MOSAIK - Freie Waldorfschule Saar-Hunsrück Walhausen
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tiefen dionysischen Wahrheit: der<br />
Ungeheuerlichkeit des Menschen.<br />
Rezitation („Ungeheuer ist viel...“ –<br />
auf Altgriechisch und Deutsch) und<br />
Betrachtung von Stildifferenzen und<br />
Inhalt ergänzten sich zu einem<br />
Verständnis der Tragödie als der von<br />
Nietzsche erkannten Vereinigung des<br />
Dionysischen und Apollinischen.<br />
In einem dritten Schritt nun wandten<br />
wir uns der Aktualisierung zu. Die<br />
Schüler/innen ergänzten das<br />
Erfahrene durch Beispiele<br />
hauptsächlich aus der ihnen<br />
vertrauten aktuellen Musik und<br />
Musikerbiografien; im<br />
Unterrichtsgespräch kam es zu einer<br />
lebhaften Diskussion über die<br />
psychologischen Untiefen einer<br />
solchen Betrachtungsweise, über den<br />
Produktionsprozess von Kunst, die<br />
Funktion von Drogen dabei, über die<br />
Möglichkeit von Erkenntnis und<br />
Wahrheit. Den Schülern/innen gelang<br />
es, das Dionysische und Apollinische<br />
als Triebkräfte jeder Art von Kunst zu<br />
identifizieren und in sich selbst als<br />
Gestaltungskräfte des eigenen<br />
Schicksals zu finden.<br />
Anhand von immer noch provokanten<br />
Gedichten von Gottfried Benn (vier<br />
Gedichte aus dem Zyklus Der<br />
Psychiater von 1917) erarbeiteten die<br />
Schüler/innen im Anschluss daran,<br />
welchen Zugang zu moderner Lyrik die<br />
beiden Kunstbetrachtungskategorien<br />
eröffnen. Mit Leichtigkeit erkannten<br />
sie in Form und Inhalt dionysische und<br />
apollinische Elemente und den<br />
Versuch der Versöhnung beider in der<br />
Kunst.<br />
Der Übergang in die Betrachtung der<br />
Malerei, die mit der Gegenüberstellung<br />
von Delacroix und Ingres<br />
begann, bereitete ihnen dann<br />
keinerlei Schwierigkeiten.<br />
Insgesamt gesehen erwies sich diese<br />
interdisziplinäre Zusammenarbeit als<br />
außerordentlich fruchtbar, sowohl für<br />
die Schüler/innen als auch für uns<br />
Pädagoginnen. Besonders erfreulich<br />
war es, dass einzelne Schüler/innen<br />
sich im Rahmen von Zwölftklassarbeiten<br />
unter Verwendung der<br />
Kategorien des Dionysischen und<br />
Apollinischen mit dem eigenen<br />
Kunstschaffen auseinander setzten.<br />
Auch konnte ich sowohl in der<br />
zwölften als auch in der dreizehnten<br />
Klasse im Rahmen des<br />
Literaturunterrichts immer wieder an<br />
das Erarbeitete anschließen – es hatte<br />
sich tief in das Bewusstsein eingeprägt.<br />
Für mich als Deutschlehrerin hatte die<br />
interdisziplinäre Unterrichtsgestaltung<br />
außerdem den netten Nebeneffekt,<br />
dass ich die attische Tragödie, die im<br />
<strong>Saar</strong>land zum Pflichtprogramm des<br />
Zentralabiturs gehört (dort als Stoff in<br />
der 12. Klasse) auf eine Art behandeln<br />
konnte, die in Deutung und Bedeutung<br />
viel tiefer greift, als dies der<br />
staatliche Lehrplan vorsieht und<br />
erlaubt. Ich konnte sie im Rahmen<br />
einer universalen Kunstbetrachtungsweise<br />
einführen, die Form und Inhalt<br />
in einen Kontext stellt, der<br />
Verständnis ermöglicht (und zwar für<br />
alle, nicht nur die zukünftigen<br />
Abiturienten/innen) und nicht nur das<br />
Abrufen gattungsspezifischer<br />
Kennzeichen.<br />
- Dr. Ursula Kirchdörfer -<br />
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