>Dorfchronistberichtet, "stand die hochlöblicheKirche flot und fertig da, <strong>als</strong> eine BrautimHochzeitlichen Ehrenkleide angetan, undwurde mit größten Feierlichkeiten dem TitelMaria Himmelfahrt in demselben Jahreeingeweiht". Als die Kirche 1849 endgültigeingeweiht wurde, hatte sich <strong>Mariental</strong>zu einem stattlichen, mit knapp 3.000Einwohnern größtem Dorf am Kar'manentwickelt; es stieg allmählich zu einemadministrativen und geistig-kulturellenZentrum auf.1859 gab es in <strong>Mariental</strong> schon 3.663 Einwohner,und trotz mehrerer witterungsbedingterMissjahre werden die fiinf letztenJahrzehnte <strong>der</strong> <strong>Geschichte</strong> <strong>Mariental</strong>s <strong>als</strong>"Güldene Zeit" benannt. Zu dieser Zeitentstand auch <strong>Mariental</strong>s erste TochterkolonieNeu-<strong>Mariental</strong>, 30 km südostwärtsvon <strong>Mariental</strong> entfernt. Doch bald sollteauch diese Ruhepause zu Ende gehen.Fortsetzung in <strong>der</strong> nächsten Ausgabe.44 VOLK AUF DEM WEG Nr. 7/2010


DIE VOLKSGRUPPEHelmut Lobes<strong>Mariental</strong> am Kar'man -unser Schmerz und unsere LiebeReferat zur <strong>Geschichte</strong> des Ortesbeim <strong>Treffen</strong> <strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> in Osnabrück(Fortsetzung von VadW 7/2010, S. 42-44)Ab dem Jahre 1871 gab es tiefgreifendeEinschnitte auch im Leben <strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>seitens des russischen Staates. So wurdennach dem Gesetz vom 4. Juni 1871alle Rechte, die bei <strong>der</strong> Ansiedlung denDeutschen von demselben Staat heilig"auf ewige Zeiten" gewährt worden waren,jetzt endgültig aufgehoben.Am schlimmsten traf es die Schulen. Siewurden in <strong>Mariental</strong> wie in den übrigengeschlossenen deutschen Gemeindenrussifiziert.Da aber im Dorfe die UmgangsspracheDeutsch und nur Deutsch war, sokam <strong>der</strong> ohnehin verkümmerte Unterrichtnahezu zum Erliegen.Die deutschen Siedlungen bekamen russischeOrtsnamen; so wurde aus <strong>Mariental</strong>in <strong>der</strong> Amtssprache ein Tonkoschurowka,was die <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> selbstverständlichnicht störte, ihr Dorf mit dem vonihnen gegebenen Namen zu nennen. pasKolonistenkontor in Saratow wurde aufgehoben,die deutschen Gemeinden demInnenministerium unterstellt. Diesem Ministeriumwurde auch die Überwachung<strong>der</strong> "fremdländischen Konfessionen" zugeteilt.Ab 1874 mussten die Söhne <strong>der</strong><strong><strong>Mariental</strong>er</strong> zur russischen Wehrmacht.Weil aber all diese Maßnahmen nichtsan<strong>der</strong>es <strong>als</strong> Russifizierungsmaßnahmenzu bedeuten hatten, rief diese Bedrohungauch bei den <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> große Beunruhigunghervor. Und sie reagierten daraufmit Gegenwehr. Zum ersten Mal habensie verkündet, dass sie um ihre völkischeExistenz und um ihre Glaubensfreiheitbereit seien, alle wirtschaftlichen Vorteileund selbst die Heimat aufzugeben und dasLand zu verlassen. Es hieß: "Den Erfolgunserer Arbeit könnt ihr nehmen, lasst unsunsere deutsche Sprache und Familien,unsere deutsche Schule und unsere Kirche."Sie wurden nicht gehört...lichen Folgen für künftige Generationen<strong>der</strong> Deutschen in Russland.Die genaue Zahl <strong>der</strong> ausgewan<strong>der</strong>ten <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>,Grafer, Herzoger, Rohle<strong>der</strong>eretc. wartet noch auf ihre Feststellung. Siemuss aber beträchtlich sein, wenn mandie Kolonien in den USA, Argentinienund Brasilien in Betracht nimmt, die vonAuswan<strong>der</strong>ern aus den oben genanntenKolonien gegründet worden sind und denNamen <strong>Mariental</strong> tragen.Die meisten <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> sind aber imLaufe <strong>der</strong> 50 Jahre andauernden Auswan<strong>der</strong>ungin alle Himmelsrichtungen spurlosausgewan<strong>der</strong>t.Nun aber zurück in unser <strong>Mariental</strong>. Dortherrschte längst <strong>der</strong> schreckliche Alltagdes 1. Weltkrieges. Die wehrpflichtigenMänner <strong>Mariental</strong>s leisteten ihrenDienst in <strong>der</strong> Zarenarmee ab. Als Helferdes deutschen Kaisers abgehetzt, starbensie zuhauf an <strong>der</strong> türkischen Front durchHunger, Typhus und Kälte in den eisigenSchluchten des Kaukasus. Nachrichtenvon ihnen kamen in das Heitnatdorf nurauf Umwegen, denn deutsch schreibendurften sie.nicht und russisch konnten sienicht. Ihre Angehörigen zu Hause lebtenunter dem Schock <strong>der</strong> "Liquidationsgeset-ze" <strong>der</strong> russischen Duma vom 2. Februarund 15. Dezember 1915. Laut diesen Gesetzensollten auch die Wolgadeutschenenteignet und nach Sibirien verjagt werden.Das Datum -April 1917 .Die Februarrevo1ution stoppte vorerst maldiesen Wahn. Auf <strong>der</strong> Tagesordnung desbrodelnden Landes stand ganz groß geschriebendas Selbstbestimmungsrecht<strong>der</strong> Völker des russischen Vielvölkerimperiums.Um dieses Recht für sich umzusetzen,fanden im gesamten Wo1gagebietentsprechende politische Bewegungenund Aktivitäten statt, an denen sich auchdie <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> massiv beteiligten. Undnun war es geschaffen:"Das kulturelle Leben <strong>der</strong> deutschenKolonisten, <strong>der</strong> Gebrauch ihrer Muttersprachein den Schulen, in <strong>der</strong> örtlichenVerwaltung, im Gericht und imöffentlichen Leben unterliegt gemäß<strong>der</strong> Sowjetischen Verfassung keinerleiEinschränkung." So hieß es im P. 7 desDekrets "über die Bildung des Gebietes<strong>der</strong> Wo1gadeutschen" vom 19. Oktober1918.Aber um welchen Preis!1918 und 1919 waren gute Emtejahre.19191ieferte <strong>Mariental</strong> dem staatlich auf-So begann 1874 die große Auswan<strong>der</strong>ungsbewegungauch aus <strong>Mariental</strong> nachÜbersee; in die USA, nach Kanada, Brasilien,Argentinien etc. Der Hetzruf imKaiserlichen Manifest Alexan<strong>der</strong>s 111. von1881 "Russland muss den Russen gehören!"sorgte für das Übrige, nämlich fürden aufkommenden Deutschenhass auchgegen die Kolonisten mit all seinen wi<strong>der</strong>-Frieda Dercho (rechts), Vorsitzende <strong>der</strong> Ortsgruppe Osnabrück <strong>der</strong> Landsmannschaft, diesich seit Jahren in beson<strong>der</strong>er Weise um Kontakte zu <strong>Mariental</strong> bemüht, im Schulmuseumdes Ortes.36VOLK AUF DEM WEG Nr. 8-9/2010


DIE VOLKSGRUPPEWas mit den <strong>Mariental</strong>em nach diesem Hölle <strong>der</strong> sowjetischen KZsmitmachenErlass geschah, ist wohl im Allgemeinen musste.bekannt. Einige greifbare Angaben bringt Er schreibt: "... Endlich kamen wir mSoliuns<strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> Johannes Hermann, kamsk an. Hier endete die Bahn, und jetzt<strong>der</strong> <strong>als</strong> 17-jähriger Junge am Nordural die ging es mehr <strong>als</strong> 200 km zu Fuß weiter,"WI!!Ji!g"';;'~1i"f;:;'fri\""i bis wir am 23. Februar1 HermannJohannes AdolffV"""hper)C"'~.) .~""".i,",, 1942 in dem Uraler Ur-.,. \"~ ,1;11111$; $2. Hermann Johannes Johan. (Matze Hanes),,:,IW~\!Wt~ 'C\ wald in dem Straflager.,. '. "i' Timscher ankamen. Die,3. Hermann Alexan<strong>der</strong> (Welse San<strong>der</strong> ) gest.; Sträfl .' h tt .., .mge a en SIe m4.. Hermann Peter (Welse Peter) ge$t, ein an<strong>der</strong>es Lager über-; c5. Hermann Leo (Weise Leo) gest:, führt und uns an ihrer'"6. Hermann Peter, Peter (Weise Peters Sohn) i;c:~: Stelle hier eingepfercht.7 H Al d (H ." B I S hn) !ifi:fllif'rl Wir kamen in<strong>der</strong> Nacht.ermann eXan er onge arte SO"!'.'!!" ,,!'i t0 dm U " d e an un d wIe '. lID8. Hennann Alexan<strong>der</strong> (Hörige San<strong>der</strong>s Sohn) g~"ß Traum verkrochen wir9. Kin<strong>der</strong>knecht Klemens (Felde) i '" uns in die Baracken und1 O. Kin<strong>der</strong>knecht Adolf (Felde) vermisst. schliefen ein.11. Korbie Johannes (Feldbauleiter) gest.'. ~ nächsten Tag, <strong>als</strong>.'WIr auf den Hof kamen12. Korble Peter, Johannes gesL, und uns das Bild des La-13. Rische Adolf (Stofels) gers ansahen, versanken14. Rische Johannes (Stofels) gest. alle in tiefe Trauer. Es15. Rische Alois (Stofels) gest. kam j~tzt noch brennen-.<strong>der</strong>16. Hunger Jakob (VorsItzen<strong>der</strong>)dIe Frage 'Warum?Was haben wir verschul-17 .Seitz Alexan<strong>der</strong> (Singseitz) gest. det? Warum ohne Ge-18:Gosnitz Ewald (Kundeis) gest. richt eine so harte Stra-19. Scheffing Viktor gest.. fe? Warum sind wir in20. Scheffin EduardgeSLgeinem Straflager? Undnoch Tausende Warum.'21. WolfAlois gest. Das Lager war mit einer22. Wolf Alexan<strong>der</strong> li: hohen Wand aus Pfos-"",;23. Kohlmeier Peter ge~;;( ten, die senkrecht, dicht24.. Kohlmeier Alexan<strong>der</strong>, Alexan<strong>der</strong> g~t.'; ~einan<strong>der</strong> in die Erdec .'~'" emgegrab~n waren, ~-25. Gerstner Alexan<strong>der</strong> g~t,',; geben. In je<strong>der</strong> Ecke ~m,"i26. Bartel (Buchhalter) ,,',i;;! Wachturm",," .27. Gerstner Alexan<strong>der</strong> (Gerstners Martin) g~rg Aus <strong>Mariental</strong> waren28. Schemberger Peter ~i!;~! wir ~ur noc~ 49 Mann.geblieben, dIe an<strong>der</strong>en29. HermannAlbert (Feme) hatte man woan<strong>der</strong>s ab-30. SeitzAlbert gesetzt."31. Seitz Alois32. Weigel Hermann33. Rohr34. Hermann Peter, Johann(Hörige San<strong>der</strong>s Sohn)'35. Kin<strong>der</strong>knecht Adolf (Scheppeter)36. Kin<strong>der</strong>knecht Joseph (Scheppeter)37.. Gosnitz Johannes, Johann (Kundeis)38. Hansen Alois (Tinese Alwis)39. Schnei<strong>der</strong> Adolf40. Hennan Anton, Lawrenti (Matze)41. Hennann Johannes, Lawrenti (Matze)42. Zwinger Peter (Anne-Katrein)43. Zwinger Rudolf (Anne-Katrein )44. Seitz Nikolaus (Singseitz)45. Leirich Theophil (Lehrer)46. Gerber Johannes, Johannes (Andrese Hans)47. Schemberger Leo (Scherese Klos)48. Obholz Kasper.--~--~38 VOLK AUF DEM WEG Nr.8-9/2010kenswert, Sowjetskoje! Statt Iwanowka,Sergejewka, Schapowalowka usW., wennschon...lm selben Herbst 1941 wurde das Dorfmit Flüchtlingskontingent besiedelt, dasallerdings 1944 wie<strong>der</strong> gen Westen abzog,so dass man gezwungen war, sich 1946durch Werbeaktionen im Westen des Landesum neue Bewohner für das Dorf zubemühen.Wie das Dorf heute aussieht?Verwüstet wie überall, von wo Menschenvertrieben wurden, sei es in Ostpreußeno<strong>der</strong> im Sudetenland, in Schlesien o<strong>der</strong>im Land <strong>der</strong> Wolgadeutschen. Knapp 70Jahre nach <strong>der</strong> Vertreibung! Man wird denGedanken nicht los, <strong>als</strong> gehe es hier nichtnur um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeitwie überall dort, wo Vertreibungenstattgefunden haben, son<strong>der</strong>n um unerme~slicheSünden vor Gott und seinemSohn Jesus ChristUs. Um die Sünden vor<strong>der</strong> heiligen Christlichen Kirche...ln <strong>Mariental</strong> steht sie nun wie viele an<strong>der</strong>eheute ausgebrannt da, die 175 Jahrezurück mit dem Namen "Himmelfahrt<strong>der</strong> Allerheiligsten Jungfrau Maria" vonChristen dem Christentum eingeweihteKirche... Unbegreiflich! Die Kirche, in<strong>der</strong> Generationen von <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>n dieseWelt erblickten, mit <strong>der</strong> sie in dieser Weltlebten und starben... Diese Kirche ist heuteeine ausgebrannte Ruine...So verschwinden nach und nach die letztenMerkmale unseres <strong>Mariental</strong>s, an dieman sich noch anlehnen konnte. Wirkenda nicht auch wir mit unserer Untätigkeitund mit <strong>der</strong> uns verwesenden Gleichgültigkeitan diesem sittlichem Zerfall mit?Mich jedenfalls quälte dieses Gefühl unheimlich,<strong>als</strong> ich vor <strong>der</strong> ausgebranntenKirche stand. Und gerade dieses Gefühlerlaubte mir nicht, ein Gespräch mit denEinwohnern des Dorfes über den Brand in<strong>der</strong>, wenngleich schon lange entweihten,Kirche zu führen. Ich fürchtete die Erwi<strong>der</strong>ung:"Ja, brauchen Sie ihn überhauptNebenstehendie "Liste,fit <strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> Trudg~f:armeizen im LagerTimsc.her". Ich behaltegest. alle Bezeichnungen bei,gest. noch, diesen Ihren Tempel?"wie diese von meinemgest.. Landsmann an~ege?en, wurden, auch die Listegest. in voller Übereinstimgest.mungogest. Einen Kommentar zugest.gest.Es wurde nach <strong>der</strong> Vertreibung<strong>der</strong> <strong><strong>Mariental</strong>er</strong>,um ihre Spuren zu verwischen,in Sowjetskojeumbenannt. Bemergest.gest.IUnd was geschah mit<strong>Mariental</strong>? .Heute bitte ich Sie, liebe Landsleute, umdie Antwort auf diese Frage. Brauchenwir, <strong><strong>Mariental</strong>er</strong> und Wolgadeutsche,interessiert uns überhaupt noch irgendetwas in unserem <strong>Mariental</strong>, in unserendieser schrecklichen . Listekann je<strong>der</strong> Einzelnevon uns geben...Heimatdörfern, in <strong>der</strong> Wolgaheimat insgesamt?Wenn ja, dann müssen wir dochschnellstens unsere Kraft ~d unserenWillen vereinen, um für den Erhalt unserer<strong>Geschichte</strong> und für den Erhalt unsererHerkunft einiges zu bewirken, bevor dieletzten Spuren unserer Vorfahren endgültigverwischt und zertrampelt sind. Dennes ist ernsthaft zu bezweifeln, ob es ohneHerkunft eine menschenwürdige Zukunftüberhaupt geben kann.

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