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Die deutschen Landesdefensionen im 16. und 17 ... - Historicum.net

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<strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong><br />

<strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Von Winfried Schulze, Bochum<br />

<strong>Die</strong> klassische Frage nach dem Zusammenhang von „Staatsverfassung<br />

<strong>und</strong> Heeresverfassung" — um die Formulierung Otto Hintzes aufzugreifen,<br />

die auch dieser Tagung als Leitfrage dient' — ist gerade für den<br />

Zeitraum des <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts von besonderem Interesse.<br />

Scheint sich doch hier in einem eindeutigen Prozeß der frühmoderne<br />

Staat nach einer Zwischenphase der Söldnerheere <strong>im</strong> stehenden Heer<br />

die ihm adäquate Form der Mobilisierung von bewaff<strong>net</strong>em Potential zu<br />

schaffen. Damit erhält der Landesfürst ein seiner Stellung angemessenes,<br />

ihm allein verfügbares Machtmittel, das Befriedung innerer Konflikte<br />

<strong>und</strong> eine aktive Politik nach außen ermöglicht. Eine solche naheliegende<br />

Betrachtungsweise kollidiert freilich mit der historischen Wirklichkeit,<br />

die erheblich vielfältiger ist als der angedeutete Übergang<br />

zum stehenden Heer. So wie die Durchsetzung eines absoluten Landesfürstentums<br />

in den <strong>deutschen</strong> Territorien nur teilweise gelingt <strong>und</strong> beachtliche<br />

Reservate ständischer Kompetenz bestehen bleiben läßt, so<br />

zeigt sich auch <strong>im</strong> Bereich der Heeresorganisation ein kompliziertes<br />

Mischungsverhältnis feudaler Relikte, kapitalistischer Ansätze <strong>und</strong><br />

modern-staatlicher Organisationsversuche, <strong>im</strong>mer wieder geprägt durch<br />

den sich tendenziell abschwächenden landesfürstlich-ständischen Dualismus.<br />

Dem so umrißhaft charakterisierten Kriegswesen des <strong>16.</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> seiner speziellen Variante der Defensionswerke<br />

gelten die folgenden Beobachtungen. Unter „Defensionswerken"/„<strong>Landesdefensionen</strong>"<br />

verstehe ich dabei eine umfassende Organisation der<br />

bewaff<strong>net</strong>en Untertanen <strong>und</strong> der adeligen Reiterei in einem Territorium,<br />

wobei als besonderes Charakteristikum die militärische Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Einübung eines qualifizierten Teils der Untertanen angesehen<br />

wird'.<br />

Sich mit diesen Landesdefensionssystemen des <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu beschäftigen, heißt, einem Gegenstand näherzutreten, der in der<br />

militärhistorischen <strong>und</strong> historischen Forschung eine durchaus kontro-<br />

1 Otto Hintze. Staatsverfassung <strong>und</strong> Heeresverfassung, in: Gesammelte<br />

Abhandlungen, Bd. 1 (Staat <strong>und</strong> Verfassung), 2. Aufl. Göttingen 1962, 52 - 83.<br />

2 Vgl. die Charakterisierung des Defensionswesens von Gerhard Papke, in:<br />

Handbuch der <strong>deutschen</strong> Militärgeschichte Bd. 1, Abschn. 1, München 1979, 66.<br />

9 Staats- <strong>und</strong> Heeresverfassung


130 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 131<br />

verse Bewertung erfahren hat. Erschienen sie aus der Perspektive absolutistischer<br />

Machtpolitik als hemmende <strong>und</strong> militärisch unwirksame Einrichtungen,<br />

als bedeutungsloser Verlegenheitsschritt auf dem Weg zum<br />

stehenden Heer des Absolutismus, so bedeuteten sie für Historiker auf<br />

der Suche nach den Wurzeln der allgemeinen Wehrpflicht einen wesentlichen<br />

Entwicklungsschritt. Während Georg von Below 1915 <strong>im</strong> Bewußtsein<br />

des Streits um Landwehr <strong>und</strong> Linienheer allen jenen Verteidigern<br />

der Landwehr empfohlen hatte, doch einmal die Akten der <strong>Landesdefensionen</strong><br />

des <strong>16.</strong>/<strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts zu lesen, um zu sehen, daß „der<br />

friedliche Bürger nicht zum Kriegsdienst tauge" 3 , wurde 1939 ein Lazarus<br />

von Schwendi zum „ersten <strong>deutschen</strong> Verkünder der allgemeinen<br />

Wehrpflicht", wie es Eugen von Frauenholz formulierte, der gerade aus<br />

diesem Interesse heraus in seiner „Entwicklungsgeschichte des <strong>deutschen</strong><br />

Heerwesens" die Institution der <strong>Landesdefensionen</strong> zum erstenmal<br />

breit dokumentierte4.<br />

Es ist nun für die neuere Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik best<strong>im</strong>mend<br />

geworden, daß die Verbindung zwischen frühneuzeitlichem Defensionssystem<br />

<strong>und</strong> allgemeiner Wehrpflicht keine wesentliche Rolle mehr<br />

gespielt hat. Vielmehr ist durch die Einordnung des Defensionswesens<br />

in die Geschichte des werdenden Territorialstaates einerseits <strong>und</strong> in die<br />

militärwissenschaftliche <strong>und</strong> allgemeine Geistesgeschichte andererseits<br />

eine Forschungsorientierung gewonnen worden 5 , die uns eher , in die<br />

Lage versetzt, zu einer angemessenen historischen Würdigung des Landesdefensionswesens<br />

zu gelangen. Denn — <strong>und</strong> dies soll festgehalten<br />

werden — es herrscht keineswegs Klarheit über die Gründe für die Ausbildung<br />

dieser Systeme in einer ganzen Reihe deutscher Territorialstaaten,<br />

über ihre sozialgeschichtlichen Auswirkungen <strong>und</strong> über ihren<br />

Erfolgswert <strong>im</strong> Rahmen der Militärgeschichte. <strong>Die</strong> Frage soll gestellt<br />

werden, ob es sich bei den Defensionswerken dieser Zeit nur um ein<br />

vorübergehendes Phänomen oder um das Antizipieren einer neuen Idee<br />

handelte, die sich zwar unter den Bedingungen des <strong>16.</strong>/<strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

noch nicht entfalten konnte, die gleichwohl aber in ihrer gr<strong>und</strong>sätzlichen,<br />

engen Verbindung von Staatsbürgern <strong>und</strong> Defensionssystem ein modernes<br />

Element darstellte. Angesichts des beachtlichen Forschungsstandes<br />

3 Georg von Below, Das deutsche Heereswesen in alter <strong>und</strong> neuer Zeit, in:<br />

ders., Vom Mittelalter zur Neuzeit. Bilder aus der <strong>deutschen</strong> Verfassungs<strong>und</strong><br />

Wirtschaftsgeschichte, Leipzig 1924, 98.<br />

4 Vgl. Eugen von Frauenholz. Lazarus von Schwendi. Der erste deutsche<br />

Verkünder der allgemeinen Wehrpflicht. Hamburg 1939 <strong>und</strong> ders.. Das Heerwesen<br />

in der Zeit des 30jähri g en Krieges, 2. Teil: <strong>Die</strong> <strong>Landesdefensionen</strong><br />

(Entwicklungsgeschichte des <strong>deutschen</strong> Heerwesens 3, 2), München 1939.<br />

5 Dazu vor allem die einschlägigen Arbeiten von Gerhard Oestreich, Geist<br />

<strong>und</strong> Gestalt des frühmodernen Staates. Ausgewählte Aufsätze, Berlin 1969<br />

<strong>und</strong> die Ausführungen von Rainer Wohlfeil, Wehr-, Kriegs- oder Militärgeschichte,<br />

in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1 (1967), 21 - 29.<br />

auf diesem Gebiet charakterisiert sowohl durch neuere Spezialstudien<br />

wie Zusammenfassungen — soll es bei dieser, durch das Tagungsthema<br />

vorgegebenen Behandlung des Themas vor allem um eine Einordnung<br />

der Defensionswerke in den Gesamtverlauf der frühneuzeitlichen<br />

Militärgeschichte gehen.<br />

Wir wissen heute, daß militärische Institutionen nicht mehr allein<br />

Gegenstand organisationsgeschichtlicher Untersuchungen sein können,<br />

wenn sie als historische Phänomene gewürdigt werden sollen. Es bedarf<br />

in unserem Fall einer ständigen Einordnung in die Geschichte des frühmodernen<br />

Staates, seiner Institutionen, Interessen <strong>und</strong> Konflikte, der<br />

allgemeinen Sozialgeschichte der Epoche <strong>und</strong> schließlich vor allem der<br />

Finanz- <strong>und</strong> Steuergeschichte dieser Zeit, um die Vorbedingungen der<br />

jeweiligen Entwicklungsschritte <strong>im</strong> System des bewaff<strong>net</strong>en Potentials<br />

eines Staates zu ermitteln. Erst vor diesem Hintergr<strong>und</strong> scheint es möglich,<br />

eine Würdigung der Defensionswerke vornehmen zu können, die in<br />

ihrer schon angesprochenen eigentümlichen Verbindung von Elementen<br />

der Feudalordnung, des modernen Staates <strong>und</strong> des bürgerlichen Zeitalters<br />

gewissermaßen ein klassisches Exempel der Epoche der frühen<br />

Neuzeit, dieser Epoche des Übergangs par excellence, abgeben.<br />

Im folgenden will ich zunächst nach den reichsrechtlichen <strong>und</strong> territorialen<br />

Voraussetzungen der Defensionswerke fragen (1), will dann auf<br />

die historische Situation <strong>im</strong> späten <strong>16.</strong> <strong>und</strong> frühen <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert zu<br />

sprechen kommen, die den Nährboden für die Landesdefension bildete<br />

(2). Danach sollen ihre reale Verbreitung in den Territorien des Reiches,<br />

ihr geistesgeschichtlicher Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> ihre sozialgeschichtlichen<br />

Wirkungen geschildert werden (3). Abschließend soll die Frage nach<br />

Erfolg <strong>und</strong> Mißerfolg der Defensionswerke <strong>und</strong> nach ihrer historischen<br />

Bedeutung gestellt werden (4).<br />

Wir befinden uns in der 2. Hälfte des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts, die auf territorialer<br />

Ebene durch den Aufbau zentraler Institutionen, ein intensiviertes<br />

Steuersystem <strong>und</strong> den mehr oder weniger stark spürbaren Gegensatz<br />

von Landesfürst <strong>und</strong> Landständen geprägt ist. Auf der Ebene<br />

der Reichspolitik ist diese Zeit durch den langfristigen Aufbau konfessioneller<br />

Spannungen <strong>und</strong> den Kampf gegen die türkische Bedrohung<br />

charakterisiert 6 . Im engeren Sinne unseres Themas ist bedeutsam,<br />

6 Für den territorialgeschichtlichen Rahmen verweise ich auf Gerhard<br />

Oestreich, Ständetum <strong>und</strong> Staatsbildung, in: ders., Geist <strong>und</strong> Gestalt des<br />

frühmodernen Staates (Anm. 5), 277 - 289. Für den reichsgeschichtlichen Hintergr<strong>und</strong><br />

besonders des späteren <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts verweise ich auf Winfried<br />

Schulze, Reich <strong>und</strong> Türkengefahr <strong>im</strong> späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert. Studien zu den<br />

politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen einer äußeren Bedrohung,<br />

München 1978.<br />

9•


132 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 133<br />

daß mit der Reichsexekutionsordnung von 1555 definitiv die Landfriedenswahrung<br />

auf die Territorien übergegangen ist, wenn auch unter<br />

der organisatorischen Hilfe der Reichskreise. Entscheidend wird dabei<br />

die Best<strong>im</strong>mung der Exekutionsordnung (§ 54), daß „ein jeder Churfürst,<br />

Fürst <strong>und</strong> Stand in guter Bereitschafft sitze, auch in seinen<br />

Fürstenthumen , solche ernbsige Versehung thue, daß er <strong>und</strong> die<br />

Seinen dannoch dermassen gefast, damit sie sich unversehens Uberfalls<br />

selbst etwas zu entschütten, <strong>und</strong> sich ein jeder dermassen mit den seinen<br />

anzustellen <strong>und</strong> in die Sache zu richten, auf daß er <strong>und</strong> die seinen<br />

in solchen Nothfällen zusammen laufen <strong>und</strong> gegen die Versammlungen<br />

eines jeden Kriegs-Volcks seinen Genachbarten fürderliche <strong>und</strong> fürträgliche<br />

Rettung leisten <strong>und</strong> hinwieder von anderen tröstlichen Beystand<br />

<strong>und</strong> Entsatzung erwarten möge" 7 . <strong>Die</strong>se Best<strong>im</strong>mung war als<br />

defensive Anordnung gegen machtpolitisch eingesetzte Söldnerheere<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Belästigungen formuliert <strong>und</strong> zielte damit<br />

genau in das Zentrum der Problematik, die zum Aufbau der <strong>Landesdefensionen</strong><br />

führte. <strong>Die</strong> Reichsstände wollen sich gegen die von Soldtruppen<br />

ausgehenden Gefahren sichern <strong>und</strong> greifen dafür auf die<br />

älteste Möglichkeit zurück, die Landfolge. Damit werden die beiden<br />

prinzipiellen Möglichkeiten der Heeresaufbringung angesprochen, die<br />

damals überhaupt zur Verfügung standen. Einmal das Söldnerheer,<br />

dessen breite Verwendung <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert noch Otto Hintze<br />

zu der Formulierung bewog, daß „die Anfänge der neuzeitlichen Heeresverfassung<br />

sich außerhalb der Staatsverfassung gebildet" hätten,<br />

also gewissermaßen auf privatwirtschaftlicher Basis 8 . Zum andern war<br />

dies die alte Landfolge aller Untertanen in den ländlichen Gebieten<br />

<strong>und</strong> die Pflicht zur Verteidigung der Stadt durch ihre Bürger. Gerade<br />

diese Landfolge, die Otto Brunner für die österreichischen Länder<br />

treffend herausgearbeitet hat', ist ein wesentlicher Bestandteil der<br />

neuen Defensionssysteme, die <strong>im</strong> späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelt<br />

werden. <strong>Die</strong>s gilt einmal für die Tatsache, daß es praktisch <strong>im</strong>mer —<br />

wenn auch in rud<strong>im</strong>entärer Form — die Landfolge <strong>und</strong> die auf dieser<br />

Gr<strong>und</strong>lage erstellten Aufgebote gegeben hat". Insofern erfolgt hier in<br />

der Landesdefension — wie zuweilen zu lesen — kein Rückgriff auf<br />

7 Neue <strong>und</strong> vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Frankfurt/Main<br />

<strong>17</strong>47 (ND Osnabrück 1967), Th. III, 25 (§ 54).<br />

8 Otto Hintze. Staatsverfassung <strong>und</strong> Heeresverfassung (Anm. 1), 68.<br />

9 Otto Brunner, Land <strong>und</strong> Herrschaft. Gr<strong>und</strong>fragen der territorialen Verfassungsgeschichte<br />

Osterreichs <strong>im</strong> Mittelalter, Wien 1965, 273 ff.<br />

10 Vgl dazu etwa Schnitter. Volk <strong>und</strong> Landesdefension (Anm. 23), 39 ff.<br />

<strong>und</strong> das Beispiel Steiermark bei Winfried Schulze, Landesdefension <strong>und</strong><br />

Staatsbildung. Studien zum Kriegswesen des innerösterreichischen Territorialstaates<br />

(1564 - 1619), Graz-Wien-Köln 1973, 47 ff. <strong>Die</strong> einschlägigen bayerischen<br />

Mandate bei Frauenholz, Entwicklungsgeschichte (Anm. 20), Beilage<br />

I- IV, 151 - 155.<br />

germanische Verhältnisse des allgemeinen Waffendienstes, sondern auf<br />

die traditionelle Landfolge.<br />

<strong>Die</strong> Besonderheit der neuen Entwicklung des späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

scheint mir — neben der neuen Stufe staatlicher Organisation — darin<br />

zu liegen, daß das neue Defensionssystem — <strong>im</strong> Prinzip jedenfalls <strong>und</strong><br />

von noch zu behandelnden Sonderfällen abgesehen — die ältere feudale<br />

Landfolge territorialisiert, d. h. alle Untertanen werden als Untertanen<br />

des Landes aufgeboten, ohne Rücksicht darauf, ob sie Untertanen des<br />

Kammerguts <strong>und</strong> des Klerus oder ob sie adelige Untertanen sind. <strong>Die</strong>ser<br />

Vorgang ist dort unproblematisch, wo entweder der Landesherr zugleich<br />

allein Gr<strong>und</strong>herr oder doch der bedeutendste Gr<strong>und</strong>herr ist<br />

(Nassau-Dillenburg z. B. als Kleinterritorium") oder wo das Landesfürstentum<br />

unangefochten seine Machtstellung gegenüber dem Adel<br />

ausbauen kann (z. B. Bayern 12) oder wo die äußeren Umstände die Verschmelzung<br />

landesfürstlicher <strong>und</strong> adeliger Untertanenverbände erleichtern<br />

(z. B. Steiermark 13). Er ist mit offensichtlichen Schwierigkeiten<br />

dort verb<strong>und</strong>en, wo der Adel sich seiner Mediatisierung in militärischer<br />

Hinsicht widersetzt <strong>und</strong> auf der Reispflicht seiner Untertanen beharrt,<br />

so wie er auf seinem Steuerbewilligungsrecht besteht. Als Beispiele dafür<br />

können die Kurpfalz, Kursachsen <strong>und</strong> Braunschweig-Wolfenbüttel<br />

angeführt werden, wo es dem Herzog bei der Einführung des Exercitium<br />

militare 1605 zunächst nicht gelang, alle Untertanen des Adels in diese<br />

neue Organisation einzubeziehen, weil der Adel auf seine autonomen<br />

Rechte pochte. In Kursachsen stellten 93 000 kurfürstliche Untertanen<br />

(Städte <strong>und</strong> Ämter) ca. 9 000 Mann Fußvolk, während aus 47 000 adeligen<br />

Untertanen nur 1 500 Schanzgräber ins Defensionswerk einbezogen<br />

werden konnten 14 . <strong>Die</strong>se Unterschiede zeigen, daß es sich bei den Landesdefensionscinrichtungen<br />

des späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts um ein Einschmelzen<br />

ehemals lehnsrechtlicher Pflichten in eine neue territorialstaatliche<br />

Fassung handelte, die zudem durch die Reichsgesetzgebung<br />

nicht nur ermöglicht, sondern in gewisser Weise verlangt wurde.<br />

<strong>Die</strong>se Interpretation wird auch nahegelegt durch ein Rechtsgutachten<br />

aus dem Beginn des <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts, das bislang unbekannt geblieben<br />

11 Vgl. Karl Wolf, Aufbau eines Volksheeres in den Gebieten der Wetterauer<br />

Grafenkorrespondenz zur Zeit der Grafen Johann des Älteren <strong>und</strong><br />

Johann des Mittleren von Nassau-Dillenburg, Wiesbaden 1937.<br />

12 Vgl. Eugen von Frauenholz, <strong>Die</strong> Eingliederung von Heer <strong>und</strong> Volk in den<br />

Staat in Bayern 1597 - 1815, München 1940.<br />

13 Vgl. Schulze, Landesdefension (Anm. 10), 191 ff. <strong>und</strong> 206 ff.<br />

11 Vgl. hier die einschlägigen Bemerkungen bei Rolf Naumann, Das kursächsische<br />

Defensionswerk (1613 - <strong>17</strong>09), Leipzig 19<strong>17</strong>; Karl Wolf, <strong>Die</strong> Einführung<br />

der allgemeinen Wehrpflicht in Kurpfalz um 1600, in: Zeitschrift<br />

für Geschichte des Oberrheins NF 50 (1937), 638 - 704 <strong>und</strong> Georg H. Müller,<br />

Das Lehns- <strong>und</strong> Landesaufgebot unter Heinrich Julius von Braunschweig-<br />

Wolfenbüttel, Hannover <strong>und</strong> Leipzig 1905.


134 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 135<br />

ist <strong>und</strong> so für die Diskussion um die Rechtsgr<strong>und</strong>lage der „neuen" <strong>Landesdefensionen</strong><br />

nicht genutzt werden konnte. Es handelt sich dabei um<br />

ein Gutachten des Juristen Gerhard Buxtorf über die von zwei Grafen<br />

gestellte Frage, ob die Durchführung von Musterungen der Untertanen,<br />

die Einrichtung <strong>und</strong> Einübung eines „Ausschusses" erlaubt sei, <strong>und</strong> ganz<br />

allgemein, wie weit sich die Verpflichtung der Untertanen zur Verteidigung<br />

des Vaterlandes erstrecke. Aus den Abkürzungen des gräflichen<br />

Geschlechts <strong>und</strong> der Stadt ihres Territoriums läßt sich kein Anhaltspunkt<br />

auf das wirkliche Territorium gewinnen, während der Zeitpunkt der<br />

Abfassung <strong>im</strong> Jahre 1614 liegen muß. Das Gutachten kreist um das von<br />

der Stadt kontestierte Recht der Grafen zur Durchführung aller Maßnahmen<br />

der Landesdefension.<br />

Das Gutachten erbringt nicht nur die Rechtmäßigkeit aller einschlägigen<br />

Maßnahmen als „der Hohen Landes Ober Regalien <strong>und</strong> Herligkeit<br />

anhängig" <strong>und</strong> da „einem jeden Fürsten <strong>und</strong> Graffen <strong>und</strong> Herrn in seinem<br />

territorio eben der Gewalt <strong>und</strong> Macht, so dem Kaiser <strong>im</strong> Reich gebüret,<br />

heutiges Tags zu geniessen". <strong>Die</strong>se Rechtslage wird nicht nur<br />

auf die schon erwähnte Reichsexekutionsordnung zurückgeführt, sondern<br />

auch auf eine Reihe von Best<strong>im</strong>mungen der Reichsgesetzgebung —<br />

etwa zum Landfrieden — vor allem des frühen <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Im Verlauf dieses Gutachtens, dessen vielschichtige Problematik hier<br />

nur ausschnitthaft wiedergegeben werden kann, wird auch deutlich gemacht,<br />

daß die Neueinrichtung des Ausschusses <strong>und</strong> der Musterungen<br />

von der Rechtslehre nicht als Neuerung, sondern als Wahrnehmung der<br />

Generalverpflichtung des Landesfürsten zum Schutz seiner Untertanen<br />

betrachtet wird. Auch wird die Verpflichtung der Untertanen zur Verteidigung<br />

des Landes herausgestellt <strong>und</strong> keineswegs nur den adeligen<br />

Lehensträgern zugewiesen. Darüber hinaus zeigen die Nachweise des<br />

Gutachtens, daß an der breiten Diskussion <strong>und</strong> Befürwortung der <strong>deutschen</strong><br />

Defensionssysteme kein Zweifel bestehen kann, da „manniglich<br />

unverporgen, daß es ein gemeinnütziges <strong>und</strong> hochnothwendiges Werck<br />

sey, daß Fürsten, Graffen <strong>und</strong> Herrn, zu Schutz <strong>und</strong> Schirm ihrer von<br />

Gott anbefohlener Land <strong>und</strong> Leut, von etlichen zum Streit tauglichen<br />

<strong>und</strong> qualifizierten personen einen ausschuß anzustellen <strong>und</strong> diselbe in<br />

Drillen, scharmützeln <strong>und</strong> anderen militaribus exercitiis üben <strong>und</strong> anführen<br />

lassen ... inmassen darzu nicht allein die Politici <strong>und</strong> Juristen<br />

rathen"15.<br />

15 Das Gutachten findet sich in: Fasciculus sive decas consultationum insigniorum<br />

ad materiam contributionem principaliter pertinentium. Frankfurt/<br />

Main 1676, 12 - 42, hier vor allem 12 - 24. Es behandelt einen Rechtsstreit<br />

zwischen den Grafen zu W. <strong>und</strong> der Stadt C., in dem bereits ein Gutachten<br />

der Juristenfakultät Giessen vorlag. Buxtorf stützt sich in seinen Ausführungen<br />

sowohl auf antike Autoren (Vegetius) als auch auf die zeitgenös-<br />

II.<br />

Während diese rechtliche Betrachtungsweise relativ stark die Kontinuität<br />

zu früheren Einrichtungen betont, muß jetzt auf die Besonderheiten<br />

der neuen Defensionswerke hingewiesen werden, auf ihren<br />

historischen Ort <strong>im</strong> Lauf des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts. Militärgeschichtlich<br />

ist die erste Hälfte des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts in Deutschland eine Epoche<br />

der Soldtruppen. Obwohl gerade in den österreichischen Erblanden<br />

eine ungebrochene Kontinuität in der Verwendung der Landesaufgebote<br />

bestand (erinnert sei nur an das Innsbrucker Libell von 1518),<br />

werden die europäischen wie die inner<strong>deutschen</strong> Konflikte in der Zeit<br />

Max<strong>im</strong>ilians I. <strong>und</strong> Karls V. mit geworbenen Truppen ausgefochten.<br />

Deutschland wird zu einem der Hauptlieferanten europäischer Söldnerheere,<br />

schlaglichtartig mag das sichtbar werden, wenn wir hören, daß<br />

deutsche Söldner 1549 den Aufstand englischer Untertanen bei Norfolk,<br />

die sog. Kett's Rebellion, niederschlagen. Trotz aller möglichen Versuche,<br />

dieses Söldnerwesen zu ordnen <strong>und</strong> für die Bevölkerung ertragbar<br />

zu machen, zeigen uns die stereotyp wiederholten Mandate gegen<br />

gartende Knechte, welche sozialen Folgelasten die abgedankten Heere<br />

den Territorien auferlegten<strong>16.</strong><br />

Hinzu kommt, daß die Soldtruppen außerordentlich teuer waren. Wir<br />

wissen, wie sehr gerade Max<strong>im</strong>ilian I. <strong>und</strong> Karl V. mehrfach die Mißlichkeit<br />

gespürt haben, ohne Geld ihren Soldtruppen ausgeliefert zu sein.<br />

Für die <strong>deutschen</strong> Landesfürsten verbot sich die Anwerbung von Söldnern<br />

außer in Fällen wirklicher Landesnot aus finanziellen Gründen. So<br />

finden wir in den <strong>deutschen</strong> Territorien des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts — von der<br />

Besatzung einiger Festungen <strong>und</strong> Wachtsoldaten einmal abgesehen —<br />

keine ständigen Truppenkörper. Als Alternativen für den Defensionsfall<br />

standen teure Werbungen auf der einen <strong>und</strong> das alte Lehnsaufgebot<br />

auf der anderen Seite zur Verfügung. Letzteres war jedoch militärisch<br />

kaum brauchbar, da der Adel die Stellung der Ritterpferde oder Gültpferde<br />

zwar als adeliges Vorrecht bewahrte, in der Realität aber wenig<br />

Neigung für den militärischen Einsatz empfand, ja sich oft auch als ungeeig<strong>net</strong><br />

bezeich<strong>net</strong>e. Man braucht nur die Briefe zu lesen, die die Lehnssischen<br />

Konsiliensammlungen <strong>und</strong> die einschlägigen Werke der Politik (Justus<br />

Lipsius, Giovanni Botero, Henning Arnisaeus). In diesem Zusammenhang<br />

soll noch darauf hingewiesen werden, daß für die Politikwissenschaft<br />

des späten <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts kein Zweifel daran bestand, daß der einhe<strong>im</strong>ische<br />

Soldat dem Söldner vorzuziehen sei (z. B. Adam Contzen, <strong>Die</strong>trich<br />

Reinkingk).<br />

16 Als Beispiel vgl. Eugen von Frauenholz, Entwicklungsgeschichte des<br />

<strong>deutschen</strong> Heereswesens, Bd. 3/1 (Das Söldnertum), München 1938, 260 - 262<br />

(Brandenburgisches Edikt von 1620 „wider das Herumlauffen <strong>und</strong> Plackereyen<br />

der neugeworbenen Soldaten <strong>und</strong> was denen gardenden Knechten gegeben<br />

werden soll").


136 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 137<br />

leute des Bischofs von Augsburg 1605 schrieben, als dieser den Versuch<br />

machte, seine Lehnträger gegen die aufständischen Bauern <strong>im</strong> Allgäu zu<br />

mobilisieren, um zu erkennen, wie obsolet diese Organisationsform geworden<br />

war <strong>17</strong> . In dieser militärisch-finanziellen Zwangslage deutscher<br />

Territorialfürsten tauchte <strong>im</strong> späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert der Gedanke auf,<br />

ein neues Defensionssystem zu entwickeln, das auf den eigenen Untertanen<br />

basierte, freilich nicht als bloßes Wiederaufgreifen des alten Aufgebots,<br />

sondern als Mobilisierung eines ausgewählten Teils der Untertanen,<br />

der durch besondere Bewaffnung <strong>und</strong> Übung für den Kriegsfall<br />

qualifiziert werden sollte.<br />

Es läßt sich m. E. zeigen, daß die Überlegungen zum Rückgriff auf die<br />

Untertanen, die in der 2. Hälfte des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts von verschiedenen<br />

Schriftstellern entwickelt wurden, ihren Ausgangspunkt in der älteren<br />

Aufgebotspraxis nahmen. Unter dem Druck der türkischen Bedrohung<br />

werden die habsburgischen Erbländer zu den ersten Stationen des<br />

neuen Defensionssystems. Lazarus von Schwendi, der sich als kaiserlicher<br />

Feldhauptmann <strong>im</strong> Kampf gegen die Türken einen Namen gemacht<br />

hatte, äußerte sich in den 60er <strong>und</strong> 70er Jahren mehrfach zur<br />

Frage: „Wie man gegen den Türken kriegen solle". Schon 1547 hatte<br />

er sich publizistisch gegen den Betrug bei der Musterung gewandt, 1566<br />

findet sich dann die erste Forderung zum Einsatz der Untertanen bei der<br />

Verteidigung des Reiches gegen die Türken, mehrfach wiederholt in den<br />

Denkschriften von 1566, 1570 <strong>und</strong> systematisiert <strong>im</strong> großen „Kriegsdiskurs"<br />

von 1577 1". <strong>Die</strong>s stellte eine klare Abkehr von der bislang<br />

gültigen Theorie dar. Bis dahin galt, was Reinhard von Sohns noch 1559<br />

in seiner „Kriegsregierung" geschrieben hatte, wo er vor dem militärischen<br />

Einsatz eigener Untertanen gewarnt hatte". Schwendi schrieb in<br />

voller Kenntnis der österreichischen Aufgebote <strong>und</strong> zum Teil sogar<br />

direkt für entsprechende Beratungen der drei innerösterreichischen<br />

Länder Steiermark, Kärnten <strong>und</strong> Krain. Er vermittelte vermutlich auch<br />

die habsburgischen Erfahrungen — wie Oestreich annahm — in den<br />

elsässischen Raum, wo sich <strong>im</strong> Landrettungsvertrag von 1572 die<br />

<strong>17</strong> Staatsarchiv Neuburg ilionau, Lehen <strong>und</strong> Adel, Akten Nr. 1980.<br />

18 Vgl. Frauenholz. Lazarus von Schwendi (Anm. 4), wo die Denkschriften<br />

Schwendis abgedruckt sind. Der Titel der hier wichtigsten Schrift ist: „Herr<br />

L. v. Sch. Rathschlag. wie sowol der Adl alß der gemaine man zue der Reittery<br />

<strong>und</strong> Kriegswesen abgericht <strong>und</strong> unterhalten werden soll (ebd. 70 - 90).<br />

Ergänzend dazu Schulze, Landesdefension (Anm. 10), 198 ff. <strong>Die</strong> Literatur<br />

über Schwendi ist beachtlich umfangreich, ohne daß bislang eine adäquate<br />

Würdigung dieses Mannes verfügbar wäre, die literarische, politische <strong>und</strong><br />

militärische Aspekte seiner Tätigkeit gleichmäßig beachten würde.<br />

19 Gerhard Oestreich , Zur Heeresverfassung der <strong>deutschen</strong> Territorien von<br />

1500 - 1800. Ein Versuch vergleichender Betrachtung, in: ders., Geist <strong>und</strong><br />

Gestalt des frühmodernen Staates (Anm. 5), 290 - 310, hier 296. Für die ältere<br />

Literatur sei auf diesen gr<strong>und</strong>legenden Aufsatz verwiesen.<br />

Stände zur Ausbildung <strong>und</strong> Bewaffnung ihrer Untertanen verpflichteten.<br />

Vergleichbare Überlegungen mit starkem Bezug auf italienische<br />

Beispiele entwickelte auch der Freiherr Hans Albrecht von Sprinzenstein<br />

in einer Denkschrift für Herzog Wilhelm V. von Bayern".<br />

Wenn i. f. eine kurze Einordnung der sog. nassauisch-oranischen Heeresreform<br />

gegeben werden soll, so kann hier nicht auf alle Aspekte dieser<br />

Bewegung eingegangen werden, die von einigen Autoren als Kernstück<br />

einer europäischen „militärischen Revolution" (so J. M. Roberts,<br />

auch W. Hahlweg, kritischer zuletzt dazu G. Parker) gesehen worden<br />

ist 21 . Für unseren Einblick in die historische Situation ist von Bedeutung,<br />

daß vor allen Dingen seit der Herausbildung einer Gruppe calvinistisch<br />

orientierter Reichsstände nach der endgültigen Ablehnung der<br />

Freistellungsforderung auf dem Reichstag von 1576 in verstärktem<br />

Maße das Problem einer militärischen Absicherung dieser bedrohten<br />

Gruppierung notwendig wurde. Hinzu kam, daß die kleinen Grafschaften<br />

<strong>im</strong> hessischen Raum durch die dynastischen Verbindungen zu den<br />

Niederlanden, ihre Verwicklung in den Kölner Krieg <strong>und</strong> durch ihr<br />

programmatisches Eintreten für die Freistellungsbewegung besonders<br />

gefährdet waren. Unter diesen Bedingungen <strong>und</strong> unter dem Eindruck<br />

der Hugenottenkriege in Frankreich kam es <strong>im</strong> Gebiet der Wetterauer<br />

Grafen seit dem Beginn der 80er Jahre zur Bildung eines gemeinsamen<br />

Landrettungsvereins 22 , der auch auf der Verwendung der Untertanen<br />

beruhte. <strong>Die</strong> Vorgänge in den Grafschaften — besonders in Nassau-<br />

Siegen, wo Johann VI. <strong>und</strong> sein Sohn Johann VII. sich besonders intensiv<br />

um die Realisierung dieser Defensionspläne bemühten — sind bekannt<br />

<strong>und</strong> seit Max Jähns inzwischen mehrfach geschildert worden23.<br />

20 Vgl. Eugen von Frauenholz, Entwicklungsgeschichte des <strong>deutschen</strong> Heerwesens,<br />

Bd. 3, 2: <strong>Die</strong> Landesdefension, München 1939, 37 - 46. Bei diesem<br />

Werk handelt es sich um die insgesamt ausführlichste Sammlung von Quellen<br />

zur Geschichte der <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

21 Vgl. Michael Roberts , The Military Revolution, Belfast 1956; Werner<br />

Hahlweg, <strong>Die</strong> Heeresreform der Oranier. Das Kriegsbuch des Johann von<br />

Nassau-Siegen, Wiesbaden 1973 <strong>und</strong> zuletzt Geoffrey Parker, The „Military<br />

Revolution" — 1560 - 1660 — a Myth?, in: Journal of Modern History 48<br />

(1976), 195 - 214.<br />

22 Dazu die Dissertationen von Lothar Paul, Nassauische Unionspläne. Untersuchungen<br />

zum politischen Programm des <strong>deutschen</strong> Calvinismus <strong>im</strong> Zeitalter<br />

der Gegenreformation, Phil. Diss. Münster 1966 <strong>und</strong> Rolf Glawischnig,<br />

Niederlande , Calvinismus <strong>und</strong> Reichsgrafenstand 1559 - 1584. Nassau-Dillenburg<br />

unter Graf Johann VI., Marburg 1973.<br />

23 Vor allem die Arbeiten von Wolf, Oestreich <strong>und</strong> Glawischnig sind hier<br />

zu nennen. Vgl. Papke, Handbuch der <strong>deutschen</strong> Militärgeschichte (Anm. 2),<br />

Bd. 1, 83 ff. <strong>und</strong> Helmut Schnitter, Volk <strong>und</strong> Landesdefension. Volksaufgebote,<br />

Defensionswerke, Landmilizen in den <strong>deutschen</strong> Territorien vom 15.<br />

bis zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert, Berlin 1977, 114 ff.


138 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 139<br />

Es entsteht das Bild eines militärischen Musterstaats bis hin zu jenem<br />

Manöver <strong>im</strong> Herbst 1592, in dem der nassauische <strong>und</strong> solmsische Ausschuß<br />

nahe bei Dillenburg ihre Fähigkeiten zu beweisen versuchten,<br />

wobei die Manöverlage davon ausging, daß das durch den Türkenkrieg<br />

geb<strong>und</strong>ene Reich von Truppen entblößt sei <strong>und</strong> dann von spanischen<br />

Truppen angegriffen werde. Alle diese militärischen Reformmaßnahmen<br />

— <strong>und</strong> hier scheint ein erster wesentlicher Unterschied zu<br />

Schwendi zu liegen — wurden Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion<br />

<strong>und</strong> intensiver Diskussion mit befre<strong>und</strong>eten Fürsten, so daß der kriegswissenschaftliche<br />

Nachlaß des Grafen Johann einen beachtlichen Umfang<br />

aufweist, von dem die Hahlweg'sche Edition bewußt nur einen Teil<br />

bietet-'.<br />

Neben den österreichischen, bayerischen, elsässischen <strong>und</strong> Wetterauer<br />

Defensionswerken, von deren Existenz wir nun zumindest kurz gehört<br />

haben, können wir an der Wende vom <strong>16.</strong> zum <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert bzw. <strong>im</strong><br />

Jahrzehnt danach eine ganze Reihe weiterer Defensionssysteme feststellen.<br />

Es besteht durchaus Anlaß zu der Vermutung, daß der Reichspfennigmeister<br />

Zacharias Geizkofler 1604 in einem Gutachten eine<br />

richtige Beobachtung niederschrieb, wenn er davon sprach, daß „auch<br />

bey einem Jar oder 5 her fast die maisten fürsten <strong>im</strong> Reich schöne Defensionsordnungen<br />

angestelt <strong>und</strong> ir landtvolk also armiren <strong>und</strong> abrichten<br />

lassen, das man sich auf alle notfäll irer nit weniger als besoldter<br />

leuth zu gebrauchen" 25. Er empfahl diese allgemeinen Muster <strong>und</strong> insbesondere<br />

die hessische Ordnung zur Nachahmung in den österreichischen<br />

Erblanden, deren frühe Ordnungen offensichtlich inzwischen<br />

hinter die nassauische Entwicklungsstufe zurückgefallen waren, denn<br />

bei der hessischen Ordnung des Landgrafen Moritz handelt es sich ja<br />

um eine durch den Nassauer beeinflußte Ordnung, deren Gr<strong>und</strong>überlegungen<br />

allerdings von Landgraf Moritz in einer umfangreichen Denkschrift<br />

von 1601/2 niedergelegt wurden 26 . Neben den bislang erwähnten<br />

Defensionswerken sind entsprechende Einrichtungen aus dem Kurfürstentum<br />

Mainz, den fränkischen Bistümern Würzburg <strong>und</strong> Bamberg,<br />

der Kurpfalz, Württemberg, Braunschweig-Wolfenbüttel, Brandenburg-<br />

Preußen, Baden-Durlach, Ansbach, Kursachsen, Sachsen-We<strong>im</strong>ar,<br />

Schwarzburg-Rudolstadt <strong>und</strong> -Sonderhausen <strong>und</strong> den schlesischen Fürstentümern<br />

bekannt27.<br />

24 Vgl. dazu meine Rezension des „Kriegsbuches" in: Zeitschrift für historische<br />

Forschung 1 (1974), 233 - 239.<br />

25 Das Gutachten <strong>im</strong> Staatsarchiv Ludwigsburg, 13 90, Büschel 391 („Discurs<br />

wie das ungarische Kriegswesen dieser Zeit ... anzustellen").<br />

26 <strong>Die</strong>ses Gutachten wird ausführlich kommentiert bei Gunter Thies, Territorialstaat<br />

<strong>und</strong> Landesverteidigung. Das Landesdefensionswerk in Hessen-<br />

Kassel unter Landgraf Moritz (1592 - 1627), Darmstadt <strong>und</strong> Marburg 1973,<br />

29 ff.<br />

Von besonderem Interesse bei diesem Überblick über die <strong>deutschen</strong><br />

Defensionswerke ist auch die Existenz paralleler Institutionen in anderen<br />

europäischen Staaten. Dabei denke ich weniger an die englische<br />

„militia" als vielmehr an die „milizia paesana" in Piemont, ähnliche<br />

Einrichtungen in Venedig <strong>und</strong> schließlich die Reform des schweizerischen<br />

Heerwesens <strong>im</strong> frühen <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert, die ganz offensichtlich<br />

unter dem Einfluß der niederländischen Erfahrungen erfolgte. <strong>Die</strong>ses<br />

europäische Ausmaß des Defensionswesens weist darauf hin, daß die<br />

Gründe für diese Form der Heeresorganisation nicht alleine in <strong>deutschen</strong><br />

Voraussetzungen gesucht werden dürfen28.<br />

Überblickt man die Fülle von Territorien, die in durchaus unterschiedlicher<br />

Weise versuchten, einen Ausschuß der eigenen Untertanen<br />

militärisch auszubilden, so lassen sich auch unterschiedliche Motivationen<br />

erkennen. Im Kreis der korrespondierenden Reichsstände — allen<br />

voran Nassau, Hessen-Kassel <strong>und</strong> die Kurpfalz — sind die häufigen<br />

Hinweise auf die vermeintliche Bedrohung durch die katholisch-spanische<br />

Partei nicht zu übersehen. In einzelnen Fällen führt auch die<br />

Gründung <strong>und</strong> Konsolidierung der Union zur Einrichtung von Defensionswerken.<br />

<strong>Die</strong>s geschieht z. B. in Braunschweig-Wolfenbüttel 1605,<br />

wo schon 1600 kurpfälzische Mahnungen eintrafen <strong>und</strong> auch Graf Johann<br />

von Nassau als Besucher erschien <strong>und</strong> darum warb, ein exercitium<br />

militare einzurichten, „weil unsere widrige Geistliche <strong>und</strong> andere mit<br />

allerhand Praktiken umgingen" 20 . Auch für Kursachsen <strong>und</strong> Kurbrandenburg,<br />

die 1613 ihre Defensionswerke einrichten bzw. vorbereiten,<br />

dürfte die allgemeine Unsicherheit der Lage <strong>im</strong> Reich nach der Gründung<br />

von Union <strong>und</strong> Liga der Auslöser gewesen sein, zumal in allen<br />

Fällen schon mehrjährige Vorbereitungen vorausgingen".<br />

27 Vgl. dazu den Überblick bei Schnitter, Volk <strong>und</strong> Landesdefension (Anm.<br />

23), 114 - 132.<br />

28 Ich verweise auf einen Beitrag von Walter Barberis, La formazione della<br />

„milizia paesana" in Piemonte: potere centrale et relationi locali fra Cinque<br />

e Seicento, der in dem von A. Maczak herausgegebenen Band seines Kolloquiums<br />

über Patronage- <strong>und</strong> Klientelwesen in der Frühen Neuzeit 1986<br />

erscheinen wird. Für Venedig vgl. jetzt J. R. Haie / M. E. Mallett, The Military<br />

Organization of a Renaissance State: Venice c. 1400 - 16<strong>17</strong>, Cambridge<br />

1984. Für die Reform des Berner <strong>und</strong> Zürcher Kriegswesens vgl. Frieder Walter,<br />

Niederländische Einflüsse auf das eidgenössische Staatsdenken <strong>im</strong> späten<br />

<strong>16.</strong> <strong>und</strong> frühen <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert. Neue Aspekte der Zürcher <strong>und</strong> Berner Geschichte<br />

<strong>im</strong> Zeitalter des werdenden Absolutismus, Zürich 1979, 18 ff. <strong>und</strong><br />

Jürg Stüssi, Militärwissenschaftliche Wechselwirkungen zwischen Deutschland<br />

<strong>und</strong> der Schweiz in der ersten Hälfte des <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts, in: Schweizerisch-deutsche<br />

Beziehungen <strong>im</strong> konfessionellen Zeitalter. Beiträge zur<br />

Kulturgeschichte 1580 - 1650, Fribourg 1986 (<strong>im</strong> Druck).<br />

29 Müller, Lehns- <strong>und</strong> Landesaufgebot (Anm. 14), 69.<br />

30 Für Kursachsen vgl. Naumann, Das kursächsische Defensionswerk (Anm.<br />

14), <strong>und</strong> Christian Krollmann, Das Defensionswerk <strong>im</strong> Herzogtum Preußen,<br />

2 Teile, Berlin 1904/1909.


140 Winfried Schulze<br />

Bei genauer Durchsicht der Darstellungen <strong>und</strong> Akten über die Landesdefensionswerke<br />

werden sich für alle Territorien Anlässe der Art<br />

finden lassen wie die eben genannten. Sie reichen von den Durchzügen<br />

fremder Truppen über die Bedrohung der Türken bis zum Schutz<br />

gegen die jeweils andere konfessionelle Partei. Doch muß man daneben<br />

versuchen, die Gründe zu ermitteln, die alle diese Territorialstaaten auf<br />

das Ausschußsystem zurückgreifen ließen. Im Unterschied zu den älteren<br />

Aufgebotsregelungen oder den Ritterpferden des Adels bedeutete das<br />

Ausschußwesen ja, daß nur ein relativ geringer Prozentsatz der Bevölkerung<br />

(in Sachsen weniger als 10 43 / 0 der Untertanen, allgemein der<br />

30. Mann) zum Einsatz <strong>im</strong> Ausschuß herangezogen wurde. Schon von<br />

diesen Zahlen her zeigt sich, daß der Versuch, hier den Anfang der<br />

allgemeinen Wehrpflicht zu erkennen, historisch wenig korrekt ist.<br />

Da die Praxis des Ausschußverfahrens von Exemtionen ökonomisch<br />

wichtiger Untertanen — Handelsleute, Beamte, reiche Bauern — geprägt<br />

war, konnte es sich um keine allgemeine Wehrpflicht handeln.<br />

<strong>Die</strong>se wäre auch wirtschaftlich kaum durchzusetzen gewesen, selbst <strong>im</strong><br />

Verteidigungsfall. <strong>Die</strong> agrarisch-gewerblichen Produktionsbedingungen<br />

erlaubten weder vom Arbeitsprozeß noch von der ökonomischen Leistungsfähigkeit<br />

der Wirtschaft her eine allgemeine <strong>Die</strong>nstpflicht. <strong>Die</strong><br />

arbeitsintensive Landwirtschaft verbot den Ausfall größerer Mengen<br />

von Landarbeitern ebenso wie die Landesfinanzen keine durchgehende<br />

Bewaffnung hätten tragen können. Insofern ist der Ausschuß eine<br />

wirtschaftlich angemessene Defensionsform, die der Wirtschaft nicht die<br />

wichtigen Arbeitskräfte entzieht. Ganz <strong>im</strong> Gegenteil, indem der Ausschuß<br />

ganz allgemein auf die mittleren <strong>und</strong> unteren Schichten der<br />

Bauernschaft zurückgreift, entzieht er der Wirtschaft nur entbehrliche<br />

bzw. ökonomisch schwache Kräfte. <strong>Die</strong> reicheren Untertanen konnten<br />

sich z. B. in Wolfenbüttel durch Bestechung oder andere Beziehungen<br />

zu den Amtleuten freistellen lassen, zumal Stellvertretung nicht gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ausgeschlossen war. Während etwa <strong>im</strong> sächsischen Defensionswerk<br />

durch Los entschieden wurde, galt in Hessen-Kassel das Prinzip<br />

der „electio". Das bedeutete, daß „hantierung <strong>und</strong> narung" nicht gestört<br />

werden sollten, auch sollten mehr Stadtbewohner als Landbewohner<br />

ausgewählt werden. Überhaupt wurde hier das Auswahlverfahren sehr<br />

verfeinert, indem nicht nur ökonomische Hinderungsgründe <strong>und</strong> körperliche<br />

<strong>und</strong> geistige Eignung bedacht wurden, sondern zudem der Versuch<br />

gemacht wurde, den Ausschuß möglichst mit Defensionären zu besetzen,<br />

die freiwillig oder zumindest ohne Widerspruch den <strong>Die</strong>nst<br />

verrichten wollten. <strong>Die</strong> vorgeschriebenen Musterungsfragen „Willst du<br />

ein Soldat werden?" oder „Hast du lusten dazu?" weisen in diese Richtung<br />

der Freiwilligkeit 31 . <strong>Die</strong> daneben bestehenden Vorschriften über<br />

die Schonung von Kaufleuten, Geistlichen, Schul- <strong>und</strong> Ratspersonen,<br />

<strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 141<br />

der Bauern (nicht aber deren Söhne) <strong>und</strong> Handwerker, die für das<br />

Kriegswesen wichtig waren, von Hirten, Müllern <strong>und</strong> Metzgern, aber<br />

auch Hausarmen <strong>und</strong> Tagelöhnern, beweist, daß in Hessen vorzugsweise<br />

jene ausgewählt wurden, die „Lust, Liebe <strong>und</strong> Hertz zum handel<br />

haben", wie es in der Instruktion hieß. Konkret bedeuteten diese<br />

Auswahlkriterien, daß in den unteren Rängen des hessischen Aufgebots<br />

sich folgende Berufsstruktur nachweisen läßt (die Berechnung beruht<br />

auf der Analyse von ca. 22'0/0 der Defensionäre):<br />

Von 1 016 Defensionären sind<br />

229 Bauern<br />

185 Tagelöhner<br />

142 Schmiede <strong>und</strong> Schlosser<br />

86 Schneider<br />

81 Leinenweber<br />

80 Bäcker<br />

77 Schuster<br />

64 Einleufftige<br />

41 Metzger<br />

31 Wagner.<br />

Das heißt, daß der hessische Ausschuß sich vor allem aus der bäuerlichen<br />

<strong>und</strong> handwerklichen Mittelschicht rekrutierte, wenn auch ein<br />

relativ starker Anteil von Tagelöhnern festzustellen ist, die eigentlich<br />

nicht herangezogen werden sollten".<br />

War der Ausschuß auf der einen Seite ein den wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

sozialen Rahmenbedingungen der <strong>deutschen</strong> Territorialstaaten angepaßtes<br />

<strong>und</strong> damit begrenztes Unternehmen", so versuchte er auf der<br />

anderen Seite, der Weiterentwicklung des Kriegswesens Rechnung zu<br />

tragen. Das alte Aufgebot hatte seine Wirksamkeit u. a. auch deshalb<br />

eingebüßt, weil seine unregelmäßige Bewaffnung mit verschiedenen<br />

31 Ich verweise hier auf die einschlägigen Verordnungen in Hessen-Kassel,<br />

wo es in der „Instruction, wie sich die ... Kriegs-Räthe <strong>und</strong> <strong>Die</strong>ner zu verhalten<br />

haben" vom 1. Okt. 1600 folgende Standardfragen bei der Musterung<br />

des Ausschusses vorgeschrieben waren: „Wie heistu, wo bistu her, Wes alters,<br />

Wes Handwercks, Bistu jemals ein Kriegsmann gewesen, wiltu ein Soldat<br />

werden, Hast du lusten darzu, Item: Hast du deine Paßport." Vgl. Sammlung<br />

Fürstlich-Hessischer Landes-Ordnungen <strong>und</strong> Ausschreiben ... Erster Teil<br />

(1337 - 1627), Kassel <strong>17</strong>67, 476.<br />

32 <strong>Die</strong> Zahlen nach Thies, Territorialstaat <strong>und</strong> Landesverteidigung (Anm.<br />

26), 131. Unter „Einleuf fügen" sind nach Thies (ebd. 129) meist landlose, in<br />

jedem Fall arme Dorfbewohner zu verstehen.<br />

33 <strong>Die</strong>s zeigt sich auch <strong>im</strong> Verbot militärischer Übungen des Ausschusses<br />

zur Saat- oder Erntezeit, Instruction (Anm. 31), 478.


142 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 143<br />

Hieb- <strong>und</strong> Stichwaffen unterschiedlicher Qualität angesichts der sich<br />

durchsetzenden Bewaffnung mit Feuerwaffen hoffnungslos unterlegen<br />

war. Insofern bedeutete der neue Ausschuß auch systematische Bewaffnung<br />

mit Seitengewehr <strong>und</strong> einheitlichen Langfeuerwaffen. Landgraf<br />

Moritz von Hessen-Kassel behielt auch noch den Lanzenträger bei, doch<br />

scheint insgesamt der Ausschuß der Fußsoldaten als Träger von Feuerwaffen<br />

verstanden zu werden. Erst diese Bewaffnung machte den Ausschuß<br />

zu einem waffentechnisch gleichwertigen Gegner gegen angreifende<br />

Söldnerheere, bedingte allerdings auch eine neue Form des Trainings<br />

an der Waffe <strong>und</strong> <strong>im</strong> Verband. Es scheint so, als sei das systematische<br />

Waffentraining in Nassau bereits seit 1572 eingeführt worden<br />

<strong>und</strong> von dort in die oranische Heeresreform der Niederlande vermittelt<br />

worden. G. Oestreich führte dies vor allem auf die Anregungen des<br />

französischen Militärschriftstellers <strong>und</strong> Heerführers Frangois de la<br />

Noue zurück <strong>und</strong> zeigte, daß Johann für eine Übernahme dieser Übungen<br />

plädierte, durchaus <strong>im</strong> Gegensatz zur bisherigen Praxis deutscher<br />

Truppenführer".<br />

Der Drill — eine Begriffsschöpfung des Grafen Johann 35 — muß besonders<br />

beachtet werden. Er ist die logische Konsequenz des gezielten<br />

<strong>und</strong> planmäßigen Einsatzes der Handfeuerwaffen durch größere Truppeneinheiten.<br />

<strong>Die</strong>ser Einsatz war unter den technischen Bedingungen<br />

der Luntenrohre des späten <strong>16.</strong> <strong>und</strong> frühen <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts nur dann<br />

effektiv möglich, wenn die Vorgänge des Ladens, Zielens <strong>und</strong> Zündens<br />

vereinheitlicht <strong>und</strong> mechanisch eingeübt wurden. Selbst wenn es dem<br />

Grafen Johann gelang, das Laden <strong>und</strong> Abschießen einer Büchse auf<br />

20 Handgriffe zu begrenzen", so blieb das eine technisch komplizierte<br />

Prozedur, deren Übung um so wichtiger war, je ungewohnter die Technik<br />

für die Defensionäre war, zumal wenn die „Exercitien" in der Bewegung<br />

<strong>und</strong> auf bewegliche Ziele durchgeführt wurden 37 . Daher rührt<br />

auch die selbst <strong>im</strong> Defensionssystem <strong>im</strong>mer wieder zu beobachtende Bevorzugung<br />

von städtischen Handwerkern gegenüber Bauern her. Ohne<br />

allzuweit vom Thema abzuschweifen, wird man sagen können, daß sich<br />

hier auf dem Gebiet des Kriegswesens eine neue Arbeits- <strong>und</strong> Bewegungsdisziplin<br />

durchsetzte, die auf gewerblichem Gebiet erst in der<br />

Manufaktur wiederzufinden war. Sie unterschied sich erheblich von<br />

der Art militärischer Übung, wie sie etwa Schwendi gefordert hatte,<br />

der für das Aufgebot schon die Übungen auf Schießständen <strong>und</strong> von<br />

34 Gerhard Oestreich, Graf Johannes VII. Verteidigungsbuch für Nassau-<br />

Dillenburg 1595, in: ders., Geist <strong>und</strong> Gestalt des frühmodernen Staates (Anm.<br />

5), 311 - 355, hier 339.<br />

36 Vgl. Hohlweg, Heeresreform (Anm. 21), 29 f.<br />

36 Ebd. 254 f. (Nr. 24), die hessische Instruktion kennt 28 Kommandos.<br />

37 <strong>Die</strong>s sah die hessische Instruktion vor.<br />

Truppenbewegungen empfohlen hatte, ohne jedoch etwa Laden <strong>und</strong><br />

Schußabgabe <strong>im</strong> „Scharmutzieren", also in der Bewegung <strong>im</strong> Gelände,<br />

zu üben. <strong>Die</strong> Verbindung von Ausschuß der Untertanen <strong>und</strong> systematischer<br />

Waffenübung, der „Trillerey", schon <strong>im</strong> Frieden scheint der Kern<br />

dessen zu sein, was wir als militärisches Spezifikum der nassauischen<br />

Heeresreform ausmachen können; „dises ist also das mitell, dadurch aus<br />

bauren soldaten gemacht werden"38.<br />

Doch diese <strong>im</strong> Prinzip alle Defensionswerke beeinflussende Reformbewegung<br />

läßt sich nicht auf die militärischen Spezifika beschränken.<br />

<strong>Die</strong> Defensionswerke waren auch reformerische Maßnahmen von politischer<br />

Brisanz. Da ist zum einen die schon erwähnte Problematik der<br />

ständischen Bewilligung zu beobachten, der die <strong>Landesdefensionen</strong> dort<br />

unterlagen, wo Landstände bei der politischen Willensbildung beteiligt<br />

waren. <strong>Die</strong> autonomen Bereiche der Gr<strong>und</strong>herrschaften des Adels <strong>und</strong><br />

der Prälaten ließen sich nur dort durch die neue Militärorganisation<br />

erobern, wenn — wie in den habsburgischen Erblanden — eine direkte<br />

Bedrohung die notwendige Vereinheitlichung des Territoriums erzwang<br />

<strong>und</strong> die Stände zudem organisatorisch an der Landesdefension beteiligt<br />

wurden oder wenn der landesfürstliche Wille durchgesetzt werden<br />

konnte. Dabei ist zu bedenken, daß natürlich auch den Ständen an<br />

einem wirksamen, gleichwohl billigen <strong>und</strong> sozial verträglichen Defensionsmittel<br />

gelegen war. Insgesamt kann man urteilen — <strong>und</strong> hierin ist<br />

dem „Handbuch der <strong>deutschen</strong> Militärgeschichte" zuzust<strong>im</strong>men -39 , daß<br />

die Haltung der Stände gegenüber den Defensionswerken durchaus unterschiedlich<br />

war <strong>und</strong> wir keine einheitliche Front gegen die Defensiopssysteme<br />

erkennen können, wie dies in anderen zentralen Fragen<br />

der Territorialpolitik der Fall war.<br />

<strong>Die</strong> Haltung des landständischen Adels gegenüber neuen Formen der<br />

Landesdefension war weiterhin beeinflußt durch das allgemeine Verhältnis<br />

des Adels zu den Untertanen. Man muß <strong>im</strong> Auge behalten, daß<br />

die ersten Überlegungen eines L. v. Schwendi zur Bewaffnung der Untertanen<br />

in einem erheblich weiteren Kontext standen. Schwendis wiederholt<br />

berührter Ausgangspunkt war die Frage, „wie sowol der Adl<br />

als auch der gemaine Mann zue der Reitterey <strong>und</strong> Kriegswesen abgerichtet<br />

<strong>und</strong> unterhalten werden soll". <strong>Die</strong>se Schrift beklagt vehement<br />

die Abwendung des Adels vom Kriegswesen, ja sie kritisiert die Adeligen,<br />

die in „gestikten köstlichen Kleidern <strong>und</strong> weibische Pracht meer<br />

38 Das Zitat bei Thies, Territorialstaat <strong>und</strong> Landesverteidigung (Anm.<br />

26). J. H. von Wallhausen betonte 1616 (Anm. 41), „daß bestandene Männer,<br />

ja viel grobe Bawren <strong>und</strong> Pflugsbengel in solchem ihrem Alter das Trillen<br />

oder die Kriegsubungen geler<strong>net</strong> haben <strong>und</strong> noch täglich lernen" <strong>und</strong> verwies<br />

auf die Beispiele der Kurpfalz, Hessens <strong>und</strong> der Wetterau.<br />

39 Papke, Handbuch der <strong>deutschen</strong> Militärgeschichte (Anm. 2), Bd. 1, 81 f.


144 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 145<br />

dann in manlicher Kriegsrüstung ihr hoffarth suechen <strong>und</strong> gesehen<br />

wollen sein". Wenn Schwendi für die Zukunft kriegerische Qualifikation<br />

für „Amt, befelch <strong>und</strong> stand" fordert, dann ist dies auch eine Kritik<br />

am tatsächlichen Erscheinungsbild eines Adels, der seiner alten, gesellschaftlich<br />

qualifizierenden Funktion des Schutzes nicht mehr nachkam.<br />

Er forderte den Verlust des Adels für „alle vom Adel so ungerüst<br />

weren", so daß in Schwendis Denkschrift ein deutlicher Vorstoß zur<br />

Legit<strong>im</strong>ation des Adels durch Verdienst — <strong>und</strong> zwar <strong>im</strong> militärischen<br />

Bereich -- zu sehen ist".<br />

Wenn Schwendi nach dieser Kritik nun auch den Einsatz des gemeinen<br />

Mannes forderte, dann war dies eine Maßnahme, die — trotz der<br />

geforderten Adelsrestauration — unübersehbar die Konsequenzen aus<br />

der neuen Entwicklung des Kriegswesens zog. Sie verstärkte die sozialen<br />

Effekte, die der Wandel des Kriegswesens ohnehin schon für den<br />

Adel bedeutete. Bei Schwendi werden auch die Konsequenzen sehr<br />

deutlich, wenn er fordert, daß den in der Defension eingesetzten Untertanen<br />

„etwas fortheil beschehe, also das sy etwas freier oder eine jeden<br />

in iren steuern <strong>und</strong> schazung des Jars etwas nachgelassen werde ... <strong>und</strong><br />

inen also ir orden <strong>und</strong> stadt <strong>und</strong> das sie von der Kriegszunft weren zu<br />

einer sonder ehr geachtet <strong>und</strong> sy der wegen andern iren Mitbürgern<br />

etwas fürgezogen wurden". Schwendi erkennt also die Notwendigkeit<br />

einer gesellschaftlichen Würdigung des Kriegsdienstes, <strong>und</strong> wir können<br />

dies als einen Beweis dafür verstehen, daß der Kriegsdienst der Untertanen<br />

in den <strong>Landesdefensionen</strong> tendenziell neue Ansprüche der Untertanen<br />

nach sich ziehen mußte. Um so verständlicher werden demgegenüber<br />

auch die Bemühungen der Landstände, ihren Angehörigen in den<br />

neuen Defensionswerken die Befehlshaberstellen zu sichern. Auch der<br />

Versuch des Grafen Johann von Nassau-Dillenburg, in Siegen 16<strong>17</strong> eine<br />

adelige Kriegsschule zu gründen, muß in diesem Zusammenhang einer<br />

notwendig gewordenen Adelsqualifikation gesehen werden".<br />

40 Frauenholz, Lazarus von Schwendi (Anm. 4), vor allem 77. Schwendi<br />

steht hier in der Tradition der Adelskritik des <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts, die vielfach<br />

die Abwendung des Adels von seinen eigentlichen Aufgaben beklagte <strong>und</strong><br />

damit ein deutlicher Beleg für den sich hier vollziehenden Wandel ist. Als<br />

Beispiel sei verwiesen auf August Jegel, Ein früher Vorläufer des Lazarus<br />

von Schwendi, in: Archiv für Reformationsgeschichte 40 (1943), 89 - <strong>17</strong>1.<br />

41 Vgl. Karl Wolf, Der „Clausewitz" des Grafen Johann des Mittleren, in:<br />

He<strong>im</strong>atland. Beilage zur Siegener Zeitung 13 (1938), 97 - 101, womit Johann<br />

Jacobi von Wallhausen, der erste Direktor der academia militaris, gemeint<br />

ist. Der Gesichtspunkt der notwendigen Qualifikation wird betont in der ausführlichen<br />

Ankündigung der Kriegsschule, die 1616 in Frankfurt , Main unter<br />

dem Titel „Programma Scholae Militaris ex veteri veterum Romanorum<br />

institutio laudatiss<strong>im</strong>o noviter institutae ac restitutae. Das ist Offentliches<br />

Außschreiben Von wegen Einer newen Kriegsschulen ... welche ... Durch<br />

Johann Jacobi von Wallhausen ... zu Siegen In der Graffschafft Nassaw<br />

<strong>Die</strong>ser Gesichtspunkt der Wirkungen auf die ständische Gesellschaft<br />

ist — soweit ich die Quellen überblicke — nicht expressis verbis formuliert<br />

worden. Unübersehbar wurde dagegen das Problem angesprochen,<br />

inwieweit die Bewaffnung der Untertanen nicht zu gefährlich sei, ob<br />

man damit nicht einem Aufruhr der bäuerlichen Untertanen Vorschub<br />

leiste. Da alle Gutachten diese Fragen ausführlich diskutierten", dürfen<br />

wir vermuten, daß hier der Adel ein zentrales Problem der neuen<br />

Defensionssysteme sah. <strong>Die</strong>s gilt nicht nur für die Gutachten, sondern<br />

auch für die praktische Defensionspolitik. Immer wieder tauchen<br />

Zweckmäßigkeitsüberlegungen in den Akten auf, wenn Ausschußbewaffnungen<br />

in Zeiten drohender sozialer Konflikte vorgenommen werden<br />

sollten. Schon Schwendi griff diese Frage 1566 auf, glaubte freilich<br />

eine wirkliche Gefahr verneinen zu dürfen, falls man die Defensionäre<br />

sozial belohne <strong>und</strong> nur die begüterten Untertanen mit Waffen versehe.<br />

<strong>Die</strong> bemerkenswerteste Behandlung dieser Frage findet sich ganz<br />

zweifellos in den „Motiven wie die Untertanen zue dem Defensionswerk<br />

willig zu machen <strong>und</strong> zu <strong>und</strong>erweisen" des Grafen Johann. <strong>Die</strong> ganze<br />

Abhandlung hat in der Antwort auf die Frage der Gefährlichkeit des<br />

Ausschusses ihren eigentlichen Höhepunkt. Oestreich bezeich<strong>net</strong> diese<br />

Passage als den Punkt, an dem Defensions- oder Ausschußverfassung,<br />

Staatsanschauung <strong>und</strong> religiöse Überzeugung sich berühren, <strong>und</strong> es besteht<br />

damit die Möglichkeit, die gr<strong>und</strong>sätzliche Frage nach dem Verhältnis<br />

von frühmodernem Territorialstaat <strong>und</strong> Untertanen aufzuwerfen,<br />

die notwendigerweise für die <strong>Landesdefensionen</strong> eine entscheidende<br />

Frage sein mußte".<br />

Graf Johann wendet sich dieser Frage mit jener typischen Ambivalenz<br />

zu, die wir <strong>im</strong>mer bei der Beurteilung der Untertanen <strong>und</strong> ihrer<br />

politischen Rolle feststellen". Auf der einen Seite stehen pragmatische<br />

Überlegungen in der Nachfolge Schwendis, den Ausschuß sozial herauszuheben<br />

<strong>und</strong> damit von der übrigen Bevölkerung abzuheben, ihn aber<br />

hienechts wirdt auff- <strong>und</strong> angerichtet werden" erschienen ist. Vgl. auch Gerhard<br />

Oestreich, Eine Kritik des <strong>deutschen</strong> Wehrwesens am Vorabend des<br />

Dreißigjährigen Krieges, in: Nassauische Annalen 70 (1959), 227 ff., <strong>und</strong> die<br />

einschlägigen Quellen bei Hahlweg, Heeresreform (Anm. 21), 568 - 590. Eine Einordnung<br />

der Siegener Schule in die Ritterakademien des <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

jetzt bei Norbert Conrads, Ritterakademien der Frühen Neuzeit. Bildung<br />

als Standesprivileg <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jahrh<strong>und</strong>ert, Göttingen 1982, 131 - 136.<br />

42 <strong>Die</strong>s gilt sowohl für Schwendi, für Graf Johann, für Landgraf Moritz<br />

von Hessen <strong>und</strong> für Abraham von Dohna. Daneben finden sich viele knappe<br />

Hinweise <strong>im</strong> einschlägigen Aktenmaterial. Vgl. auch Schnitter, Volk <strong>und</strong><br />

Landesdefension (Anm. 23), 87 u. 128 f.<br />

43 Pestreich, Graf Johanns VII. Verteidigungsbuch (Anm. 34), 332.<br />

44 Vgl. allgemein dazu Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand <strong>und</strong> feudale<br />

Herrschaft in der frühen Neuzeit, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980, 115 ff.<br />

10 Staats- <strong>und</strong> Heeresverfassung


146 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 147<br />

auch genau zu beobachten. Er soll nur von Adeligen geführt werden, so<br />

daß er <strong>im</strong> Revoltenfall führerlos ist. Auch das negative Exempel des<br />

Bauernkrieges stehe ihm vor Augen, <strong>und</strong> schließlich sei man den Untertanen<br />

auch weiterhin mit Waffen, Geschütz <strong>und</strong> Festungen überlegen.<br />

Mit der Hoffnung, daß das ganze Defensionswerk schließlich ein<br />

neues Vertrauensverhältnis zwischen Untertanen <strong>und</strong> Obrigkeiten<br />

schaffe, geht Johann dann zum 2. Argument über, seiner Kritik an der<br />

normalen Herrschaftspraxis in den Territorien. Was wirklich zu einem<br />

neuen Bauernkrieg Anlaß gebe, sei die Belastung der Untertanen mit<br />

allen möglichen Abgaben <strong>und</strong> <strong>Die</strong>nsten <strong>und</strong> ihre Vernachlässigung <strong>im</strong><br />

Falle der Not. <strong>Die</strong>se Obrigkeiten bedachten nicht die mutua obligatio<br />

zwischen Herrn <strong>und</strong> Untertanen.<br />

Ohne jetzt diesen Begriff der mutua obligatio in die Staatstheorie des<br />

europäischen Calvinismus einordnen zu können, scheint die Argumentationsweise<br />

des nassauischen Grafen an dieser Stelle von besonderer<br />

Bedeutung. Auch wenn zu bedenken ist, daß in den meisten der eingerichteten<br />

Defensionswerke seine Anweisungen wenig Nachahmung<br />

fanden <strong>und</strong> daß seine Anleitungen zur Herstellung eines dauerhaften<br />

Vertrauensverhältnisses zwischen Herrschaft <strong>und</strong> Untertanen den theoretischen<br />

Höhepunkt seines Landesdefensionssystems darstellt, muß die<br />

verbreitete Praxis der Defensionswerke mit ihrer gr<strong>und</strong>legenden Einbeziehung<br />

der Untertanen ein beachtenswerter Hinweis auf die Herrschaftspraxis<br />

<strong>und</strong> ihre Hinnahme seitens der Untertanen sein. Wenn es<br />

gewiß auch verfehlt wäre, die Vorstellungen des Grafen <strong>und</strong> anderer<br />

Militärhistoriker von der Beziehung zwischen Vaterland <strong>und</strong> Untertan<br />

schon für die Realität anzusehen, so muß man doch als beachtlich festhalten,<br />

daß schon zwei Generationen nach dem Bauernkrieg die Untertanen<br />

auf relativ breiter Front in die Landesverteidigung integriert<br />

wurden, ihnen in vielen Fällen die Waffen mit nach Hause gegeben<br />

wurden.<br />

Doch auch hier findet sich jene schon oben erwähnte Ambivalenz wieder.<br />

<strong>Die</strong> Einbeziehung der Untertanen in die Landesdefension hatte<br />

zwar positive Auswirkungen auf die Stellung der Untertanen <strong>im</strong> Territorialstaat,<br />

aber diese Einbeziehung sollte auch den Untertanen erziehen,<br />

ja umformen. Das ausführliche „Sendschreiben" des hessischen<br />

Landgrafen Moritz macht dies ebenso deutlich wie die „Motive" des<br />

Grafen Johann. Für Moritz ist die disciplina militaris ein wichtiger<br />

Ansatzpunkt für eine Disziplinierung aller Untertanen, für die Hebung<br />

der allgemeinen Moral, für den Kampf gegen otium <strong>und</strong> voluptas, zur<br />

letztlichen Herstellung des „ordo", d. h. eines konfliktfreien Verhältnisses<br />

von Herrschaft <strong>und</strong> Untertanen 45 . Ohne jetzt auf die Frage einer<br />

spezifisch calvinistischen Herleitung solcher Vorstellungen einzugehen,<br />

soll auf die allgemeine Entwicklung der <strong>deutschen</strong> Territorialstaaten <strong>im</strong><br />

späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert hingewiesen werden, die durch die zunehmende<br />

Tendenz zum Eingriff in die Privatsphäre gekennzeich<strong>net</strong> ist. Sie war<br />

— darauf hat zuletzt Wolfgang Reinhard hingewiesen — keineswegs<br />

konfessionsspezifisch, sondern erfaßte alle Territorialstaaten, <strong>und</strong> deshalb<br />

scheint mir auch der Hinweis darauf notwendig zu sein. Der Versuch<br />

militärischer Disziplinierung ist nur ein Teilaspekt einer allgemeinen<br />

Bewegung".<br />

IV.<br />

Doch kehren wir nach dieser Beleuchtung einiger geistesgeschichtlicher<br />

<strong>und</strong> dazu auch sehr gut erforschter Fragen zurück zu den <strong>Landesdefensionen</strong><br />

<strong>und</strong> zur abschließenden Frage nach Erfolg oder Mißerfolg<br />

<strong>und</strong> der daraus folgenden historischen Bewertung. <strong>Die</strong>se Frage ist oft<br />

genug gestellt worden, <strong>und</strong> eine zunächst militärische Erfolge abwägende<br />

Antwort muß betonen, daß bedeutende Siege von Defensionstruppen<br />

nicht zu verzeichnen sind. Wir wissen in einigen Fällen von der erfolgreichen<br />

Abwehr eines Truppendurchzugs, manchmal bewähren sich Ausschußtruppen<br />

auch in größeren Truppenkörpern wie etwa bei der bayerischen<br />

Exekution gegen Donauwörth. Bemerkenswert ist auch, daß<br />

Graf Johann von Nassau seinen Ausschuß gegen die Stadt Siegen einsetzte,<br />

die gegen die Einführung des calvinistischen Bekenntnisses Widerstand<br />

leistete. Doch sowohl der Türkenkrieg wie auch der 30jährige<br />

Krieg sind nicht von Ausschußtruppen gekämpft worden, vielmehr erleben<br />

eingesetzte Aufgebote blutige Niederlagen wie die badensischen<br />

in der Schlacht von W<strong>im</strong>pfen 1622 (gegen Tilly) oder die württembergischen<br />

in der Schlacht von Nördlingen 1634. Doch wie so oft trifft eine<br />

so nachgefragte Erfolgsbilanz nicht den entscheidenden Punkt. Wesentlicher<br />

erscheint die Tatsache, daß auch nach dem 30jährigen Krieg das<br />

Landesdefensionssystem eine praktische Reorganisation <strong>und</strong> auch eine<br />

theoretische Renaissance erlebte, wenn wir an die Äußerungen von<br />

Veit Ludwig von Seckendorff, Kaspar Klock, Leibniz, Spinoza, Flemming<br />

<strong>und</strong> Friedrich dem Großen denken. Flemmings Plädoyer — das<br />

auch den Begriff Land-Milice <strong>und</strong> National-Truppen verwendet — für<br />

die parallele Existenz von stehendem Söldnerheer <strong>und</strong> Landesdefension<br />

45 Vgl. Thies. Territorialstaat <strong>und</strong> Landesdefension (Anm. 26), 56. Das Zitat<br />

Oestreichs in: Der römische Stoizismus <strong>und</strong> die oranische Heeresreform, in:<br />

ders., Geist <strong>und</strong> Gestalt des frühmodernen Staates (Anm. 5), 26.<br />

46 Wolfgang Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu<br />

einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für Historische<br />

Forschung 10 (1983), 257 - 271, der natürlich (ebd. 276) auch auf Oestreichs<br />

Begriff der „Sozialdisziplinierung" verweist.<br />

10.


148 Winfried Schulze <strong>Die</strong> <strong>deutschen</strong> <strong>Landesdefensionen</strong> <strong>im</strong> <strong>16.</strong> <strong>und</strong> <strong>17</strong>. Jh. 149<br />

entsprach auch die Praxis der Territorien". Ob dies in organisatorischer<br />

Trennung geschah (wie in Sachsen <strong>und</strong> Münster) oder durch Verschmelzung<br />

beider Elemente (wie in Bayern seit <strong>17</strong>04) ist dabei zweitrangig.<br />

Wenn wir einmal von den kleineren Territorien absehen (z. B. Schwarzburg,<br />

Sachsen-Gotha <strong>und</strong> Mainz), so bleiben die Defensionswerke Ergänzungseinheiten<br />

für das stehende Heer. D. h., in der Praxis vollzieht<br />

sich eine Kombination von stehenden Kadertruppen <strong>und</strong> ergänzend<br />

herangezogenen Milizen, vor allem in den großen Kriegen zum Beginn<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts (Nordischer Krieg <strong>und</strong> Spanischer Erbfolgekrieg).<br />

Insgesamt kann aber kein Zweifel daran bestehen, daß das stehende<br />

Heer — nicht zuletzt durch seine reichsrechtliche Absicherung — der<br />

politisch attraktivere <strong>und</strong> militärisch wirksamere Weg in das moderne<br />

Heerwesen wurde. Gleichwohl blieb das Landesdefensions- bzw. Milizsystem<br />

ein praktikables Verfahren der relativ kostengünstigen Sicherung<br />

eines Territoriums". <strong>Die</strong> Organisation der Miliz in Schaumburg-<br />

Lippe <strong>im</strong> späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert unter dem Grafen Wilhelm ist dafür<br />

ein herausragendes <strong>und</strong> schon <strong>im</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert weithin bekanntes<br />

Beispiel. Sie unterscheidet sich in ihrer Organisation nicht wesentlich<br />

von den Vorläufern <strong>im</strong> späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>ert, doch fallen einige Elemente<br />

besonders auf, wie z. B. Abschaffung adeliger Privilegien. Betonung<br />

der Bildung (Militärschule) <strong>und</strong> des Gedankens der Subordination".<br />

Das Verteidigungswerk des Grafen Wilhelm verbindet gewisserweise<br />

die ältere Landesdefension des späten <strong>16.</strong> Jahrh<strong>und</strong>erts mit den<br />

Milizen des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts. Damit war für den preußischen Reformer<br />

Scharnhorst, der hier <strong>17</strong>73 - <strong>17</strong>78 als Offiziersschüler ausgebildet wurde,<br />

auch der Erfahrungshintergr<strong>und</strong> gegeben, der für die preußische Reform<br />

<strong>im</strong> Militärwesen wesentlich wurde.<br />

außerhalb der Staatsverfassung in dieser Form bestehen bleiben kann.<br />

Wie viele Phänomene der frühen Neuzeit sind die <strong>Landesdefensionen</strong><br />

noch nicht eindeutig moderne Institutionen. Gleichwohl sind sie ein<br />

wichtiger Schritt auf dem Wege zum Volksheer des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

dessen Schöpfer argumentativ ohne Schwierigkeiten an das Vorbild der<br />

National-Milizen anknüpfen konnte.<br />

Damit läßt sich eine knappe Bilanz ziehen. <strong>Die</strong> Defensionswerke mit<br />

ihrer Verwendung speziell ausgebildeter Untertanen sind der Versuch<br />

einer Organisation der Landesverteidigung, die den finanziellen Möglichkeiten<br />

der Territorialstaaten, der veränderten Kampf- <strong>und</strong> Waffentechnik<br />

<strong>und</strong> der noch nicht entschiedenen Machtfrage zwischen Fürst<br />

<strong>und</strong> Ständen entspricht. Angesichts ihrer Verbreitung <strong>und</strong> ihrer relativ<br />

langen Existenz scheint mir die Frage angebracht, ob das oben zitierte<br />

Diktum Otto Hintzes von der Entstehung des modernen Heerwesens<br />

47 Ein Auszug aus Flemmings Werk „Der Vollkommene Teutsche Soldat"<br />

(Leipzig <strong>17</strong>26) über die Landmiliz ist abgedruckt bei Schnitter , Volk <strong>und</strong><br />

Landesdefension (Anm. 23), 201 - 209.<br />

48 <strong>Die</strong>s wird auch aus der Sammlung einschlägiger Dokumente bei Frauenholz.<br />

Entwicklungsgeschichte (Anm. 20), Bd. 4: Das Heerwesen in der Zeit<br />

des Absolutismus, Teil 2, München 1940, deutlich.<br />

49 Vgl. dazu Erich Hübinger, Graf Wilhelm zu Schaumburg-Lippe <strong>und</strong> seine<br />

Wehr. <strong>Die</strong> Wurzeln der allgemeinen Wehrpflicht in Deutschland, Borna-<br />

Leipzig 1937.

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