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200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet

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<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong><br />

<strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Herausgegeben von <strong>der</strong><br />

Landsmannschaft <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland e.V.<br />

mit Unterstützung<br />

<strong>der</strong> baden-württembergischen Landesregierung<br />

Autor: Dr. Alfred Eisfeld


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

2<br />

Grußworte<br />

In diesem Jahr wird <strong>der</strong> <strong>200</strong>. <strong>Jahre</strong>stag<br />

<strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong><br />

in das <strong>Schwarzmeergebiet</strong> be-<br />

Die Geschichte Baden-Württembergs<br />

ist untrennbar verbunden<br />

mit <strong>der</strong> bewegten Geschichte <strong>der</strong><br />

gangen. Daran wird deutlich, wie lang<br />

<strong>Deutschen</strong>, die vor genau <strong>200</strong> <strong>Jahre</strong>n be-<br />

die Geschichte <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in Russgannen,<br />

in den Süden Russlands ans<br />

land ist. Dort haben sie eine historische<br />

Schwarze Meer auszuwan<strong>der</strong>n. Es wa-<br />

Aufbauarbeit für ihr Aufnahmeland geren<br />

vor allem Menschen aus Württemleistet,<br />

die erst durch den II. Weltkrieg<br />

berg, die damals dem Ruf des russischen<br />

abgebrochen ist. Sie wurden ihrer Bür-<br />

Zaren folgten und nach Bessarabien, in<br />

gerrechte beraubt, enteignet und nach<br />

die Ukraine, in den Kaukasus o<strong>der</strong> auf<br />

Sibirien und Mittelasien deportiert.<br />

die Kr<strong>im</strong> zogen. Sie haben in ihrer neu-<br />

Jochen Welt Nun kehren die Russlanddeutschen auf<br />

<strong>der</strong> Suche nach einer neuen He<strong>im</strong>at nach<br />

Heribert Rech en He<strong>im</strong>at blühende Landschaften und<br />

eine reiche Kultur geschaffen.<br />

Deutschland zurück. Vielen <strong>Deutschen</strong> ist die Leidensge- Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg suchten viele von ihschichte<br />

unserer Landsleute aus Russland unbekannt. Hier trefnen <strong>im</strong> Südwesten Deutschlands Zuflucht vor Verfolgung, Defen<br />

sie oft auf Unwissenheit und mangelnde Akzeptanz. Wir portation und Vertreibung. Hier in <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at ihrer Vorfahren<br />

müssen dafür sorgen, dass das nicht so bleibt. Die he<strong>im</strong>ische halfen sie tatkräftig mit be<strong>im</strong> Wie<strong>der</strong>aufbau unseres Landes<br />

Bevölkerung muss verstehen und anerkennen, warum die Aus- und haben so mit Willenskraft und unermüdlichem Fleiß zum<br />

siedler und ihre Angehörigen nach Deutschland übersiedeln. wirtschaftlichem Aufschwung des Landes Baden-Württemberg<br />

Verständnis setzt Geschichtskenntnis voraus. Deswegen begrü- beigetragen.<br />

ße ich Ihre Entscheidung, den <strong>200</strong>. <strong>Jahre</strong>stag <strong>der</strong> Auswande- Der Landesregierung Baden-Württembergs war es stets ein berung<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in das <strong>Schwarzmeergebiet</strong> mit einer Reihe son<strong>der</strong>es Anliegen, den Vertriebenen, Flüchtlingen und Spät-<br />

von Veranstaltungen zu begehen.<br />

aussiedlern aus Russland eine neue He<strong>im</strong>at und ein verlässli-<br />

Wir sind rechtlich und moralisch verpflichtet, die Russlandcher Ansprechpartner zu sein. In unserem Land wurde 1950 die<br />

deutschen aufzunehmen, da sie am längsten unter den Folgen Charta <strong>der</strong> deutschen He<strong>im</strong>atvertriebenen unterzeichnet und <strong>im</strong><br />

des II. Weltkrieges gelitten haben. Die Zuwan<strong>der</strong>ung muss je- selben Jahr die Landsmannschaft <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland<br />

doch sozialverträglich sein und bleiben. Dabei will ich nicht gegründet. Aus dieser engen Verbundenheit heraus hat das<br />

verschweigen, dass die Integration insbeson<strong>der</strong>e jugendlicher Land Baden-Württemberg <strong>im</strong> Jahr 1979 die Patenschaft über<br />

Aussiedler schwieriger geworden ist. Integration jedoch bedeu- die Landsmannschaft <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland übernomtet:<br />

För<strong>der</strong>n und For<strong>der</strong>n! Ich erwarte die Bereitschaft <strong>der</strong> Spätmen.aussiedler und ihrer Familien, sich aktiv an ihrer Einglie<strong>der</strong>ung Ich möchte den diesjährigen Festtag dazu nutzen, meinen Re-<br />

zu beteiligen. Es ist eine bei<strong>der</strong>seitige Herausfor<strong>der</strong>ung: Einerspekt und meine Hochachtung für die Leistungen <strong>der</strong> Deutseits<br />

müssen wir den Menschen die Rahmenbedingungen für schen aus Russland, aber auch mein Mitgefühl für diese vom<br />

eine erfolgreiche Integration schaffen - an<strong>der</strong>erseits müssen die Schicksal in beson<strong>der</strong>s schwerer Weise getroffene deutsche<br />

Spätaussiedler und ihre Familienangehörigen selbst ihre Integ- Volksgruppe auszudrücken. Ich danke <strong>der</strong> Landsmannschaft<br />

rationsanstrengungen erheblich verstärken und beson<strong>der</strong>s die <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland für die Arbeit an <strong>der</strong> Wan<strong>der</strong>aus-<br />

deutsche Sprache intensiv erlernen. Die Bundesregierung wird stellung “Deutsche aus Odessa und dem <strong>Schwarzmeergebiet</strong>”,<br />

gerne helfen, in bewährter Zusammenarbeit mit Län<strong>der</strong>n und die nun ihren Weg durch Deutschland nehmen wird, sehr herz-<br />

Kommunen, mit Kirchen und Verbänden und den vielen engalich und wünsche allen Beteiligten auch für die Zukunft die Engierten<br />

Ehrenamtlichen.<br />

ergie und den Mut, ihre wichtige Arbeit fortzusetzen.<br />

In diesem Sinne wünsche ich <strong>der</strong> Landsmannschaft weiterhin<br />

Heribert Rech<br />

viel Erfolg bei ihrer Arbeit, uns eine Fortsetzung <strong>der</strong> bewährten<br />

Staatssekretär und Landesbeauftragter für<br />

Zusammenarbeit und <strong>der</strong> Festveranstaltung zum <strong>200</strong>. <strong>Jahre</strong>stag<br />

<strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> in das <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Vertriebene, Flüchtlinge und Aussiedler<br />

einen guten Verlauf.<br />

Jochen Welt,<br />

Liebe Landsleute,<br />

Beauftragter <strong>der</strong> Bundesregierung für mit <strong>der</strong> Herausgabe <strong>der</strong> Broschüre “<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong><br />

Aussiedlerfragen und <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong>” <strong>im</strong> Jubiläumsjahr <strong>der</strong><br />

nationale Min<strong>der</strong>heiten Schwarzmeerdeutschen erinnern wir an die Geschichte von<br />

Menschen, die nach <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung zu Beginn des 19. Jahr-<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Verfasser: Dr. Alfred Eisfeld<br />

hun<strong>der</strong>ts und einer langen Blütezeit <strong>im</strong> 20. Jahrhun<strong>der</strong>t zu Opfern<br />

<strong>der</strong> stalinistischen Diktatur wurden und heute zum großen<br />

Teil wie<strong>der</strong> in die He<strong>im</strong>at ihrer Vorfahren, nach Deutschland<br />

zurückgekehrt sind.<br />

weitere Beiträge: Gertrud Braun (†), Maria Görzen Ohne die Unterstützung <strong>der</strong> baden-württembergischen Landes-<br />

Redaktion: Hans Kampen<br />

Herausgeber: Landsmannschaft<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland<br />

Abrufbar <strong>im</strong> Internet unter <strong>der</strong> Adresse:<br />

regierung und den ehrenamtlichen Einsatz vor allem des<br />

Hauptautors Dr. Alfred Eisfeld wäre diese Broschüre wohl<br />

nicht zu Stande gekommen. Wir bedanken uns dafür herzlich<br />

und hoffen, dass sie auch auf das Interesse <strong>der</strong> einhe<strong>im</strong>ischen<br />

Bevölkerung stoßen wird.<br />

www.deutscheausrussland.de<br />

Ihre Landsmannschaft


DR. ALFRED EISFELD<br />

Über die <strong>200</strong>-jährige Geschichte gibt es zahlreiche Legenden.<br />

Nicht alles, was heute erwähnenswert erscheint,<br />

wurde mündlich überliefert, manches wurde<br />

nach kurzer Zeit nicht mehr erwähnt, weil man das nicht für<br />

opportun hielt. Nach <strong>der</strong> Errichtung <strong>der</strong> Sowjetmacht waren<br />

zahlreiche Personen in <strong>der</strong> Tat gefährdet, viele waren wegen<br />

ihrer Vergangenheit Verfolgungen ausgesetzt und verloren<br />

ihr Leben.<br />

Heute wollen wir uns gemeinsam an den Weg erinnern, den<br />

die Schwarzmeerdeutschen in diesen <strong>200</strong> <strong>Jahre</strong>n zurückgelegt<br />

haben, sowie an Personen und Ereignisse, die prägend<br />

waren.<br />

Unter dem Begriff “Schwarzmeerdeutsche” bitte ich heute<br />

jene Kolonisten zu verstehen, die das Gebiet zwischen<br />

Dnjestr und Bug besiedelten. Das waren die Kolonien des<br />

Liebentaler, des Beresaner, des Kutschurganer und des<br />

Glückstaler Gebiets. Die Kolonien an <strong>der</strong> Molotschnaja, bei<br />

Melitopol und auf <strong>der</strong> Kr<strong>im</strong> nahmen ihren Anfang ein Jahr<br />

später. Deren Jubiläum werden wir <strong>200</strong>4 begehen.<br />

Entstehung <strong>der</strong> Kolonien<br />

Das Gebiet zwischen den Flüssen Dnjestr und Bug fiel bekanntlich<br />

1791 nach dem russisch-türkischen Krieg an Russland<br />

(Friedensvertrag von Jassy). Zu dieser Zeit war diese<br />

Region nur dünn besiedelt, aber keineswegs menschenleer.<br />

Sie wurde in drei Bezirke eingeteilt: Tiraspol, Otschakow<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> deutsche <strong>Ansiedlung</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Rede anlässlich <strong>der</strong> Jubiläumsfeier <strong>der</strong> Landsmannschaft <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland<br />

am 20. September <strong>200</strong>3 <strong>im</strong> Weißen Saal des Neuen Schlosses in Stuttgart<br />

Blick auf Odessa vom Handelshafen aus; Lithographie von Franz Groß aus den 1850er <strong>Jahre</strong>n.<br />

und Cherson. Zur wirtschaftlichen Erschließung wurde<br />

Gutsbesitzern, Beamten und Offizieren Land zugeteilt, verbunden<br />

mit <strong>der</strong> Verpflichtung, dieses mit Bauern aufzusiedeln.<br />

Die Aufsiedlung machte nur mäßige Fortschritte. Die<br />

Regierung sah sich daher gezwungen, Grundbesitzern wie<strong>der</strong>holt<br />

Fristverlängerungen zu gewähren.<br />

Eine Bestandsaufnahme <strong>im</strong> Sommer 1804 ergab, dass dort<br />

zu dieser Zeit 62.933 Staatsbauern siedelten, außerdem Kosaken<br />

am Bug und Bauern, die <strong>der</strong> Admiralität unterstanden.<br />

Der deutsche Südwesten (Württemberg, Baden, Pfalz sowie<br />

Elsass und Lothringen) befanden sich zu dieser Zeit in einer<br />

schwierigen Lage. Einerseits waren es <strong>der</strong> vom napoleonischen<br />

Frankreich ausgehende Druck, steigende Steuerfor<strong>der</strong>ungen<br />

und Plün<strong>der</strong>ungen durch fremde Truppen, die 1792<br />

bis 1815 wie<strong>der</strong>holt durch diese Landschaften zogen. An<strong>der</strong>erseits<br />

war es <strong>der</strong> von Neuerungen in Württemberg selbst<br />

ausgehende Druck. Württemberg wurde 1805 zum Königreich<br />

erhoben. König Friedrich bemühte sich, aus den vielen,<br />

vor kurzem noch unabhängigen Territorien einen zentralistischen<br />

Staat zu schaffen. Son<strong>der</strong>privilegien in einzelnen Gebieten<br />

wurden aufgehoben und lokale Gewohnheiten übergangen.<br />

Allein in den <strong>Jahre</strong>n 1806 bis 1814 wurden 2.342<br />

Reskripte, Dekrete und Verordnungen erlassen.<br />

Ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens war für viele<br />

Menschen <strong>im</strong> 19. Jahrhun<strong>der</strong>t ihre Kirche, wobei sie an<br />

Althergebrachtem hingen. In ihrer alten He<strong>im</strong>at, in Württemberg,<br />

galt zu Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts die alte Ord-<br />

3


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Namensliste <strong>der</strong> Kolonisten, die am 24. August 1803 mit dem<br />

ersten Transport aus Ulm in Dubosary ankamen.<br />

nung nicht mehr. Das Gesangbuch wurde bereits 1791 geän<strong>der</strong>t<br />

und enthielt nur mehr 29 Lie<strong>der</strong> in gewohnter alter Fassung.<br />

Die Unruhe in den Gemeinden war so groß, dass 1800<br />

sogar Militär zur Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> Ordnung einschreiten<br />

musste. Die Erregung darüber war noch nicht abgeklungen,<br />

da wurde 1809 die Liturgie geän<strong>der</strong>t. Viele suchten für<br />

sich nach Rettung und glaubten ihr Heil fern <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at, in<br />

Neurussland finden zu können.<br />

Der erste Transport brauchte von Galaz bis zur russischen<br />

Grenzstadt Dubosary zehn Tage. Auf dieser Strecke verstarben<br />

sechs Personen. Viele <strong>der</strong> Ankömmlinge, die am 24.<br />

August 1803 Dubosary erreichten, waren krank. Der zweite<br />

Transport mit 94 Personen kam am 28. August an. Bis zum<br />

<strong>Jahre</strong>sende kamen insgesamt neun von zehn Transporten an.<br />

Der französische Offizier Franz Ziegler hatte dafür insgesamt<br />

325 Männer und 245 Frauen mit 571 Kin<strong>der</strong>n angeworben.<br />

Die Überfahrt von Ulm bis Galatz auf <strong>der</strong> Donau und<br />

von dort auf dem Landweg weiter nach Dubosary dauerte<br />

zwischen 82 und 88 Tagen.<br />

91 Personen des ersten Transports konnten die Quarantäne<br />

am 4. September verlassen. 61 von ihnen wurden nach<br />

Odessa weiter geleitet, die restlichen 30 blieben vorerst in<br />

Dubosary.<br />

Am 5. Oktober wurde Samuel Kontenius, <strong>der</strong> Oberrichter<br />

des Neurussischen Fürsorgekontors für ausländische Ansiedler<br />

war, die Leitung <strong>der</strong> Kolonisation anvertraut. Am 17. Oktober<br />

unterzeichnete Zar Alexan<strong>der</strong> I. eine Verfügung über<br />

4<br />

den Ankauf von Land in <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Stadt Odessa, auf dem<br />

Bauernkolonien angelegt werden sollten. Diesen Tag kann<br />

man als Gründungstag <strong>der</strong> Kolonien bei Odessa betrachten,<br />

doch noch war kein Spatenstich getan. Ende November nahmen<br />

Abgesandte von sechs bereits in Odessa angekommenen<br />

Transporten das Land in Augenschein.<br />

Den ersten Winter verlebten die Kolonisten in bereitgestellten<br />

Kasernen. Herzog Richelieu, Samuel Kontenius und ihre<br />

Mitarbeiter bemühten sich währenddessen, ausreichende<br />

Flächen geeigneten Landes ausfindig zu machen und für die<br />

Anlage von Kolonien zu bekommen. Dies gelang <strong>im</strong> Frühjahr<br />

und Sommer 1804, so dass an Stelle <strong>der</strong> früheren Bauerndörfer<br />

Akarscha und Jewstafiewka die ersten Kolonien<br />

Groß-Liebental und Klein-Liebental gegründet werden<br />

konnten. Etwas später entstanden in ihrer Nähe Neuburg, Peterstal<br />

und Josefstal. Im nächsten Jahr kamen die Kolonien<br />

Alexan<strong>der</strong>hilf, Franzfeld, Mariental und Lustdorf, das bei<br />

<strong>der</strong> Gründung Kaiserhe<strong>im</strong> hieß, und 1806 Freudental dazu.<br />

Richelieu nannte diese Kolonien in einem Brief an Kontenius<br />

“unser kleines Fürstentum”.<br />

Im Sommer 1808 machten sich Handwerker und Bauern aus<br />

Baden und dem Elsass auf den Weg nach Odessa. Die russische<br />

Regierung hatte die Obergrenze für Einwan<strong>der</strong>er auf<br />

<strong>200</strong> Familien pro Jahr gesenkt, um die Ankömmlinge aufnehmen<br />

und ansiedeln zu können. Vor Ort bemühte man<br />

sich, Land für die <strong>Ansiedlung</strong> vor <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> Kolonisten<br />

zu besorgen.<br />

Die Kolonistenbezirke Glückstal und Kutschurgan entstanden<br />

fast gleichzeitig. Im Juli 1808 wurde Land für die Kolonien<br />

Neudorf, Bergdorf und Glückstal zur Verfügung gestellt.<br />

Da weitere Kolonisten unterwegs waren, in <strong>der</strong> Nähe<br />

von Odessa aber kein Land schnell genug beschafft werden<br />

konnte, entschloss sich Richelieu, Land am Kutschurganer<br />

L<strong>im</strong>an zu kaufen. 1808 konnten darauf die Kolonien Kandel,<br />

Selz und Straßburg gegründet werden.<br />

Richelieu<br />

Armand-Emmanuel-Sophie-Sept<strong>im</strong>anie<br />

du Plessis duc de Richelieu (1766-<br />

1822) aus einer alten und vornehmen<br />

französischen Adelsfamilie (seit 1791<br />

Herzog) trat 1803 in russische Dienste<br />

über und wurde Statthalter von Odessa.<br />

Zwei <strong>Jahre</strong> später wurde er Generalgouverneur<br />

von Neurussland und kümmerte<br />

sich um alle Belange einer Region,<br />

die sich vom Dnjestr bis zum Kuban erstreckte. Bekannt<br />

sind sein kriegerischer Einsatz und <strong>der</strong> Ausbau <strong>der</strong><br />

Häfen und Festungen Cherson, Kinburn, Sewastopol und<br />

Odessa. Wenig bekannt ist dagegen, das Richelieu ab Februar<br />

1804 und bis zu seiner Abreise nach Frankreich 1814<br />

die Oberaufsicht über die ausländische Kolonisation Neurusslands<br />

inne hatte.<br />

Richelieu und Kontenius kümmerten sich gemeinsam, je<strong>der</strong><br />

<strong>im</strong> Rahmen seiner Zuständigkeit, um die Kolonisten.<br />

Diese Verbindung bestand auch dann fort, als Richelieu<br />

1814 Ministerpräsident Frankreichs wurde. Überliefert<br />

sind über 90 private Briefe Richelieus an Kontenius, in denen<br />

viele Fragen <strong>der</strong> Kolonisation bis ins Detail erörtert<br />

wurden.


Kontenius<br />

Eine <strong>der</strong> bekanntesten Persönlichkeiten unter den <strong>Deutschen</strong><br />

<strong>im</strong> Russischen Reich des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts war<br />

Samuel Kontenius. Über 30 <strong>Jahre</strong> lang hat er sich mit viel<br />

Einsatz um die Kolonisten gekümmert. Er sah jede Kolonie<br />

persönlich, hinterließ zahlreiche Schriften und blieb dennoch<br />

eine rätselhafte Figur. Seine Herkunft ist bis heute nicht geklärt.<br />

Er soll in <strong>der</strong> Familie des Pastors Christian Kontenius<br />

das Licht <strong>der</strong> Welt erblickt haben. In einigen Quellen wird<br />

Schlesien, in an<strong>der</strong>en Westfalen als seine He<strong>im</strong>at genannt.<br />

Über seine wahre Herkunft wurde schon zu seinen Lebzeiten<br />

gerätselt. Er soll von vornehmer Herkunft gewesen sein, wohl<br />

vom höheren Adel abstammend, aber dieses Gehe<strong>im</strong>nis hat er<br />

nicht gelüftet. Gerätselt wurde auch über sein Alter. Genannt<br />

wurden drei verschiedene Geburtsjahre, doch er selbst nannte<br />

1749.<br />

Nach dem Studium an einer deutschen Universität, von <strong>der</strong><br />

man ebenfalls nicht weiß, welche es war, ging er <strong>im</strong> Alter von<br />

25 <strong>Jahre</strong>n nach Russland und begann sein Berufsleben als<br />

Hauslehrer bei adeligen Familien in St. Petersburg. Darauf<br />

folgte <strong>der</strong> Dienst als Postmeister in S<strong>im</strong>feropol auf <strong>der</strong> Kr<strong>im</strong><br />

(1785-1789), als Offizier (bis 1795) und als Hofrat des Geographischen<br />

Departements (ab 1797). 1798 wurde er mit <strong>der</strong><br />

Inspektion <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>kolonien in Klein- und Neurussland,<br />

die zu dieser Zeit eine schwierige Phase durchlebten, betraut.<br />

Sein umfangreicher, kenntnisreicher Bericht über die Gründe<br />

des Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> Kolonien führte zur Gründung des Fürsorgekontors<br />

für ausländische Ansiedler in Südrussland, dessen<br />

Oberrichter er in den <strong>Jahre</strong>n 1800 bis 1818 wurde.<br />

Kontenius war an <strong>der</strong> Ausarbeitung <strong>der</strong> “Instruktion für die innere<br />

Verwaltung <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>kolonien in Neurussland” von<br />

1801 beteiligt und ergänzte diese 1803 durch weitere 18 Paragraphen.<br />

Diese Instruktion blieb 70 <strong>Jahre</strong> lang, bis zur Aufhebung<br />

<strong>der</strong> Kolonialverwaltung, in Kraft.<br />

Mit <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> ersten Einwan<strong>der</strong>erwelle des <strong>Jahre</strong>s 1803<br />

wurde Kontenius mit <strong>der</strong>en Aufnahme und <strong>Ansiedlung</strong> be-<br />

Währenddessen erreichte Richelieu die Nachricht, dass weitere<br />

500 Familien aus Baden zur Auswan<strong>der</strong>ung bereit seien.<br />

Diese galten, <strong>im</strong> Unterschied zu an<strong>der</strong>en Einwan<strong>der</strong>ern aus<br />

Deutschland, als beson<strong>der</strong>s sittsam und ordentlich in <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsführung. Sie sollten getrennt von den an<strong>der</strong>en<br />

Kolonisten angesiedelt werden.<br />

Wegen <strong>der</strong> großen Zahl von Kolonisten, die 1808 bereits unterwegs<br />

nach Russland waren bzw. bereit waren aufzubrechen,<br />

wurde mit Hochdruck weiteres geeignetes Land gesucht<br />

und am Flüsschen Beresan gefunden. 1809 konnten<br />

dort die Kolonien Landau, Speyer und Rohrbach gegründet<br />

werden. 1810 kamen Worms, Sulz, Karlsruhe, Rastadt und<br />

München hinzu.<br />

Insgesamt wurden für die Anlage von Kolonien von Februar<br />

1804 bis November 1809 rund 71.900 Desjatinen Land zur<br />

Verfügung gestellt. Die Revision (Zählung <strong>der</strong> Steuerseelen)<br />

<strong>im</strong> <strong>Jahre</strong> 1811 ergab, dass in den vier Kolonistenbezirken<br />

bereits 157.609 Desjatinen Land von Kolonisten bewirtschaftet<br />

wurden. Bis 1858 wuchs das <strong>im</strong> Gouvernement<br />

Cherson zugeteilte Land bereits auf eine Fläche von 185.963<br />

Desjatinen an. Dazu kamen weitere 26.530 Desjatinen Land,<br />

die von Kolonien o<strong>der</strong> einzelnen Kolonisten gekauft wurden.<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

traut. Er kümmerte sich um jeden ankommenden Transport,<br />

besichtigte persönlich die für die <strong>Ansiedlung</strong> best<strong>im</strong>mten Stellen,<br />

kümmerte sich um den Häuserbau, die Beschaffung von<br />

Saatgut und landwirtschaftlichem Gerät. Viel Zeit und Mühe<br />

widmete er <strong>der</strong> Verbreitung von Obst- und Gemüseanbau,<br />

kümmerte sich um die Schaf- und Seidenraupenzucht (letzteres<br />

ohne bleibenden Erfolg). Für seine Ausdauer spricht u.a.,<br />

dass er <strong>im</strong> Verlauf von 20 <strong>Jahre</strong>n die Entwicklung <strong>der</strong> Schafzucht<br />

beobachtete und für die Verbreitung <strong>der</strong> gewonnenen<br />

Erkenntnisse sorgte.<br />

Am 23. März 1818 wurde Kontenius auf eigenen Wunsch aus<br />

dem Dienst entlassen, aber nach einem Dreivierteljahr erneut,<br />

dieses Mal als außerordentliches Mitglied des Fürsorgekomitees<br />

für ausländische Ansiedler in Südrussland in den Dienst<br />

aufgenommen. Selbst <strong>im</strong> Alter von 80 <strong>Jahre</strong>n versah er diesen<br />

Dienst noch, inspizierte persönlich Kolonien und kümmerte<br />

sich dabei um alle anfallenden Fragen. Im Umgang mit den<br />

Untergebenen und den Kolonisten war er streng, aber gerecht.<br />

Faule und verschwen<strong>der</strong>ische Kolonisten konnte man seiner<br />

Auffassung nach nicht ohne körperliche Züchtigung zur Ordnung<br />

erziehen. Der Erfolg gab ihm Recht.<br />

Kontenius verstarb am 30 Mai 1830 in Jekaterinoslaw und<br />

wurde in <strong>der</strong> nahegelegenen Kolonie Josefstal beigesetzt. Für<br />

das Grab und den Grabstein trafen Spenden aus den verschiedensten<br />

Kolonien Südrusslands ein, ein letztes Zeichen <strong>der</strong><br />

Verbundenheit <strong>der</strong> Kolonisten mit ihrem Wohltäter und Betreuer.<br />

Sein eigenes Vermögen hatte er zum größten Teil für<br />

den Bedarf von Schulen und Kirchen gestiftet.<br />

Den Grabstein hat K. Stumpp während eines Besuchs in Josefstal<br />

<strong>im</strong> <strong>Jahre</strong> 1942 gesehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

wurde Josefstal nach Dnjepropetrowsk eingemeindet; <strong>der</strong><br />

Friedhof musste Wochenendhäusern weichen, bei <strong>der</strong>en Bau<br />

Grabsteine als Bausteine verwendet wurden. Auch <strong>der</strong> Grabstein<br />

von Kontenius war für Jahrzehnte vom Erdboden verschwunden.<br />

Erst <strong>im</strong> Herbst <strong>200</strong>2 kam er bei Niedrigwasser<br />

nach einem regenarmen Sommer zum Vorschein; er lag <strong>im</strong><br />

Fluss und wurde von Anglern als Stütze genutzt.<br />

In <strong>der</strong> Literatur kann man häufig die Aussage antreffen, dass<br />

die Kolonisation <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong> gut vorbereitet und<br />

planmäßig verlaufen sei. Das vorgefundene Aktenmaterial<br />

zeigt ein an<strong>der</strong>es Bild: We<strong>der</strong> die Regierung in St. Petersburg<br />

noch die Verwaltung in Odessa war auf die Kolonisation<br />

gut vorbereitet. Mit viel Energie und Improvisation gelang<br />

es Herzog Richelieu und Samuel Kontenius, Land für<br />

die Anlage <strong>der</strong> Kolonien zur Verfügung zu stellen und die<br />

Einwan<strong>der</strong>er aufzunehmen und zu unterstützen. Im Zuge <strong>der</strong><br />

Beschaffung von Land gewann die Regierung auch Klarheit,<br />

wie viel Land diese Region eigentlich hatte, wem es gehörte<br />

und wie es genutzt wurde. Für die Kolonisten sollten <strong>der</strong><br />

ständige Bevölkerungszuwachs, erst durch Zuwan<strong>der</strong>ung,<br />

dann durch natürlichen Zuwachs, und <strong>der</strong> Bedarf an <strong>im</strong>mer<br />

neuem Land kennzeichnend werden.<br />

Ackerbau war nicht die einzige Einnahmequelle <strong>der</strong> Kolonisten.<br />

Sie bauten Obst, Wein und Gemüse an, hielten Bienen<br />

und züchteten Seidenraupen. Eine wichtige Rolle spielte<br />

die Viehhaltung. Aus Europa eingeführte Merinoschafe bildeten<br />

die Grundlage für eine erfolgreiche Schafzucht, die<br />

den Bedarf des russischen Marktes zu befriedigen hatte.<br />

Zur wichtigsten Einnahmequelle in <strong>der</strong> Landwirtschaft wurde<br />

jedoch <strong>der</strong> Getreideanbau. Begünstigt durch die Nähe zu<br />

5


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

6<br />

Deutsche Kirchen<br />

<strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Entwurf für das Bethaus in <strong>der</strong> Kolonie Güldendorf bei Odessa,<br />

1832.<br />

Katholische Kirche in <strong>der</strong> Kolonie Rastadt, gebaut 1871/72.<br />

Reformierte Kirche in Odessa, erbaut 1895/96; Ansichtskarte<br />

vom Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

Kirche und Schule in Elsass.


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Entwurf <strong>der</strong> katholischen Kirche für die Kolonie Rastadt (Kolonistenbezirk Beresan) von 1828, gebaut 1830.<br />

Die Kirche von Landau 1942. Die Mannhe<strong>im</strong>er Kirche nach <strong>der</strong> Zerstörung.<br />

7


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Odessa, das zwischen 1817 und 1859 die zollfreie Ausfuhr<br />

von Waren ermöglichte (Porto-franko), entwickelte sich <strong>der</strong><br />

Getreideanbau rasch und machte 1822 bereits 96 % des russischen<br />

Getreideexports aus. Bis zum <strong>Jahre</strong> 1868 war <strong>der</strong><br />

Weizenanbau für die Kolonisten dominierend geworden: Sie<br />

erzielten daraus 89 % ihrer Einnahmen. Das wie<strong>der</strong>um steigerte<br />

die Nachfrage nach <strong>im</strong>mer mehr Land und führte in<br />

<strong>der</strong> zweiten Hälfte des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts zur Gründung zahlreicher<br />

Tochterkolonien und Bauernhöfe, russisch Chutor<br />

genannt.<br />

Nach <strong>der</strong> Bauernbefreiung von 1861 verkauften o<strong>der</strong> verpachteten<br />

viele Grundbesitzer ihr Land o<strong>der</strong> Teile davon.<br />

Kolonisten konnten mit Geld, das Gemeinden durch die Verpachtung<br />

ihres Schäfereilandes erzielten, ihren Grundbesitz<br />

bedeutend erweitern. So bewirtschafteten <strong>im</strong> <strong>Jahre</strong> 1890 die<br />

auf 104.570 Personen angewachsenen deutschen Kolonisten<br />

des Gouvernements Cherson neben den 185.963 Desjatinen<br />

zugeteilten Landes 420.073 Desjatinen gekauften und<br />

606.036 Desjatinen gepachteten Landes, d. h. sie hatten die<br />

Fläche des bewirtschafteten Landes um das Fünfeinhalbfache<br />

vergrößert.<br />

Über den Entwicklungsstand des Handwerks in Odessa zu<br />

Beginn des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts gibt eine Anekdote Auskunft:<br />

Richelieu konnte nach seiner Ankunft binnen zweier Wochen<br />

nicht einmal ein paar einfache Stühle für sich auftreiben.<br />

Einen Tischler, einen Bäcker und einen Schlosser musste<br />

er sich vom Handelsminister aus St. Petersburg schicken<br />

lassen.<br />

Gegen diesen Zustand ging er energisch vor. Von den 1803<br />

in Odessa angekommenen Kolonisten wurden sogleich 42<br />

Handwerkerfamilien in <strong>der</strong> Stadt belassen. Sie bildeten eine<br />

Handwerkerkolonie. An<strong>der</strong>e Handwerker wurden in den<br />

Städten Ovidiopol und Grigoriopol angesiedelt.<br />

Bis 1819 entstanden in Odessa bereits neun deutsche Handwerkerinnungen:<br />

Z<strong>im</strong>merleute, Wagenbauer, Schlosser,<br />

Schuster, Schnei<strong>der</strong>, Buchbin<strong>der</strong>, Werkzeugmacher, Uhrmacher<br />

und Konditoren. Bis 1835 war die Innung <strong>der</strong> Z<strong>im</strong>merleute<br />

auf 52 Meister und 91 Gesellen angewachsen. Bis<br />

zu <strong>200</strong> junge Leute, darunter auch Russen, gingen bei ihnen<br />

in die Lehre. Damit wurden Kenntnisse und Fertigkeiten in<br />

einem <strong>der</strong> wichtigsten Bauberufe weiter gegeben. Für eine<br />

Werbeanzeige <strong>der</strong> Pflug-Fabrik Johann Höhn, Odessa, Ende des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts.<br />

8<br />

Katalog <strong>der</strong> Johann-Höhn-Werke für Landmaschinen, herausgegeben<br />

1904 zum 50-jährigen Jubiläum.<br />

<strong>im</strong> Aufbau befindliche Stadt war das von unschätzbarem<br />

Wert.<br />

Die Landwirtschaft konnte expandieren, weil das dafür benötigte<br />

landwirtschaftliche Gerät von Handwerkern in Odessa,<br />

aber auch in den Kolonien selbst gefertigt wurde. Am bekanntesten<br />

ist Johann Höhn und dessen<br />

Fabrik, in welcher <strong>der</strong> so genannte Kolonistenpflug<br />

entwickelt wurde. Die Produktion<br />

konnte die Nachfrage kaum decken,<br />

obwohl zu Beginn des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />

bereits 36.00 Pflüge jährlich und 1912 ca.<br />

80.000 Pflüge ausgeliefert wurden. Pflüge<br />

<strong>der</strong> Firma Höhn wurden auch in an<strong>der</strong>e<br />

Gouvernements Russlands bis nach Sibirien<br />

geliefert.<br />

Ein an<strong>der</strong>es namhaftes Unternehmen war<br />

die Firma “Bellino-Fen<strong>der</strong>ich”. 1873 aus<br />

einer Reparaturwerkstatt hervorgegangen,<br />

spezialisierte sie sich in den 1880er <strong>Jahre</strong>n<br />

auf den Bau von Dampfschiffen für die<br />

Beför<strong>der</strong>ung von Personen und Gütern,<br />

von Dampfkesseln und Waggons für die<br />

Straßenbahn, rüstete Dampfmühlen,<br />

Brauereien, Ölmühlen und an<strong>der</strong>e Betriebe<br />

aus.


Kirche und Schule<br />

Auszug aus dem Gesetz für die<br />

evangelisch-lutherische Kirche<br />

in Russland (1832)<br />

§ 9<br />

In den Evangelisch-Lutherischen Kirchen Russlands werden<br />

außer den Sonntagen folgende Feste gefeiert: an zwei Tagen<br />

das Fest <strong>der</strong> Geburt Christi (den 25. und 26. Dezember), <strong>der</strong><br />

Neujahrstag (den 1. Januar), das Fest <strong>der</strong> Erscheinung Christi<br />

(den 6. Januar), Mariae-Verkündigung (den 25. März), Gründonnerstag,<br />

Charfreitag, <strong>der</strong> 1-te und 2-te Tag des Osterfestes,<br />

Christi H<strong>im</strong>melfahrt, zwei Tage des Pfingstfestes, das<br />

Fest Johannis des Täufers (den 24. Juni), <strong>der</strong> allgemeine Bußund<br />

Bettag (am Mittwoch nach dem Sonntage Invocativ), das<br />

Erndtefest (am ersten Sonntage nach Michaelis), das Reformations-Fest<br />

(den 19/31. October o<strong>der</strong> am ersten darauf folgenden<br />

Sonntage), die Todtenfeier zum Andenken an die <strong>im</strong><br />

Verlaufe des <strong>Jahre</strong>s Verstorbenen (am letzten Sonntage des<br />

Kirchen-<strong>Jahre</strong>s) und endlich das Kirchweihfest, wo solches<br />

bisher gefeiert worden o<strong>der</strong> die Gemeinde diese Feier einzuführen<br />

wünscht.<br />

§ 10<br />

Außer den Kirchenfesten werden in allen Evangelisch-Lutherischen<br />

Kirchen in Russland gefeiert: die Geburts- und Namenstage<br />

Ihrer Majestäten des Kaisers und <strong>der</strong> Kaiserin und<br />

Seiner Kaiserlichen Hoheit des Thronfolgers, Großfürsten<br />

Zesarewitsch, und an<strong>der</strong>e Staatsfeste, die in dem zu diesem<br />

Behufe von dem Ministerium <strong>der</strong> innern Angelegenheiten<br />

jährlich herauszugebenden, beson<strong>der</strong>n Verzeichnisse angegeben<br />

werden.<br />

§ 290<br />

Alle Evangelisch-Lutherischen Gemeinden in Russland, mit<br />

Ausnahme <strong>der</strong> auf den Colonieen in Grusien befindlichen,<br />

stehen unter <strong>der</strong> Aufsicht <strong>der</strong> Provinzial- o<strong>der</strong> Stadt-Consistorien,<br />

<strong>der</strong>en Zahl gegenwärtig auf acht festgesetzt wird:<br />

1) Das St. Petersburgische, 2) das Liefländische, 3) das Ehstländische,<br />

4) das Kurländische, 5) das Moskowische, 6) das<br />

Oeselsche, 7) das Rigasche und 8) das Revalsche.<br />

§ 291<br />

Zu den Bezirken dieser Consistorien gehören:<br />

1) Zu dem Bezirke des St. Petersburgischen Provinzial-Consistoriums:<br />

die Evangelisch-Lutherischen Gemeinden des<br />

Gouvernements St. Petersburg, die Städte Kronstadt und Narwa<br />

mit einbegriffen, ferner die Gouvernements Nowgorod,<br />

Pleskow, Wologda, Olonetz, Archangel, Kostroma, Jaroslaw,<br />

Smolensk, Tschernigow, Volhynien, Podolien, Kiew, Poltawa,<br />

Ekaterinoslaw, Taurien, Cherson mit <strong>der</strong> Stadt Odessa,<br />

und des Gebiets von Bessarabien.<br />

Die Kirche stand nicht nur inmitten <strong>der</strong> Kolonie, sie bildete<br />

auch den Mittelpunkt des geistigen und kulturellen Lebens<br />

<strong>der</strong> Kolonisten. Die evangelisch-lutherischen Gemeinden<br />

des <strong>Schwarzmeergebiet</strong>s bildeten seit 1832 den 2. Probstbezirk<br />

des St. Petersburger Konsistorialbezirks.<br />

Die römisch-katholischen Gemeinden des <strong>Schwarzmeergebiet</strong>s<br />

und <strong>der</strong> Wolgaregion bildeten seit 1848 das Bistum Tiraspol,<br />

dessen Bischofssitz sich von 1856 bis 1917 in Saratow<br />

befand. Über die Geschichte bei<strong>der</strong> Konfessionen gibt<br />

es zahlreiche wissenschaftliche Publikationen in deutscher<br />

und in den letzten <strong>Jahre</strong>n auch neuere Arbeiten in russischer<br />

Sprache. Auf einen Exkurs kann hier daher verzichtet werden.<br />

Der Hinweis auf eines <strong>der</strong> Betätigungsfel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Kir-<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

che, auf die Kirchenschule, verdeutlicht allein schon <strong>der</strong>en<br />

Verdienste.<br />

Die erste Kolonistenschule wurde mit <strong>der</strong> Gründung <strong>der</strong><br />

Handwerkerkolonie in Odessa eingerichtet. Sie wurde von<br />

Knaben und Mädchen besucht, die in Lesen, Schreiben,<br />

Rechnen, Deutsch, Russisch und Gesang unterrichtet wurden.<br />

Im <strong>Jahre</strong> 1825 wurde <strong>der</strong> Unterricht in <strong>der</strong> Kirchenschule<br />

<strong>der</strong> evangelisch-lutherischen St.-Pauli-Kirche aufgenommen.<br />

Diese Schule wurde ganz wesentlich vom Pastor<br />

<strong>der</strong> Gemeinde, Karl Fletnitzer, erst als Lehrer, dann 40 <strong>Jahre</strong><br />

lang als Pastor und ab 1857 als Direktor geprägt. Mit Zust<strong>im</strong>mung<br />

des Bildungsministeriums wurde die Gemeindeschule<br />

1857 in eine Realschule mit zwei Abteilungen umgewandelt.<br />

In <strong>der</strong> Realabteilung wurden neben Deutsch, Russisch<br />

und Französisch Arithmetik, Geometrie, Erdkunde,<br />

Geschichte, Gesang, Religion und Zeichnen unterrichtet. In<br />

<strong>der</strong> Abteilung für Mädchen wurden ebenfalls Deutsch, Russisch,<br />

Französisch, Arithmetik, Erdkunde, Geschichte, Religion<br />

und Gesang sowie Handarbeit und Haushaltsführung<br />

unterrichtet. Die Abteilung für die kaufmännischen Berufe,<br />

wie wir das heute nennen würden, konnte nach Abschluss<br />

<strong>der</strong> Realschulabteilung besucht werden. Dort wurden zusätzlich<br />

zu den drei Sprachen noch Englisch und Italienisch,<br />

Physik, Technologie, Mechanik und Buchhaltung unterrichtet.<br />

So gerüstet, konnten sich die Absolventen in ihren Berufen<br />

bestens behaupten und erfolgreich arbeiten.<br />

Am 1. Januar hatte die St.-Pauli-Realschule 720 Schüler, davon<br />

498 Knaben und 222 Mädchen.<br />

In den Bauernkolonien wurden nach <strong>der</strong>en Gründung ebenfalls<br />

Kirchenschulen gegründet, <strong>der</strong>en Besuch für Knaben<br />

und Mädchen <strong>im</strong> Alter von 8 bis 14 <strong>Jahre</strong>n obligatorisch<br />

war. Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t nannte man die Kirchenschule oft<br />

eine Anstalt, in <strong>der</strong> lediglich auf die Konfirmation bzw.<br />

Kommunion vorbereitet wurde. Diese abschätzige Bewertung<br />

entsprach nicht <strong>der</strong> Wirklichkeit. Die Qualität des Unterrichts<br />

war sicher von Schule zu Schule unterschiedlich<br />

und entsprach nicht <strong>im</strong>mer den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Zeit. Ein<br />

Blick in die Statistiken <strong>der</strong> Landschaftsverwaltung zeigt,<br />

dass 1889 von den 154 Schulen <strong>im</strong> Bezirk Odessa 54 auf die<br />

deutschen Kolonien entfielen. Pro 1.000 deutsche Einwohner<br />

des Bezirks zählte man 122 Schüler. Bei <strong>der</strong> nichtdeutschen<br />

Bevölkerung waren es gerade mal 32,7 Schüler.<br />

Zum <strong>Jahre</strong> 1912 gab es in den Kolonien außer den Kirchenschulen<br />

vier private Progymnasien, eine Taubstummenan-<br />

Die Taubstummenanstalt in Worms.<br />

9


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

stalt in Worms, Zentralschulen in Landau und Großliebental<br />

und eine private Realschule in Neu-Freudental. In Odessa<br />

fand Unterricht außer an <strong>der</strong> St.-Pauli-Realschule an <strong>der</strong> privaten<br />

Handelsschule von Heinrich Feig und am ebenfalls<br />

privaten Gymnasium von A. Jungmeister statt. Der Wert einer<br />

höheren Bildung wurde von <strong>der</strong> deutschen Bevölkerung<br />

erkannt.<br />

Jahrzehnt <strong>der</strong> Umbrüche und Reformen<br />

(1861 bis 1871)<br />

Über den Status <strong>der</strong> Kolonisten und <strong>der</strong>en Verwaltung gibt<br />

es in <strong>der</strong> Presse noch <strong>im</strong>mer manches zu lesen, was die Autoren<br />

längst wissen müssten: Die Kolonisten leisteten nach<br />

ihrem Eintreffen in Russland den Untertaneneid, sie wurden<br />

russische Untertanen.<br />

Die hoch gelobte Selbstverwaltung erfolgte nach Regeln, die<br />

auch für die russischen Staatsbauern galten. Außer den aus<br />

eigener Mitte gewählten Dorfschulzen, Oberschulzen, <strong>der</strong>en<br />

Beisitzern und den Ältesten für je zehn Höfe (Desjatskij) übten<br />

Kolonieaufseher des Fürsorgekontors, später des Fürsorgekomitees<br />

die Aufsicht über die Kolonien aus. Außer <strong>der</strong><br />

nie<strong>der</strong>en Gerichtsbarkeit fielen alle Streit- und Strafsachen<br />

in die Zuständigkeit <strong>der</strong> allgemeinen Justiz. Natürlich war<br />

die rechtliche Lage <strong>der</strong> Kolonisten ungleich besser als die<br />

<strong>der</strong> leibeigenen Bauern. Sie entsprach, mit wenigen Ausnahmen,<br />

dem Status <strong>der</strong> Staatsbauern, denn Kolonisten galten<br />

als solche.<br />

Nach <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>lage Russlands <strong>im</strong> Kr<strong>im</strong>-Krieg (1854-56)<br />

trat das Land in eine Periode bedeuten<strong>der</strong> Reformen ein. Die<br />

Befreiung <strong>der</strong> leibeigenen Bauern, die Justiz-, die Verwaltungs-<br />

und die Militärreform verän<strong>der</strong>ten Russland. Sie<br />

brachten auch bedeutende Än<strong>der</strong>ungen für die Kolonisten<br />

mit sich. Nach <strong>der</strong> Befreiung <strong>der</strong> leibeigenen Bauern trennten<br />

sich Gutsbesitzer leichter von ihrem Land. Die Kolonistengemeinden<br />

konnten leichter Land zum Pachten und Kaufen<br />

finden, auch wenn die Preise stark anstiegen.<br />

Über die Selbstverwaltung <strong>der</strong> Kolonisten ist <strong>im</strong> Schrifttum<br />

nachzulesen, es sei ein von den Zaren gewährtes Privileg gewesen.<br />

Dabei wird übersehen, dass die “Instruktion für die<br />

innere Verwaltung <strong>der</strong> Auslän<strong>der</strong>kolonien Neurusslands”<br />

(16. Mai 1801) in den Best<strong>im</strong>mungen über die Verwaltungsorgane<br />

und Amtspersonen in den Kolonien und Kolonistenbezirken<br />

sowie <strong>der</strong>en Kompetenzen dem Zaren-Ukas des<br />

<strong>Jahre</strong>s 1797 “Über die Aufteilung <strong>der</strong> Siedlungen auf Staatsland<br />

in Kreise und <strong>der</strong>en innere Verwaltung” entsprach.<br />

Die Agrarreform von 1861 gab den nun befreiten ehemaligen<br />

leibeigenen Bauern die Möglichkeit, Dorfgemeinden<br />

und Kreise zu bilden und ihre Gemeinde- und Kreisverwaltung<br />

nach dem Vorbild des “Kolonialstatuts für Auslän<strong>der</strong>kolonien<br />

<strong>im</strong> Reich” von 1857 einzurichten.<br />

Der nächste Schritt zur Rechtsangleichung wurde 1864 mit<br />

<strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Landschaftsverwaltung auf <strong>der</strong> Bezirksund<br />

Gouvernementsebene vollzogen. Der Adel, die Großgrundbesitzer<br />

und Kaufleute bildeten die erste und zweite<br />

Wahlkurie, die Bauern die dritte. Dieser Unterteilung lag ein<br />

Vermögenszensus zu Grunde. Es war keine Benachteiligung<br />

aufgrund <strong>der</strong> Volkszugehörigkeit.<br />

Kolonisten beteiligten sich an den Wahlen und konnten für<br />

die erste Wahlperiode <strong>der</strong> Landschaftsversammlung des<br />

Odessaer Bezirks (1865-1868) fünf Abgeordnete aus ihren<br />

Reihen wählen. Das waren 12,5 % <strong>der</strong> Abgeordneten. Für<br />

10<br />

die zweite Wahlperiode (1868-1871) stellten sie 40 % <strong>der</strong><br />

Abgeordneten von den Grundbesitzern und 30,77 % von den<br />

Dorfgemeinden. J. A. Kun<strong>der</strong>t wurde zum Mitglied <strong>der</strong> Bezirksverwaltung<br />

gewählt. Die Bezirksverwaltung bestand<br />

aus dem Vorsitzenden und drei Mitglie<strong>der</strong>n.<br />

In die Landschaftsverwaltung des Gouvernements Cherson<br />

wurde für die erste Wahlperiode kein deutscher Abgeordneter<br />

vom Bezirk Odessa entsandt. Für die zweite Wahlperiode<br />

waren es bereits zwei von sieben (28,57 %). Zu dieser Zeit<br />

hielt das Fürsorgekomitee noch seine schützende Hand über<br />

die Kolonien.<br />

Nach <strong>der</strong> Aufhebung <strong>der</strong> Kolonialverwaltung ließ das Engagement<br />

<strong>der</strong> Siedler-Landeigentümer, wie die Kolonisten jetzt<br />

offiziell hießen, nicht nach. Von den Grundeigentümern<br />

wurden 15 Deutsche (75 %) und vom Bauernstand fünf<br />

(35,71 %) gewählt. Zwei Deutsche wurden Mitglie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

vierköpfigen Bezirksverwaltung. Auch in <strong>der</strong> Gouvernementslandschaftsversammlung<br />

waren die <strong>Deutschen</strong> mit vier<br />

Abgeordneten (57,14 %) überrepräsentiert.<br />

Diese Zahlen belegen, dass die Kolonisten keineswegs unvorbereitet<br />

in das Jahr 1871 kamen. Sie hatten bereits gelernt,<br />

erfolgreich für ihre Interessen einzustehen und sich gemeinsam<br />

mit den an<strong>der</strong>svölkischen Nachbarn um das Gemeinwohl<br />

zu kümmern.<br />

Wehrpflicht<br />

Die Einführung <strong>der</strong> Wehrpflicht war sicher eine gravierende<br />

Neuerung. Sie war aber offensichtlich weniger schmerzhaft<br />

als befürchtet. Vor dieser Reform hatten Rekruten 15 <strong>Jahre</strong><br />

lang zu dienen. Nach dem Wehrgesetz von 1871 dauerte <strong>der</strong><br />

Wehrdienst höchstens sechs <strong>Jahre</strong>. Wer eine Volksschule absolviert<br />

hatte, musste vier <strong>Jahre</strong> lang dienen; Absolventen einer<br />

Hochschule dienten nur drei Monate. Da <strong>der</strong> Besuch <strong>der</strong><br />

Kirchenschule für alle Kolonistenkin<strong>der</strong> obligatorisch war,<br />

verkürzte sich ihr Militärdienst. Söhne, welche den Bauernhof<br />

führten und somit Ernährer <strong>der</strong> Familie waren, blieben<br />

vom Militärdienst ausgenommen.<br />

Mennoniten sahen mit <strong>der</strong> Einführung <strong>der</strong> Dienstpflicht auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage des “Statuts über die Wehrpflicht” große<br />

Probleme auf sich zukommen. Auch wenn es letztendlich<br />

gelang, für Mennoniten eine Ausnahme zu erreichen, indem<br />

sie ihren Dienst ohne Waffen zu leisten hatten (Regeln über<br />

die Ableistung <strong>der</strong> obligatorischen Dienstpflicht durch Mennoniten,<br />

1875), war die Unruhe groß. In den <strong>Jahre</strong>n 1874 bis<br />

1880 wan<strong>der</strong>ten ca. 15.000 Mennoniten nach USA aus, obwohl<br />

die amerikanische Regierung ihnen keine Befreiung<br />

vom Wehrdienst gewährte. Sie bekamen reichlich Land zugewiesen<br />

und hinterließen ihren Gemeinden <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

das bisher bewirtschaftete Land. Damit trat eine<br />

gewisse Entspannung in den übervölkerten Kolonien an <strong>der</strong><br />

Molotschnaja ein. Auch aus dem Gouvernement Cherson<br />

wan<strong>der</strong>ten von 1871 bis Ende August 1873 131 Familien<br />

nach Nordamerika aus. In den darauffolgenden <strong>Jahre</strong>n zählte<br />

man die Auswan<strong>der</strong>er in Tausenden. Die Auswan<strong>der</strong>ung war<br />

auf <strong>der</strong> Grundlage des Gesetzes über die Aufhebung des Kolonistenstandes<br />

von 1871 binnen zehn <strong>Jahre</strong>n unter Mitnahme<br />

des Eigentums möglich. Davon machten insgesamt mehrere<br />

zehntausend Mennoniten, deutsche und bulgarische Kolonisten<br />

Gebrauch.<br />

Insgesamt scheint <strong>der</strong> Militärdienst in Friedenszeiten für die<br />

Kolonisten weniger schwer gewesen zu sein, als man dies


efürchten hatte müssen. Natürlich gab es zahlreiche Versuche,<br />

dem Militärdienst wegen angeblich schlechter Gesundheit<br />

zu entgehen. Darin unterschieden sich die Kolonisten<br />

kaum von ihren russischen und ukrainischen Nachbarn. An<strong>der</strong>s<br />

war es, will man <strong>der</strong> “Odessaer Zeitung” glauben, in<br />

Zeiten einer äußeren Bedrohung. Während des russisch-türkischen<br />

Krieges 1877-1878 spendeten Kolonisten Geld, Lebensmittel<br />

und Klei<strong>der</strong> für die Armee und die Hospitäler.<br />

Während des russisch-japanischen Krieges von 1905 führten<br />

die molotschnaer Mennoniten für sich eine freiwillige Son<strong>der</strong>steuer<br />

in Höhe von 50 Kopeken pro Desjatine Land und<br />

von fünf Kopeken pro Desjatine monatlich für die Dauer des<br />

Krieges ein. Mehrere Dutzend Mennoniten meldeten sich<br />

freiwillig als Sanitäter für den Kriegsschauplatz in Fernost.<br />

Die Chortizaer Mennoniten übernahmen freiwillig den Unterhalt<br />

von 20 Sanitätern und spendeten größere Geldbeträge<br />

für das “Evangelische Feldlazarett”.<br />

Es gab auch Opfer unter den Kolonistensöhnen. So kann<br />

man auch heute noch auf einem Denkmal in Belgorod-<br />

Dnjestrowskij (früher: Akkerman) neben russischen, ukrainischen<br />

und bulgarischen Namen auch Namen deutscher Gefallener<br />

lesen.<br />

Der Erste Weltkrieg<br />

Während des Ersten Weltkriegs wurden die Schwarzmeerdeutschen<br />

wie die an<strong>der</strong>en Russlanddeutschen auch auf eine<br />

harte Probe gestellt. Die Regierung setzte Gesetze durch,<br />

welche zuerst die Liquidierung des Grundbesitzes reichsdeutscher,<br />

österreichischer, bulgarischer und türkischer Untertanen<br />

außerhalb <strong>der</strong> Städte in einem Grenzstreifen von ca.<br />

150 km entlang <strong>der</strong> Westgrenze und von 100 km Breite entlang<br />

den Ufern <strong>der</strong> Ostsee, des Schwarzen, des Asowschen<br />

und des Kaspischen Meeres zum Ziel hatten. Diese Gesetze<br />

wurden wie<strong>der</strong>holt “modifiziert” und schließlich gegen russische<br />

Untertanen deutscher Volkszugehörigkeit bis hin nach<br />

Sibirien angewandt.<br />

Die Zivilbevölkerung war während des Krieges massiver<br />

Diskr<strong>im</strong>inierung ausgesetzt. So durften keine Zeitungen<br />

mehr in deutscher Sprache erscheinen, Werbeaufschriften<br />

und Hinweisschil<strong>der</strong> mussten entfernt werden. Lehrer, die<br />

von <strong>der</strong> Verwaltung als unzuverlässig angesehen wurden,<br />

sollten den Schuldienst verlassen und die Schulen, so sie<br />

ohne Lehrer blieben, geschlossen werden.<br />

Am weitesten ging <strong>der</strong> Gouverneur von Jekaterinoslaw: Er<br />

verbot unter Strafe Versammlungen von mehr als zwei deutschen<br />

Männern, und sei es auch <strong>im</strong> eigenen Haus. Das führte<br />

dazu, dass selbst die Bestattung Verstorbener russischen<br />

Nachbarn anvertraut werden musste.<br />

Zur gleichen Zeit befanden sich über 250.000 Kolonisten in<br />

den Reihen <strong>der</strong> russischen Armee. Nach einer Erhebung von<br />

K. Lindeman sollen aus den Kolonien Neurusslands und <strong>der</strong><br />

Kr<strong>im</strong> bis zu 60 % aller Männer <strong>im</strong> wehrfähigen Alter zum<br />

Dienst einberufen gewesen sein. Aus den Bezirken Odessa,<br />

Ananjew und Tiraspol des Gouvernements Cherson wurden<br />

2.088 Männer für den Krieg mobilisiert, 108 von ihnen fielen,<br />

339 wurden verwundet, sieben mit Medaillen und Orden<br />

ausgezeichnet. Von den 7.623 Mobilisierten, über die Lindeman<br />

Informationen sammeln konnte, fielen 5 %, 5 % wurden<br />

verwundet, 128 Soldaten wurden zu Unteroffizieren beför<strong>der</strong>t,<br />

49 kamen als Offiziere von <strong>der</strong> Front nach Hause.<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Machtwechel in Odessa<br />

1. Provisorische Regierung: 12.3.1917 - 27.1.1918<br />

2. Sowjetmacht, 1. Phase: 27.1.1918 - 13.3.1918<br />

3. Österreichische und deutsche Besatzung: 13.3.1918 -<br />

18.12.1918<br />

4. Französische Interventionstruppen: 18.12.1918 - 4.4.1919<br />

5. Sowjetmacht, 2. Phase: 4.4.1919 - 23.8.1919<br />

6. Freiwilligenarmee (die Weißen): 23.8.1919 - 8.2.1920<br />

7. Sowjetmacht: 8.2.1920 -<br />

Wegen des Misstrauens russischer Regierungs- und Militärstellen<br />

wurden deutsche Soldaten von <strong>der</strong> Front gegen<br />

Deutschland und Österreich-Ungarn abgezogen und an die<br />

türkische Front verlegt. Doch auch dort leisteten sie ihren<br />

Dienst entsprechend dem geleisteten Eid: Russland war ihr<br />

Vaterland, sie haben es verteidigt.<br />

Zwischen Aufbruch und Untergang<br />

Die ersten <strong>Jahre</strong> nach dem Sturz des Zaren waren <strong>im</strong><br />

<strong>Schwarzmeergebiet</strong> von häufigem Machtwechsel geprägt.<br />

Vom Sturz des Zaren (12. März 1917) bis Februar 1920<br />

wechselte die Macht in Odessa und Umgebung sieben Mal.<br />

Cherson erlebte fünf Machtwechsel. Angesichts <strong>der</strong> während<br />

des Weltkrieges durch die russische Regierung veranlassten<br />

Diskr<strong>im</strong>inierung wird verständlich, warum die sonst so zaren-<br />

und staatstreuen Russlanddeutschen den Sturz <strong>der</strong> Zarenregierung<br />

begrüßten und ein sehr reges politisches Leben<br />

an den Tag legten.<br />

Die erste Versammlung von <strong>Deutschen</strong> <strong>der</strong> Stadt Odessa<br />

fand bereits am 28. März 1917 statt. Danach folgten Kongresse<br />

<strong>im</strong> Mai und August 1917. In den Monaten, die dazwischen<br />

lagen, wurde <strong>der</strong> Aufbau eines “Allrussischen Bundes<br />

russischer Deutscher” mit Zentralkomitees in 17 Siedlungsgebieten<br />

des Russischen Reiches vorangetrieben. Das Odessaer<br />

ZK konnte bis August 1917 <strong>im</strong> Gouvernement Cherson<br />

45 Ortsvereine aufbauen, denen 7.240 Mitglie<strong>der</strong> angehörten.<br />

Dem Verband ging es um den Aufbau einer wirksamen<br />

Vertretung <strong>der</strong> Interessen <strong>der</strong> Kolonisten (Aufhebung <strong>der</strong> Liquidationsgesetze,<br />

Zulassung <strong>der</strong> deutschen Sprache, Landreform,<br />

nationale Schule, Wahl deutscher Abgeordneter in<br />

die Nationalversammlung) gegenüber <strong>der</strong> Regierung, denn<br />

in dem sich neu ordnenden Russland bemühten sich alle<br />

Stände, Volksgruppen und politischen Gruppierungen, ihre<br />

Vorstellungen öffentlich und mehrheitsfähig zu machen. Die<br />

ehemaligen Konstitutionellen Demokraten und die Partei <strong>der</strong><br />

Sozialrevolutionäre hatten in ihren Parteiprogrammen Vorstellungen<br />

zum Recht auf Privateigentum und zur Agrarreform,<br />

zur Selbstverwaltung und zur Kulturautonomie, die<br />

den Kolonisten nahe waren. Doch während des Weltkrieges<br />

konnten die bestehenden politischen Parteien das <strong>Deutschen</strong><br />

angetane Unrecht nicht verhin<strong>der</strong>n. Man hatte also keine an<strong>der</strong>e<br />

Wahl, als zu versuchen, sein Schicksal selbst zu meistern.<br />

Heute hört man mitunter Meinungen, es seien fromme Wünsche<br />

gewesen o<strong>der</strong> die Russlanddeutschen und die Mennoniten<br />

seien für die Politik nicht reif gewesen. Hatten sie denn<br />

eine an<strong>der</strong>e Möglichkeit? Sollten sie etwa untätig abwarten?<br />

Die verfassunggebende Versammlung war kaum zusammengetreten,<br />

da jagten die Bolschewiki die Abgeordneten auseinan<strong>der</strong><br />

und ergriffen die Macht. Wer konnte damals wissen,<br />

dass sie diese über 70 <strong>Jahre</strong> lang ausüben würden?<br />

11


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Das Leben verlief in ungewissen und ungeahnten Bahnen:<br />

1918 unterzeichnete die ukrainische Regierung einen Friedensvertrag,<br />

<strong>der</strong> eine Zusatzvereinbarung enthielt. Kolonisten<br />

durften binnen zehn <strong>Jahre</strong>n unter Mitnahme ihres Eigentums<br />

nach Deutschland zurückkehren. Als dann <strong>im</strong> März<br />

1918 deutsche und österreichisch-ungarische Truppen in die<br />

12<br />

Auszug aus dem Protokoll <strong>der</strong> Sitzung<br />

des Zentralkomitees des Verbandes<br />

<strong>der</strong> deutschen Kolonisten <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

vom 19. August 1919<br />

1. Der Vorsitzende berichtet über die Verhandlungen, die die<br />

Deputation des Z.-K. mit dem Korpsgeneral <strong>der</strong> Freiwilligen-Armee,<br />

Gen. Schilling, geführt hat. Er hat den deutschen<br />

Kolonisten sein vollstes Vertrauen ausgedrückt und<br />

begrüßte <strong>der</strong>en Absicht, mit <strong>der</strong> russischen Bevölkerung<br />

zusammen gegen die Kommunisten vorzugehen. Dr. Flemmer<br />

schlägt vor, zur Klärung aller die deutschen Kolonisten<br />

betreffenden Fragen, Rechte und Pflichten eine Delegation<br />

an Denikin und dessen Ministerien zu entsenden.<br />

Das erste wird angenommen, die Besprechung des zweiten<br />

Vorschlags bis zur nächsten Sitzung verschoben.<br />

2. Die auf Grundlage <strong>der</strong> alten Regeln neu bearbeiteten Statuten<br />

des Selbstschutzes werden von Gen. Schöll verlesen<br />

und nach eingehen<strong>der</strong> Besprechung mit einigen prinzipiellen<br />

und redaktionellen Än<strong>der</strong>ungen angenommen. Es soll<br />

sofort um Bestätigung dieser Statuten nachgesucht werden.<br />

3. Der Vorsitzende weist auf die Notwendigkeit hin, den<br />

Vereinsboten so schnell als möglich wie<strong>der</strong> herauszugeben.<br />

Dieser Vorschlag wird einst<strong>im</strong>mig angenommen und<br />

zugleich beschlossen, das Blatt zwe<strong>im</strong>al wöchentlich erscheinen<br />

zu lassen. Der Preis soll etwa 3 Rubel pro Nummer<br />

betragen. Für den Anfang wird eine Auflage von<br />

2.000 Exemplaren festgesetzt.<br />

...<br />

6. Zum Schluss <strong>der</strong> Sitzung wendet sich <strong>der</strong> Vorsitzende an<br />

die beiden Vertreter Gr. Liebentals, denen er die Anerkennung<br />

des Z.-K. für den mutvollen Kampf gegen die Bolschewiki<br />

ausspricht. Er beklagt die herben Verluste an<br />

kostbaren Menschenleben und hofft, dass die Opfer nicht<br />

nutzlos gebracht sind.<br />

Quelle: Vereinsbote Nr. 20,<br />

Freitag, 30. August (12. September) 1919, S. 2-3.<br />

Der "Vereinsbote" (Januar 1919 bis Februar 1920).<br />

Ukraine kamen, glaubten viele, jetzt würden sie dauerhaften<br />

Schutz bekommen. Pastor Immanuel Winkler entwickelte <strong>im</strong><br />

Schwarzmeegebiet und auf <strong>der</strong> Kr<strong>im</strong> die Idee, eine deutsche<br />

Kronkolonie Kr<strong>im</strong>-Taurien zu schaffen und alle Kolonisten<br />

vom Gebiet des Russischen Reiches dorthin umzusiedeln.<br />

Dieser Plan wurde von <strong>der</strong> deutschen Reichsleitung nach<br />

wochenlangem Zögern abgelehnt. Auch <strong>der</strong> Wunsch vieler,<br />

die deutsche Staatsangehörigkeit zu bekommen und nach<br />

Deutschland umsiedeln zu dürfen, ging nicht in Erfüllung.<br />

Als dann <strong>im</strong> November 1918 in Berlin und in Wien die Revolution<br />

ausbrach, zogen sich die Besatzungstruppen aus <strong>der</strong><br />

Ukraine zurück. Die Kolonisten blieben auf sich selbst gestellt<br />

und mussten sich mit ihren Nachbarn und den Machthabern<br />

arrangieren.<br />

Jetzt mussten brauchbare Lösungen her. Der Verband <strong>der</strong><br />

deutschen Kolonisten <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong> stützte sich auf<br />

das von <strong>der</strong> ukrainischen Regierung erneut in Kraft gesetzte<br />

“Gesetz über die national-personale Autonomie” und arbeitete<br />

ein 459 Artikel umfassendes Statut aus. In 24 Abschnitten<br />

waren u.a. Fragen <strong>der</strong> Verwaltung, <strong>der</strong> Polizei, <strong>der</strong> Streitkräfte,<br />

<strong>der</strong> Rechtsprechung, des Gesundheitswesens, <strong>der</strong> Bildung<br />

und <strong>der</strong> Steuern geregelt. Alle Fragen, außer die des<br />

Aufbaus einer Territorialmiliz unter dem Kommando eines<br />

Generals und einer Nationalbank, gehörten in die Zuständigkeit<br />

<strong>der</strong> bisherigen Landschaftsverwaltung. Darin hatten die<br />

Kolonisten ihre Erfahrungen sammeln können.<br />

Der Verband konnte in <strong>der</strong> Tat ein Handelsbüro und eine<br />

Schulabteilung aufbauen, einen Selbstschutz für die Kolonien<br />

aufstellen und ein Presseorgan herausgeben. Die ukrainische<br />

Regierung und das Kommando <strong>der</strong> österreichischen<br />

und deutschen Truppen genehmigten <strong>der</strong>en Tätigkeit, die<br />

Franzosen duldeten sie, die Freiwilligenarmee unterstützte<br />

sie zum Teil. Probleme gab es mit den Bolschewiki. Als diese<br />

<strong>im</strong> Sommer 1919 versuchten, gewaltsam junge Männer<br />

für die Rote Armee zu mobilisieren und Pferde, Getreide<br />

und Lebensmittel zu requirieren, brach in Groß-Liebental,<br />

Mannhe<strong>im</strong>, Hoffnungstal und den Nachbargemeinden ein<br />

Aufstand aus, dem sich benachbarte bulgarische, russische<br />

und ukrainische Dörfer anschlossen. Die Rote Armee musste<br />

Odessa verlassen und kehrte nach verlustreichen Kämpfen<br />

gegen die Freiwilligenarmee <strong>im</strong> Februar 1920 zurück.<br />

Bevor die Rote Armee soweit war, bemühte sich <strong>der</strong> Verband<br />

<strong>der</strong> deutschen Kolonisten <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong> erneut,<br />

für Ruhe und Ordnung zu sorgen.<br />

Im August 1919 wurde <strong>der</strong> Selbstschutz<br />

neu geordnet und an seine Spitze<br />

<strong>der</strong> aus Odessa stammende Generalmajor<br />

Gustav-Adolf Schöll gestellt.<br />

Im September 1919 wurden für den<br />

Selbstschutz Wehrpflichtige <strong>im</strong> Alter<br />

von 36 und 37 <strong>Jahre</strong>n eingezogen. Für<br />

die Finanzierung des Selbstschutzes<br />

wurde eine eigene Steuer erhoben. Der<br />

Selbstschutz hielt enge Verbindung zu<br />

den Ordnungskräften <strong>der</strong> Landschaftsverwaltung.<br />

Es wun<strong>der</strong>t daher nicht,<br />

dass auf Einladung des ZK des Verbandes<br />

Ende Dezember 1919 in Odessa<br />

eine Beratung von Vertretern einiger<br />

deutscher und russischer Kreise


Selbstschutz-Ordnung<br />

gegen Bandenunwesen<br />

für die Ortschaften mit deutscher Bevölkerung<br />

<strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong>e<br />

1. Nicht in <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Gewehre, nicht in <strong>der</strong> Menge <strong>der</strong><br />

wehrfähigen Mannschaft liegt die Stärke des Selbstschutzes,<br />

son<strong>der</strong>n in dem festen zielbewussten Willen<br />

des Führens und in <strong>der</strong> entschlossenen, tatkräftigen Unterordnung<br />

<strong>der</strong> Mannschaft.<br />

2. Alle wehrfähigen Männer einer Ortschaft bilden die Ortsschutztruppe.<br />

Sie setzt sich zusammen aus Bewaffneten<br />

und Waffenlosen. Die Bewaffneten sind Reiter (in <strong>der</strong><br />

Regel mindestens 10 Mann für jede Ortschaft) und<br />

Schützen.<br />

3. Alle Wehrfähigen zusammen wählen sich einen Führer,<br />

dem sie in öffentlicher Versammlung schriftlich und unter<br />

Handschlag an Eidesstatt das feierliche Versprechen<br />

ablegen, sich in den Dienst des Selbstschutzes zu stellen<br />

und den gewählten Vorgesetzten militärischen unbedingten<br />

Gehorsam zu erweisen bei allen zum Selbstschutz<br />

gehörigen Befehlen. Auch <strong>der</strong> Führer verpflichtet sich<br />

selbst schriftlich, sich nach bestem Können in den Dienst<br />

des Selbstschutzes zu stellen.<br />

4. Der Führer des örtlichen Selbstschutzes ist möglichst ein<br />

Front-Offizier o<strong>der</strong> Front-Unteroffizier. Er kann auch aus<br />

einem an<strong>der</strong>n Dorfe stammen, muss aber dann in dem<br />

Dorfe, das ihn gewählt hat, seine Wohnung nehmen.<br />

5. Die Glie<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> ganzen Truppe einer Ortschaft in einzelne<br />

Teile hängt von <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Wehrfähigen ab und<br />

ist von dem Führer vorzunehmen. Etwa 20-40 Mann bilden<br />

eine Gruppe und müssen ihren Vorsteher haben, <strong>der</strong><br />

Befehlsgewalt über sie hat. Die Gruppe setzt sich zusammen<br />

aus Bewaffneten und Unbewaffneten.<br />

6. Mehrere zusammenliegende Orte bilden den örtlichen<br />

Selbstschutzverband. Ihre Führer wählen einen Selbstschutzoffizier,<br />

dem sie ebenfalls schriftlich und unter<br />

Handschlag an Eidesstatt das Versprechen des militärischen<br />

unbedingten Gehorsams bei allen Befehlen des<br />

Selbstschutzes ablegen. Auch <strong>der</strong> Selbstschutzoffizier<br />

verpflichtet sich selbst schriftlich.<br />

7. Zum Selbstschutz durch den Kolonistenverband beschaffte<br />

Waffen (Gewehre, Handgranaten, Leuchtpistolen<br />

und Munition) werden gegen Quittung den deutschen<br />

Dorfschulzen übergeben, die für Verteilung an zuverlässige<br />

Männer sorgen und über den Bestand und Verbleib<br />

Buch führen. Bestand und Verbleib ist den Schulzen jede<br />

Woche von den Führern zu melden.<br />

...<br />

22. Im Falle des Hilferufs ist jede Truppe unbedingt verpflichtet,<br />

den Bedrohten so schnell wie möglich zu Hilfe<br />

zu eilen. Die Zurücklassung einer Ortswache zur Sicherheit<br />

des eigenen Dorfes unterliegt dem Ermessen des<br />

Führers je nach <strong>der</strong> Sachlage.<br />

23. Der Führer, dem man zu Hilfe eilt, übern<strong>im</strong>mt das Kommando<br />

auch über die Hilfstruppe.<br />

24. In Fällen <strong>der</strong> Gefahr, wenn eine Truppe <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en zu<br />

Hilfe eilen muss, hat die Gemeinde auf Anfor<strong>der</strong>n des<br />

Selbstschutzoffiziers o<strong>der</strong> des Führers die nötigen Fuhrwerke<br />

zu stellen.<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

(wolost) <strong>der</strong> Bezirke Odessa, Tiraspol und Ananjew stattfand,<br />

in <strong>der</strong> beschlossen wurde, eine Bürgerwehr für die<br />

Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und zur Abwehr<br />

von Bandenüberfällen aufzustellen. Die Geschichte nahm jedoch<br />

einen an<strong>der</strong>en Lauf: Im Januar 1920 wurden ca. 500<br />

Mann Selbstschutzleute in Landau, Speyer, Rosenfeld und<br />

Umgebung zusammengezogen. Nach Kampfverlusten zog<br />

sich <strong>der</strong> deutsche Selbstschutz am 23. Januar nach Odessa<br />

zurück, um wenige Tage später zusammen mit den Truppenverbänden<br />

unter dem Kommando des Generals F.E. Bredow<br />

den Rückzug auf polnisches Gebiet fortzusetzen.<br />

Anfänge <strong>der</strong> Sowjetmacht<br />

Die Errichtung <strong>der</strong> Sowjetmacht ab Februar 1920 bedeutete<br />

für die Kolonisten, <strong>im</strong>mer neue Opfer zu bringen. Im Zeichen<br />

des Kriegskommunismus wurden die Kolonien rücksichtslos<br />

ausgeplün<strong>der</strong>t. Im offiziellen Sprachgebrauch hieß<br />

das, durch Druck auf die wohlhabenden Bauern (Kulaken)<br />

überschüssiges Getreide für die Rote Armee und das Proletariat<br />

zu beschaffen. Wer sich dem nicht beugen wollte, wurde<br />

bestraft. Geiselnahmen zur Durchsetzung <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen<br />

<strong>der</strong> Bolschewiki waren an <strong>der</strong> Tagesordnung. Abgeurteilt<br />

wurden auch die Teilnehmer des Aufstands von 1919.<br />

Die Sowjetmacht wollte die Landlosen und Landarmen, auf<br />

die sie sich <strong>im</strong> Wesentlichen stützte, mit Land versorgen.<br />

Das Privateigentum sollte aber aufgehoben und durch Genossenschaften,<br />

Kommunen und Kollektivwirtschaften abgelöst<br />

werden. Der Staat beanspruchte für sich das Monopolrecht<br />

über sämtlichen landwirtschaftliche und industriell<br />

gefertigte Produkte und setzte es rücksichtslos durch. Ein<br />

Ergebnis dieser Politik war die Hungersnot <strong>der</strong> <strong>Jahre</strong> 1921-<br />

22.<br />

Erneut griffen Kolonisten zur Selbsthilfe und gründeten den<br />

“Verband <strong>der</strong> Bürger deutscher Rasse <strong>der</strong> Stadt und des Gouvernements<br />

Odessa”. Die Tätigkeit des Vereins wurde am<br />

10. April 1922 genehmigt. Bis Ende 1922 zählte <strong>der</strong> Verband<br />

ca. 6.000 Mitglie<strong>der</strong>.<br />

Das ZK <strong>der</strong> Russischen Kommunistischen Partei <strong>der</strong> Bolschewiki<br />

und das ukrainische ZK dieser Partei machten von<br />

Anfang an dagegen Druck und zwangen diesen und an<strong>der</strong>e<br />

Hilfsvereine in <strong>der</strong> Ukraine und in Russland zur Auflösung<br />

bzw. Unterordnung unter regierungskonforme Organisationen.<br />

Die sowjetische Nationalitätenpolitik sollte für die nationalen<br />

Min<strong>der</strong>heiten gleiche Entwicklungsmöglichkeiten schaffen,<br />

wie die Bevölkerungsmehrheit sie bekommen hatte.<br />

Kompakt lebende Volksgruppen bekamen nationale Dorfsowjets<br />

und nationale Landkreise. Im Gebiet Odessa wurden<br />

1925 die Landkreise (Rayons) “Karl-Liebknecht” (Beresaner<br />

Kolonien) und “Friedrich-Engels” (Kutschurganer Kolonien)<br />

sowie 1926 <strong>der</strong> Liebentaler Landkreis gegründet. Schon bald<br />

nach <strong>der</strong> Gründung des Liebentaler Rayons wurde er zur Erinnerung<br />

an die “Spartakisten”, gegen <strong>der</strong>en Übergriffe sich<br />

die Kolonisten <strong>im</strong> Aufstand von 1919 zur Wehr gesetzt hatten,<br />

in “Spartakisten-Rayon” umbenannt. Zahlreiche deutsche<br />

Ortschaften bekamen neue Namen; so sollte <strong>der</strong> Helden<br />

<strong>der</strong> Revolution und des Bürgerkriegs gedacht bzw. die Errungenschaften<br />

<strong>der</strong> neuen Macht gepriesen werden.<br />

Auf dem Gebiet <strong>der</strong> Volksbildung begann die Sowjetisierung<br />

mit <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Kirche vom Staat und <strong>der</strong> Schule von<br />

<strong>der</strong> Kirche (1918). Im Bezirk Odessa wurden 1920 alle<br />

13


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Tragischer Bestandteil <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Schwarzmeerdeutschen ist die Flucht in den so genannten Trecks Richtung Warthegau.<br />

Schulen <strong>der</strong> Bildungsabteilung <strong>der</strong> Bezirksverwaltung unterstellt.<br />

An die Stelle <strong>der</strong> verschiedenen Schultypen sollte die<br />

Einheits-Arbeitsschule treten. Die vier- bis achtjährigen Kin<strong>der</strong><br />

sollten in Kin<strong>der</strong>he<strong>im</strong>en und Horten ihre soziale Erziehung<br />

bekommen, die acht- bis 15-jährigen die siebenjährige<br />

Arbeitsschule durchlaufen und die über 15-jährigen eine Berufsschule<br />

besuchen können. Die Erziehung <strong>der</strong> vier- bis 15jährigen<br />

Kin<strong>der</strong> sollte den Familien entzogen werden. Kin<strong>der</strong>he<strong>im</strong>e<br />

und Internate sollten <strong>der</strong> Erziehung einer “neuen<br />

kommunistischen Generation” dienen.<br />

Dies entsprach nicht den Wünschen <strong>der</strong> Eltern, und die<br />

deutsche Lehrerschaft war, gemäß einer Einschätzung des<br />

Odessaer Bezirksparteikomitees von 1925, zu 95 % dafür<br />

nicht geeignet.<br />

Diverse Versuche, eine neue Lehrerschaft heranzubilden,<br />

waren <strong>im</strong> Grunde genommen gescheitert, da es erst an geeigneten<br />

Kandidaten für den Lehrerberuf mangelte, dann,<br />

nach 1933, Säuberungen die Zahl <strong>der</strong> Lehrer dez<strong>im</strong>ierten,<br />

bis schließlich alle deutschen Schulen 1938 in russische<br />

bzw. ukrainische Schulen umgewandelt wurden.<br />

Kollektivierung und Säuberungen<br />

Im März 1929 wurde auf Beschluss des ZK <strong>der</strong> KP(B)U <strong>der</strong><br />

Druck auf die Bauern in den deutschen Dörfern verstärkt.<br />

Am 27. März folgte ein Parteibeschluss “Über die Aussied-<br />

14<br />

lung <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus dem Bezirk Nikolajew”. Von <strong>der</strong><br />

Aussiedlung wurde ausgenommen, wer “freiwillig” seine<br />

Wirtschaft aufgab und in die Kolchose eintrat.<br />

Der Druck auf die Bauern führte 1929 zum Versuch mehrerer<br />

zehntausend, mit Hilfe <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> Botschaft das Land<br />

zu verlassen. Deutschland nahm nur 5.750 Flüchtlinge vorübergehend<br />

bis zur Weiterreise nach Übersee auf.<br />

In <strong>der</strong> UdSSR wurde die Vernichtung <strong>der</strong> wohlhabenden<br />

Bauern (Kulaken) forciert. Aus <strong>der</strong> Ukraine sollten 15.000<br />

Kulaken in Konzentrationslager verbracht und 30.000 bis<br />

35.000 aus ihren Dörfern verbannt werden.<br />

Die gewaltsame Enteignung und Kollektivierung <strong>der</strong> Landwirtschaft<br />

hatte Unruhen in Kandel, Selz, Elsass, Mannhe<strong>im</strong>,<br />

Straßburg, Baden und Güldendorf zur Folge.<br />

Nach <strong>der</strong> Machtergreifung <strong>der</strong> NSDAP in Deutschland wurden<br />

die Schwarzmeerdeutschen und die Wolhyniendeutschen<br />

<strong>der</strong> konterrevolutionären Tätigkeit, <strong>der</strong> Spionage und<br />

an<strong>der</strong>er “Verbrechen” verdächtigt. Die Verfolgung Unschuldiger<br />

durch die Gehe<strong>im</strong>polizei GPU und das Innenministerium<br />

(NKWD) nahm <strong>im</strong>mer bedrohlichere Ausmaße an und<br />

gipfelte in den stalinschen Säuberungen <strong>der</strong> <strong>Jahre</strong> 1936-<br />

1938. Nach Angaben <strong>der</strong> Odessaer Organisation “Memorial”,<br />

die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, wurden<br />

in <strong>der</strong> Stadt und dem Gebiet Odessa zwischen 1919 und<br />

1983 über 26.000 Personen verschiedener Volkszugehörig-


keit verhaftet, davon über die Hälfte in<br />

den <strong>Jahre</strong>n 1937-1938. Von den Verhafteten<br />

entfielen auf Ukrainer 10.318 Personen,<br />

auf Russen 4.669, auf Deutsche<br />

4.002 und auf Juden 2.047 Personen.<br />

Von den verhafteten Ukrainern wurden<br />

32,32 % zum Tode verurteilt, von den<br />

Russen 28,95 %, von den Juden 25,2 %<br />

und von den <strong>Deutschen</strong> 47,02 %. Deutsche<br />

waren auch mit 15,4 % aller Repressierten<br />

in <strong>der</strong> Stadt und dem Gebiet<br />

Odessa weit überproportional betroffen.<br />

So erklärt sich die Überlieferung <strong>der</strong> älteren<br />

Generation, wonach es keine deutsche<br />

Familie gab, <strong>der</strong> nicht Angehörige<br />

durch Verhaftungen und Verbannungen<br />

entrissen wurden.<br />

Verlust <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at<br />

Der Kriegsbeginn <strong>im</strong> Juni 1941 war an sich schon eine Bedrohung.<br />

Die Deportation aller für die sowjetischen Behörden<br />

erreichbaren <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> Sommer und Herbst 1941 -<br />

ein vernichten<strong>der</strong> Schlag, von dem sich die Volksgruppe<br />

nicht mehr erholen sollte.<br />

Das Gebiet zwischen Dnjestr und Bug wurde in den ersten<br />

Kriegsmonaten von <strong>der</strong> Wehrmacht und rumänischen Truppen<br />

besetzt. Am 28. August 1941 übernahm Rumänien dieses<br />

Gebiet unter <strong>der</strong> Bezeichnung “Transnistrien”. Für die<br />

<strong>Deutschen</strong>, die ca. 6 % <strong>der</strong> Bevölkerung stellten, war das<br />

SS-Son<strong>der</strong>kommando “R” zuständig. Der Stab befand sind<br />

in <strong>der</strong> Kolonie Landau. Die Erfassung aller <strong>Deutschen</strong> und<br />

ihrer Familienangehörigen in <strong>der</strong> “<strong>Deutschen</strong> Volksliste<br />

Ukraine” mit anschließen<strong>der</strong> "Betreuung" durch die SS dauerte<br />

nicht lange. Die ältere Generation erinnert sich daran<br />

wie auch an den Krieg nur ungern. Beides hat traumatische<br />

Erinnerungen an den Verlust <strong>der</strong> He<strong>im</strong>at und die Flucht vor<br />

<strong>der</strong> heranrückenden Front hinterlassen. In <strong>der</strong> Nacht vom 17.<br />

auf den 18. März 1944 setzten sich rund 125.000 Schwarzmeerdeutsche<br />

nach Westen in Bewegung. In zwei Trecks<br />

eingeteilt, legten sie in zehn bis zwölf Wochen bis zu 2.000<br />

km zu Fuß bis in den Warthegau zurück. Doch auch dort<br />

holte sie die Front <strong>im</strong> Frühjahr 1945 ein. Die Folge war die<br />

so genannte “Repatriierung” - doch keiner <strong>der</strong> “Repatriierten”<br />

konnte in sein He<strong>im</strong>atdorf zurück. Sie wurden in Son<strong>der</strong>siedlungen<br />

<strong>im</strong> hohen Norden, in Sibirien, Kasachstan und<br />

Mittelasien gebracht.<br />

Mit <strong>der</strong> Teilamnestie vom 13. Dezember 1956 wurde zugleich<br />

die Rückkehr in die Wohnorte <strong>der</strong> Vorkriegszeit verboten.<br />

Der Ministerrat <strong>der</strong> Ukraine bekräftigte das Rückkehrverbot<br />

in die Gebiete Dnjepropetrowsk, Saporoshje, Nikolajew,<br />

Odessa, Cherson und Kr<strong>im</strong> am 15. Dezember 1956<br />

und am 21. März 1958. Erst Anfang <strong>der</strong> 1970er <strong>Jahre</strong> wurde<br />

dieses Verbot aufgehoben. Danach kehrten einige tausend<br />

Schwarzmeerdeutsche in die Ukraine zurück.<br />

Die 1990er <strong>Jahre</strong><br />

Nach <strong>der</strong> Erlangung <strong>der</strong> Souveränität ergriff die Ukraine<br />

eine Reihe von Maßnahmen, um einen Teil <strong>der</strong> aus Kasachstan<br />

und Mittelasien abwan<strong>der</strong>nden Russlanddeutschen zu<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Überwiegend deutsche Kin<strong>der</strong> aus dem <strong>Schwarzmeergebiet</strong> in ihrer neuen He<strong>im</strong>at in<br />

<strong>der</strong> Oberpfalz/Bayern 1948.<br />

sich zu holen. Bekannt ist die vom Präsidenten <strong>der</strong> Ukraine<br />

Leonid Krawtschuk am 23. Januar 1992 ausgesprochene<br />

Einladung an Deutsche in Sibirien, Kasachstan und Mittelasien,<br />

in die Ukraine zurückzukehren. Von einem Teil <strong>der</strong><br />

Öffentlichkeit in Ost und West wurde ihm sofort unterstellt:<br />

er wolle einen Teil <strong>der</strong> Hilfsgel<strong>der</strong> <strong>der</strong> Bundesregierung für<br />

sein Land bekommen.<br />

So einfach war es nicht. Auch in <strong>der</strong> Ukraine war man seit<br />

den späten 1980er <strong>Jahre</strong>n dabei, das vom stalinschen Reg<strong>im</strong>e<br />

verschiedenen Volksgruppen und sozialen Schichten zugefügte<br />

Unrecht wie<strong>der</strong> gutzumachen, so weit das eben ging.<br />

Die Rückkehr <strong>der</strong> Kr<strong>im</strong>-Tataren war eines <strong>der</strong> Probleme.<br />

An<strong>der</strong>e Probleme bereitete die Rehabilitierung <strong>der</strong> während<br />

<strong>der</strong> Zwangskollektivierung <strong>der</strong> Landwirtschaft und während<br />

des Zweiten Weltkrieges aus <strong>der</strong> Ukraine deportierten Menschen,<br />

darunter <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong>. Zu den ersten Akten <strong>der</strong> Ukraine<br />

nach <strong>der</strong> Erlangung <strong>der</strong> Souveränität gehörte die “Deklaration<br />

über die Rechte <strong>der</strong> Nationalitäten <strong>der</strong> Ukraine” (1.<br />

November 1991). Danach wurde das Gesetz “Über die nationalen<br />

Min<strong>der</strong>heiten in <strong>der</strong> Ukraine” (25. Juni 1992) verabschiedet.<br />

Ein weiteres Problem, die Entvölkerung <strong>der</strong> Steppenregion<br />

durch die Deportation <strong>der</strong> Kulaken und <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong>, führte<br />

zu einer spürbaren Schwächung <strong>der</strong> Wirtschaft <strong>der</strong> Verwaltungsgebiete<br />

<strong>der</strong> Schwarzmeerregion. Mit den für die sowjetische<br />

Gesellschaft üblichen Mitteln ließ diese sich nicht<br />

überwinden.<br />

Der eine o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e wird sich noch daran erinnern, wie Johann<br />

Hoffmann, damals Generaldirektor des Ukrainisch-<br />

<strong>Deutschen</strong> Fonds, den Delegierten eines Kongresses <strong>der</strong><br />

Russlanddeutschen in Moskau eine Informationsmappe mit<br />

dem Fragebogen für Umsiedlungswillige überreichte. In dieser<br />

Mappe befanden sich u.a. Vereinbarungen <strong>der</strong> Gesellschaft<br />

“Wie<strong>der</strong>geburt” mit den Gebietsverwaltungen von Saporoshje,<br />

Nikolajew, Cherson und Odessa. Das Gebiet Cherson<br />

zeigte sich zur Aufnahme von bis zu 100.000 <strong>Deutschen</strong><br />

bereit, das Gebiet Nikolajew war an 15. bis 20.000 und das<br />

Gebiet Odessa an 20.000 Personen interessiert. Bereits <strong>im</strong><br />

März 1991 war ich in diesen Gebieten und konnte mich von<br />

<strong>der</strong> deutschfreundlichen Einstellung <strong>der</strong> Bevölkerung und<br />

<strong>der</strong> örtlichen Verwaltungen in den Landkreisen Wysokopolje<br />

15


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Evangelisch-Lutherische Kirche in Petrodolinskoje (Peterstal), Gebiet Odessa (Aufnahme<br />

von 1998).<br />

Kolonisten-Hof in Nowogradowka (Neuburg), Gebiet Odessa (Aufnahme von 1998).<br />

(Kronau-Orloff) und Weselinowo (Landau) überzeugen und<br />

darüber <strong>der</strong> Bundesregierung berichten. Die Einladung des<br />

ukrainischen Präsidenten kam daher für Bonn nicht überraschend.<br />

Die Umsiedlung sollte schnell vonstatten gehen, denn <strong>der</strong><br />

Vertreibungsdruck infolge des Aufbaus von Nationalstaaten<br />

in Kasachstan und Mittelasien, begleitet von Islamisierung<br />

und wirtschaftlichem Nie<strong>der</strong>gang, war stark. Im Mai 1992<br />

wurde deshalb vereinbart, den Umsiedlern Wohncontainer<br />

als provisorischen Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Die<br />

ukrainische Seite hatte sich für <strong>der</strong>en Aufstellung sowie für<br />

die Versorgung <strong>der</strong> Umsiedler mit Arbeit verpflichtet. Auf<br />

ukrainischer Seite wurde mit <strong>der</strong> Umsetzung <strong>der</strong> geplanten<br />

Maßnahmen <strong>der</strong> Ukrainisch-Deutsche Fond betraut.<br />

Bis zum Sommer 1993 zogen ca. <strong>200</strong> Familien in das Gebiet<br />

Odessa, die meisten davon aus Kasachstan (93 %). Der weit<br />

überwiegende Teil <strong>der</strong> älteren Generation (74 %) stammte<br />

nicht aus <strong>der</strong> Ukraine, und die mittlere und jüngere Generation<br />

sah die Ukraine zum ersten Mal. Nur 13 % dieser Um-<br />

16<br />

siedler nannten den Wunsch, in die<br />

He<strong>im</strong>at ihrer Vorfahren zurückzukehren,<br />

als Beweggrund ihrer Umsiedlung<br />

in das Gebiet Odessa.<br />

Der wirtschaftliche Nie<strong>der</strong>gang, eine<br />

rasante Inflation, oft auch übermäßige<br />

Bürokratie führten dazu, dass die Anzahl<br />

<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Ukraine aufgenommenen<br />

Umsiedler stark beschränkt wurde.<br />

Umsiedler bekamen die in Aussicht gestellte<br />

ukrainische Staatsangehörigkeit<br />

nicht, konnten somit keinen Grund und<br />

Boden privatisieren und waren von einigen<br />

staatlichen Unterstützungsmaßnahmen<br />

ausgeschlossen. Das erzeugte<br />

Unruhe, bei vielen auch den Wunsch,<br />

nach Deutschland auszuwan<strong>der</strong>n, obwohl<br />

sie das ursprünglich nicht vorhatten.<br />

Am 1. Januar <strong>200</strong>0 hielten sich, offiziellen<br />

Angaben zufolge, in <strong>der</strong> Ukraine<br />

1.207 deutsche Umsiedler auf, davon<br />

<strong>im</strong> Gebiet Odessa 661, <strong>im</strong> Gebiet Cherson<br />

195, <strong>im</strong> Gebiet Nikolajew 68 und<br />

<strong>im</strong> Gebiet Saporoshje 199. Sie trafen<br />

noch da und dort auf alteingesessene<br />

Deutsche, die zum größten Teil ass<strong>im</strong>iliert<br />

waren.<br />

Resümee<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> nach <strong>der</strong> Ankunft <strong>der</strong> ersten<br />

Kolonisten in Odessa können wir festhalten,<br />

dass sie sich in <strong>der</strong> neuen Umgebung<br />

nach anfänglichen Schwierigkeiten<br />

zurechtfanden. Das <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

wurde ihre He<strong>im</strong>at, die sie<br />

zusammen mit ihren Mitbürgern gegen<br />

äußere Feinde verteidigten und <strong>der</strong> sie<br />

durch den Fleiß ihrer Hände zu Wohlstand<br />

verhalfen.<br />

Sie waren sicher kein “Staat <strong>im</strong> Staate”,<br />

schon gar nicht eine Bedrohung, keine “fünfte Kolonne”.<br />

Die angebliche Selbstisolation war das Festhalten an ihrer<br />

Kultur und ihrem Glauben. Das hin<strong>der</strong>te sie aber nicht<br />

daran, ihre Bürgerrechte wahrzunehmen und nach Wegen in<br />

die Zukunft zu suchen.<br />

Im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t mussten die Schwarzmeerdeutschen dem<br />

Druck <strong>der</strong> Diktaturen weichen. Die meisten von ihnen konnten<br />

schon <strong>im</strong> Zuge <strong>der</strong> Familienzusammenführung nach<br />

Deutschland ausreisen bzw. ihre Ausreiseanträge stellen.<br />

Viele von ihnen sind <strong>im</strong> wahrsten Sinne des Wortes in ihre<br />

historische He<strong>im</strong>at, nach Baden, nach Württemberg, in die<br />

Pfalz o<strong>der</strong> nach Hessen zurückgekehrt.<br />

Im <strong>Schwarzmeergebiet</strong> leben heute wenige tausend alteingesessene<br />

Deutsche und knapp über 1.000 Zuwan<strong>der</strong>er aus an<strong>der</strong>en<br />

Republiken, mit an<strong>der</strong>en historischen und kulturellen<br />

Wurzeln. Ob sie sich zusammenfinden und eine beständige<br />

Siedlungsgruppe werden bilden können, muss die Zukunft<br />

zeigen. Wir jedenfalls wollen, bei aller Weltoffenheit, unser<br />

Kulturerbe weiterhin bewahren.


Glückstaler<br />

Kolonistenbezirk<br />

Die Kolonien Glückstal (1809), Neudorf (1809), Bergdorf<br />

(1809) und Kassel (1810) wurden von Einwan<strong>der</strong>ern<br />

aus Württemberg, <strong>der</strong> Pfalz, dem Elsass und<br />

aus Ungarn gegründet. Es waren evangelisch-lutherische<br />

Kolonien. Die Bevölkerung <strong>der</strong> Kolonien wuchs beständig<br />

an von 1.375 Personen <strong>im</strong> <strong>Jahre</strong> 1811 bis auf 5.048 <strong>im</strong> <strong>Jahre</strong><br />

1850. Die Tochterkolonie Klein-Neudorf wurde 1855 gegründet.<br />

Im letzten Drittel des 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts wurden weitere<br />

Tochterkolonien und Vorwerke (Chutor) gegründet.<br />

Die Lebensgrundlage dieser Kolonien war die Landwirtschaft,<br />

wobei neben dem Ackerbau auch <strong>der</strong> Viehzucht große<br />

Bedeutung beigemessen wurde. 1841 zählte man <strong>im</strong> Bezirk<br />

über 3.100 Pferde, über 7.<strong>200</strong> Rin<strong>der</strong> und ca. 11.700<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Schwarzmeerdeutsche Kolonistenbezirke<br />

Schafe. Es wurden Obst (96.100 Bäume), Wein (194.700<br />

Rebstöcke) und Maulbeerbäume (1.600 Bäume) angebaut.<br />

Im Bezirk gab es 109 Handwerker, 30 Webstühle und 35<br />

Mühlen verschiedenen Typs.<br />

Während <strong>der</strong> Sowjetzeit konnte <strong>der</strong> Bezirk keinen nationalen<br />

Rayon bilden, da die dafür festgesetzte Bevölkerungsnorm<br />

nicht erfüllt wurde.<br />

Beresaner<br />

Kolonistenbezirk<br />

Skizze des Kolonistenbezirks Glückstal mit Län<strong>der</strong>eien für die zukünftige Kolonie Kassel (1809).<br />

Die Einwan<strong>der</strong>er in die Kolonien des Beresaner Gebiets,<br />

so genannt nach dem Flüsschen Beresan, kamen<br />

1808 nach Russland. 1809 entstanden die Kolonien<br />

Landau, Speyer und Rohrbach, 1810 Worms, Sulz,<br />

Karlsruhe, Rastadt und München.<br />

In den <strong>Jahre</strong>n 1818-1822 wurden<br />

von Einwan<strong>der</strong>ern aus<br />

dem Herzogtum Warschau sowie<br />

aus West- und Südwestdeutschland<br />

die Kolonien Katharinental,<br />

Johannestal, Neu-<br />

Rastadt, Friedrichstal, Stuttgart<br />

und Waterloo gegründet.<br />

Die wirtschaftliche Grundlage<br />

<strong>der</strong> Kolonien des Bezirks in<br />

den ersten 20 <strong>Jahre</strong>n ihres Bestehens<br />

bildete die Schafzucht.<br />

In <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong><br />

1830er <strong>Jahre</strong>n konnten die<br />

Kolonisten dank guter Ernten<br />

ihre Einnahmen aufstocken<br />

und dadurch die Saatflächen<br />

ausweiten.<br />

Ein Jahrzehnt später machte<br />

die Entwicklung des Handwerks<br />

gute Fortschritte. Es<br />

wurden Pferdewagen und<br />

Pflüge hergestellt. 1886 waren<br />

in Rohrbach bereits 22 Wagenbauer<br />

und 26 Schmiede, in<br />

Landau 25 Wagenbauer und<br />

47 Schmiede am Werk.<br />

1841 zählte man in den zwölf<br />

Kolonien des Bezirks 1.215<br />

Höfe mit je 60 Desjatinen<br />

Land und 417 Landlose; 1858<br />

waren es nur noch 1.073 ungeteilte<br />

Höfe, aber auch nur 250<br />

Landlose. Die nachwachsende<br />

Generation wurde zum Teil<br />

durch die Teilung des elterlichen<br />

Hofes, zum Teil durch<br />

gepachtetes Land versorgt.<br />

Handwerker <strong>im</strong> Vollerwerb<br />

17


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

hatten die Landwirtschaft größtenteils<br />

aufgegeben. Nach <strong>der</strong><br />

Aufhebung <strong>der</strong> Kolonialverwaltung<br />

und somit des Gemeindebesitzes<br />

wan<strong>der</strong>ten<br />

zahlreiche landarme und landlose<br />

Kolonisten in die USA<br />

und nach Kanada aus. 1907<br />

gründeten katholische Kolonisten<br />

des Bezirks nördlich von<br />

Cherson die Tochterkolonie<br />

Alexan<strong>der</strong>feld.<br />

Mit <strong>der</strong> Verwaltungseinteilung<br />

des <strong>Jahre</strong>s 1925 wurden die<br />

Gemeinden des Beresaner Gebiets<br />

zu einem deutschen nationalen<br />

Rayon Landau zusammengefasst.<br />

Verwaltungssitz<br />

des Rayons wurde Landau. Bei<br />

<strong>der</strong> Gründung des Rayons bestand<br />

er aus 19 deutschen und<br />

fünf ukrainischen Siedlungen<br />

mit insgesamt 25.859 Einwohnern.<br />

Davon waren 23.521<br />

Deutsche (91 %), 1.265 Ukrainer<br />

(4,9 %), 437 Russen<br />

(1,7%) und 398 Juden (1,5 %).<br />

Der Rayon wurde <strong>im</strong> Mai 1926<br />

in “Deutscher nationaler Karl-<br />

Liebknecht-Rayon”, Landau in<br />

“Karl-Liebknecht” (russisch:<br />

“Karl-Libknechtowo”) umbenannt.<br />

Von 1931 bis zum 5.<br />

Mai 1939 erschien die Rayonzeitung<br />

“Der sozialistische<br />

Vormarsch”.<br />

1925 waren von den 66.308<br />

Desjatinen Land nur 36.112 bestellt<br />

und 11.356 als Reserve det wurden (November 1803).<br />

für die Verteilung an Landlose bereit gehalten. Im Rayon<br />

gab es 5.445 Bauernwirtschaften, davon waren 581 (10,7 %)<br />

landlos, und 3.334 (61,2 %) hatten zwischen einer und zehn<br />

Desjatinen Land zur Bewirtschaftung.<br />

In den <strong>Jahre</strong>n 1926 und 1927 wurden die ersten Landwirtschaftlichen<br />

Genossenschaften gegründet, 1928 zehn Genossenschaften<br />

für die gemeinsame Nutzung <strong>der</strong> sieben Traktoren<br />

<strong>der</strong> Marken “Fordson” und “International”. Im Herbst<br />

1929 und <strong>im</strong> Winter 1929-1930 wurde Getreide gewaltsam<br />

beschlagnahmt. Im Zuge dieser Aktion wurden 635 wohlhabende<br />

Bauern (Kulaken) vor Gericht gestellt, 165 Wirtschaften<br />

beschrieben und 322 verkauft. Ein Teil <strong>der</strong> wohlhabenden<br />

Bauern floh unter Zurücklassung ihres Eigentums.<br />

Trotz des harten Drucks <strong>der</strong> <strong>im</strong> Januar begonnenen Kollektivierung<br />

konnten bis zum 20. Februar 1930 nur 51 % <strong>der</strong><br />

Bauernwirtschaften zum Beitritt in Kolchosen bewegt werden.<br />

Im März 1930 ließ <strong>der</strong> Druck nach, und Bauern verließen<br />

die Kolchosen wie<strong>der</strong>. Im Oktober 1930 waren nur<br />

noch 23,5 % <strong>der</strong> Bauern in den Kolchosen. Die nächste Kollektivierungskampagne<br />

des Winters 1930/1931 zwang 95 %<br />

<strong>der</strong> Bauern in die Kolchosen.<br />

Der Rayon wurde <strong>im</strong> April 1939 aufgelöst.<br />

18<br />

Karte <strong>der</strong> Län<strong>der</strong>eien bei Odessa, auf denen 1804 Groß-Liebental und Klein-Liebental gegrün-<br />

Liebentaler<br />

Kolonistengebiet<br />

Die deutsche Kolonisation in <strong>der</strong> Nähe von Odessa begann<br />

mit <strong>der</strong> Einwan<strong>der</strong>ung von Kolonisten aus<br />

Württemberg, aus Baden, dem Elsass und <strong>der</strong> Pfalz<br />

<strong>im</strong> <strong>Jahre</strong> 1803. In den darauffolgenden <strong>Jahre</strong>n wurden Groß-<br />

Liebental (1804), Klein-Liebental (1804), Alexan<strong>der</strong>hilf<br />

(1805), Neuburg (1805), Peterstal (1805), Mariental (1805),<br />

Josefstal (1805), Franzfeld (1805), Lustdorf (1805) und<br />

Freudental (1806) gegründet. Klein-Liebental, Josefstal, Mariental<br />

und Franzfeld waren katholische Kolonien, die an<strong>der</strong>en<br />

waren evangelisch. Die Bevölkerungszahl betrug 1806 -<br />

2.500, 1836 - 7.213, 1859 - 11.902 und 1905 - 13.309 Personen.<br />

Begünstigt durch die Nähe zur Hafenstadt, baute man in diesen<br />

Kolonien Obst und Gemüse, Wein und Getreide an, hielt<br />

Geflügel, Schafe und Bienen. Bekannt waren auf den Märkten<br />

<strong>der</strong> Stadt insbeson<strong>der</strong>e Salat, Radieschen, Spinat und Tomaten<br />

aus Klein-Liebental sowie Milch aus Groß-Liebental.<br />

In den 1870er <strong>Jahre</strong>n wurden aus Groß-Liebental wöchent-


Karte <strong>der</strong> deutschen <strong>Ansiedlung</strong>en in Südrussland, gezeichnet von J. Wiebe aus Tiege.<br />

lich 600-700 E<strong>im</strong>er Milch nach Odessa geliefert. Im “Unterhaltungsblatt<br />

für die deutschen Ansiedler <strong>im</strong> südlichen Russland”<br />

waren wie<strong>der</strong>holt Berichte des Oberschulzen Johann<br />

Kraus und an<strong>der</strong>er Kolonisten des Bezirks über ihre Erfahrungen<br />

<strong>im</strong> Anbau landwirtschaftlicher Kulturen zu lesen. Sie<br />

galten den an<strong>der</strong>en Kolonisten als Vorbild.<br />

Vorbildlich war auch das Schulwesen: In je<strong>der</strong> Kolonie wurde<br />

schon in den ersten <strong>Jahre</strong>n ihres Bestehens eine Kirchenschule<br />

gebildet., 1869 kam eine Zentralschule, an <strong>der</strong> Lehrer<br />

ausgebildet wurden, hinzu. 1905 wurde in Groß-Liebental<br />

eines <strong>der</strong> ersten Mädchengymnasien gegründet.<br />

Nach <strong>der</strong> Aufhebung <strong>der</strong> Kolonialverwaltung wurde <strong>der</strong> Kolonistenbezirk<br />

in die Kreise Groß-Liebental, Lustdorf, Güldendorf<br />

und Freudental eingeteilt.<br />

Die Nähe zur Stadt wird es wohl gewesen sein, die bei den<br />

Kolonisten dieses Bezirks eine höhere soziale Mobilität und<br />

das Interesse für das Gemeinwohl und die Politik weckten.<br />

Seit <strong>der</strong> Einbeziehung in die Landschaftsverwaltung (Semstwo)<br />

spielten Abgeordnete aus diesem Bezirk eine wichtige<br />

Rolle. So war Johann Kun<strong>der</strong>t in den <strong>Jahre</strong>n 1868-1874<br />

und1880-1895 Mitglied <strong>der</strong> vierköpfigen Bezirksverwaltung<br />

und 1877-1880 Abgeordneter <strong>der</strong> Gouvernementsversamm-<br />

So erreichen Sie uns:<br />

Landsmannschaft<br />

<strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland e. V.<br />

Raitelsbergstraße 49<br />

70188 Stuttgart<br />

Telefon (0711) 16 65 90<br />

Telefax (0711) 2 86 44 13<br />

e-mail: Lmdr-ev@t-online.de<br />

www.deutscheausrussland.de<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

lung. Der Groß-Liebentaler Kreisvorsteher<br />

Johann Münch war 1907-<br />

1910 Abgeordneter <strong>der</strong> Bezirksversammlung<br />

Odessa und Abgeordneter<br />

<strong>der</strong> II. Russischen Staatsduma.<br />

Die Nähe zu Odessa brachte aber<br />

auch Gefahren mit sich. Im Sommer<br />

1919 versuchten bolschewistisch gesinnte<br />

deutsche und österreichische<br />

Kriegsgefangene, die sich “Spartakisten”<br />

nannten, in den Kolonien des<br />

Bezirks die Sowjetmacht durchzusetzen.<br />

Sie hatten vor, junge Kolonisten<br />

gewaltsam für die Rote Armee<br />

zu mobilisieren und Pferde, Getreide<br />

und an<strong>der</strong>e Lebensmittel zu<br />

beschlagnahmen. Das Ergebnis war<br />

ein Aufstand, dem sich auch benachbarte<br />

russische und bulgarische Dörfer<br />

anschlossen.<br />

Die Liebentaler Kolonien wurden<br />

1926 zu einem Groß-Liebentaler<br />

deutschen nationalen Rayon zusammengefasst.<br />

Kurze Zeit später wurde<br />

<strong>der</strong> Rayon zu Ehren <strong>der</strong> Spartakisten des <strong>Jahre</strong>s 1919 in<br />

“Spartakisten-Rayon” umbenannt.<br />

In den 1930er <strong>Jahre</strong>n fanden <strong>im</strong> Landkreis wie<strong>der</strong>holt Verhaftungen<br />

statt. So wurden schon 1934 in den beiden Landkreisen<br />

Groß-Liebental (Spartakisten) und Selz 40 “faschistische<br />

Zellen” ausgehoben und 110 Personen verhaftet. Darunter<br />

waren eine Anzahl von Funktionären des Sowjetreg<strong>im</strong>es.<br />

Die Verhaftungen setzten sich bis Ende <strong>der</strong> 1930er <strong>Jahre</strong><br />

fort. Die Zahl <strong>der</strong> Opfer steht noch nicht fest.<br />

Der Rayon wurde 1939 als deutscher Rayon aufgelöst und<br />

dem Rayon Ovidiopol angeschlossen.<br />

Kutschurganer<br />

Kolonistenbezirk<br />

Die Kolonien Straßburg (1808), Selz (1808), Kandel<br />

(1808), Baden (1809), Mannhe<strong>im</strong> (1810) und Elsass<br />

(1810) wurden von Einwan<strong>der</strong>ern aus Baden, Württemberg,<br />

dem Elsass, <strong>der</strong> Pfalz, Preußen und Polen gegründet.<br />

Der Kolonistenbezirk wurde nach dem Fluss, an dem<br />

die Kolonien angelegt wurden, benannt. Alle Einwan<strong>der</strong>er<br />

dieser Gruppe waren katholischen Glaubens.<br />

Die wirtschaftliche Grundlage <strong>der</strong> Kolonien bildete <strong>im</strong> 19.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t die Landwirtschaft (Ackerbau, Viehzucht, Obstund<br />

Weinanbau, Seidenraupenzucht). Im <strong>Jahre</strong> 1833 zählte<br />

man bereits über 20.000 Obstbäume und fast 349.000 Rebstöcke.<br />

Die Revision des <strong>Jahre</strong>s 1811 ergab, dass die Kolonien dieses<br />

Bezirks 2.055 Einwohner hatten. 1833 waren es bereits<br />

3.868, 1859 - 7.373, 1905 - 12.554 und 1926 (Friedrich-Engels-Rayon)<br />

-14.518 Personen.<br />

Der Aufbau des Sozialismus in den Kolonien des Kutschurganer<br />

Gebiets begann, wie in an<strong>der</strong>en Regionen <strong>der</strong> Ukraine<br />

auch, mit Gewalt, die mit Gewalt beantwortet wurde. Im Juli<br />

1919 brach ein Aufstand gegen die Spartakisten in den Lie-<br />

19


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

bentaler Kolonien aus. Am 30.<br />

Juli erfasste <strong>der</strong> Aufstand die<br />

Kolonien Selz, Straßburg, Kandel<br />

und Baden. Wenig später<br />

schlossen sich auch die nördlicher<br />

gelegenen Kolonien Glückstal<br />

und Hoffnungstal an. In den<br />

Kutschurganer Kolonien wurde<br />

<strong>der</strong> Aufstand von K. Köhler<br />

(Selz) und dem Lehrer Scheweley<br />

(Kandel) geleitet. Der Aufstand<br />

wurde von <strong>der</strong> Roten Armee<br />

nie<strong>der</strong>geschlagen. Die Kavallerie-Brigade<br />

unter dem Befehl<br />

von G. Kotowskij erschoss<br />

zur Bestrafung jeden fünften erwachsenen<br />

Kolonisten.<br />

Nach dem Sieg <strong>der</strong> Roten gegen<br />

die Freiwilligenarmee <strong>der</strong> Weißen<br />

ging es erneut mit Gewalt<br />

gegen die Kolonien los. Rekrutenaushebung, Getreidebeschaffung,<br />

Mobilisierung von Pferden usw. wurden rücksichtslos<br />

unter militärischem Druck durchgeführt. Danach<br />

wurden auch dort die Schulen <strong>der</strong> neuen Macht unterstellt:<br />

Sie sollten eine neue kommunistische Jugend erziehen, doch<br />

fand das bei <strong>der</strong> Bevölkerung keinen Anklang. Schüler blieben<br />

dem Unterricht fern und wurden von <strong>der</strong> Schule genommen,<br />

das Bildungsniveau sank rapide.<br />

1925 wurden die Kutschurganer Kolonien zu einem deutschen<br />

nationalen Rayon zusammengefasst, <strong>der</strong> erst Mannhe<strong>im</strong>,<br />

dann Selz und schließlich Friedrich Engels hieß.<br />

Der Kollektivierungsdruck auf die Kolonien war enorm.<br />

Nach Auffassung <strong>der</strong> GPU waren 1929 <strong>im</strong> Rayon 5,2 % Kulaken.<br />

Bis zum <strong>Jahre</strong>sende hatte <strong>der</strong> Rayon das Ablieferungssoll<br />

an Getreide zu 109,9 % erfüllt. Dieser Druck erzeugte<br />

erneut Gegenwehr. Im Februar 1930 kam es zu Unruhen<br />

in Kandel, Selz, Elsass, Mannhe<strong>im</strong>, Straßburg, Baden<br />

und Güldendorf. Frauen holten ihr Vieh und das landwirtschaftliche<br />

Gerät aus den Kolchosen zurück und for<strong>der</strong>ten,<br />

die verhafteten Männer frei zu lassen. Das vorübergehende<br />

Nachlassen des Drucks nach den Unruhen, die nicht nur die<br />

16. März 1944. Über den Aufbruch <strong>der</strong> Gemeinde Landau<br />

schreibt die spätere Präsidentin <strong>der</strong> Landsmannschaft <strong>der</strong><br />

<strong>Deutschen</strong> aus Russland, Gertrud Braun (1906-1984):<br />

Seit Weihnachten lebten wir unter ständigem Druck: Müssen<br />

wir fort o<strong>der</strong> dürfen wir bleiben? Man schwankte zwischen<br />

Hoffen und Bangen.<br />

Anfang März machte ich mich auf die Fahrt nach Hoffnungstal,<br />

wo eine meiner Mitarbeiterinnen mit ihren Mütterberatungsstunden,<br />

Kin<strong>der</strong>nachmittagen, Stick- und Nähabenden<br />

eine gute Frauenarbeit aufgezogen hatte. Alles sah so<br />

freudig und zukunftssicher aus. Nur <strong>der</strong> “Kommandant”<br />

machte ein ernstes Gesicht und meinte, dass er in Kürze eine<br />

schwerwiegende Entscheidung erwarte.<br />

20<br />

Blick auf Mannhe<strong>im</strong> <strong>im</strong> Jahr 1919.<br />

Flucht aus Landau<br />

deutschen Kolonien, son<strong>der</strong>n zahlreiche Gebiete <strong>der</strong> UdSSR<br />

erfasst hatten, wurde durch die Vernichtung <strong>der</strong> “Kulaken als<br />

Klasse” abgelöst. In Ergebnis wurden alle Bauern in die<br />

Kolchosen gezwungen, die Landwirtschaft wurde zugleich<br />

ruiniert. Folge war die Hungersnot <strong>der</strong> <strong>Jahre</strong> 1931/32.<br />

Die neuen Herren blieben aber ebenfalls nicht lange auf<br />

ihren Posten; so wurde J. Haftel, Sekretär des Rayonparteikomitees,<br />

<strong>im</strong> Mai 1936 verhaftet. Während <strong>der</strong> Säuberungswelle<br />

1936-1938 wurden alte Rechnungen beglichen und<br />

zahlreiche Bauern, die zu den Kulaken gezählt wurden,<br />

am Aufstand von 1919 und den Unruhen von 1930 teilgenommen<br />

hatten o<strong>der</strong> 1929 versucht hatten auszuwan<strong>der</strong>n,<br />

wurden verhaftet und zu Gefängnisstrafen verurteilt o<strong>der</strong><br />

verbannt. Viele von ihnen kamen <strong>im</strong> Gewahrsam ums Leben.<br />

Der Rayon wurde 1939 aufgelöst. Die deutsche Bevölkerung<br />

rettete sich 1944 vor dem Zugriff <strong>der</strong> Roten Armee durch die<br />

Flucht in den Warthegau, aber ein Teil wurde 1945 in die<br />

UdSSR “repatriiert”. In ihre Dörfer durften sie nicht zurück.<br />

Heute erinnern nur noch die Kirchenruinen als stumme Zeugen<br />

an die Geschichte dieses Siedlungsgebiets.<br />

Da war sie schon wie<strong>der</strong>, diese dunkle Wolke, die wir <strong>im</strong>mer<br />

nicht sehen wollten!<br />

Es war Sonntag, <strong>der</strong> 12. März 1944. Um 11 Uhr, als ich noch<br />

einmal - getrieben von innerer Unruhe - zur Kommandantur<br />

ging, fand ich dort einen Kreis von Männern versammelt,<br />

die sehr ernst dreinschauten. Soeben wurde eine telefonische<br />

Meldung aus Odessa durchgegeben. Alarmstufe 4! Da wurde<br />

es ganz still <strong>im</strong> Raum. Zwar war <strong>der</strong> Anruf nur die Vorstufe<br />

zum Alarm, aber bei einer endgültigen Bestätigung<br />

dieser Alarmstufe bedeutete es, dass sich die Trecks innerhalb<br />

weniger Stunden abmarschbereit zu halten hätten. Die<br />

Russen hatten den Oberlauf des Bug überschritten!<br />

Wir wussten, was das hieß! - Minutenlang sagte niemand ein<br />

Wort. Dann kamen mit möglichst ruhiger St<strong>im</strong>me Vorschlä-


ge und Gegenvorschläge, was nun zu tun sei. Die gemeisterte<br />

Erregung sah man jedem <strong>der</strong> Männer an. Noch dürfe<br />

nichts nach draußen dringen. Noch war <strong>der</strong> endgültige Befehl<br />

nicht da.<br />

Ich wollte versuchen, am nächsten Morgen um 6 Uhr - sofern<br />

dazu noch Zeit war - die nächste Bahnstation zu erreichen,<br />

um nach Landau zu fahren. Da, um 3 Uhr morgens<br />

stand zitternd eine unserer bekannten Bäuerinnen <strong>im</strong> Z<strong>im</strong>mer.<br />

Eben war die Nachricht aus Odessa durchgekommen,<br />

die Alarmstufe gelte für den ganzen Bezirk.<br />

Da ging nun die Schreckensstunde durch den Draht hinaus<br />

in die Dörfer, jagte die verschlafenen Bürgermeister aus ihren<br />

Betten. Diese begriffen kaum, dann rannten sie hinaus<br />

auf die Straßen, riefen Boten zusammen, und diese klopften<br />

an Tore und Türen. Heraus! Heraus! Der Russe kommt.<br />

Es war eine furchtbare Nacht.<br />

In höchster Aufregung liefen die Menschen zusammen. Die<br />

Dunkelheit, <strong>der</strong> Schlamm - es hatte seit Wochen geregnet -<br />

und dann die Herzensangst vergrößerten in <strong>der</strong> Phantasie <strong>der</strong><br />

Menschen die Gefahr ins Ungeheure.<br />

Was sollte man als Erstes tun? Was packen, was backen?<br />

Konnte man noch schlachten?<br />

Es gab einen kurzen, harten Abschied für mich. Keiner hatte<br />

Zeit für den an<strong>der</strong>en.<br />

Nach erlebnisreicher Fahrt erreichte ich noch am gleichen<br />

Tag Landau, das Dorf, zu dem ich gehörte. Ernste Gesichter<br />

auch hier.<br />

Ich erfuhr, dass in den letzten Tagen einige hun<strong>der</strong>t Gespanne<br />

zum Transportdienst an die Front beor<strong>der</strong>t worden waren.<br />

Nun saßen die Familien da ohne Familienoberhaupt und<br />

ohne die Möglichkeit, mit eigener Kraft fortzukommen. Woher<br />

für sie alle den La<strong>der</strong>aum nehmen?<br />

Wohl war es gelungen, drei Züge von <strong>der</strong> benachbarten Station<br />

auf den Weg zu bringen. Aber dieser Transportraum<br />

reichte bei weitem nicht aus.<br />

Die Alten, Kranken und Mütter mit Kleinkin<strong>der</strong>n wurden<br />

zuerst fortgebracht. Da gab es die ersten herzzerreißenden<br />

Abschiedsszenen, denn notgedrungen mussten die Familien<br />

MARIA GÖRZEN<br />

<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

auseinan<strong>der</strong>gerissen werden, um die Bahn nur mit dem Bedürftigsten<br />

zu füllen. Einige Kleinkin<strong>der</strong> starben bereits in<br />

<strong>der</strong> ersten Nacht be<strong>im</strong> Warten auf die Verladung unter freiem<br />

H<strong>im</strong>mel.<br />

Am Donnerstag früh sollte sich <strong>der</strong> Treck in Marsch setzen.<br />

Aber was würde aus den an<strong>der</strong>en werden, die keine Fuhren<br />

hatten? Die Nerven waren angespannt bis zum Äußersten.<br />

Endlich war es soweit. In den frühen Morgenstunden des<br />

16. März 1944 sammelten sich die Treckwagen auf <strong>der</strong> Anhöhe<br />

in Richtung Rohrbach vor dem Dorf, die Fuhren bedeckt<br />

mit Brettern, Blech o<strong>der</strong> Tüchern o<strong>der</strong> was man sonst<br />

auf dem Hof gefunden hatte, um ein Dach über den Wagen<br />

zu spannen. Außen baumelte <strong>der</strong> notwendigste Hausrat: E<strong>im</strong>er,<br />

Milchkannen, Futtertröge. Hoch aufgeladen waren Kisten<br />

und Säcke. Dazwischen lugten die Gesichter <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />

Die Erwachsenen mussten zu Fuß nebenher gehen. Fast<br />

konnten die Pferde die Last nicht ziehen. Dazu <strong>der</strong> klebende<br />

Dreck.<br />

Alle Wagen wurden einer genauen Prüfung unterzogen, ob<br />

nicht eine Fuhre zu wenig beladen sei, um Ausgleich für an<strong>der</strong>e,<br />

überlastete Wagen zu schaffen.<br />

Ich ging die Fuhren entlang. Dann musste ich zum Dorf zurück.<br />

Erst nach Stunden setzte sich <strong>der</strong> Treck endgültig in<br />

Bewegung. Er ist am ersten Tag wohl nicht weit gekommen.<br />

Vielleicht schaffte er es bis zum nächsten Bahnhof Rohrbach.<br />

Ich konnte noch nicht fort, denn das Schicksal <strong>der</strong> Leute<br />

ohne Fuhren war noch nicht entschieden. Endlich kam die<br />

Nachricht: Unsere Leute würden alle herauskommen, wenn<br />

auch nicht mit Pferd und Wagen, wenn auch keine Lastwagen<br />

mehr zur Verfügung stünden und keine Bahn mehr ging.<br />

Sie sollten nach Odessa herausgeflogen werden. Wir atmeten<br />

auf.<br />

Es war dunkel, als sich unsere Kolonne in Bewegung setzte.<br />

Unsere Wagen waren aneinan<strong>der</strong>geseilt wie zu einer Bergtour.<br />

Ganz vorne zog uns ein Traktor. Meter um Meter<br />

kämpften wir uns durch den Schlamm. Für 25 Kilometer bis<br />

zur festen Straße brauchten wir fast zehn Stunden.<br />

Der Friedhof meiner He<strong>im</strong>at<br />

Die Erinnerungen an den Friedhof meines He<strong>im</strong>atortes<br />

Pordenau stehen mir oft vor Augen. Beson<strong>der</strong>s<br />

schwer werden meine Gedanken am Todestag meiner<br />

Mutter. Sie starb 1946 in Kasachstan und wurde auf einem<br />

kasachischen Friedhof begraben. Ihr Grab und viele<br />

Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> großen Flucht <strong>der</strong> Schwarzmeerdeutschen aus dem<br />

Nachlass von Gertrud Braun.<br />

Gräber daneben bestehen schon lange nicht mehr. Sie wurden<br />

von Viehherden zertrampelt. Ich denke oft an das Gute,<br />

das Mutter für uns getan hat. Alles, was ich tue, ist ihr Werk.<br />

So lebt sie <strong>im</strong>mer noch <strong>im</strong> Geiste neben mir. Sie sitzt neben<br />

mir o<strong>der</strong> schaut auf mich herab. Wir sprechen miteinan<strong>der</strong>.<br />

21


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Und ich denke oft an den Friedhof in Pordenau. Das ist mein<br />

He<strong>im</strong>atort, meine ehemalige He<strong>im</strong>at. Dort wurde ich geboren,<br />

dort wuchs ich auf. Pordenau war eines <strong>der</strong> 58 deutschen<br />

Dörfer in <strong>der</strong> Molotschnaja <strong>im</strong> Süden <strong>der</strong> Ukraine. Ich<br />

habe in ihm viele wichtige Erlebnisse und Erfahrungen mit<br />

meiner Mutter geteilt. Das bleibt unvergesslich. Ich war<br />

stolz auf sie.<br />

Im Frühjahr, wenn die ersten Blumen erwachten, gingen wir<br />

gemeinsam zum Friedhof. Ich freute mich so, wenn Mutter<br />

mich mitnahm. Unser Friedhof lag <strong>im</strong> Wald, die Gräber waren<br />

wie Blumen verstreut zwischen den Bäumen, als hätte<br />

<strong>der</strong> Wald sie aufgenommen.<br />

Damals sprachen die Gräber noch nicht mit mir. Sie waren<br />

einfach da und wurden von Menschen gepflegt und geschmückt.<br />

Ich schaute hinauf zu den herrlichen alten Baumkronen<br />

und ließ mich vom Gesang <strong>der</strong> Vögel verzaubern.<br />

Ich dankte Gott dafür, dass ich zusammen mit meiner Mutter<br />

gehen durfte und sie mir beistehen konnte. Es war eine gesegnete<br />

Zeit.<br />

Auf dem Pordenauer Friedhof wurden bereits meine Urgroßeltern<br />

mütterlicherseits begraben. Ihre Gräber lagen nebeneinan<strong>der</strong>.<br />

In <strong>der</strong> Mitte, am Kopfende <strong>der</strong> beiden Gräber stand<br />

ein großer viereckiger Grabstein mit einer Inschrift. Daneben<br />

hatte meine Mutter zwei Blumenstöcke mit weißen Rosen<br />

angepflanzt. Rund um die Gräber blühten an<strong>der</strong>e Blumen,<br />

die nach dem Verblühen durch neue ersetzt wurden.<br />

Meine Mutter versuchte auch an<strong>der</strong>e Gräber in Ordnung zu<br />

halten. Meistens waren das die Gräber von Bekannten und<br />

Verwandten, die ausgesiedelt worden waren und in Pordenau<br />

keine Angehörigen mehr hatten, so die Familien Heinrich<br />

und Driediger.<br />

Seit 1980 lebt unsere Familie in Deutschland. Hier sind die<br />

Friedhöfe sauber und gepflegt, Ruhestätten, die wie ein Park<br />

aussehen.<br />

Seit einiger Zeit zieht es mich stärker zum Friedhof. Meine<br />

Blicke gehen nicht mehr so sehr zu den Baumkronen hinauf<br />

wie während meiner Kindheit, son<strong>der</strong>n hinab zu den Gräbern<br />

vor meinen Füßen. Wie still liegen sie doch nebeneinan<strong>der</strong><br />

- Namen, Schicksale, vollendete Leben. Vielleicht haben<br />

sie sich gekannt o<strong>der</strong> auch nicht. Doch sie waren alle<br />

dem gleichen Schicksal unterworfen.<br />

Ich schaue mir die Grabsteine an, kleine unscheinbare und<br />

große prunkvolle. Hie und da ein Holzkreuz. Je nachdem,<br />

was an vergänglichen Gütern die Menschen, die ihre irdische<br />

Ruhe gefunden haben, besessen haben. Der Mensch<br />

muss wie<strong>der</strong> zu Erde werden. Das gilt für jeden gleichermaßen,<br />

ob unter einem schlichten Holzkreuz o<strong>der</strong> unter einem<br />

gewaltigen Stein.<br />

Ich denke an meine Lieben, an die Verstorbenen. Wo sind<br />

ihre Gräber? Wer pflegt sie heute? Haben sie überhaupt ein<br />

22<br />

1992 an einem deutschen Grab in Peterstal <strong>im</strong> Gebiet Odessa.<br />

Grab? Wurden sie begraben? Wo ist ihre letzte Ruhestätte?<br />

Wer gab ihnen das letzte Geleit? Was war ihr letzter<br />

Wunsch? Diese und an<strong>der</strong>e Fragen bleiben für <strong>im</strong>mer unbeantwortet.<br />

Mein Vater, meine drei Brü<strong>der</strong>, mein Schwager<br />

und viele Verwandte und Bekannten bleiben für <strong>im</strong>mer vermisst.<br />

Das tut weh.<br />

Im November <strong>200</strong>0 starb mein Bru<strong>der</strong> Gustav. Schon in<br />

Köln. Mir ist so seltsam zu Mute. Als wäre es nicht wahr.<br />

Der Tod kam und raffte ihn hinweg in eine an<strong>der</strong>e Welt, wo<br />

kein Leid und keine Kränkungen sein werden. Sein Leben<br />

auf Erden war zu Ende. Aber ich höre seine St<strong>im</strong>me, seine<br />

Schritte. In meiner Vorstellung sehe ich ihn so ruhig, so zufrieden,<br />

mit gefalteten Händen <strong>im</strong> Sarg liegen, als wolle er<br />

mir noch etwas sagen. Aber sein Mund öffnet sich nicht<br />

mehr. Er hat alles gesagt.<br />

Und ich erinnere mich an das Auferstehungslied, das meine<br />

Eltern und Geschwister damals gerne sangen. Ich schreibe<br />

für unsere Leser die ersten beiden Strophen aus dem Gedächtnis<br />

auf:<br />

Wenn aufersteh'n am glorreichen Morgen<br />

Die Toten all' große und klein,<br />

Im Meer und in Gräbern verborgen,<br />

Welch ein Morgen wird das sein!<br />

Chor: Welche Freude, Freude,<br />

Wonne wird das sein!<br />

Wenn dann, die hier waren getrennt,<br />

Nun auf ewig sind vereint<br />

Und man sie be<strong>im</strong> Namen wohl nennet,<br />

Vater, Mutter, Kind und Freund!<br />

Chor: Welche Freude, Freude,<br />

Wonne wird das sein!


<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

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<strong>200</strong> <strong>Jahre</strong> <strong>Ansiedlung</strong> <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> <strong>im</strong> <strong>Schwarzmeergebiet</strong><br />

Liebe Landsleute,<br />

wir begehen in diesem Jahr den <strong>200</strong>. <strong>Jahre</strong>stag <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung von <strong>Deutschen</strong>, unserer Vorfahren, in das <strong>Schwarzmeergebiet</strong>.<br />

Nach Jahrzehnten <strong>der</strong> Verfolgung und Vertreibung, nach Umsiedlung und Rückkehr nach Deutschland leben<br />

heute nur noch wenige Deutsche <strong>im</strong> Süden <strong>der</strong> Ukraine. Mit einer Reihe von Veranstaltungen und Publikationen<br />

ist die Landsmannschaft <strong>der</strong> <strong>Deutschen</strong> aus Russland <strong>im</strong> Jubiläumsjahr <strong>der</strong> Schwarzmeerdeutschen bestrebt, nachhaltig<br />

an die Geschichte dieser vom Schicksal hart geprüften Volksgruppe zu erinnern.<br />

Zwei öffentliche Veranstaltungen <strong>der</strong> Landsmannschaft am 20. September und am 8. November <strong>200</strong>3 in Stuttgart sollen<br />

dem Andenken an die Schwarzmeerdeutschen gerecht werden, mithilfe zweier Ausstellungen wollen wir auch die<br />

einhe<strong>im</strong>ische Bevölkerung informieren, in “Volk auf dem Weg” und dem He<strong>im</strong>atbuch <strong>200</strong>4 befassen wir uns ausführlich<br />

mit <strong>der</strong> Thematik. Mit dieser Broschüre schließlich, für die wir als ehrenamtlichen Verfasser den bekannten russlanddeutschen<br />

Historiker Dr. Alfred Eisfeld gewinnen konnten, liegen Ihnen in wissenschaftlich korrekter und kompakter<br />

Form die wichtigsten Informationen zur Geschichte und Kultur <strong>der</strong> Schwarzmeerdeutschen von ihrer Auswan<strong>der</strong>ung<br />

bis in die Gegenwart vor. (Für das nächste <strong>Jahre</strong> bereiten wir <strong>im</strong> Übrigen eine weitere Broschüre vor, die dem<br />

240-jährigen Jubiläum <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Wolgadeutschen gewidmet ist.)<br />

Wir üblich schicken wir Ihnen die Broschüre kostenlos zu, bitten Sie aber, uns dafür eine Spende nach Ihrem Ermessen<br />

und gemäß Ihren Möglichkeiten zukommen zu lassen. Sie können sich völlig sicher sein, dass wir Ihre Spende<br />

ausschließlich für die landsmannschaftliche Arbeit, insbeson<strong>der</strong>e für die Realisierung weiterer Publikationen verwenden<br />

werden.<br />

Vielen Dank <strong>im</strong> Voraus!<br />

Ihre Landsmannschaft<br />

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