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Ego-Dokumente: Annäherung an den Menschen in ... - Historicum.net

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W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong><br />

<strong>in</strong> der Geschichte?1<br />

Vorüberlegungen für die Tagung<br />

„EGO-DOKUMENTE"<br />

„Die Texte, gewiß -<br />

aber es s<strong>in</strong>d menschliche Texte".<br />

Lucien Febvre, 19332<br />

Unser Interesse am historischen <strong>Menschen</strong>, se<strong>in</strong>em Denken, Wissen und Verhalten wächst.<br />

<strong>Menschen</strong>fresser wer<strong>den</strong> wir Historiker nach e<strong>in</strong>em treffen<strong>den</strong> Wort Marc Blochs gen<strong>an</strong>nt:<br />

„Wo er <strong>Menschen</strong>fleisch riecht, da wittert er se<strong>in</strong>e Beute." 3 Gerade neuere Publikationen<br />

bestätigen dies: Die Jäger vom Stamme der Historiker s<strong>in</strong>d unersättlich, ke<strong>in</strong>e Vari<strong>an</strong>te<br />

menschlichen Verhaltens, die verborgen bliebe, ke<strong>in</strong>e Quellengattung, die nicht nach möglicher<br />

Beute durchsucht würde. Die „Geschichte des privaten Lebens" sche<strong>in</strong>t der vorläufige<br />

Endpunkt dieser Entwicklung zu se<strong>in</strong>, der private Raum wird vermessen, die Intimsphäre<br />

ausgespäht, Konsum und Besitz gezählt, ja die Verfehlungen des historischen <strong>Menschen</strong><br />

wer<strong>den</strong> unerbittlich ausgebreitet, 4 wissenschaftliche Tagungen fragen nach der „Privatisierung<br />

der Triebe" <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit. 5 Damit hat sich doch e<strong>in</strong>e entschei<strong>den</strong>de Verände-<br />

1 Diese Überlegungen entst<strong>an</strong><strong>den</strong> im Zusammenh<strong>an</strong>g der <strong>in</strong>haltlichen Vorbereitung der Arbeitstagung<br />

über „<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>" <strong>in</strong> der Werner-Reimers-Stiftung Bad Homburg im Juni 1992. Der Text<br />

wurde vor der Konferenz allen Teilnehmern zugeschickt. Ich d<strong>an</strong>ke vor allem Gabriele J<strong>an</strong> cke-Leutzsch<br />

und Claudia Ulbrich für ihre kritische Diskussion e<strong>in</strong>er früheren Fassung. E<strong>in</strong>e um exemplarische<br />

Untersuchungen erweiterte Fassung erschien <strong>in</strong>: Von Aufbruch und Utopie. Perspektiven e<strong>in</strong>er neuen<br />

Gesellschaftsgeschichte des Mittelalters. Für und mit Ferd<strong>in</strong><strong>an</strong>d Seiht aus Anlaß se<strong>in</strong>es 65. Geburtstages,<br />

Köln-Wien-Weimar 1992, S. 417-450. Um <strong>den</strong> Arbeitszusammenh<strong>an</strong>g der Konferenz zu dokumentieren,<br />

ersche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong> neuerlich überarbeiteter Abdruck vertretbar zu se<strong>in</strong>.<br />

2 Lucien Febvre: E<strong>in</strong> Historiker prüft se<strong>in</strong> Gewissen, <strong>in</strong>: ders.: Das Gewissen des Historikers, Berl<strong>in</strong><br />

1988, S. 9-22, hier S. 18.<br />

3 Marc Bloch, hier zitiert nach Jacques LeGoff: Der Historiker als <strong>Menschen</strong>fresser, <strong>in</strong>: Freibeuter 41,<br />

1989, S. 21-28, erneut unter dem Titel: Wie schreibt m<strong>an</strong> e<strong>in</strong>e Biographie?, <strong>in</strong>: Fern<strong>an</strong>d Braudel u. a.:<br />

Der Historiker als <strong>Menschen</strong>fresser. Über <strong>den</strong> Beruf des Geschichtsschreibers, Berl<strong>in</strong> 1990, S. 103-112,<br />

hier S. 103.<br />

4 Roger Chartier (Hg.): Histoire de la vie privee, Bd. 3: De la Renaiss<strong>an</strong>ce aux Lumieres, Paris 1986<br />

(dt. Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaiss<strong>an</strong>ce zur Aufklärung, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong><br />

1991). Vgl. auch D<strong>an</strong>iel Roche: Le peuple de Paris, Paris 1981 und zuletzt Annik Pardailhe-Galabrun:<br />

La naiss<strong>an</strong>ce de l'<strong>in</strong>time: 3000 foyers parisiens, siecles, Paris 1988.<br />

5 Vgl. Tagungsprogramm des Instituts für die Erforschung der Frühen Neuzeit (Wien), 28.-30.11.<br />

1991. Die Ergebnisse der Konferenz jetzt <strong>an</strong>gekündigt: D<strong>an</strong>iela Erlach - Markus Riesenleitner - Karl<br />

Vocelka (Hgg.): Privatisierung der Triebe? Sexualität <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1993.


12 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

rung gegenüber dem klassischen Historismus ergeben, dessen Individualitätssyndrom <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em merkwürdigen Widerspruch zu se<strong>in</strong>er Zurückhaltung steht, das Innerste des <strong>Menschen</strong><br />

vollends ergrün<strong>den</strong> zu wollen. Für e<strong>in</strong>en am Problem menschlicher Individualität<br />

(„Individuum est <strong>in</strong>effabile") so stark orientierten Historiker wie Friedrich Me<strong>in</strong>ecke sollte<br />

bei der Erforschung des <strong>Menschen</strong> e<strong>in</strong> unauflösbarer Rest bestehen bleiben, der Historiker<br />

sollte sich hier <strong>in</strong> der ars ignor<strong>an</strong>di üben: Der Dignität des Individuums entsprach die Scheu<br />

vor se<strong>in</strong>er totalen Offenlegung. Demgegenüber plädierte schon se<strong>in</strong> Altersgenosse Otto<br />

H<strong>in</strong>tze für e<strong>in</strong>en tieferreichen<strong>den</strong> Zugriff auf die historische Persönlichkeit. „Das berühmte X<br />

Droysens", so sagte er, „bleibt also bestehen, nur muß me<strong>in</strong>er Ansicht nach die Forschung<br />

bemüht se<strong>in</strong>, es auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum zu reduzieren. Sonst täte m<strong>an</strong> am besten dar<strong>an</strong>, die<br />

wissenschaftliche Forschungsarbeit <strong>in</strong> der Historie g<strong>an</strong>z aufzugeben."6<br />

M<strong>an</strong> wird leicht feststellen können, daß sich die historische Forschung des späteren 20. Jahrhunderts<br />

eher <strong>an</strong> der offensiven Empfehlung H<strong>in</strong>tzes <strong>den</strong>n <strong>an</strong> der Zurückhaltung Me<strong>in</strong>eckes<br />

orientiert hat. Die thematische Erweiterung der historischen Forschung und der Fortschritt<br />

der historischen Metho<strong>den</strong> zumal <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten drei Jahrzehnten haben sich besonders <strong>in</strong><br />

jenem Bereich ausgewirkt, <strong>den</strong> wir mit dem vagen Begriff der Mentalitätsgeschichte umschreiben,<br />

der aber e<strong>in</strong>deutig auf jene Haltungen, Vorstellungen und Verhaltensweisen der <strong>Menschen</strong><br />

zielt, die sich eher unbewußt artikulieren: „Geschichte als Wissenschaft vom <strong>Menschen</strong>,<br />

Wissenschaft von der menschlichen Verg<strong>an</strong>genheit," so hat es Lucien Febvre, dessen Zitat <strong>an</strong><br />

<strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n dieses Beitrags gestellt wurde, 1933 programmatisch formuliert/<br />

Es entbehrt dabei nicht e<strong>in</strong>er gewissen Ironie der Geschichte, wenn gerade die Sozialgeschichte,<br />

die zunächst mit e<strong>in</strong>er deutlichen <strong>an</strong>ti<strong>in</strong>dividualistischen, ja von Gegnern zuweilen<br />

kollektivistisch gen<strong>an</strong>nten Ten<strong>den</strong>z auftrat, <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren <strong>den</strong> Weg für e<strong>in</strong>en <strong>in</strong>tensiveren<br />

methodischen Zugriff auf das bewußte und unbewußte menschliche H<strong>an</strong>deln freigemacht<br />

hat. Der jetzt erkennbare Weg von der Makrohistorie zur Mikrohistorie wurde vor<br />

allem d<strong>an</strong>n beschritten, wenn makrohistorische Fragestellungen und Metho<strong>den</strong> sich als nicht<br />

fähig erwiesen, bestimmte <strong>in</strong>haltliche Probleme e<strong>in</strong>er Lösung zuzuführen. 8 In der qu<strong>an</strong>titativen<br />

Demographiegeschichte etwa hat sich e<strong>in</strong> bemerkenswert rascher Themen- und Metho-<br />

6 Otto H<strong>in</strong>tze: Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abh<strong>an</strong>dlungen zur Soziologie, Politik und<br />

Theorie der Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 2., erw. Aufl. Gött<strong>in</strong>gen 1964, S. 352.<br />

7 Vgl. Anm. 2, S. 17. Als <strong>an</strong>schauliches Beispiel: Arthur E. Imhof: Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung<br />

durch unsere Vorfahren - und warum wir uns heute so schwer damit tun ..., München 1984.<br />

8 Der Begriff „Mikrohistorie" wurde im wissenschaftlichen Kontext wohl zuerst durch Siegfried<br />

Kracauer verwendet, der um 1965 im Rückgriff auf Tolstoi und Namier Mikro- und Makrohistorie<br />

gegenüberstellte, freilich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Kontext, der eigentlich nur die alte Diskusssion von Individuellem<br />

und Allgeme<strong>in</strong>em wiederaufnahm, vgl. S. Kracauer: Geschichte - Vor <strong>den</strong> letzten D<strong>in</strong>gen, Fr<strong>an</strong>kfurt am<br />

Ma<strong>in</strong> 1971, Kap. V, S. 125 ff. - Die neuere Bedeutung zuerst bei C. G<strong>in</strong>zburg - C. Poni: Was ist<br />

Mikrogeschichte?, <strong>in</strong>: Geschichtswerkstatt 6, 1985, 5. 48-52 (ital. Erstveröffentlichung 1979). Vgl.<br />

W<strong>in</strong>fried Schulze: Mikrohistorie vs. Makrohistorie? Anmerkungen zu e<strong>in</strong>em aktuellen Thema, <strong>in</strong>:<br />

Christi<strong>an</strong> Meier - Jörn Rüsen (Hgg.): Historische Methode (Theorie der Geschichte, Bd. 5), München<br />

1988, S. 319-341. E<strong>in</strong>e Bil<strong>an</strong>z der deutschen Diskussion zieht jetzt Richard v<strong>an</strong> Dülmen: Historische<br />

Anthropologie <strong>in</strong> der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, <strong>in</strong>: GWU 42, 1991, S. 692-709. Zuletzt<br />

dazu H<strong>an</strong>s Medick: Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte im Blickpunkt der Kultur<strong>an</strong>thropologie,<br />

<strong>in</strong>: Geschichtswissenschaft vor 2000. Festschrift für Georg G. Iggers zum 65. Geburtstag, Hagen 1991,<br />

S. 360-369 und se<strong>in</strong> Beitrag über Mikrohistorie <strong>in</strong>: W<strong>in</strong>fried Schulze (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte,<br />

Mikro-Historie, Gött<strong>in</strong>gen 1994, S. 40-53.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 13<br />

<strong>den</strong>wechsel h<strong>in</strong> zu qualitativen Fragestellungen ergeben, die <strong>den</strong> Rückgriff auf <strong>den</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

<strong>Menschen</strong> erforderlich machten. 9 Doch dieser eher forschungsimm<strong>an</strong>ente Vorg<strong>an</strong>g wurde<br />

überlagert von e<strong>in</strong>em mächtigen neuen Interesse am Verhalten des e<strong>in</strong>zelnen <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der<br />

Geschichte, e<strong>in</strong>er Gegenbewegung zu <strong>den</strong> großen Strukturfragen, die auch ihre methodische<br />

Entsprechung f<strong>an</strong>d. Lawrence Stone hat diesen Vorg<strong>an</strong>g als „revival of narrative" bezeich<strong>net</strong>,<br />

ohne damit g<strong>an</strong>z der Komplexität dieses Vorg<strong>an</strong>gs gerecht zu wer<strong>den</strong>. ' °<br />

Die Dynamik <strong>in</strong>tensiver mentalitätshistorischer Fragestellungen hat <strong>den</strong> zunächst im Mittelpunkt<br />

stehen<strong>den</strong> Bereich des kollektiven Unbewußten überschritten und e<strong>in</strong> neues Interesse<br />

<strong>an</strong> e<strong>in</strong>zelnen Personen, ihrer typischen oder s<strong>in</strong>gulären Vorstellungswelt, ihrer Weltsicht<br />

<strong>in</strong>sgesamt hervorgerufen. Dies gilt besonders für jene sozialen Schichten <strong>in</strong> der Geschichte,<br />

die üblicherweise nicht zu <strong>den</strong>en gehörten, die sich häufig artikulierten, sondern die schweigende<br />

Masse bildeten. Hier hat die historische Forschung nicht nur das schwer umzusetzende<br />

und umstrittene Konzept der „Volkskultur" zum<strong>in</strong>dest als Leitfrage übernommen, sondern<br />

auch besondere Fragestellungen und Metho<strong>den</strong> entwickelt, mit <strong>den</strong>en kulturelle Praktiken,<br />

Wertvorstellungen und soziale Wissensbestände ermittelt wer<strong>den</strong> konnten." Alle diese<br />

Fragen reichen über die älteren kulturgeschichtlichen Fragestellungen weit h<strong>in</strong>aus; sie gew<strong>in</strong>nen<br />

ihr eigenes Gewicht vor dem H<strong>in</strong>tergrund der Tatsache, daß wir heute mehr <strong>den</strong>n je<br />

wissen wollen, wie elementare historische Veränderungen <strong>in</strong> Wirtschaft, Staat und Gesellschaft<br />

vom e<strong>in</strong>zelnen <strong>Menschen</strong> verst<strong>an</strong><strong>den</strong> und verarbeitet wur<strong>den</strong>. In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g<br />

ist die moderne Geschichtsforschung vor allem <strong>an</strong> jenen Typen von Quellen <strong>in</strong>teressiert,<br />

die e<strong>in</strong>en möglichst direkten Zugriff auf <strong>in</strong>dividuelle und kollektive Deutungen, Wertungen<br />

oder soziales Wissen ermöglichen. Dieses Interesse ist heute so stark ausgeprägt, daß es <strong>an</strong><br />

der Zeit sche<strong>in</strong>t, die sich hier bieten<strong>den</strong> Möglichkeiten der historischen Quellenbestände<br />

e<strong>in</strong>mal systematisch zu ordnen und so zu genaueren Auskünften zu gel<strong>an</strong>gen. In diesem<br />

Kontext möchte ich dafür plädieren, sich näher mit dem Begriff des <strong>Ego</strong>-Dokuments zu<br />

befassen, dessen Haupt<strong>in</strong>teresse im Unterschied zur traditionellen Volkskulturforschung<br />

stärker auf die <strong>in</strong>dividuelle Wahrnehmung gesellschaftlichen Lebens abzielt. '2<br />

Zunächst e<strong>in</strong>ige Überlegungen zum Begriff des <strong>Ego</strong>-Dokuments, der sich deutlich von dem<br />

im fr<strong>an</strong>zösischen Raum zuweilen gebrauchten Konzept der „<strong>Ego</strong>-Historie" unterscheidet.<br />

Während etwa Pierre Nora unter „ego-histoire" die biographische „Selbstbeschreibung" von<br />

Historikern versteht,' 3 bezieht sich der Begriff des <strong>Ego</strong>-Dokuments auf das historische<br />

9 Vgl. dazu etwa Philippe Aries: L'histoire des mentalites, <strong>in</strong>: Jacques LeGoff - Roger Chartier -<br />

Jaques Revel (Hgg.): La Nouvelle Histoire, Paris 1978, S. 402-423. - Die thematische Entwicklung der<br />

Arbeiten des Demographiehistorikers Arthur E. Imhof k<strong>an</strong>n diesen Vorg<strong>an</strong>g exemplarisch belegen.<br />

10 Lawrence Stone: The Revival of Narrative, <strong>in</strong>: PaP 85,1980, S. 3-24.<br />

11 Ich verweise nur auf Peter Burke: Hel<strong>den</strong>, Schurken und Narren. Europäische Volkskultur <strong>in</strong> der<br />

frühen Neuzeit, Stuttgart 1981; Steven L. Kapl<strong>an</strong> (Hg.): Underst<strong>an</strong>d<strong>in</strong>g Popular Culture. Europe from<br />

the Middle Ages to the N<strong>in</strong>eteenth Century, New York-Berl<strong>in</strong> 1984 und Bob Scribner: Is a History of<br />

Popular Culture possible?, <strong>in</strong>: History of Europe<strong>an</strong> Ideas 10,1989, S. 175-191.<br />

12 Dies wird auch durch die Aufzählung der Quellengruppen dieser Forschungsrichtung deutlich.<br />

Scribner erwähnt z.B. Sprichwörter, Volksliteratur und -lieder, Flugblätter, Überreste kirchlichen<br />

Brauchtums, aber auch rechtliche und kirchliche Aktenbestände (ebd., S. 174 ff.).<br />

13 Vgl. Pierre Chaunu - Georges Duby - Jacques LeGoff - Michel Perrot: Leben mit der Geschichte.<br />

Vier Selbstbeschreibungen, hg. und mit e<strong>in</strong>em Vorwort versehen von Pierre Nora, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong><br />

1989 und die Beiträge <strong>in</strong>: Autour de l'go-histoire, <strong>in</strong>: Le Debat 49,1988, S. 122-140.


14 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Quellenmaterial selbst. E<strong>in</strong>e Nähe besteht eher zu <strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>an</strong>glo-amerik<strong>an</strong>ischen Sozialwissenschaften<br />

üblichen Begriffen „personal document", „hum<strong>an</strong> document" oder „document<br />

of life", ohne doch mit letzterem völlig i<strong>den</strong>tisch zu se<strong>in</strong>. Als „document of life" wer<strong>den</strong><br />

<strong>in</strong> der psycho<strong>an</strong>alytischen, <strong>an</strong>thropologischen und soziologischen Forschung vor allen D<strong>in</strong>gen<br />

jene Quellen verst<strong>an</strong><strong>den</strong>, die E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> die Biographie e<strong>in</strong>er Person geben können, die<br />

lediglich „<strong>in</strong> some sense" als Autor zu verstehen ist." Neben <strong>den</strong> auch dem Historiker<br />

vertrauten Quellen wie Tagebuch, Brief oder oral history-Befragungen wer<strong>den</strong> hier auch<br />

literarische und photographische Quellen, schließlich auch Gegenstände des täglichen Gebrauchs<br />

e<strong>in</strong>bezogen.<br />

Die bisherige Diskussion über <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong> hat freilich diese sozialwissenschaftliche<br />

Metho<strong>den</strong>debatte noch nicht <strong>an</strong>gemessen berücksichtigt. Dies gilt <strong>in</strong> gleicher Weise für die<br />

Überlegungen, die im Kontext der volkskundlichen Biographieforschung entwickelt wor<strong>den</strong><br />

s<strong>in</strong>d. Hier hat Rolf Wilhelm Brednich von „hum<strong>an</strong> documents" gesprochen und damit vor<br />

allem Testamente, Stamm- und Anschreibebücher, Briefe und Tagebücher, Familienchroniken<br />

und Tagebücher von <strong>den</strong> Quellensorten abgrenzen wollen, die im Verlauf volkskundlicher<br />

Feldforschung durch Befragung gewonnen wer<strong>den</strong> können. 15 Zwischen diesen „okzi<strong>den</strong>talen<br />

<strong>Dokumente</strong>n" im S<strong>in</strong>ne Brednichs und <strong>den</strong> i. f. def<strong>in</strong>ierten <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>n<br />

ergeben sich Überschneidungen, ohne daß beide Konzepte i<strong>den</strong>tisch wären.<br />

Unter <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>n versteht die neuere, vorwiegend westeuropäische Frühneuzeitforschung<br />

<strong>in</strong> Anlehnung <strong>an</strong> die niederländische Diskussion der-70er Jahre und e<strong>in</strong>ige<br />

Beiträge des niederländischen Historikers Rudolf Dekker solche Quellen, die<br />

Auskunft über die Selbstsicht e<strong>in</strong>es <strong>Menschen</strong> geben, vorwiegend und zunächst e<strong>in</strong>mal<br />

also autobiographische Texte. Dekker griff bei dieser Def<strong>in</strong>ition auf <strong>den</strong> weitgehend<br />

unbeachtet gebliebenen Vorschlag se<strong>in</strong>es L<strong>an</strong>dsm<strong>an</strong>nes Jacob Presser zurück, der schon<br />

1958 als „egodocumente" jene Texte bezeich<strong>net</strong>e, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en „der Autor uns etwas<br />

über se<strong>in</strong> persönliches Leben und se<strong>in</strong>e Gefühle erzählt, l6 oder, noch allgeme<strong>in</strong>er formuliert,<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong>en „e<strong>in</strong> ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder ver-<br />

14 Vgl. dazu die älteren Arbeiten von Louis Gottschalk: The Histori<strong>an</strong> <strong>an</strong>d the Historical Document,<br />

<strong>in</strong>: ders. - C. Kluckhohn - R. Angell: The use of personal documents <strong>in</strong> history, <strong>an</strong>thropology<br />

<strong>an</strong>d sociology, New York 1947, S. 3-78; G. W. Allport: The Use of Personal Documents <strong>in</strong> Psychological<br />

Science, New York 1942; C. Pitt: Us<strong>in</strong>g Historical Sources <strong>in</strong> Anthropology <strong>an</strong>d Sociology, New<br />

York 1972 und E. de Dampierre: Le sociologue et l'<strong>an</strong>alyse des documents personnels, <strong>in</strong>: Annales ESC<br />

14, 1959, S. 442-454. - Zum Begriff „document of life" zuletzt Ken Plummer: Documents of Life: An<br />

Introduction to the Problems <strong>an</strong>d Literature of a Hum<strong>an</strong>istic Method, London 1983. Dieses Buch bietet<br />

e<strong>in</strong>en guten E<strong>in</strong>blick <strong>in</strong> <strong>den</strong> St<strong>an</strong>d der sozialwissenschaftlichen Forschungsdebatte zu <strong>den</strong> sog. „documents<br />

of life" (bes. S. 13 ff.). Das letzte Zitat bezieht sich auf e<strong>in</strong>e Formulierung von Robert Redfield<br />

(ebd., S. 14).<br />

15 Rolf Wilhelm Brednich: Zum Stellenwert erzählter Lebensgeschichten <strong>in</strong> komplexen volkskundlichen<br />

Feldprojekten, <strong>in</strong>: ders. u. a. (Hgg.): Lebenslauf und Lebenszusammenh<strong>an</strong>g. Autobiographische<br />

Materialien <strong>in</strong> der volkskundlichen Forschung, Freiburg i. Br. 1982, S. 46-70.<br />

16 So deutet Dekker <strong>den</strong> Vorschlag Pressers von 1958 (Memoires als geschiedsbron). Vgl. Rudolf<br />

M. Dekker: <strong>Ego</strong>-Documents <strong>in</strong> the Netherl<strong>an</strong>ds 1500-1814, <strong>in</strong>: Dutch Cross<strong>in</strong>g 39, 1989, S. 61-72, hier<br />

S. 61, der sich auf Jacob Presser (Uit het werk v<strong>an</strong> dr. J. Presser, Amsterdam 1969, S. 277) bezieht. - Zum<br />

Gesamtprojekt vgl. auch Rudolf M. Dekker: <strong>Ego</strong>documenten: Een literatuuroverzicht, <strong>in</strong>: Tijdschrift<br />

voor Geschie<strong>den</strong>is 101, 1988, S. 161 - 189 und ders. - R. L<strong>in</strong>dem<strong>an</strong> - Y. Scherf: Verstopte bronnen:


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 15<br />

birgt". 17 Herm<strong>an</strong> v<strong>an</strong> <strong>den</strong> Dunk sprach von Quellen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en e<strong>in</strong> „Autor nicht ohne<br />

Umstände und sehr <strong>in</strong>direkt etwas über sich selbst zu erkennen gibt, wor<strong>in</strong> er aber etwas<br />

ausdrückt, das ihn persönlich beschäftigt, erregt oder betroffen macht."' 8<br />

Diese offenen und hier weiter zu nutzen<strong>den</strong> Def<strong>in</strong>itionen hat die neuere niederländische<br />

Sozialgeschichtsforschung <strong>an</strong>geregt, sich vor allem <strong>den</strong> autobiographischen Texten der Frühen<br />

Neuzeit zu widmen. Ziel e<strong>in</strong>es größeren Arbeitsvorhabens von Dekker war es deshalb,<br />

e<strong>in</strong>e möglichst vollständige Sammlung aller niederländischen autobiographischen Texte zwischen<br />

dem 16. und 18. Jahrhundert zu erarbeiten, wobei Autobiographien, Memoiren,<br />

Tagebücher und persönliche Reiseberichte mite<strong>in</strong>bezogen wur<strong>den</strong>. Persönliche Briefe wur<strong>den</strong><br />

aus praktischen Grün<strong>den</strong> – so ist zu vermuten – nicht <strong>in</strong> die Sammlung e<strong>in</strong>bezogen, die<br />

schließlich ca. 1200 Stücke umfaßte.19<br />

Diese Arbeit niederländischer Historiker läßt sich durchaus <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren<br />

erheblich aufblühende Erforschung autobiographischer Textsorten e<strong>in</strong>ordnen, die vielerorts<br />

zu beobachten ist und die <strong>in</strong>zwischen als Beleg jener umfassen<strong>den</strong> <strong>an</strong>thropologischen Neuorientierung<br />

der Geschichtswissenschaft verst<strong>an</strong><strong>den</strong> wird. 2° In e<strong>in</strong>igen Ländern s<strong>in</strong>d autobio-<br />

egodocumenten v<strong>an</strong> Noord-Nederl<strong>an</strong>ck‘rs uit de 16cle tot 18de ceuw, <strong>in</strong>: Nederl<strong>an</strong>ds Archieven Blad 86,<br />

1982, S. 226-235, ebd., S. 226f. auch e<strong>in</strong>ige Bemerkungen zur Genese des Begriffs.<br />

17 So die Formulierung Pressers <strong>in</strong>: ders.: Uit hei werk v<strong>an</strong> (kJ. Presser, Amsterdam 1969, S. 286.<br />

18 Vgl. H. W. v<strong>an</strong> <strong>den</strong> Dunk: Over de betekenis v<strong>an</strong> ego-dokumenten, <strong>in</strong>: Tijdschrift voor<br />

Geschic<strong>den</strong>is 83, 1970, S. 147-161. Diese Nummer der „Tijdschrift" erschien unter dem Titel:<br />

„<strong>Ego</strong>dokumenten, cen bijzonder genre v<strong>an</strong> historische bronnen".<br />

19 Vgl. dazu <strong>den</strong> Beitrag Dekkers <strong>in</strong> diesem B<strong>an</strong>d, S. 33-57 und die jetzt vorliegende Übersicht der<br />

(nur nordholländischen) Quellen R. L<strong>in</strong>dem<strong>an</strong>n - Y Scherf - R. Dekker (Hgg.): <strong>Ego</strong>documenten v<strong>an</strong><br />

Noord-Nederl<strong>an</strong>ders uit de zestiende tot beg<strong>in</strong> negentiencle eeuw. Een chronologische lijst, Rotterdam<br />

1993, die ca. 630 Texte umfaßt.<br />

20 Als vorzüglicher Literaturüberblick eig<strong>net</strong> sich: Rudolf M. Dekker: <strong>Ego</strong>documenten: Een literatuuroverzicht,<br />

<strong>in</strong>: Tijdschrift voor Geschie<strong>den</strong>is 101, 1988, S. 161-189, während Ken<strong>net</strong>h Bark<strong>in</strong>:<br />

Autobiography <strong>an</strong>d History, <strong>in</strong>: Societas 6, 1976, S. 83-108 stärker auf das neue, vertiefte historische<br />

Interesse <strong>an</strong> der Autobiographie abhebt und dies mit dem allgeme<strong>in</strong> veränderten Interesse der Geschichtsschreibung<br />

verb<strong>in</strong>det, während die ältere Geschichtsforschung eher vor der Autobiographie<br />

gewarnt habe. - Vgl. auch Günter Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte e<strong>in</strong>er<br />

literarischen Gattung, Darmstadt 1989; J. M. Osborn: The beg<strong>in</strong>n<strong>in</strong>gs of Autobiography <strong>in</strong> Engl<strong>an</strong>d,<br />

Los Angeles 1960; John N. Morris: Versions of the Self. Studies <strong>in</strong> English Autobiography from John<br />

Buny<strong>an</strong> to John Smart Mill, New York 1966; Paul Del<strong>an</strong>y: British Autobiographv <strong>in</strong> the Seventeenth<br />

Century, London 1969; De<strong>an</strong> Ebner: Autobiographv <strong>in</strong> Seventeenth-Century Engl<strong>an</strong>d, Den Haag-<br />

Paris 1971; A. Stauffer: The Art of Autobiography <strong>in</strong> 18th-Century Engl<strong>an</strong>d, Pr<strong>in</strong>ceton, N. j. 1965; Roy<br />

Pascal: Die Autobiographie. Gehalt und Gestalt, Stuttgart u.a. 1965; Pierre Lejeune: L'histoire de<br />

l'autobiographie en Fr<strong>an</strong>ce, Paris 1971; J<strong>an</strong> Szczep<strong>an</strong>ski: The Use of Autobiographies <strong>in</strong> Historical<br />

Social Psychology, <strong>in</strong>: D<strong>an</strong>iel Bertaux (Hg.): Biography <strong>an</strong>d society. The life history approach <strong>in</strong> the<br />

social sciences, Beverly Hills, Ca. - London 1981, S. 225-234; Robert Elbaz: From Confessions to<br />

Antimemoires: A Studv of Autobiography, Phil. Diss. Montreal 1980; Harvey J. Graff: Literacy <strong>an</strong>d<br />

Social Development <strong>in</strong> the West: A reader, Cambridge 1981; E. Graham u.a. (Hgg.): Her own Life.<br />

Autobiographical Writ<strong>in</strong>gs by Seventeenth-Century Englisliwomen, London-New York 1989; H<strong>an</strong>s<br />

Glagau: Die moderne Selbstbiographie als historische Quelle, Marburg 1903; H<strong>an</strong>s W. Gruhle: Die<br />

Selbstbiographie als Quelle historischer Erkenntnis, <strong>in</strong>: M. Palyi (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie.<br />

Er<strong>in</strong>nerungsgabe für Max Weber, Bd. 1, München-Leipzig 1923, S. 157-177; Theodor Klaiber: Die<br />

deutsche Selbstbiographie. Beschreibungen des eigenen Lebens, Memoiren, Tagebücher, Stuttgart 1921;


16 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

graphische Quellen unter durchaus verschie<strong>den</strong>en Ordnungskriterien bereits gesammelt und<br />

verzeich<strong>net</strong> wor<strong>den</strong>. 21 Waren friiher autobiographische Texte eher e<strong>in</strong> Objekt kulturgeschichtlicher<br />

oder literaturhistorisch-literaturwissenschaftlicher Forschung, so geraten diese<br />

Quellen zunehmend <strong>in</strong> <strong>den</strong> engeren Interessenbereich der Historiker, 22 der sich freilich mit<br />

J. Kronsbe<strong>in</strong>: Autobiographisches Erzählen. Die narrativen Strukturen der Autobiographie, München<br />

1984; Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. E<strong>in</strong> Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie<br />

von der Mystik bis zum Pietismus, Berl<strong>in</strong> 1919; Georg Misch: Geschichte der Autobiographie, Bd. IV,2:<br />

Von der Renaiss<strong>an</strong>ce zu <strong>den</strong> autobiographischen Hauptwerken des 18. und 19. Jahrhunderts, 3. Aufl.,<br />

bearb. von Bernd Neum<strong>an</strong>n, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1969; Horst Wenzel (Hg.): Die Autobiographie des<br />

späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, 2 Bde., München 1980; ders.: Zu <strong>den</strong> Anfängen der<br />

volkssprachigen Autobiographie im späten Mittelalter, <strong>in</strong>: Daphnis 13,1984, S. 59-75; H. W<strong>in</strong>ter: Der<br />

Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile, Heidelberg 1985; Urs M.<br />

Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Dicsbachs. Studien zur spätmittelalterlichen<br />

Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen Raume, Bern 1986; Karl Joachim<br />

We<strong>in</strong>traub: The Value of the Individual: Self <strong>an</strong>d Circumst<strong>an</strong>ce <strong>in</strong> Autobiography, Chicago 1978; ders.:<br />

Autobiography <strong>an</strong>d Historical Consciousness, <strong>in</strong>: Critical Inquiry 1,1975, S. 821-842; Heidi I. Stull:<br />

The Evolution of the autobiography from 1770-1850. A comparative study <strong>an</strong>d .<strong>an</strong>alysis, New York<br />

1985.<br />

21 Für Großbrit<strong>an</strong>nien vgl. William Matthcws (Hg.): British Autobiographies. An <strong>an</strong>notated Bibliography<br />

of British Autobiographies published or written before 1951, Berkeley 1984 und ders.: British<br />

Diaries. An Annotated Bibliography of British Diaries written between 1442 <strong>an</strong>d 1942, Berkeley 1984.<br />

Für die USA ders.: Americ<strong>an</strong> diaries <strong>in</strong> m<strong>an</strong>uscript 1580-1954. A descriptive bihliography, 1975. Für<br />

die Niederl<strong>an</strong>de vgl. Rudolf M. Dekker - R. E<strong>in</strong>dem<strong>an</strong>, R. - Y. Schorf: Verstopte bronncn: egodocumenten<br />

v<strong>an</strong> Noord-Nederl<strong>an</strong>ders uit de 16de tot 18dc eeuw, <strong>in</strong>: Nederl<strong>an</strong>ds Archieven Blad 86,1982,<br />

S. 226-235 und die jetzt vorliegende Übersicht der Quellen: dies. (Hgg.): <strong>Ego</strong>documenten uit de<br />

zestiende to beg<strong>in</strong> negentiende eeuw. Ecn chronologische lijst, Rotterdam 1993. Für Italien vgl.<br />

M. Guglielm<strong>in</strong>etti: Memoria e scrittura: l'autohiografia da D<strong>an</strong>te a Cell<strong>in</strong>i, Tur<strong>in</strong> 1977 und ders.:<br />

L'autobiographie en Italie, XI siedes, <strong>in</strong>: Revue de l'<strong>in</strong>stitut de Sociologic (Bruxclles) 55,<br />

1982, S. 101-114. Für Sp<strong>an</strong>ien: L'autobiographie d<strong>an</strong>s le monde hisp<strong>an</strong>ique. Actes d'un colloque<br />

<strong>in</strong>ternationale de la Baume-los-Aix, 11-13 mai 1979, Paris 1980. Für Deutschl<strong>an</strong>d vgl. Jens Jessen (Hg.):<br />

Bibliographie der Autobiographien, <strong>in</strong>sgesamt 6 Bde., München-London-New York u. a. 1983-1989,<br />

der das Material nach Berufsgruppen (Schriftsteller, Geisteswissenschaftler, Naturwissenschaftler, Mediz<strong>in</strong>er)<br />

ord<strong>net</strong>. Breite Erfassung der Autobiographien des 17. Jahrhunderts bei Inge Bernhei<strong>den</strong>: Individualität<br />

im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen Schrifttum, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1988, die<br />

damit natürlich ke<strong>in</strong> vollständiges Verzeichnis bietet, das bisl<strong>an</strong>g noch aussteht. Wünschenswert ersche<strong>in</strong>t<br />

vor allem e<strong>in</strong>e wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wer<strong>den</strong>de Bibliographie für <strong>den</strong> strategischen<br />

Zeitraum vom späten Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts. - Kürzlich ist sogar die<br />

ch<strong>in</strong>esische Autobiographik näher untersucht wor<strong>den</strong> von Wolfg<strong>an</strong>g Bauer: Das Antlitz Ch<strong>in</strong>as. Die<br />

autobiographische Selbstdarstellung <strong>in</strong> der ch<strong>in</strong>esischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München<br />

1991.<br />

22 Als Beispiele der älteren Forschung vgl. die Beiträge von Ermentrude von R<strong>an</strong>ke: Der Interessenkreis<br />

des deutschen Bürgers im 16. Jahrhundert (aufgrund von Selbstbiographien und Briefen), <strong>in</strong>:<br />

VSWG 20, 1928, S. 474-490 und Fritz Redlich: Autobiographies as sources for social history. A<br />

research program, <strong>in</strong>: VSWG 62,1975, S. 380-390. Wichtig vor allem die Beobachtungen bei Ken<strong>net</strong>h<br />

D. Bark<strong>in</strong>: Autobiography <strong>an</strong>d History, <strong>in</strong>: Societas 6,1976, S. 82-108 und als früher deutscher Beitrag<br />

zur Debatte um Autobiographie und Selbstzeugnisse - <strong>an</strong>geregt durch E. W. Zee<strong>den</strong>s kulturgeschichtliche<br />

Interessen - vor allem Heide Stratenwerth: Selbstzeugnisse als Quellen zur Sozialgeschichte des<br />

16. Jahrhunderts, <strong>in</strong>: Festgabe für E. W. Zee<strong>den</strong> zum 60. Geburtstag, hg. von Horst Rabe u. a., Münster<br />

1976, S. 21-35.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 17<br />

dem der Literaturhistoriker, der Volkskundler und der Psychologen überschneidet. 23 Autobiographische<br />

Texte s<strong>in</strong>d ohne Zweifel die Quellengattung, die geradezu im Mittelpunkt des<br />

Interesses der Geschlechtergeschichte, aber auch der psychohistorischen und mediz<strong>in</strong>historischen<br />

Forschung steht.<br />

Dabei s<strong>in</strong>d bisl<strong>an</strong>g verschie<strong>den</strong>e Fragerichtungen deutlich gewor<strong>den</strong>. Zum e<strong>in</strong>en konzentriert<br />

sich die Forschung immer wieder auf die Frage nach <strong>den</strong> Grün<strong>den</strong> der Entstehung<br />

dieser Gattung, ihren Vorbildern etwa <strong>in</strong> <strong>den</strong> spätmittelalterlichen Haushalts- und Kaufm<strong>an</strong>nsbüchern,<br />

24 ihren Regeln und Formen. 25 Hier sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> enger Zusammenh<strong>an</strong>g mit<br />

der Entstehung moderner Subjektivität und Individualität g,egeben, 26 zumal wenn diese –<br />

wie bei Werner Mahrholz – als herausragendes Produkt der Verb<strong>in</strong>dung von städtischer Welt<br />

und Bürgertum gesehen wurde. 27 Diese vermutete Genese der autobiographischen Texte<br />

aus dem städtischen Raum wird <strong>in</strong> ihrer E<strong>in</strong>deutigkeit gewiß nicht zu halten se<strong>in</strong>, eher<br />

empfiehlt sich e<strong>in</strong> Verweis auf die je unterschiedliche soziale Position und Intention des<br />

Schreibers, die zur Reflexion <strong>an</strong>regt: Das autobiographische Genre des 16. Jahrhunderts<br />

weist „e<strong>in</strong>e große Vielfalt von Situationen des Schreibens, Formen und Argumentationsstrategien<br />

auf", wie Gabriele J<strong>an</strong>cke <strong>in</strong> ihrem Beitrag resümiert. 25 Philippe Lejeune hat auch<br />

deshalb auf die „opposition fondamentale" zwischen der Gattung der Memoiren und der<br />

Autobiographie h<strong>in</strong>gewiesen. Während Er<strong>in</strong>nerungen das Individuum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en sozialen<br />

Kontext stellten, werde das Individuum erst <strong>in</strong> der Autobiographie zum Gegenst<strong>an</strong>d des<br />

Diskurses.29<br />

Zum <strong>an</strong>deren hat sich die Forschung pragmatisch auf jene Felder h<strong>in</strong> orientiert, die die<br />

Entwicklung autobiographischer Texte und ihrer Vorformen gefördert, ja geradezu herausgefordert<br />

haben: religiöse Bewegungen wie Purit<strong>an</strong>ismus30 und Pietismus stehen hier <strong>an</strong><br />

23 Die orig<strong>in</strong>äre Kompetenz der Volkskunde für diese Quellengattung und e<strong>in</strong>e gewisse Betriebsbl<strong>in</strong>dheit<br />

der Historiker bei der (Wieder-)Entdeckung der Volkskultur hat zuletzt mehrfach Ruth-E.<br />

Mohrm<strong>an</strong>n betont. Vgl. etwa dies.: Volkskunde und Geschichte, <strong>in</strong>: Rhe<strong>in</strong>.-Westfal. Zs. für Volkskunde<br />

34/35, 1989/90, S. 9-23.<br />

24 Dazu jetzt die neue Untersuchung von Christof Wei<strong>an</strong>d: „Libri di famiglia" und Autobiographie<br />

<strong>in</strong> Italien zwischen Tre- und C<strong>in</strong>quecento. Studien zur Entwicklung des Schreibens über sich selbst,<br />

Tüb<strong>in</strong>gen 1993.<br />

25 Vgl. speziell dazu William C. Spengem<strong>an</strong>n: The Forms of Autobiography. Episodes <strong>in</strong> the<br />

History of a literary genre, New Haven-London 1980.<br />

26 Vgl. James Olney: Metaphors of Self: The me<strong>an</strong><strong>in</strong>g of autobiography, Pr<strong>in</strong>ceton 1972, (Kap. 1,<br />

Theory of Autobiography).<br />

27 So Werner Mahrholz: Deutsche Selbstbekenntnisse. E<strong>in</strong> Beitrag zur Geschichte der Selbstbiographie<br />

von der Mystik bis zum Pietismus, Berl<strong>in</strong> 1919, S. 1 ff.<br />

28 S. 106.<br />

29 Pierre Lejeune: L'histoire de l'autobiographie en Fr<strong>an</strong>ce, Paris 1971, S. 15.<br />

30 Hierzu vor allem Owen C. Watk<strong>in</strong>s: The purit<strong>an</strong> experience. Studies <strong>in</strong> spiritual autobiography,<br />

London 1972; L. D. Lerner: Purit<strong>an</strong>ism <strong>an</strong>d the spiritual Autobiography, <strong>in</strong>: HM 55, 1956/57, S. 373-<br />

386; Margaret Spufford: First steps <strong>in</strong> literacy: the read<strong>in</strong>g <strong>an</strong>d writ<strong>in</strong>g cxperienccs of the humblest<br />

seventecnth-century spiritual autobiographers, <strong>in</strong>: Social History 4, 1979, S. 407-435; Kaspar von<br />

Greyerz: Religion <strong>in</strong> the life of Germ<strong>an</strong> <strong>an</strong>d Swiss autobiographers (sixteenth <strong>an</strong>d early seventeenth<br />

centuries), <strong>in</strong>: ders. (Hg.): Religion <strong>an</strong>d Society <strong>in</strong> Early Modern Europe 1500-1800, London 1986,<br />

S. 223-241.


18 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

vorderster Stelle, 3 ' aber auch die Or<strong>den</strong>sgeschichte, weil hier ebenfalls autobiographische<br />

Reflexionen vorgeschrieben se<strong>in</strong> konnten. 32 Nicht zuletzt haben aber auch die Verfahren des<br />

Sün<strong>den</strong>bekenntnisses (Beichte) und die Vorschriften religiöser Prozesse zur Ausformung der<br />

Autobiographie beigetragen. 33 So war etwa im Rahmen des sp<strong>an</strong>ischen Inquisitionsprozesses<br />

seit <strong>den</strong> 60er Jahren des 16. Jahrhunderts e<strong>in</strong>e „geneologia" und e<strong>in</strong> „discurso de la vida"<br />

vorgeschrieben, die das Gericht über <strong>den</strong> familiären H<strong>in</strong>tergrund und die religiöse Erziehung<br />

des Angeklagten <strong>in</strong>formieren sollten. 34 Auch der Tatbest<strong>an</strong>d gelungener Konversion bildete oft<br />

genug <strong>den</strong> Anlaß e<strong>in</strong>er ausführlichen und gerne publizierten Selbstreflexion. 35 Für <strong>den</strong> religiös<br />

bed<strong>in</strong>gten Typ von Autobiographie stehen etwa das Tagebuch Ralph Jossel<strong>in</strong>s, e<strong>in</strong>es englischen<br />

Pfarrers des 17. Jahrhunderts, dem Al<strong>an</strong> Macfarl<strong>an</strong>e e<strong>in</strong>e vorzügliche historisch-<strong>an</strong>thropologische<br />

Studie und e<strong>in</strong>e Edition gewidmet hat, 36 Paul Seavers Rekonstruktion von „Wall<strong>in</strong>gton's<br />

31 Ingo Bcrtol<strong>in</strong>i: Studien zur Autobiographie des deutschen Pietismus, 2 Teile, Phil. Diss. Wien<br />

1968; Gerd Birkner: Heilsgewißheit und literarische Methapher, Allegorie und Autobiographie im<br />

Purit<strong>an</strong>ismus, München 1972 und die ältere Arbeit von Werner Mahrholz (Hg.): Der deutsche<br />

Pietismus, Berl<strong>in</strong> 1921.<br />

32 Als Beispiel vgl. Jacques Le Brun: Reves de religieuses. Le desir, la mort et le temps, <strong>in</strong>: Revue<br />

des sciences huma<strong>in</strong>es 82, 1988, S. 27-47 und ders., Das Geständnis <strong>in</strong> <strong>den</strong> Nonnenbiographien<br />

des 17. Jahrhunderts, <strong>in</strong>: A. Hahn – V. Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis<br />

und Geständnis, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1987, S. 248-264. Aus dem deutschen Bereich ist zu<br />

verweisen auf die Autobiographie des Or<strong>den</strong>sgeistlichen Joh<strong>an</strong>nes Butzbach: Odeporicon. E<strong>in</strong>e Autobiographie<br />

aus dem Jahre 1506. Zweisprachige Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von Andreas<br />

Ber<strong>in</strong>ger, We<strong>in</strong>heim 1991, die als „Markste<strong>in</strong>" <strong>in</strong> der Entwicklung der deutschen Autobiographie<br />

bezeich<strong>net</strong> wor<strong>den</strong> ist.<br />

33 Vgl. etwa T. C. Price Zimmerm<strong>an</strong>n: Bekenntnis und Autobiographie <strong>in</strong> der frühen Renaiss<strong>an</strong>ce,<br />

<strong>in</strong>: Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte e<strong>in</strong>er literarischen Gattung,<br />

Darmstadt 1989, S. 343-366. Auf <strong>den</strong> engen Zusammenh<strong>an</strong>g von religiös bed<strong>in</strong>gter Selbsterforschung<br />

und autobiographischem Interesse weist Alois Hahn: Zur Soziologie der Beichte und <strong>an</strong>derer Formen<br />

<strong>in</strong>stitutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozeß, <strong>in</strong>: Kölner Zeitschrift<br />

für Soziologie und Sozialpsychologie 34,1982, S. 407-437, bes. 5.418 ff. h<strong>in</strong>.<br />

34 Vgl. dazu Richard L. Kag<strong>an</strong>: Lucretia's Dreams. Politics <strong>an</strong>d Prophecy <strong>in</strong> Sixtcenth-Century<br />

Spa<strong>in</strong>, Berkeley, Cal. 1990, S. 13, der exemplarisch auf e<strong>in</strong>en mehr als 30seitigen autobiographischen<br />

Bericht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Prozeßakte verweist. Speziell zur <strong>an</strong>thropologischen Aussagefähigkeit der Inquisitionsprozesse<br />

Je<strong>an</strong>-Pierre Dedieu: The archives of the Holy Office of Toledo as a source for historical<br />

<strong>an</strong>thropology, <strong>in</strong>: Gustav Henn<strong>in</strong>gsen – John A. Tedeschi (Hgg.): The Inquisition <strong>in</strong> Early Modern<br />

Europe. Dekalb, III. 1986, S. 158-189 sowie spezieller Antonio Gömez Mori<strong>an</strong>a: Autobiografia y<br />

discurso ritual. Problematica de la confesiOn autobiografica al tribunal <strong>in</strong>quisitiorial, <strong>in</strong>: L'autobiographie<br />

d<strong>an</strong>s le monde hisp<strong>an</strong>ique. Aix-en-Provence 1980, S. 69-94 und Adrienne Schizz<strong>an</strong>o M<strong>an</strong>del: Lc<br />

proces <strong>in</strong>quisitorial comme acte autobiographique. Le cas de Sor Maria de S<strong>an</strong> Jerönimo, <strong>in</strong>: ebd.,<br />

S. 155-169.<br />

35 Speziell zum Problem der Konversion Louis Desgraves: Un aspect des controverses entre<br />

catholiques et protest<strong>an</strong>ts: les recits de conversion (1598-1628), <strong>in</strong>: La conversion au XVII' siede. Actes<br />

du XII' colloque du C.M.R. (j<strong>an</strong>vier 1982), S. 89-110. Als Beispiel: Heiko Wulfert: Der nassauische<br />

Pfarrer Wilhelm Köllner (1760-1835) und se<strong>in</strong>e autobiographische „Bekehrungs- und Rettungsgeschichte",<br />

<strong>in</strong>: Jahrbuch der hessischen kirchengcsch. Vere<strong>in</strong>igung 38,1987,5.41-68.<br />

36 Al<strong>an</strong> Macfarl<strong>an</strong>e: The Family Life of Ralph Josscl<strong>in</strong>. A Seventeenth-Century Clergym<strong>an</strong>. An<br />

Essay <strong>in</strong> Historical Anthropology, Cambrige 1970 und ders. (Hg.): The Diary of Ralph Jossel<strong>in</strong> 1616-<br />

1683, London 1976.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 19<br />

World", dem Lebenszusammenh<strong>an</strong>g e<strong>in</strong>es purit<strong>an</strong>ischen Londoner H<strong>an</strong>dwerkers, oder das<br />

Tagebuch des Michael Wigglesworth aus dem gleichen Jahrhundert, um e<strong>in</strong>ige englische<br />

Beispiele zu zitieren. 37 Doch s<strong>in</strong>d dies nur wenige Exempel für e<strong>in</strong>e bemerkenswert große Zahl<br />

von Autobiographien <strong>in</strong> diesem Jalu-hundert. 38 Schließlich fragt die Forschung <strong>in</strong>tensiv nach<br />

der Bedeutung epochaler historischer oder besonders bewegender Ereignisse (wie z. B. Revolutionen,<br />

Kriege, Erdbeben, Pestepidemien) für die Produktion autobiographischer Texte." Hier<br />

f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich am ehesten Anstöße zur Schilderung des eigenen Lebens auch für die Angehörigen<br />

jener Schichten, die sonst kaum schriftliche Zeugnisse zu produzieren gewohnt sm« ci.4°<br />

Damit wird <strong>in</strong>sgesamt deutlich, daß die Autobiographie e<strong>in</strong>e l<strong>an</strong>ge und komplexe – hier nicht<br />

zu klärende – Vorgeschichte hat, <strong>in</strong> der das Spätmittelalter und die Frühe Neuzeit gewiß e<strong>in</strong>e<br />

hervorragende Rolle spielen» Immer deutlicher stellt sich heraus, daß neben <strong>den</strong> klassischen<br />

literarischen Vorlagen e<strong>in</strong>e Fülle von Anregungen durch konkrete gesellschaftliche Bed<strong>in</strong>gungen,<br />

Anstöße und Nachfragen gegeben waren; Sie reichen von der Zunahme von Schreibfähigkeit<br />

und pragmatischer Schriftlichkeit <strong>in</strong> H<strong>an</strong>del und Verwaltung» der leichteren Verfügbarkeit<br />

von Papier über die <strong>in</strong>tensivierte Bildung, fortschreitende berufliche Differenzierung<br />

und neue soziale Mobilität bis h<strong>in</strong> zur Entstehung e<strong>in</strong>es privaten B<strong>in</strong>nenraumes des Individuums<br />

als notwendiges Gegenstück zum System des absolutistischen Staates, der <strong>den</strong><br />

Gehorsam se<strong>in</strong>er Untert<strong>an</strong>en e<strong>in</strong>forderte.43 Schließlich ist auf die beg<strong>in</strong>nende , wissenschaftliche<br />

Erforschung der menschlichen Seele und der Affekte ebenso wie auf die Entstehung e<strong>in</strong>es<br />

37 Paul S. Scaver: Wall<strong>in</strong>gton's World: A Purit<strong>an</strong> Artis<strong>an</strong> <strong>in</strong> Seventeenth-Century London, St<strong>an</strong>ford<br />

1985 und E. S. Morg<strong>an</strong> (Hg.): The Diary of Michael Wigglesworth, 1653-1657: The Conscicnce of a<br />

Purit<strong>an</strong>, New York 1965.<br />

38 Darüber e<strong>in</strong> erster Überblick bei Kaspar von Greyerz: Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert.<br />

Zur religiös-konfessionellen I<strong>den</strong>tität der englischen Purit<strong>an</strong>er, <strong>in</strong>: Pietismus und Neuzeit 16, 1990,<br />

S. 11-30.<br />

39 Vgl. etwa David Bry<strong>an</strong>t: Revolution <strong>an</strong>d Introspection: The Appear<strong>an</strong>ce of the Private Diary <strong>in</strong><br />

Fr<strong>an</strong>ce, <strong>in</strong>: Europ. Studies Rev. 8, 1978, S. 259-272; Georges Benrekassa: Die Fr<strong>an</strong>zösische Revolution<br />

und das Autobiographische: Überlegungen und Forschungsvorschläge, <strong>in</strong>: R. Koselleck – R. Reichardt<br />

(Hgg.): Die Fr<strong>an</strong>zösische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtse<strong>in</strong>s, München 1988,<br />

S. 398-408 oder Edith Zehm: Der Fr<strong>an</strong>kreichfeldzug von 1792: Formen se<strong>in</strong>er Literarisierung im<br />

Tagebuch Joh<strong>an</strong>n Konrad Wagners und <strong>in</strong> Goethes „Campagne <strong>in</strong> Fr<strong>an</strong>kreich" Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong>–<br />

Bern 1985. – Besonders Pestwellen haben <strong>Menschen</strong> bewogen, Aufzeichnungen über ihr Leben und<br />

Überleben <strong>an</strong>zulegen. Dazu jetzt James S. Amel<strong>an</strong>g (Hg.): A Journal of the Plague Year. The Diary of<br />

the Barcelona T<strong>an</strong>ner Miquel Parets 1651, New York–Oxford 1991, bes. S. 5 ff. und Appendix 11,<br />

S. 103 ff. – Über die Memoirensucht der fr<strong>an</strong>zösischen Restaurationsepoche vgl. Pierre Nora: Zwischen<br />

Gedächtnis und Geschichte, Berl<strong>in</strong> 1990, S. 74 ff.<br />

40 Dazu jetzt James S. Amel<strong>an</strong>g: „Vox populi": Popular Autobiographies <strong>in</strong> Early Modern Urb<strong>an</strong><br />

History, <strong>in</strong>: Urb<strong>an</strong> History Yearbook 20, 1993, S. 30-42.<br />

41 Vgl. dazu Je<strong>an</strong> Marie Goulemot, <strong>in</strong>: R. Charticr (Hg.): Histoire de la vie privi2e, Bd. 3: De la<br />

Renaiss<strong>an</strong>ce aux Lumieres, Paris 1986, S. 380 (hier zitiert nach der engl. Ausg. Cambridge, Mass. 1989).<br />

42 Vgl. dazu Hagen Keller – Klaus Grubmüller – Nikolaus Staubach (Hgg.): Pragmatische Schriftlichkeit<br />

im Mittelalter. Ersche<strong>in</strong>ungsformen und Entwicklungsstufen, München 1992 und Hagen Keller:<br />

Vom ,heiligen Buch' zur ‚Buchführung'. Lebensfunktionen der Schrift im Mittelalter, <strong>in</strong>: Frühmittelalter-Studien<br />

26, 1992, S. 1-31.<br />

43 So bek<strong>an</strong>ntlich die These von Re<strong>in</strong>hart Koselleck: Kritik und Krise. E<strong>in</strong> Beitrag zur Pathogenese der<br />

bürgerlichen Welt, Freiburg–München 1959, S. 41 (der Taschenbuchausgabe Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1973).


20 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

literarischen Marktes zu verweisen." Damit öff<strong>net</strong> sich e<strong>in</strong> weiter Raum im historischen<br />

Vorfeld der „fertigen" Autobiographie als literarischer Typus sui generis, wenn m<strong>an</strong> überhaupt<br />

bereit ist, e<strong>in</strong>e solche Charakterisierung zu akzeptieren; <strong>an</strong>dere, prototypische Quellenarten<br />

wie Rechnungs- und Kaufm<strong>an</strong>nsbücher geraten damit <strong>in</strong> <strong>den</strong> Umkreis dieser<br />

Gattung. 45 Die Bedeutung dieser Bed<strong>in</strong>gungen und Vorformen gilt es zu klären, auch dazu<br />

könnte der Begriff „<strong>Ego</strong>-Dokument" e<strong>in</strong>en Beitrag leisten.<br />

Mir sche<strong>in</strong>t „<strong>Ego</strong>-Dokument" e<strong>in</strong> ergiebiger Begriff zu se<strong>in</strong>, der allerd<strong>in</strong>gs nicht nur auf das<br />

autobiographische Material im engeren S<strong>in</strong>ne – wie ihn Presser wohl auch vor allem verst<strong>an</strong><strong>den</strong><br />

hat – <strong>an</strong>gewendet wer<strong>den</strong> sollte. Es sollte nicht übersehen wer<strong>den</strong>, daß Presser <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />

Vortrag von 1969 bewußt e<strong>in</strong>e offene Formulierung gewählt hat, die ke<strong>in</strong>eswegs alle<strong>in</strong> auf<br />

autobiographisches Material im engeren S<strong>in</strong>ne wie Tagebuch, Autobiographie, Reisebericht,<br />

Brief, Memoiren oder Interview abzielte. 46 Er betonte vielmehr, daß <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong> Quellen<br />

seien, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en „e<strong>in</strong> ego sich absichtlich oder unabsichtlich enthüllt oder verbirgt." 47 Diese<br />

Formulierung könnte e<strong>in</strong>en Ansatzpunkt für weiterführende Überlegungen bieten.<br />

Die <strong>in</strong>tensive Forschung <strong>an</strong> e<strong>in</strong>zelnen personenbezogenen Quellengattungen, wie sie vor<br />

allem <strong>in</strong> der Mentalitätsgeschichte und Erfahrungsgeschichte geleistet wor<strong>den</strong> ist, legt die<br />

Vermutung nahe, daß es von Nutzen se<strong>in</strong> k<strong>an</strong>n, e<strong>in</strong>en umfassenderen Begriff von <strong>Ego</strong>-<br />

Dokument zu verwen<strong>den</strong>. Gegenüber Jacques LeGoffs allzu großzügiger Versicherung, daß<br />

jede Quelle e<strong>in</strong>e mentalitätshistorische Quelle sei," soll hier e<strong>in</strong>e genauere E<strong>in</strong>grenzung des<br />

Quellenmaterials vorgenommen wer<strong>den</strong>. Lucien Febvre hat 1941 unter dem Stichwort<br />

„Sensibilität und Geschichte" über „Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen" reflektiert<br />

und dabei vom Nutzen sog. „moralischer <strong>Dokumente</strong>" gesprochen, die <strong>den</strong> Gerichtsarchiven<br />

und der Kasuistik zu entnehmen seien. Zusammen mit künstlerischen und literarischen<br />

<strong>Dokumente</strong>n schienen sie ihm die Basis e<strong>in</strong>er „emphatischen Geschichte" zu bil<strong>den</strong>, die er für<br />

wünschenswert hielt. 49 Dieses Konzept sche<strong>in</strong>t mir e<strong>in</strong>e gute Verb<strong>in</strong>dung zu <strong>den</strong> hier untersuchten<br />

<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>n herzustellen, die natürlich ebenfalls auf dieses Gebiet zielen.<br />

44 Grundlegend Wilhelm Dilthey: Auffassung und Analyse des <strong>Menschen</strong> im 15. und 16. Jahrhundert,<br />

<strong>in</strong>: ders.: Welt<strong>an</strong>schauung und Analyse des <strong>Menschen</strong> seit Renaiss<strong>an</strong>ce und Reformation (Ges.<br />

Schriften, Bd. 2), 9. Aufl. Gött<strong>in</strong>gen 1970, S. 1-89 und ders.: Die Funktion der Anthropologie <strong>in</strong> der<br />

Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts, <strong>in</strong>: ders.: Welt<strong>an</strong>schauung und Analyse des <strong>Menschen</strong> seit<br />

Renaiss<strong>an</strong>ce und Reformation, ebd., S. 416-492. Als vorzüglicher neuerer Überblick hierzu W. Sparn:<br />

Art. „Mensch", <strong>in</strong>: TRE 3,1992, Sp. 458-577, und als bibliographische Grundlage Herm<strong>an</strong>n Schül<strong>in</strong>g:<br />

Bibliographie der psychologischen Literatur des 16. Jahrhunderts, Hildesheim 1967,5.7.<br />

45 Dazu etwa Wolfg<strong>an</strong>g Frhr. Stromer von Reichenbach: Das Schriftwesen der Nürnberger Wirtschaft<br />

vom 14. bis zum 16. Jahrhundert. Zur Geschichte oberdeutscher H<strong>an</strong>delsbücher, <strong>in</strong>: Beiträge zur<br />

Wirtschaftsgeschichte Nürnbergs 11/2, Nürnberg, 1967, S. 751-799 und die präzise Zusammenfassung<br />

des Forschungsst<strong>an</strong>des bei Urs Mart<strong>in</strong> Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von<br />

Diesbachs. Studien zur spätmittelalterlichen Selbstdarstellung im oberdeutschen und schweizerischen<br />

Raume, Bern 1986, S. 279ff.<br />

46 Diese Vari<strong>an</strong>ten verwen<strong>den</strong> die Herausgeber des Sonderheftes der Tijdschrift voor Geschie<strong>den</strong>is<br />

83,1970, Vorwort S. 145.<br />

47 Vgl. Anm. 17!<br />

48 Jacques LeGoff: Les mentalits, une histoire ambigue, <strong>in</strong>: ders. — Pierre Nora (Hgg.): Faire de<br />

l'histoire, Bd. III: Nouveaux objets, Paris 1974, S. 76-94, hier S. 85.<br />

49 Lucien Febvre: Sensibilität und Geschichte. Zugänge zum Gefühlsleben früherer Epochen, <strong>in</strong>:<br />

Claudia Honegger (Hg.): Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung<br />

historischer Prozesse, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1977, S. 313-334, hier S. 330.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 21<br />

Es sollen darunter alle jene Quellen verst<strong>an</strong><strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en e<strong>in</strong> Mensch Auskunft über<br />

sich selbst gibt, unabhängig davon, ob dies freiwillig - also etwa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em persönlichen Brief,<br />

e<strong>in</strong>em Tagebuch, 50 e<strong>in</strong>er Traumniederschrift oder e<strong>in</strong>em autobiographischen Versuch - oder<br />

durch <strong>an</strong>dere Umstände bed<strong>in</strong>gt geschieht. Es braucht hier nicht betont zu wer<strong>den</strong>, daß<br />

Quellen dieser Art zu herausragen<strong>den</strong> historischen Persönlichkeiten immer schon das Interesse<br />

der Historiker gefun<strong>den</strong> haben; Dürers nächtlicher Albtraum e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>tflut, Luthers<br />

Lebensbericht von 15=15, 51 die Träume von Descartes oder Erzbischof Laud, 52 das Tagebuch<br />

der Liselotte von der Pfalz können hier als Beispiele gen<strong>an</strong>nt wer<strong>den</strong>. Unser Interesse gilt<br />

darüber h<strong>in</strong>aus <strong>den</strong> „normalen" <strong>Menschen</strong> unterschiedlicher sozialer Schichten, die durch<br />

besondere „Umstände" zu Aussagen über sich selbst ver<strong>an</strong>laßt wur<strong>den</strong>. Solche Umstände<br />

können Befragungen oder Willensäußerungen nn Rahmen adm<strong>in</strong>istrativer, jurisdiktioneller<br />

oder wirtschaftlicher Vorgänge (Steuererhebung, Visitation, Untert<strong>an</strong>enbefragung, Zeugenbefragung,<br />

gerichtliche Aussagen zur Person, gerichtliches Verhör, E<strong>in</strong>stellungsbefragungen,<br />

Gna<strong>den</strong>gesuche, Urgichten, Kaufm<strong>an</strong>ns-, Rechnungs- und Anschreibebücher, Testamente<br />

etc.) se<strong>in</strong>. 53 Damit soll e<strong>in</strong>e deutliche Differenz zur klassischen - und relativ eng begrenzten -<br />

Quellengruppe der sog. Selbstzeugnisse festgestellt wer<strong>den</strong>, die <strong>in</strong> allen Quellenkun<strong>den</strong><br />

abgeh<strong>an</strong>delt wird. 54 Zugleich muß aber auch bedacht wer<strong>den</strong>, daß m<strong>an</strong> e<strong>in</strong>er isolierten<br />

Untersuchung der Testamente <strong>den</strong> Vorwurf gemacht hat, die Personen der Testamentslasser<br />

zu vernachlässigen. Die E<strong>in</strong>ordnung der Testamente <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e größere Gruppe von <strong>Ego</strong>-<br />

<strong>Dokumente</strong>n könnte e<strong>in</strong>e solche Trennung vermei<strong>den</strong> helfen.<br />

Der Archivar H<strong>an</strong>s Joachim Behr hat zu Recht festgestellt, daß sich „die g<strong>an</strong>ze Breite des<br />

alltäglichen Lebens <strong>in</strong> dem Schriftgut der Gerichte niedergeschlagen hat." 55 Robert Muchembled<br />

hat <strong>in</strong> diesem Zusammenh<strong>an</strong>g von „juridiko-literarischem" Material gesprochen, dessen<br />

50 Dazu Magdalena Buchholz: Die Anfänge der deutschen Tagebuchschreibung: Beiträge zu ihrer<br />

Geschichte und Charakteristik, Münster 1983.<br />

51 Dazu Ernst Stracke: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über se<strong>in</strong>e Entwicklung zum Reformator<br />

historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926.<br />

52 Vgl. Alice Brown: Descartes' Dreams, <strong>in</strong>: Journal of the Warburg <strong>an</strong>d Courtauld Institutes 40,<br />

1977, S. 256-273. und Charles Carlton: The Dream Life of Archbishop Laud, <strong>in</strong>: History Today 36,<br />

1986, S. 9-14.<br />

53 JustM Stagl: Vom Dialog zum Fragebogen. Miszellen zur Geschichte der Umfrage, <strong>in</strong>: KZSS 31,<br />

1979, S. 611-638 und Herm<strong>an</strong>n Woldemar Bühne: Das Informationswerk Ernst des Frommen von<br />

Gotha, Phil. Diss. Leipzig 1885 und Friedrich Waas: Die Generalvisitation Ernsts des Frommen im<br />

Herzogtum Sachsen-Gotha 1641-1645, <strong>in</strong>: Zs. Ver. f. Thür. Geschichte u. Altertumskunde 27,1909,<br />

S. 83-128 und S. 395-422; 28,1911, S. 81-130; W. Dich]: Die Aussagen der Protokolle der großen<br />

hessischen Kirchenvisitation von 1628 über <strong>den</strong> im Volk vorh<strong>an</strong><strong>den</strong>en Aberglauben, <strong>in</strong>: Zs. f. Kulturgeschichte<br />

8,1901, S. 287-324.<br />

54 Dazu die hilfreichen Bemerkungen bei Heide Stratenwerth: Selbstzeugnisse als Quellen, S. 22,<br />

mit Verweis auf die ältere Literatur. Der Begriff wird schon sehr früh <strong>in</strong> der Forschung verwendet, z. B.<br />

von Ernst Stracke: Luthers großes Selbstzeugnis 1545 über se<strong>in</strong>e Entwicklung zum Reformator<br />

historisch-kritisch untersucht, Leipzig 1926. Zum Begriff Selbstzeugnis zuletzt Benigna von Kmsenstiert,:<br />

Was s<strong>in</strong>d Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen <strong>an</strong>h<strong>an</strong>d von<br />

Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, <strong>in</strong>: Historische Anthropologie 2, 1994, S. 462-471, die für e<strong>in</strong><br />

Festhalten <strong>an</strong> diesem Beispiel plädiert.<br />

55 H. J. Behr: Archivalische Quellen zur bäuerlichen und bürgerlichen Alltagskultur vom 15. bis 17.<br />

Jahrhundert <strong>in</strong> Deutschl<strong>an</strong>d und ihre Auswertungsprobleme, <strong>in</strong>: GWU 36,1985, S. 415-425, hier S. 419.


22 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Reichtum <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Ergiebigkeit für das Studium mentaler Strukturen liege. 56 Die Mediävist<strong>in</strong><br />

Juli<strong>an</strong>e Kümmell hat kürzlich „das große und kaum ausgeschöpfte Reservoir" dieser Quellengattung<br />

unterstrichen, 57 Frauenhistoriker<strong>in</strong>nen haben auf die immense Bedeutung von <strong>in</strong>dividuellen<br />

Klagen und Bittschriften, aber auch von „Gerichtsquellen" für die Geschichte<br />

weiblicher Arbeit im Mittelalter und <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit verwiesen, 58 und die fr<strong>an</strong>zösische<br />

Historikern Arlette Farge hat <strong>in</strong> <strong>den</strong> Archiven von Polizei und Gerichten des Ancien Regime<br />

„le peuple en mots" wiedergefun<strong>den</strong>. H<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Worten der Verhörprotokolle könne m<strong>an</strong><br />

die Wirklichkeit des Lebens wiederf<strong>in</strong><strong>den</strong>, hier erschließe sich die Stellung des Individuums<br />

gegenüber se<strong>in</strong>er sozialen Schicht und gegenüber der Obrigkeit. 59 Schon 1956 sprach Pierre<br />

Chaunu von <strong>den</strong> „glücklichen Indiskretionen" der Richter der Inquisition und gab sich<br />

überzeugt von der so gebotenen Möglichkeit e<strong>in</strong>er „Tiefengeschichte menschlichen Verhaltens."<br />

60 Vor wenigen Jahren erst haben verschie<strong>den</strong>e Historiker die methodischen Möglichkeiten<br />

der Inquisitionsprotokolle untersucht, deren <strong>in</strong>haltlicher Reichtum jetzt Stück für<br />

Stück ausgebreitet wird. Hier f<strong>in</strong>det sich am ehesten das Quellenmaterial, das uns auf dem<br />

schwierigen Weg zum Inneren des <strong>Menschen</strong> vor<strong>an</strong>helfen k<strong>an</strong>n. Welchen Beitrag etwa die<br />

Erforschung der Testamente für die Erforschung des Todes und der Dechristi<strong>an</strong>isierung<br />

gespielt hat, braucht hier nur <strong>an</strong>gedeutet zu wer<strong>den</strong>. 61 Ihre Erforschung ist geradezu zum<br />

Paradebeispiel e<strong>in</strong>er – wenn auch nicht unkritisiert gebliebenen – seriellen Mentalitätsgeschichte<br />

gewor<strong>den</strong>, 62 und erst kürzlich ist gezeigt wor<strong>den</strong>, welcher Aussagewert <strong>den</strong> Testa-<br />

56 Vgl. Robert Muchembled: La violence au village. Sociabilite et comportements populaires en<br />

Artois du XV e au XVII, sicle, Turnhout 1989, 5. 17f.<br />

57 Juli<strong>an</strong>e Kümmell-Hartfelder: Städtische Verwaltung und L<strong>an</strong>dbevölkerung im Spätmittelalter -<br />

e<strong>in</strong> Personenrödel als Quelle zur Sozial- und Mentalitätengeschichte, <strong>in</strong>: ZGO 136, 1988, 5. 129-142,<br />

hier S. 141 f.<br />

58 So etwa Dorothee Rippm<strong>an</strong>n - Kathar<strong>in</strong>a Simon-Muscheid: Weibliche Lebensformen und<br />

Arbeitszusammenhänge im Spätmittelalter und <strong>in</strong> der frühen Neuzeit, <strong>in</strong>: M. Othen<strong>in</strong>-Girard u. a.<br />

(Hgg.): Frauen und Öffentlichkeit. Beitr. der 6. Schweizerischen Historiker<strong>in</strong>nentagung, Zürich 1991,<br />

S. 63-98, hier S. 75f. - Vgl. auch <strong>den</strong> Beitrag von Claudia Ulbrich <strong>in</strong> diesem B<strong>an</strong>d!<br />

59 Arlette Farge: Le goüt de l'archive, Paris 1989, S. 36 ff.<br />

60 Gustav Henn<strong>in</strong>gsen - John Tedesebi (Hgg.): The Inquisition <strong>in</strong> Early Modern Europe: Studies <strong>an</strong><br />

Sources <strong>an</strong>d Methods, Dekalb, Ill. 1986; Pierre Chaunu: Inquisition et vie quotidienne d<strong>an</strong>s l'Am&ique<br />

espagnole au XVII' siCcle, <strong>in</strong>: Annales ESC 11, 1956, 5. 228-236, hier S. 230.<br />

61 H<strong>in</strong>zuweisen ist vor allem auf Michel Vovelle: Piäe baroque et c-kchristi<strong>an</strong>isation. Attitudes<br />

provefflles dev<strong>an</strong>t la mort au siede des Lumires, Paris 1973. Vovelle verteidigt die serielle Mentalitätengeschichte<br />

gegen „<strong>in</strong>dividualistische" Vorwürfe <strong>in</strong>: ders.: Serielle Geschichte oder „case studier": e<strong>in</strong><br />

wirkliches oder nur e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong>-Dilemma?, <strong>in</strong>: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur<br />

historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berl<strong>in</strong> 1989, S. 114-126.<br />

62 Zum St<strong>an</strong>d der Forschung vgl. Urs Mart<strong>in</strong> Zahrnd: Spätmittelalterliche Bürgertestamente als<br />

Quelle zur Realienkunde und Sozialgeschichte, <strong>in</strong>: MIÖG 96, 1988, S. 55-78 und zuletzt Thomas<br />

Maisel: Testamente und Nachlaß<strong>in</strong>ventare Wiener Universitäts<strong>an</strong>gehöriger <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit.<br />

Beispiele und Möglichkeiten ihrer Auswertung, <strong>in</strong>: Frühneuzeit-Info 2, 1991, S. 61-75. Dazu Ahasver<br />

von Br<strong>an</strong>dt: Mittelalterliche Bürgertestamente. Neuerschlossene Quellen zur Geschichte der materiellen<br />

und geistigen Kultur, Heidelberg 1973; Paul Baur: Testament und Bürgerschaft. Alltagsleben und<br />

Sachkultur im spätmittelalterlichen Konst<strong>an</strong>z, Sigmar<strong>in</strong>gen 1989; S. Briffaud: La famille, le notaire et le<br />

mour<strong>an</strong>t: testament et mentalitCs d<strong>an</strong>s la rCgion de Luchon (1650-1790), <strong>in</strong>: Annales du Mich 97, 1985,<br />

S. 389-410; Richard Matt: Die Wiener protest<strong>an</strong>tischen Bürgertestamente von 1578-1627, <strong>in</strong>: Mitt. des


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 23<br />

menten für e<strong>in</strong>e Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit zukommt. 63 Daß darüber<br />

h<strong>in</strong>aus die Realisierung e<strong>in</strong>er Frauen- und Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit <strong>in</strong><br />

hohem Maße von der Existenz autobiographischer Texte, Briefe und Verhörprotokolle<br />

abhängig ist, ist schon mehrfach konstatiert wor<strong>den</strong>.64<br />

E<strong>in</strong> erster E<strong>in</strong>w<strong>an</strong>d gegen die hier vorgeschlagene Def<strong>in</strong>ition von <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>n wird sich<br />

natürlich gegen die <strong>in</strong> ' tendierte Gleichr<strong>an</strong>gigkeit von „freiwilligen" autobiographischen Texten<br />

und „unfreiwilligen" Aussagen zur Person richten. Es ist nicht zu bestreiten, daß sich sich<br />

solche uneigentlichen Aussagen „zur Person" erheblich von e<strong>in</strong>em mehr oder weniger<br />

reflektierten autobiographischen Text unterschei<strong>den</strong>, der bei aller zeittypischen B<strong>in</strong>dung im<br />

Kern immer e<strong>in</strong> Versuch ist, das eigene Ich auszuleuchten, es <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Differenz zu <strong>an</strong>deren<br />

zu erkennen, se<strong>in</strong>e Besonderheit im Strom der Zeit erkennbar zu machen. Jeder Kenner wird<br />

zu Recht auf die Zw<strong>an</strong>gssituation der Befragung, des Verhörs, e<strong>in</strong>er Urfehde oder gar e<strong>in</strong>es<br />

Gna<strong>den</strong>gesuchs h<strong>in</strong>weisen, bei dem das Leben oder die bürgerliche Existenz des Del<strong>in</strong>quenten<br />

auf dem Spiel stehen k<strong>an</strong>n. Hier f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich sowohl Belege für Typisches wie für<br />

lndividuelles, 65 und immer wird die <strong>in</strong> diesen Quellen ermittelte und von e<strong>in</strong>em Dritten<br />

niedergeschriebene und damit „übersetzte" Aussage mit der Möglichkeit der bewußten<br />

Verweigerung, der Verstellung, dem historischen „Eigens<strong>in</strong>n" der befragten Person zu konfrontieren<br />

se<strong>in</strong>. 66 Schon m<strong>an</strong>che Antworten <strong>in</strong> Prozessen gegen Wiedertäufer ver<strong>an</strong>laßten die<br />

Befrager zu der Bemerkung, der Angeklagte habe „sophistice" ge<strong>an</strong>twortet!''<br />

Es kommt h<strong>in</strong>zu, daß das juristische Dokument zwar <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abstrahieren<strong>den</strong>, sche<strong>in</strong>bar<br />

präzisen Sprache abgefaßt ist, die gleichwohl höchst unterschiedliche Bedeutungen aufweisen<br />

k<strong>an</strong>n, die zuweilen auch die Aussage verfälscht. Je größer die soziale Diskrep<strong>an</strong>z zwischen<br />

dem Vorbr<strong>in</strong>ger e<strong>in</strong>er Beschwerde, e<strong>in</strong>em Petenten, e<strong>in</strong>em Kläger und dem jeweiligen<br />

Vere<strong>in</strong>s für die Geschichte der Stadt Wien 17, 1938, S. 1-51 und Philippe Goujard: Echec d'une<br />

sensibilite baroque: Les testaments roucnnais aux XVIII' siecle, <strong>in</strong>: Annales ESC 36, 1981, S. 26-43.<br />

Friedrich Bothe: Das Testament des Fr<strong>an</strong>kfurter Großkaufm<strong>an</strong>ns Jakob Heller vorn Jahre 1599. E<strong>in</strong><br />

Beitrag zur Charakteristik der bürgerlichen Vermögen und der bürgerlichen Kultur am Ausg<strong>an</strong>g des<br />

Mittelalters, <strong>in</strong>: Arch. f. Fr<strong>an</strong>kfurts Geschichte u. Kunst, 3. Folge, Bd. 9, 1907, S. 339-401; Lothar<br />

Kolmer: Spätmittelalterliche Testamente. Forschungsergebnisse und Forschungsziele. Regensburger<br />

Testamente im Vergleich, <strong>in</strong>: ZBLG 52, 1989, S. 475-500. - E<strong>in</strong> berühmtes Beispiel bildet natürlich die<br />

Untersuchung des discours testamentaires der Pariser Testamente durch Pierre Chaunu: La mori ä Paris:<br />

XVI', XVII C, XVIII, siecles, Paris 1978.<br />

63 Heide Wunder: Vermögen und Vermächtnis, Ge<strong>den</strong>ken und Gedächtnis. Frauen <strong>in</strong> Testamenten<br />

und Leichenpredigten am Beispiel Hamburgs, <strong>in</strong>: 13. Vogel - U. Wecke] (Hgg.), Frauen <strong>in</strong> der Ständegesellschaft,<br />

Hamburg 1991, S. 227-240.<br />

64 Vgl. dazu B. Vogel - U. Weckel (Hgg.): Frauen <strong>in</strong> der Ständegesellschaft, Hamburg 1991.<br />

65 Vgl. etwa H<strong>an</strong>s Sebald: Hexen-Geständnisse. Stereotype Struktur und lokale Farbe. Der Fall des<br />

Fürstbistums Bamberg, <strong>in</strong>: Spirita. Zs. f. Religionswissenschaft 4, 1990, 5. 27-38. - Zur Aussagefähigkeit<br />

der Urfeh<strong>den</strong> vgl. G. Richer: Urfeh<strong>den</strong> als rechts-, Orts- und l<strong>an</strong>desgeschichtliche Quellen, <strong>in</strong>: Zs. f.<br />

Hohenzollernsche Geschichte 14, 1978, 5. 63-76.<br />

66 Vgl. etwa J<strong>an</strong> Peters: Eigens<strong>in</strong>n und Widerst<strong>an</strong>d im Alltag. Abwehrverhalten ostelbischer Bauern<br />

unter Refeudalisicrungsdruck, <strong>in</strong>: Jb. f. Wirtschaftsgeschichte 1991/2, 5. 85-103 und se<strong>in</strong> Beitrag <strong>in</strong><br />

diesem B<strong>an</strong>d.<br />

67 E. Bernhofer-Pippert: Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher<br />

Täuferverhöre, Münster 1967, hier S. 150.


24 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Adressaten ist, desto größer muß der Verdacht der M<strong>an</strong>ipulation des jeweiligen Textes se<strong>in</strong>.68<br />

Die historische Analyse von Ketzerverhören oder Wiedertäuferverhören hat freilich <strong>in</strong>zwischen<br />

h<strong>in</strong>reichend Erfahrungen <strong>in</strong> der Nutzung dieser Texte gesammelt.69<br />

Ungeachtet dieser Be<strong>den</strong>ken müssen die Aussagen dieser <strong>Dokumente</strong> unser Interesse erregen,<br />

weil sie – wenn auch verhüllt und durch adm<strong>in</strong>istrative Formelsprache verfremdet –<br />

<strong>Menschen</strong> die Gelegenheit geben, sich überhaupt – <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em historisch konstatierbaren<br />

S<strong>in</strong>ne – zu äußern. Der Schweizer Volkskundler David Meili hat deshalb sogar – fruchtbar<br />

übertreibend – davon gesprochen, daß Prozeßakten mit Interviews vergleichbar seien.7°<br />

Etwas zurückhaltender sprach Michel Vovelle davon, daß der Historiker „mit List und<br />

Tücke" versuche, „se<strong>in</strong>en Archiven wenn schon nicht das Äquivalent, so zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>en<br />

Ersatz für das echte, unmittelbare Zeugnis zu entreißen.?<br />

E<strong>in</strong>e Erweiterung des <strong>Ego</strong>-Dokument-Begriffs über <strong>den</strong> autobiographischen Text h<strong>in</strong>aus<br />

ersche<strong>in</strong>t auch d<strong>an</strong>n vertretbar, ja notwendig zu se<strong>in</strong>, wenn m<strong>an</strong> be<strong>den</strong>kt, daß zum e<strong>in</strong>en<br />

gerade <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit auch die Abfassung autobiographischer Texte erheblichen<br />

Konventionen unterworfen war und sich stark <strong>an</strong> Regeln und literarischen Vorbildern<br />

orientierte, 72 also niemals ohne Vorgaben erfolgte, 73 g<strong>an</strong>z zu schweigen von jenen Berichten,<br />

die geschrieben wer<strong>den</strong> mußten, wie etwa die Reiseberichte junger Adeliger über ihre<br />

Bildungsreisen, die Hum<strong>an</strong>istenautobiographien 74 oder die pflichtgemäßen autobiographischen<br />

Berichte von fr<strong>an</strong>zösischen Or<strong>den</strong>sfrauen, 75 um nur e<strong>in</strong>ige, gut bek<strong>an</strong>nte Beispiele zu<br />

68 In der Geschichte bäuerlicher Revolten und Prozesse ist dies immer wieder zu beobachten. Zuletzt<br />

dazu etwa Claudia Ulbrich: Rhe<strong>in</strong>grenze, Revolten und Fr<strong>an</strong>zösische Revolution, <strong>in</strong>: Volker Rödel (Hg.):<br />

Die Fr<strong>an</strong>zösische Revolution und die Oberrhe<strong>in</strong>l<strong>an</strong>de (1789-1798), Sigmar<strong>in</strong>gen 1991, 5. 223-244, die<br />

zeigt, wie die Beschwerde von Bauern der Herrschaft St. Blasien durch ihren Advokaten verfälscht wurde.<br />

69 Vgl. etwa Herbert Grundm<strong>an</strong>n: Ketzerverhöre des Spätmittelalters als quellenkritisches Problem, <strong>in</strong>:<br />

DA 21, 1965, S. 519-575, hier S. 559 und speziell zu <strong>den</strong> Wiedertäufern E. Bernhofer-Pippert:<br />

Täuferische Denkweisen und Lebensformen im Spiegel oberdeutscher Täuferverhöre, Münster 1967,<br />

hier S. 146f.<br />

70 David Meili: Hexen <strong>in</strong> Wasterk<strong>in</strong>gen. Magie und Lebensform <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Dorf des frühen 18. Jahrhunderts,<br />

Basel 1980, S. 12.<br />

71 Michel Vovelle: Serielle Geschichte oder „case studics": e<strong>in</strong> wirkliches oder nur e<strong>in</strong> Sche<strong>in</strong>-<br />

Dilemma?, <strong>in</strong>: Ulrich Raulff (Hg.), Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger<br />

Prozesse, Berl<strong>in</strong> 1989, S. 114-126, hier S. 121.<br />

72 So zum Beispiel <strong>an</strong> <strong>den</strong> Confessiones August<strong>in</strong>s. Vgl. Pierre Gourcelle: Les „Confcssions" de sa<strong>in</strong>t<br />

August<strong>in</strong> d<strong>an</strong>s la tradition litteraire. Anteced<strong>an</strong>ts et posterite, Paris 1963.<br />

73 Dies betont Je<strong>an</strong> Marie Goulemot <strong>in</strong>: Chartier (Hg.): La vie privee, Bd. 3, S. 381 und <strong>an</strong> e<strong>in</strong>em<br />

<strong>an</strong>deren Fall Jonath<strong>an</strong> Goldberg: Cell<strong>in</strong>i's vita <strong>an</strong>d the conventions of early autobiography, <strong>in</strong>: Modern<br />

L<strong>an</strong>guage Notes 89, 1974, S. 71-83. Vgl. auch allgeme<strong>in</strong> Stephcn Greenblatt: Renaiss<strong>an</strong>ce Self-<br />

Fashion<strong>in</strong>g: From More to Shakespeare, Chicago 1980.<br />

74 Vgl. etwa Jozef Ijsewijn: Hum<strong>an</strong>istic autobiography, <strong>in</strong>: E. Hora - E. Kessler (Hgg.): Studia<br />

hum<strong>an</strong>itatis. Ernesto Grassi zum 70. Geburtstag, München 1980, S. 209-219. Zum gesamten Renaiss<strong>an</strong>cekontext<br />

beider Gattungen vgl. auch August Buck (Hg.): Biographie und Autobiographie <strong>in</strong> der<br />

Renaiss<strong>an</strong>ce. Arbeitsgespräch <strong>in</strong> der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 1. bis 3. November<br />

1982. Wiesba<strong>den</strong> 1983.<br />

75 Jacques Le Brun: Das Geständnis <strong>in</strong> <strong>den</strong> Nonnenbiographien des 17. Jahrhunderts, <strong>in</strong>: A. Hahn -<br />

V. Kapp (Hgg.): Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, Fr<strong>an</strong>kfurt am<br />

Ma<strong>in</strong> 1987, S. 248-264.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 25<br />

nennen. Zu be<strong>den</strong>ken wäre auch, <strong>in</strong> wie starkem Maße autobiographische Texte <strong>in</strong> Zusammenhängen<br />

entst<strong>an</strong><strong>den</strong> s<strong>in</strong>d, die durch die Zugehörigkeit zu e<strong>in</strong>er religiösen Gruppe und<br />

deren kollektives, damit normierendes Verständnis von Lebensführung und Heilserwartung<br />

bestimmt war. 76 Aus der Verfolgung der Wiedertäufer ist bek<strong>an</strong>nt, daß sie sich geradezu dazu<br />

drängten, schriftlich Auskunft über sich und ihre Überzeugungen zu geben: Konrad Grebel<br />

z. B. wollte, daß m<strong>an</strong> „im d<strong>in</strong>ten und vedren gebe, so wolte er schriben."77<br />

Der konstruktive Charakter von Lebensläufen <strong>in</strong> autobiographischen Texten ist vielfach zu<br />

beobachten und k<strong>an</strong>n ihren Quellenwert m<strong>in</strong>dern oder doch relativieren. 78 In der jakob<strong>in</strong>ischen<br />

Phase der Fr<strong>an</strong>zösischen Revolution wur<strong>den</strong> Lebensläufe konstruiert, die die Begeisterung<br />

für die Sache der Revolution <strong>in</strong> das späte Ancien RCgim" e und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n der<br />

Revolution zurückzuverlegen gehalten waren. Hier mußte die Frage nach dem persönlichen<br />

Verhalten am 14. Juli 1789 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>deutiger, d. h. patriotischer Weise ausfallen: M<strong>an</strong> sei dort<br />

gewesen, wo sich <strong>an</strong> diesem Tag jeder patriotische Bürger aufgehalten habe. 79 Es lassen sich<br />

also viele Momente der Relativienm g ausmachen, die e<strong>in</strong>en prima vista autobiographischen<br />

Text im Nachh<strong>in</strong>e<strong>in</strong> auch zur Antwort auf e<strong>in</strong>e Befragungssituation machen.<br />

Je<strong>an</strong> Marie Goulemot hat aus solchen Beobachtungen die Vermutung abgeleitet, daß die<br />

Autobiographie der Frühen Neuzeit nicht wirklich dem privaten Denken und Fühlen<br />

gewidmet sei, sondern sich zunächst für die Rolle des Individuums im öffentlichen Leben<br />

<strong>in</strong>teressiere: „Die Autobiographie endet da, wo das private Leben beg<strong>in</strong>nt." 80 Gerade deshalb<br />

wird Montaignes Bekenntnis zur radikalen Introspektion als revolutionär empfun<strong>den</strong>:<br />

„A<strong>in</strong>si, lecteur, je . suis moy-mesmes la matiere de mon livre"; er will sich <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er „faon<br />

simple, naturelle et ord<strong>in</strong>aire" sehen, „car c'est moy que je pe<strong>in</strong>s". 8 ' Be<strong>den</strong>kt m<strong>an</strong> diese<br />

impliziten Relativierungen der zunächst immer vermuteten Orig<strong>in</strong>alität e<strong>in</strong>er Autobiographie,<br />

d<strong>an</strong>n mildert sich auch der signifik<strong>an</strong>te Unterschied, daß der autobiographische Text<br />

mit eigener H<strong>an</strong>d, <strong>in</strong> eigener Sprache, das Verhör aber von e<strong>in</strong>em Dritten niedergeschrieben<br />

wurde.<br />

E<strong>in</strong> <strong>an</strong>deres Argument wiegt schließlich noch schwerer: E<strong>in</strong>e Begrenzung auf autobiographische<br />

Texte strictu sensu würde illiterate Schichten praktisch ausschließen, wir wür<strong>den</strong> Aussagen<br />

„zur Person" aus diesen Schichten kaum zu erwarten haben, von sehr wenigen, meist<br />

bek<strong>an</strong>nten und oft über<strong>in</strong>terpretierten Ausnahmen abgesehen. 82 Wenn m<strong>an</strong> die „Schwelle der<br />

76 Vgl. z.B. Paul S. Seaver: Wall<strong>in</strong>gton's World: A Purit<strong>an</strong> Artis<strong>an</strong> <strong>in</strong> Seventeenth-Century London,<br />

St<strong>an</strong>ford 1985. - Vgl. dazu auch <strong>den</strong> Beitrag von Ir<strong>in</strong>a Modrow <strong>in</strong> diesem B<strong>an</strong>d!<br />

77 Nach E. Bernhofcr-Pippert (wie Anm. 67), S. 146.<br />

78 H. W<strong>in</strong>ter: Der Aussagewert von Selbstbiographien. Zum Status autobiographischer Urteile,<br />

Heidelberg 1985.<br />

79 Dazu die Untersuchung der revolutionären Lebensläufe bei Jacques Guilhaumou: Sprache und<br />

Politik <strong>in</strong> der Fr<strong>an</strong>zösischen Revolution. Vorn Ereignis zur Sprache des Volkes (1789 bis 1794), Fr<strong>an</strong>kfurt<br />

am Ma<strong>in</strong> 1989, hier S. 178ff.<br />

80 Je<strong>an</strong> Marie Goulemot, <strong>in</strong>: Charticr (Hg.): La vie privi:, Bd. 3, S. 381.<br />

81 Michel de Montaigne: Essays, Bd. 1, Edition conforme au texte de l'exemplaire de Bordeaux ... par<br />

Maurice Rat, Paris 1962, S. 1 (Au lecteur). Zu Montaignes Aussagen vgl. Richard Regos<strong>in</strong>: The Matter of<br />

My Book: Montaigne's Essais as the Book of the Self, Berkeley 1977 und George Craig - Margaret<br />

McGow<strong>an</strong> (Hgg.): Moy qui mc voy. The Writer <strong>an</strong>d the Self from Montaigne to Leiris, Oxford 1989.<br />

82 Immer wieder zitiert wird z.B. G. Zillhardt (Hg.): Der Dreißigjährige Krieg <strong>in</strong> zeitgenössicher<br />

Darstellung. H<strong>an</strong>s Heberles „Zeytregister" (1618-1672). Aufzeichnungen aus dem Ulmer Territorium.<br />

E<strong>in</strong> Beitrag zu Geschichtsschreibung und Geschichtsverständnis der Unterschichten, Ulm 1975. D<strong>an</strong>e-


26 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Geschichtsfähigen" tatsächlich weiter nach „unten" absenken will, 83 d<strong>an</strong>n führt ke<strong>in</strong> Weg <strong>an</strong><br />

e<strong>in</strong>er möglichst weitausgreifen<strong>den</strong> Quellensuche vorbei. Selbst wenn die frühneuzeitliche Biographie<br />

gewiß ke<strong>in</strong> „aristokratisches Genre" ist, wie Goulemot vorschnell me<strong>in</strong>te," so ist doch<br />

richtig, daß sich literate Schichten eher <strong>in</strong> der Lage sahen, das eigene Leben zu reflektieren, als der<br />

e<strong>in</strong>fache H<strong>an</strong>dwerker oder Bauer, der vielleicht gerade se<strong>in</strong>e Unterschrift leisten konnte. Auch<br />

die schon erwähnte Tatsache, daß e<strong>in</strong>e wichtige Quelle der modernen Autobiographie ohne<br />

Zweifel <strong>in</strong> <strong>den</strong> religiösen Bekenntnistexten des Pietismus zu sehen ist, 85 die ihrerseits noch <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Zusammenh<strong>an</strong>g mit dem K<strong>an</strong>on der Visitationsfragen des 16. Jahrhunderts oder gar<br />

Religionsprozessen stehen, legt die parallele Betrachtung beider Gruppen von Texten nahe.<br />

Schließlich ist darauf zu verweisen, daß die im Rahmen von juristisch-adm<strong>in</strong>istrativen<br />

Befragungen entst<strong>an</strong><strong>den</strong>en Quellen immer nach dem Motto „Zwischen <strong>den</strong> Zeilen und gegen<br />

<strong>den</strong> Strich ‘',86 gegen ihren unmittelbaren S<strong>in</strong>n gelesen wer<strong>den</strong> müssen. 87 Daß sie dem<br />

großen „Archiv der Unterdrückung", <strong>den</strong> „Speichern der hegemonialen Kultur" entstam<br />

men, wie es Carlo G<strong>in</strong>zburg gen<strong>an</strong>nt hat, verpflichtet <strong>den</strong> Historiker zur besonderen<br />

Vorsicht. 88 Dabei wird auch die Kritik zu be<strong>den</strong>ken se<strong>in</strong>, die <strong>in</strong> letzter Zeit vermehrt am<br />

mikrohistorischen Zugriff auf das juristische Quellenmaterial geäußert wurde. So sehr dieser<br />

Kritik zuzustimmen ist, wenn grundlegende Kontextfragen übersehen wer<strong>den</strong> oder wenn der<br />

Historiker die Entstehungssituation e<strong>in</strong>er prozessualen Quelle außer Acht läßt, so muß doch<br />

ben wurde meist übersehen Ruhl: Stausenbacher Chronik des Kaspar Preis. 1637-1667, <strong>in</strong>: Fuldaer<br />

Geschichtsblätter 1,1902, S. 113-186 (Frdl. H<strong>in</strong>weis von Ilko-Sascha Kowalczuk, Berl<strong>in</strong>). - Vgl. aber auch<br />

J<strong>an</strong> Peters: Aus dem Tagebuch e<strong>in</strong>es Söldners des Dreißigjährigen Krieges, <strong>in</strong>: S OW I 19,1990, S. 71-77;<br />

ders. (Hg.): E<strong>in</strong> Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg. E<strong>in</strong>e Quelle zur Sozialgeschichte, Berl<strong>in</strong> 1993<br />

und ders. - Hartmut Harnisch - Liselott Enders (Hgg.): Märkische Bauerntagebücher des 18. und 19.<br />

Jahrhunderts. Selbstzeugnisse von Milchviehbauern aus Neuholl<strong>an</strong>d, Wien-Köln 1989; M<strong>an</strong>fred Schober:<br />

Das Schreibebuch des Bauern Joh<strong>an</strong>n Georg Leuner (1731-1813), <strong>in</strong>: Neue Museumskunde 1,<br />

1987, S. 62-64. - In diesem Zusammenh<strong>an</strong>g ist auch auf das Projekt „Bäuerliche Schreibbücher" zu<br />

verweisen, das am ehemaligen Institut für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der<br />

DDR unter Leitung von J<strong>an</strong> Peters begonnen wurde. E<strong>in</strong> Newsletter <strong>in</strong>formiert über die bisl<strong>an</strong>g<br />

geleistete Arbeit. Bisl<strong>an</strong>g dazu u. a. Bjeern Poulsen: Die ältesten Bauern<strong>an</strong>schreibbücher: Schleswigsche<br />

Anschreibebücher des 16. und 17. Jahrhunderts, <strong>in</strong>: ders. - Klaus J. Lorenzen-Schmidt (Hgg.): Bäuerliche<br />

Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Neumünster 1992, S. 89-105. - Für das<br />

Ende der Frühen Neuzeit vgl. H<strong>an</strong>s Jürgen Lüsebr<strong>in</strong>k: „Repräsent<strong>an</strong>ten der Natur". Autobiographies<br />

plebeiennes en Allemagne autour de 1800, <strong>in</strong>: Rom<strong>an</strong>tisme. Revue du 19ieme siecle 56,1987,5.69-78.<br />

83 So e<strong>in</strong>e Formulierung von Ulrich Raulff <strong>in</strong>: ders. (Hg.): Mentalitäten-Geschichte. Zur Rekonstruktion<br />

geistiger Prozesse, Berl<strong>in</strong> 1989, S. 15 (Vorwort).<br />

84 Je<strong>an</strong> Marie Goulemot, <strong>in</strong>: Chartier (Hg.): La vie privee, Bd. 3, S. 381.<br />

85 Günter Niggl: Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische<br />

Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1977 und ders. (Hg.): Die Autobiographie. Zu Form<br />

und Geschichte e<strong>in</strong>er literarischen Gattung, Darmstadt 1989, S. 367 ff. Vgl auch Ingo Bertol<strong>in</strong>i: Studien<br />

zur Autobiographie des deutschen Pietismus, Phil. Diss. Wien 1968.<br />

86 Nach Ruth-E. Mohrm<strong>an</strong>n: Zwischen <strong>den</strong> Zeilen und gegen <strong>den</strong> Strich - Alltagskultur im Spiegel<br />

archivalischer Quellen, <strong>in</strong>: Der Archivar 44,1991, S. 233-246.<br />

87 Zu <strong>den</strong> methodischen Problemen der Nutzung von Steuerbeschreibungen des 17. Jahrhunderts<br />

vgl. Rudolf Schlögl: Bauern, Krieg und Staat. Oberbayerische Bauernwirtschaft und frühmoderner<br />

Staat im 17. Jahrhundert, Gött<strong>in</strong>gen 1988, vor allem S. 36 ff. und S. 256 ff.<br />

88 Dazu Dom<strong>in</strong>ick LaCapra: Geschichte und Kritik, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1987, S. 55 f. mit <strong>den</strong><br />

Nachweisen bei G<strong>in</strong>zburg.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 27<br />

auf die unverzichtbare Bedeutung dieses Quellentyps verwiesen wer<strong>den</strong>." Die Tatsache, daß<br />

die bek<strong>an</strong>ntesten mikrohistorischen Arbeiten auf Prozeßmaterialien grün<strong>den</strong>, 9° legt dies<br />

nahe, erzw<strong>in</strong>gt aber auch e<strong>in</strong>e adäquate methodische Reflexion dieser Ausg<strong>an</strong>gslage. Zudem<br />

läßt sich kaum übersehen, daß die hier beschriebenen <strong>Dokumente</strong> e<strong>in</strong>e Bedeutung gew<strong>in</strong>nen,<br />

die weit über ihren aktuellen adm<strong>in</strong>istrativ-judikativen Zweck h<strong>in</strong>ausreicht, <strong>in</strong> dem sie<br />

entst<strong>an</strong><strong>den</strong>: Sie tr<strong>an</strong>szendieren die Ohnmacht der Befragten. Der groß<strong>an</strong>gelegte Diszipl<strong>in</strong>ierungsversuch<br />

im Namen des Staates und der Konfession wird zum Geburtshelfer e<strong>in</strong>es neuen<br />

Blicks auf <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> und die Beweggründe se<strong>in</strong>es H<strong>an</strong>delns. 91 M<strong>an</strong> wird dar<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en<br />

weiteren Beweis der immer wieder beobachtbaren Nähe der großen zivilisatorischen Prozesse<br />

von Rationalisierung und Individualisierung sehen müssen. M<strong>an</strong> wird sogar von ihrer<br />

gegenseitigen Bed<strong>in</strong>gtheit sprechen müssen.<br />

Natürlich bietet das Verhör e<strong>in</strong>es Angeklagten zunächst immer Informationen über e<strong>in</strong>en Tatherg<strong>an</strong>g,<br />

e<strong>in</strong> ' e Zeugenbefragung gibt zunächst Auskunft über <strong>den</strong> St<strong>an</strong>d der strittigen Rechtsfrage,<br />

e<strong>in</strong>e Steuerbeschreibung <strong>in</strong>" formiert über wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und dient vor<br />

allem fiskalischen Zwecken, e<strong>in</strong>e Musterung f<strong>in</strong>det unser Interesse zunächst im Rahmen des<br />

jeweiligen Militärsystems, e<strong>in</strong> ' e Visitation im Zusammenh<strong>an</strong>g von Frömmigkeitsgeschichte oder<br />

Kirchenorg<strong>an</strong>isation. Alle diese Situationen provozieren natürlich Verstellung, Verschleierung<br />

der Wahrheit, Gegenstrategien also, die entschlüsselt wer<strong>den</strong> müssen. 92 Natalie Z. Davis hat aus<br />

der Fülle dieser „Geschichten" gar die Grundlage für ihre „fiction <strong>in</strong> the archives" gewonnen.93<br />

Darüber h<strong>in</strong>aus aber - und dies ist hier der entschei<strong>den</strong>de Punkt - enthalten solche Befragungen<br />

immer wertvolle Aussagen zur Person, ihrer Erfahrung und zu ihrer Sicht der Welt, <strong>in</strong> der sie<br />

lebt, nicht zuletzt auch zu <strong>den</strong> Spielregeln des sozialen Systems, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e solche Befragung<br />

durchgeführt wird, und zu <strong>den</strong> Überlebensstrategien der Betroffenen. 94 Aus diesen Überlegungen<br />

mag sich die folgende vorläufige Def<strong>in</strong>ition des <strong>Ego</strong>-Dokuments ergeben:<br />

89 E. Bernhofer-Pippert (wie Anm. 67, S. 5) sieht zu Recht e<strong>in</strong> Ende aller Täuferforschung, wenn m<strong>an</strong><br />

<strong>den</strong> Verhörtexten ke<strong>in</strong>en Glauben würde schenken wollen.<br />

90 Ich verweise hier u. a. auf Carlo G<strong>in</strong>zburg: Der Käse und die Würmer. Die Welt e<strong>in</strong>es Müllers um<br />

1600, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1979; ders. - Carlo Poni: Was ist Mikrogeschichte?, <strong>in</strong>: Geschichtswerkstatt 6,<br />

1985, 48-52; Judith C. Brown: Schändliche Lei<strong>den</strong>schaften. Das Leben e<strong>in</strong>er lesbischen Nonne <strong>in</strong> Italien<br />

zur Zeit der Renaiss<strong>an</strong>ce, Stuttgart 1988; Gene Bruker: Giov<strong>an</strong>ni <strong>an</strong>d Lus<strong>an</strong>na: Love <strong>an</strong>d Marriage <strong>in</strong><br />

Renaiss<strong>an</strong>ce Florence, Berkeley-Los Angeles 1986; Richard L. Kag<strong>an</strong>: Lucretia's Dreams. Politics <strong>an</strong>d<br />

Prophecy <strong>in</strong> Sixteenth-Century Spa<strong>in</strong>, Berkeley, Cal. 1990; Natalie Zemon Davis: Der Kopf <strong>in</strong> der<br />

Schl<strong>in</strong>ge. Gna<strong>den</strong>gesuche und ihre Erzähler, Berl<strong>in</strong> 1989.<br />

91 Diese Perspektive ist auch <strong>in</strong> der jüngeren Forschung zum Begriff der Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung oft<br />

übersehen wor<strong>den</strong>. Als Überblick dazu W<strong>in</strong>fried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff „Sozialdiszipl<strong>in</strong>ierung<br />

<strong>in</strong> der Frühen Neuzeit", <strong>in</strong>: ZEH' 14,1987, S. 265-302.<br />

92 Die methodischen Probleme diskutiert auch aus der Sicht der Volkskunde Ruth E. Mohrm<strong>an</strong>n:<br />

Zwischen <strong>den</strong> Zeilen, S. 237ff. Vgl. auch Dom<strong>in</strong>ick LaCapra: Geschichte und Kritik, S. 55f. im<br />

Anschluß <strong>an</strong> G<strong>in</strong>zburg und die <strong>in</strong>tensive Ause<strong>in</strong><strong>an</strong>dersetzung mit der Verwendung von juristischem<br />

Material für e<strong>in</strong>en mikrohistorischen Zugriff bei Thomas Kuehn: Read<strong>in</strong>g Microhistory: The Example<br />

of Giov<strong>an</strong>ni <strong>an</strong>d Lus<strong>an</strong>na, <strong>in</strong>: JMH 61,1989, S. 512-534.<br />

93 Natalie Zemon Davis: Fiction <strong>in</strong> the Archives. Pardon tales <strong>an</strong>d their Tellers <strong>in</strong> 16th Century<br />

Fr<strong>an</strong>ce, St<strong>an</strong>ford 1987 (dt. Der Kopf <strong>in</strong> der Schl<strong>in</strong>ge. Gna<strong>den</strong>gesuche und ihre Erzähler, Berl<strong>in</strong> 1989).<br />

94 Dazu jetzt auf Grund eigener Quellenforschungen Silke Göttsch: Zur Konstruktion schichtenspezifischer<br />

Wirklichkeit. Strategien und Taktiken ländlicher Unterschichten vor Gericht, <strong>in</strong>: Brigitte<br />

Bönisch-Brednich u. a. (Hgg.): Er<strong>in</strong>nern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses<br />

Gött<strong>in</strong>gen 1989, Gött<strong>in</strong>gen 1989, S. 443-452.


28 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Geme<strong>in</strong>sames Kriterium aller Texte, die als <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong> bezeich<strong>net</strong> wer<strong>den</strong> können, sollte es<br />

se<strong>in</strong>, daß Aussagen oder Aussagenpartikel vorliegen, die - wenn auch <strong>in</strong> rudimentärer und<br />

verdeckter Form - über die freiwillige oder erzwungene Selbstwahrnehmung e<strong>in</strong>es <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er Familie, se<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>de, se<strong>in</strong>em L<strong>an</strong>d oder se<strong>in</strong>er sozialen Schicht Auskunft geben oder<br />

se<strong>in</strong> Verhältnis zu diesen Systemen und deren Veränderungen reflektieren. Sie sollten <strong>in</strong>dividuell<br />

menschliches Verhalten rechtfertigen, Ängste offenbaren, Wissensbestände darlegen, Wertvorstel<br />

lungen beleuchten, Lebenserfahrungen und -erwartungen widerspiegeln.<br />

Die leicht beobachtbare Tatsache, daß sich die Nachfrage der Forschung vor allem auf <strong>den</strong><br />

„strategischen" Zeitraum zwischen dem späten Mittelalter und dem Ende des 18. Jahrhunderts<br />

konzentriert, sche<strong>in</strong>t im wesentlichen mit der Annahme zusammenzuhängen, daß <strong>in</strong><br />

diesem Zeitraum der Individualisierungsprozeß durch soziale Mobilität, konfessionelle Konfliktlagen<br />

und die wachsende Stärke adm<strong>in</strong>istrativer Apparate und der von ihnen ausgehen<strong>den</strong><br />

Diszipl<strong>in</strong>ierungsversuche erheblich gefördert wurde. 95 In der Gemengelage dieser „großen"<br />

historischen Prozesse gew<strong>in</strong>nen <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong> neue Bedeutung; sie zielen auf die<br />

Erfahrung und Verarbeitung dieser das Leben der <strong>Menschen</strong> umwälzen<strong>den</strong> Vorgänge, die<br />

makrohistorisch zu betrachten und zu nennen wir uns <strong>an</strong>gewöhnt haben. Mit dieser Begrenzung<br />

soll zugleich sichergestellt wer<strong>den</strong>, daß der Begriff des <strong>Ego</strong>-Dokuments nicht überdehnt<br />

wird. Er zielt auf die <strong>in</strong>dividuelle Wahrnehmung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Welt, <strong>in</strong> der sich Äußerungen der<br />

Individualität erst ihren legitimen Platz erkämpfen mußten. In e<strong>in</strong>er solchen historischen<br />

Konstellation bedarf es besonderer Bemühungen, die unsche<strong>in</strong>barsten Äußerungen <strong>in</strong>dividueller<br />

Wahrnehmungen festzuhalten.<br />

Damit sollte klar gewor<strong>den</strong> se<strong>in</strong>, daß diese Überlegungen e<strong>in</strong>e quellenkritische und methodische<br />

Fundierung der frühneuzeitlichen Mentalitätsgeschichte beabsichtigen, jenes Forschungszweigs<br />

also, der <strong>in</strong> der <strong>in</strong>ternationalen modernen Frühneuzeitforschung gegenwärtig stark,<br />

wenn auch ke<strong>in</strong>eswegs unwidersprochen, präferiert wird. Die genauere Nachfrage zur Mentalitätsgeschichte,<br />

die hier am „<strong>Ego</strong>-Dokument" festgemacht wird, soll jedoch nicht - wie dies<br />

meistens geschieht - auf die Mentalitätsgeschichte e<strong>in</strong>es bestimmten gesellschaftlichen Teilphänomens<br />

(also etwa der Religion, der Volkskultur, des Geschlechts, von Ehe oder Familie,<br />

Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehungen z. B.) orientiert wer<strong>den</strong>, 96 sondern es soll bewußt die Quellenfrage<br />

<strong>in</strong> <strong>den</strong> Vordergrund gestellt wer<strong>den</strong>.<br />

Dies geschieht freilich nicht alle<strong>in</strong>e, um e<strong>in</strong>e neue Systematik der Quellen und e<strong>in</strong>e Methodik<br />

ihrer Interpretation zu entwickeln, es können zugleich e<strong>in</strong>ige wichtige <strong>in</strong>haltliche Fragestellungen<br />

<strong>an</strong>geg<strong>an</strong>gen wer<strong>den</strong>:<br />

95 Vgl. Urs Mart<strong>in</strong> Zahrnd: Die autobiographischen Aufzeichnungen Ludwig von Diesbachs (wie<br />

Anm. 45), der Diesbach gut <strong>in</strong> die spätmittelalterliche Autobiographik e<strong>in</strong>ord<strong>net</strong> und vor allem<br />

aufschlußreiche Untersuchungen zur Gemengelage von „Typus" und „Individualität", über „bürgerliches"<br />

und „adeliges" Verhalten <strong>an</strong>stellt.<br />

96 Vgl. z.B. Richard v<strong>an</strong> Dülmen: Heirat und Eheleben <strong>in</strong> der Frühen Neuzeit. Autobiographische<br />

Zeugnisse, <strong>in</strong>: AKG 72, 1990, S. 153-171 und Irene Hardach-P<strong>in</strong>ke: K<strong>in</strong>deralltag. Aspekte um<br />

Kont<strong>in</strong>uität und W<strong>an</strong>del <strong>in</strong> autobiographischen Zeugnissen 1700 bis 1900, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong>-New<br />

York 1981; L<strong>in</strong>da Pollock: Forgottcn children. Parent-child relations from 1500 to 1900, Cambridge<br />

1983 oder Mathias Beer: „Wenn ich eynen naren hett zu eynem m<strong>an</strong>, da fragen dye freund nyt vyl<br />

d<strong>an</strong>ach". Private Briefe als Quelle für die Eheschließung bei <strong>den</strong> stadtbürgerlichen Familien des 15. u. 16.<br />

Jhs., <strong>in</strong>: H<strong>an</strong>s-Jürgen Bachorski (Hg.): Ordnung und Lust. Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität <strong>in</strong><br />

Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Trier 1991, S. 71-94, um zwei neuere Beispiele zu nennen.


<strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>: <strong>Annäherung</strong> <strong>an</strong> <strong>den</strong> <strong>Menschen</strong> <strong>in</strong> der Geschichte? 29<br />

- Fragen nach der Reichweite „sozialen Wissens" <strong>in</strong> frühneuzeitlichen Gesellschaften,97<br />

- Fragen nach der Wahrnehmung realer sozialer Positionsveränderungen, die e<strong>in</strong> Charakteristikum<br />

e<strong>in</strong>er Epoche ausmachen, die legitime soziale Mobilität vertikaler Art eigentlich<br />

nicht kennt,98<br />

- Fragen nach dem neuen Zugriff adm<strong>in</strong>istrativer Apparate auf Gewissen und Denken des<br />

<strong>Menschen</strong>, vor allem seit der Reformation,99<br />

Fragen nach <strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen und Formen der Konstituierung <strong>in</strong>dividualistischen Denkens<br />

<strong>in</strong> der Frühen Neuzeit»°°<br />

schließlich Fragen nach der Aussagekraft, aber auch <strong>den</strong> Grenzen mentalitätshistorischer<br />

Fragestellungen selbst, jener „verführerischen, aber auch abschreckend schwierigen" Methode<br />

historischen Fragens, wie es e<strong>in</strong>mal Lucien Febvre warnend gesagt hat.101<br />

97 Zu diesem Konzept vgl. H<strong>an</strong>s-Ulrich Gumbrecht - Rolf Reichardt - Thomas Schleich: Für e<strong>in</strong>e<br />

Sozialgeschichte der fr<strong>an</strong>zösischen Aufklärung, <strong>in</strong>: dies. (Hgg.): Sozialgeschichte der Aufklärung <strong>in</strong><br />

Fr<strong>an</strong>kreich, 2 Teile, München-Wien 1981, Teil I, S. 3-51, hier S. 37 ff.<br />

98 Vgl. dazu me<strong>in</strong>en Beitrag <strong>in</strong> W<strong>in</strong>fried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität,<br />

München 1988, S. 1-17.<br />

99 Dies ist bisl<strong>an</strong>g am e<strong>in</strong>drucksvollsten <strong>in</strong> der neueren Visitationsforschung gezeigt wor<strong>den</strong>. Vgl.<br />

dazu etwa verschie<strong>den</strong>e Beiträge <strong>in</strong> E. W. Zee<strong>den</strong> - P. T. L<strong>an</strong>g (Hgg.): Kirche und Visitation. Beiträge<br />

zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens <strong>in</strong> Europa, Stuttgart 1984, bei Umberto<br />

Mazzone - Angelo Turch<strong>in</strong>i (Hgg.): Le visite pastorali. Analisi di una fonte, Bologna 1985, und bei<br />

Richard Ste<strong>in</strong>metz: Das Religionsverhör <strong>in</strong> der Herrschaft Aschau-Wil<strong>den</strong>wart im Jahre 1601, <strong>in</strong>:<br />

ZBLG 38,1975, S. 570-597. - Zu <strong>den</strong> Befragungen calv<strong>in</strong>istischer L<strong>an</strong>desherren vgl. Karl August<br />

Eckhardt (Hg.): Eschweger Vernehmungsprotokolle von 1608 zur Reformatio des L<strong>an</strong>dgrafen Moritz,<br />

Witzenhausen 1968 und jetzt die H<strong>in</strong>weise bei Gerhard Menk: Absolutistisches Wollen und verfremdete<br />

Wirklichkeit - der calv<strong>in</strong>istische Sonderweg Hessen-Kassels, <strong>in</strong>: Me<strong>in</strong>rad Schaab (Hg.): Territorialstaat<br />

und Calv<strong>in</strong>ismus, Stuttgart 1993, S. 164-238, hier S. 208 ff.<br />

100 Vgl. dazu Natalie Z. Davis: B<strong>in</strong>dung und Freiheit. Die Grenzen des Selbst im Fr<strong>an</strong>kreich des<br />

sechzehnten Jahrhunderts, <strong>in</strong>: dies.: Frauen und Gesellschaft am Beg<strong>in</strong>n der Neuzeit, Berl<strong>in</strong> 1986, S. 7-<br />

18 und verschie<strong>den</strong>e Beiträge <strong>in</strong> Thomas Cramer (Hg.): Wege <strong>in</strong> die Neuzeit, München 1988. Weitere<br />

Literatur <strong>in</strong> Auswahl: Inge Bernhei<strong>den</strong>: Individualität im 17. Jahrhundert. Studien zum autobiographischen<br />

Schrifttum, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> u. a. 1988; Ernst Cassirer: Individuum und Kosmos <strong>in</strong> der<br />

Philosophie der Renaiss<strong>an</strong>ce, Leipzig-Berl<strong>in</strong> 1927; Wilhelm Dilthey: Auffassung und Analyse des<br />

<strong>Menschen</strong> im 15. und 16. Jahrhundert, <strong>in</strong>: ders.: Welt<strong>an</strong>schauung und Analyse des <strong>Menschen</strong> seit<br />

Renaiss<strong>an</strong>ce und Reformation (Ges. Schriften, Bd. 2), 9. Aufl. Gött<strong>in</strong>gen 1970, S. 1-89; Eugenio Gar<strong>in</strong><br />

(Hg.): Der Mensch der Renaiss<strong>an</strong>ce, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1990; Claudette Dclhez-Sarlet - Maurizio<br />

Cat<strong>an</strong>i (Hgg.): Individualisme et autobiographie en occi<strong>den</strong>t, Bruxelles 1983; Niklas Luhm<strong>an</strong>n: Frühneuzeitliche<br />

Anthropologie: Theorietechnische Lösungen für e<strong>in</strong> Evolutionsproblem der Gesellschaft,<br />

<strong>in</strong>: ders.: Gesellschaftsstruktur und Sem<strong>an</strong>tik, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1980, S. 164-234; ders.: Individuum,<br />

Individualität, Individualismus, <strong>in</strong>: ders.: Gesellschaftsstruktur und Sem<strong>an</strong>tik. Studien zur Wissenssoziologie<br />

der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1989; Karl Macha: Individuum und<br />

Gesellschaft. Zur Geschichte des Individualismus, Berl<strong>in</strong> 1964; Al<strong>an</strong> Macfarl<strong>an</strong>e: The orig<strong>in</strong>s of English<br />

Individualism. The Family, Property <strong>an</strong>d Social Tr<strong>an</strong>sition, Oxford 1978; Norm<strong>an</strong> Nelson: Individualism<br />

as a Criterion of the Renaiss<strong>an</strong>ce, <strong>in</strong>: The Journal of English <strong>an</strong>d Germ<strong>an</strong>ic Philology 32,1932,<br />

S. 316-333; H. M. Robertson: Aspects of the Risc of Economic Individualism, Cambridge 1935;<br />

Rom<strong>an</strong> Schnur: Individualismus und Absolutismus. Zur politischen Theorie vor Thomas Hobbes<br />

(1600-1640), Berl<strong>in</strong> 1963; Karl Joachim We<strong>in</strong>traub: The Value of the Individual (wie Anm. 20).<br />

101 Fr<strong>an</strong>tiSek Graus: Mentalität - Versuch e<strong>in</strong>er Begriffsbestimmung, <strong>in</strong>: ders.: Mentalitäten im<br />

Mittelalter. Methodische und <strong>in</strong>haltliche Probleme, Sigmar<strong>in</strong>gen 1987, S. 9-48; Hagen Schulze: Menta-


30 W<strong>in</strong>fried Schulze<br />

Die Beiträge dieses B<strong>an</strong>des versuchen, e<strong>in</strong> möglichst breites Spektrum möglicher Vari<strong>an</strong>ten<br />

von <strong>Ego</strong>-<strong>Dokumente</strong>n abzudecken. An <strong>den</strong> Beg<strong>in</strong>n waren natürlich die klassischen autobiographischen<br />

Texte zu stellen, die z. Z. besonders <strong>in</strong>tensiv für mentalitäts-, familien- und<br />

geschlechterhistorische Studien genutzt wer<strong>den</strong>. Die E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der jeweiligen Verfasser <strong>in</strong><br />

Ehe und Familie, <strong>in</strong> Sippe und Geme<strong>in</strong>de, <strong>in</strong> L<strong>an</strong>d und Staat, die Sicht des eigenen Körpers,<br />

die Erfahrung von Kr<strong>an</strong>kheit und Angst, all dies s<strong>in</strong>d Fragen, die durch <strong>den</strong> autobiographischen<br />

Text zuerst, wenn auch nicht alle<strong>in</strong>e be<strong>an</strong>twortet wer<strong>den</strong> können.<br />

Zu e<strong>in</strong>em zweiten Teil wur<strong>den</strong> jene Beiträge zusammengestellt, die nach <strong>den</strong> schriftlichen<br />

Äußerungsmöglichkeiten e<strong>in</strong>facher <strong>Menschen</strong> fragen. Diese reichen von <strong>den</strong> bäuerlichen<br />

Anschreibebüchern und <strong>den</strong> vere<strong>in</strong>zelten Chroniken über die Supplikationen und die englischen<br />

Armenbriefe bis h<strong>in</strong> zu jenen Quellen, die das Leben der Frauen im Dorf belegen<br />

können. Hier kam es vor allem darauf <strong>an</strong>, neue Möglichkeiten zu erkun<strong>den</strong>, um die Existenz,<br />

das Glauben und Wissen e<strong>in</strong>facher <strong>Menschen</strong> erschließen zu können, die nicht nur als<br />

„namenlose Zahl" <strong>in</strong> der Statistik e<strong>in</strong>er seriellen Mentalitätsgeschichte, 102 sondern als Individuen<br />

erfaßt wer<strong>den</strong> sollten.<br />

E<strong>in</strong>e dritte Gruppe von Studien ist schließlich jenem Aspekt gewidmet, der Äußerungen<br />

e<strong>in</strong>zelner <strong>Menschen</strong> aus dem juristisch-adm<strong>in</strong>istrativen Prozeß herauszieht und sich damit<br />

am weitesten von der klassischen Form des autobiographischen Textes entfernt. Gleichwohl<br />

k<strong>an</strong>n hier gezeigt wer<strong>den</strong>, daß es gerade die oben <strong>an</strong>gedeutete Parallelität von Diszpl<strong>in</strong>ierung<br />

und Individualisierung ist, die uns diese Quellen so wertvoll macht.<br />

litätsgeschichte - Ch<strong>an</strong>cen und Grenzen e<strong>in</strong>es Paradigmas der fr<strong>an</strong>zösischen Geschichtswissenschaft, <strong>in</strong>:<br />

GWU 34, 1984, S. 247-266; Volker Sell<strong>in</strong>: Mentalität und Mentalitätsgeschichte, <strong>in</strong>: HZ 241, 1985,<br />

S. 555-598; Dom<strong>in</strong>ick LaCapra: Ist jederm<strong>an</strong>n e<strong>in</strong> Fall für die Mentalitätsgeschichte?, <strong>in</strong>: ders.:<br />

Geschichte und Kritik, Fr<strong>an</strong>kfurt am Ma<strong>in</strong> 1987, S. 64-84. Zur umfassen<strong>den</strong> Perspektivierung der<br />

Mentalitätsgeschichte vgl. William J. Bouwsma: From History of Ideas to History of Me<strong>an</strong><strong>in</strong>g, <strong>in</strong>:<br />

Journ. of Interdisc. Hist. 2, 1981, S. 279-291; Lawrence Stone: The Revival of Narrative, <strong>in</strong>: PaP 85,<br />

1980, S. 3-24 und Thomas Kuehn: Read<strong>in</strong>g Microhistory: The Example of Giov<strong>an</strong>ni <strong>an</strong>d Las<strong>an</strong>na, <strong>in</strong>:<br />

JMH 61, 1989, S. 512-534. - Das letzte Zitat L. Febvres nach ders.: Combats pour l'histoire, Paris 1953,<br />

S. 229.<br />

102 Vgl. dazu Fr<strong>an</strong>ois Furet: Pour u ne def<strong>in</strong>ition des classes <strong>in</strong>ferieures ä Pepoque moderne, <strong>in</strong>:<br />

Annales ESC 18, 1963, S. 459-474, der damals nur <strong>den</strong> Weg über die „namenlose Zahl" sah, um <strong>an</strong> das<br />

Denken der kle<strong>in</strong>en Leute her<strong>an</strong>zukommen.

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