6U n t e rrichtsbogen 18Kein Platz für TränenIn Thailand zur Prostitution gezwungenEs war noch dunkel, als der Zug amfrühen Morgen in Bangkok einlief.Sang-la und Malai wurden von einerkräftigen Hand wachgerüttelt. Nur langsamkam in ihnen die Erinnerung hoch.Der vornehme Herr hatte sie in seinemWagen nach Uttaradit gefahren und dorteinem Mann übergeben, der sie mit fünfanderen Mädchen in den Zug gesetzthatte. Malai blinzelte vorsichtig. Derfremde Mann rüttelte ein Mädchen nachdem anderen wach.»He, ihr Langschläfer! Aufwachen!In wenigen Minuten läuft der Zug inBangkok ein.«Das Wort Bangkok riss Malai endgültigaus ihrem Schlaf. Das große Abenteuerund ein neues Leben würden andiesem Morgen beginnen.Auf dem Bahnhof herrschte ein aufgeregtesDurcheinander. Die beidenKinderprostitution in einer Stripteasebar in ThailandMädchen waren völlig verwirrt von denvielen unbekannten Dingen, die plötzlichauf sie einstürmten. Und dann dieserLärm der hupenden Autos! Der fremdeMann drängte die sieben Mädchendurch das Verkehrsgewirr in eine Seitenstraße.»Sunnant Service« stand auf einemSchild neben dem Eingang am Endeder Straße, in den ihr Begleiter siehineinschob. Darunter stand: »Arbeitsvermittlung«.Der Mann, der sie in Empfangnahm, ließ einen flüchtigen Blicküber die Mädchen gleiten. »Du hastauch schon mal bessere Ware gebracht«,lachte er ihren Begleiter an. »Aber wartemal. Die Kleine hier ist nicht schlecht.«Er fasste Malai am Arm und führte siehinter eine Trennwand. »Du hast einhübsches Gesicht«, grinste er. »Nur deinKleidchen ist ziemlich schäbig. Aberjetzt wollen wir mal sehen, was da so allesdrunter ist.« Der Mann nestelte mitseinen Fingern an Malais Kleid undmachte sich an ihrem Körper zu schaffen.Malai schrie auf. »Bist du wohl still,du kleines Luder«, fauchte der Mann siean. »Hier bist du nicht im Dorf, wo duden ganzen Tag schreien kannst. Jetztbist du in Bangkok. Jeder muss hier seinGeld verdienen. Du bist hübsch. Duwirst die Männer bedienen und glücklichmachen. Eine Frau wird dir nochzeigen, was du genau zu tun hast.« Malaibegann verängstigt zu weinen. »Undjetzt hör mir mal gut zu!« Der Mann fasstesie am Kinn und zog es hoch, sodasssie ihm in die Augen sehen musste.»Wenn du nicht alles machst, was ichdir sage, dann bekommst du Schläge aufdeinen zarten Po. Ich schlage dich windelweich.Hast du verstanden!?«Malai nickte nur und schluchzte vorsich hin. Ihre Augen suchten Sang-la.Aber sie war in einen anderen Raum gebrachtworden. Und auch ihr Begleiterwar nicht mehr zu sehen.Mehrere Männer traten in den kahlenRaum. Sie sprachen von einem Grundpreis.Dann begann die Versteigerung.Manche Mädchen wechselten für 2.500Baht den Besitzer. Es gab aber auchMänner, die das Doppelte boten. Malaiwar einem Herrn Saithong 4.000 Bahtwert. Die Übriggebliebenen wurden denKäufern als Ausschuss unter dem Selbstkostenpreisangeboten. Zufrieden zogHerr Saithong mit Malai nach Hause.Mit ihr hatte er ein gutes Geschäft gemacht.Herr Saithong brachte Malai in eingroßes Haus, über <strong>des</strong>sen Eingang in rotenNeonbuchstaben »Hotel Lotos«stand.»Du wirst jetzt in jeder Nacht vonMännern Besuch bekommen. Und wassie von dir wünschen, das musst du ihnenerfüllen. Sie wollen, dass du sie füreine Stunde glücklich machst.«Malai hatte große Angst vor dem, wassie erwartete, und weinte.»Wisch die Tränen ab! Und hör bloßauf zu flennen!«, drohte der Hotelbesitzer.»Die Männer mögen so etwasnicht.«Das, was dann in der ersten Nacht geschah,war schlimmer als alles, was sichMalai in ihrer Angst ausgemalt hatte. Siespürte die gierigen Finger, den stoßendenAtem, die harten Stöße, die reißendenSchmerzen. Bloß jetzt nicht weinen,dachte sie. Dann wird alles nur nochschlimmer. Dann wird er mich zusammenschlagen,denn Weinen mögen dieMänner nicht. Sie wollen glücklich sein.Die Worte <strong>des</strong> Hotelbesitzers wirbeltenihr durch den Kopf. Noch nie hattesie sich so elend gefühlt. Noch nie warsie so unglücklich gewesen.ausHans-Martin Große-OetringhausKein Platz für Tränen(Peter Hammer Verlag). Wuppertal 1986
U n t e rrichtsbogen 187Der Traum vom FahrradProjekte gegen den <strong>Kinderhandel</strong> in WestafrikaKassa Zoumana macht sich Sorgen.Zwei seiner Enkel sind aus dem Dorfverschwunden, vor einem halben Jahr.Seitdem hat man nichts von ihnengehört. »Ich denke jeden Tag an sie«,sagt der alte Mann. »Vielen jungen Leuten,die auf Arbeitsuche gehen, ergeht esschlecht.«Die beiden Teenager haben das getan,was Heranwachsende seit Generationentun, hier im kargen Süden vonBurkina Faso. Sie haben sich auf denWeg gemacht, wahrscheinlich über dieGrenze, die nur ein paar Kilometer entferntist. Dahinter liegt die Elfenbeinküste,ein reiches Land, verglichen mitBurkina Faso. Dort gibt es Arbeit aufden Plantagen, wo Baumwolle oder Kakao,Bananen oder Kaffee angebautwerden – für den Export nach Europa.Viele sind von dort zurückgekommenals stolze Besitzer eines Fahrra<strong>des</strong>, anderehatten sogar genug Geld verdient,um sich die Hochzeit leisten zu können.Solche Erfolgsgeschichten bleibennicht ohne Wirkung in einer Gegend, inder es gar nichts gibt für die Jugend –nur die Arbeit auf den vertrocknetenFeldern, die kaum genug hergeben, umdie eigene Familie zu ernähren. DasFahrrad, von dem hier alle Jungen träumen,lässt sich so nicht verdienen.80.000 CFA, gut 102 Euro, braucht mandafür. Auch die Hochzeit kostet einVermögen: Der Brautpreis für eine Frauaus Burkina Faso liegt bei 125.000 CFA;wer eine Frau aus Mali heiraten will,muss sogar 150.000 CFA hinblättern.Da bleibt nur der Weg, den Momoniund Sangaré genommen haben, die Enkelvon Kassa Zoumana. Bei Nacht undNebel sind sie fortgegangen, ohne ihrerFamilie etwas zu sagen. Auch das ist soüblich: Meist wollen die Mütter ihreSöhne nicht ziehen lassen, aber es gibtja doch keine Alternative – also lohnt esnicht, überhaupt darüber zu sprechen.Man wird zurückkommen, eines Tages,und dann wird man genug Geld und eingutes Leben haben.Eine trügerische Hoffnung. Immermehr junge Leute kehren nach Jahrenharter Arbeit mit leeren Händen heim.Und manche kommen nie zurück. Eshat sich ein kriminelles Geschäft entwickeltin Westafrika: Ein Geschäft mitder Perspektivlosigkeit der Jugend inden Dörfern. Professionelle Schleppersind unterwegs, um Kinder und Jugendlicheeinzusammeln. Sie haben Auftraggeber,die bestimmte Stückzahlen bestellthaben und pünktlich beliefert werdenwollen. Die Menschenfänger findenihre Beute an Busbahnhöfen oder beiden »Ballafon-Nächten« – Tanzabendemit traditioneller Musik, beliebt bei derDorfjugend.Das Muster ist immer das selbe: Lügenund falsche Versprechungen auf dereinen Seite, Armut und Gutgläubigkeitauf der anderen. Gute Jobs, kostenloseTransporte und schnelles Geld werdengeboten.Vorbeugung und HilfeDer Handel mit der Ware Kind hat vieleFacetten. Es sind die Jungen wie Momoniund Sangaré, die sich selbst entschließen,ihre Dörfer zu verlassen undArbeit zu suchen. Wenn sie in die Händeder Schlepper geraten, erwartet sie härtesteZwangsarbeit auf den Plantagen,brutale Gewalt bei Fluchtversuchen undkein Pfennig Lohn. Es sind aber auchMädchen, die von Vermittlerinnen indie Städte gebracht werden, wo sie inIsolation und Abhängigkeit als Dienstmädchenausgebeutet werden; nicht seltensind sie sexueller Gewalt ausgesetzt.Es sind Kinder, die einfach auf derStraße aufgelesen und gekidnappt werdenund die nie wieder zu ihren Familienzurückkehren. Es sind die bettelndenKoranschüler und die kleinen Händlerinnenauf den Märkten. Es sind Kinderaus Mali und Burkina Faso, die an dieElfenbeinküste transportiert werden,und es sind Kinder aus Benin und Togo,die auf gefährlichen Schiffsreisen durchden Golf von Guinea geschafft werden,um in den Ölstaaten Gabun oder Nigeriaverkauft zu werden – weit weg vonzu Hause. Es sind zehntausende Kinderin Westafrika.So vielschichtig wie der <strong>Kinderhandel</strong>selbst muss auch der Kampf dagegensein. So hat terre <strong>des</strong> hommes zunächsteine Studie erarbeitet, um die Fakten zusammeln und die Menschen zu informieren.Denn noch immer wissen vieleEltern nichts von der Gefahr, die ihrenKindern droht. Verhandlungen mit Regierungen,Behörden und Projektpartnernsind zu führen, um den Schutz derKinder zu verbessern und die Täterwirksam zu verfolgen. Hilfe für die Opfervon <strong>Kinderhandel</strong> muss organisiertwerden – so wie es im neuen Zentrum inSikasso im Süden Malis geschieht. Dortwerden Kinder aufgenommen und versorgt,die aus den Plantagen der Elfenbeinküstebefreit wurden.Vor allem braucht die Jugend bessereChancen zu Hause, um nicht zur Wanderarbeitgezwungen zu sein. So wurdenin 34 Dörfern im Süden von BurkinaFaso Projekte entwickelt, die jungenMenschen eine Perspektive geben: Eswurden große Gemeinschaftsgärten angelegt,deren Früchte auf dem Markt derDistriktstadt Koloko verkauft werden.Es gibt eine Hühner- und eine Ziegenzucht,und es wurden »Getreidebanken«angelegt. Durch diesen Vorrat gibtes in den Dörfern endlich auch in derTrockenzeit noch Getreide.Eines der 34 Dörfer ist Sokoroni, woKassa Zoumana mit seiner Großfamilielebt. »Es geht uns besser durch die neuenProjekte«, sagt er. »Wir haben besseresEssen, und wir können sogar etwasGeld verdienen.« So hofft er, dass dieKinder seines Dorfes in Zukunft nichtmehr fortgehen müssen, um Arbeit zusuchen: »Wir brauchen ihre Kraft dochhier bei uns.«Er ist der Dorfälteste in Sokoroni –ein würdevoller, verwitterter Bauer.Hoffentlich geht es seinen Enkeln gut.Stephan Stolze