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<strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong><br />

<strong>Die</strong> Debatte um die Entschädigung der Emigranten<br />

der Französischen Revolution 1824/25*<br />

Von<br />

Winfried Schulze<br />

I. Revolutionsfolgen als Gegenstand der Forschung<br />

Seit Alexis de Tocquevilles „L'Ancien Regime et la Revolution"<br />

von 1856 wird sich jeder Historiker davor hüten müssen, eine Revolution<br />

nur als kurzfristiges Ereignis zu betrachten. Er wird sorgfältig<br />

das langfristige Vorher <strong>und</strong> Nachher vergleichen <strong>und</strong> damit erst die<br />

Bedeutung einer revolutionären Umwälzung ausmessen können.<br />

<strong>Die</strong> kritische Feststellung, daß etwa die Russische Revolution von<br />

1917 noch nicht „ihren Tocqueville" gef<strong>und</strong>en habe'), muß geradezu<br />

als Verdikt über die einschlägige Forschung gelten. Vor allem<br />

die Historiker der Französischen Revolution haben ihren Tocqueville<br />

gelernt <strong>und</strong> sich intensiv der Frage von „Kontinuitäten <strong>und</strong><br />

Brüchen" zugewandt. Francois Furet hat, dieser Linie folgend, seine<br />

Darstellung der Französischen Revolution weit über die klassischen<br />

Daten hinaus ausgedehnt <strong>und</strong> die Jahre 1770 <strong>und</strong> 1880 zur Grenze<br />

seiner Untersuchung gemacht!) In einer solchen Ausdehnung der<br />

Perspektive mögen dann auch jene Revolutionsfolgen in den Blick<br />

* Der vorliegende Aufsatz entstand aus dem Kurzbeitrag zu einer von Gudrun<br />

Gersmann <strong>und</strong> I I ubertus Kohle (beide Bochum) in der Werner-Reimers-<br />

Stiftung Bad Homburg organisierten Tagung zur literarischen <strong>und</strong> künstlerischen<br />

Verarbeitung der Revolution in der Epoche der französischen Restauration,<br />

die im März 1991 stattfand.<br />

') <strong>Die</strong>ses Urteil Werner Markerts von 1951 verwandte <strong>Die</strong>trich Geyer nochmals<br />

1977, um den einschlägigen Stand der Forschung zu charakterisieren;<br />

<strong>Die</strong>trich Geyer. <strong>Die</strong> Russische Revolution. Historische Probleme <strong>und</strong> Perspektiven.<br />

2. Aufl. Göttingen 1977, 9. In diesem Zusammenhang ist darauf<br />

hinzuweisen, daß Tocqueville als junger Jurist am Gericht von Versailles<br />

selbst Erfahrungen mit Entschädigungsprozessen sammeln konnte.<br />

2) Francois Furet, La Revolution, de Turgot ä Jules Ferry (1770-1880). Paris<br />

1989. Zum hier angesprochenen Problem 296f.


30 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

kommen, die sich üblicherweise der Aufmerksamkeit der Historiker<br />

entziehen: die Entschädigung der Opfer einer Revolution.<br />

Ganz unbestreitbar bildete die Bewertung der Französischen Revolution<br />

seit dem frühen 19.Jahrh<strong>und</strong>ert eine Art von Prüfstein für<br />

alle denkbaren Positionen im innenpolitischen Spektrum Frankreichs.<br />

3) Nicht zuletzt diese Tatsache hat das wissenschaftliche Interesse<br />

an der Rezeption dieser Revolution in Kunst, Wissenschaft, Literatur<br />

<strong>und</strong> Historiographie erheblich gefördert. <strong>Die</strong> Annäherung<br />

an die Diskussion über das Nachleben der Revolution, über „die<br />

Revolution in der Restauration-4), soll durch ein Verfahren erreicht<br />

werden, das die Revolution vor allem als Belastung <strong>und</strong> Impuls<br />

praktischer Politik versteht. Revolutionäre Umwälzungen pflegen<br />

der Nachwelt dadurch ihren Stempel aufzudrücken, daß sie soziale<br />

Umbrüche inszenieren; sei es, daß eine herrschende Schicht entmachtet<br />

<strong>und</strong> enteig<strong>net</strong>, ja zuweilen dezimiert oder gar eliminiert<br />

wird, sei es, daß diese Schicht zur Emigration gezwungen wird. In<br />

jedem Fall besteht spätestens dann Bedarf nach einer Bewältigung<br />

der Revolutionsfolgen, wenn der Versuch unternommen wird, die<br />

so revolutionierte Gesellschaft in ein neues Gleichgewicht zu bringen,<br />

ihr eine neue Ordnung zu geben, die Dauerhaftigkeit verspricht.<br />

Nicht zuletzt die Erfahrung unserer eigenen Zeit läßt uns solche<br />

Fragen stellen 5), doch auch der Rückblick auf frühere revolutionäre<br />

Umwälzungen legt solche Fragen nahe; ja man könnte sogar behaupten,<br />

daß erst der Blick auf diese Art von Folgen einer revolutionären<br />

Umwälzung einen Schlüssel zum Verständnis ihrer tatsächlichen<br />

Folgewirkungen liefert, zumal dann, wenn sie nicht bei der<br />

vordergründigen Frage nach den sog. „Kosten der Revolution" stehen<br />

bleibt') <strong>Die</strong> Beispiele etwa des deutschen Bauernkriegs, der<br />

') Zuletzt dazu knapp, aber treffend Heinz-Gerhard Haupt, Sozialgeschichte<br />

Frankreichs seit 1789. Frankfurt am Main 1989, 152ff.<br />

4)So Stanley Mellon, The Political Uses of History. A Study of Historians in<br />

the French Restoration. Stanford 1958, Kap. III., 31ff.<br />

5)Schon 1960 versuchte die englische Historikerin Margery Weiner die historische<br />

Notwendigkeit einer Entschädigung der französischen Emigranten<br />

damit zu begründen, daß nach 1945 „sogar die Deutschen anzuerkennen<br />

hatten, daß sie denen eine materielle Entschädigung schuldeten, die sie in<br />

vergleichbarer Weise ausgeplündert hatten". Vgl. Margery Weiner, The<br />

French Exiles 1789-1815. London 1960, 204.<br />

6)Vgl. etwa Reni, Le coüt de la Revolution francaise. Verites et Legendes.<br />

Paris 1987.


W Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 31<br />

Englischen Revolution oder der Vertreibung der Hugenotten aus<br />

Frankreich bieten sich hier an; in allen genannten Fällen läßt sich<br />

zeigen, daß damit erst die langfristige historische Bedeutung der jeweiligen<br />

Ereignisse wirklich erfaßt werden kann.')<br />

Eine Folgenbewältigung dieser Art, also die Frage nach den Strafen<br />

für die Besiegten, den Entschädigungen für die Opfer, der Erinnerung<br />

an die Verbrechen, der Monumentalisierung der Helden,<br />

bietet der historischen Betrachtung die Chance, nicht nur den Blick<br />

auf die jeweils konkrete gesetzgeberische Maßnahme zu werfen,<br />

sondern sie verbindet sie mit der Frage nach dem Stellenwert der jeweiligen<br />

Revolution, ihrer Deutung <strong>und</strong> damit dem Beginn <strong>und</strong> der<br />

Art ihrer Kanonisierung. Schärfer noch als in der postrevolutionären<br />

Historiographie, deren ge<strong>net</strong>isch-historisches Gr<strong>und</strong>interesse<br />

prinzipiell alle Antriebe des revolutionären Geschehens zum Sprechen<br />

bringen <strong>und</strong> damit auch verständlich machen kann, zwingt die<br />

Frage nach der Aufstellung eines Denkmals, der Belohnung der<br />

Helden, der Ächtung der Täter oder der Entschädigung der Opfer<br />

zur entschiedenen Stellungnahme. Wo der Historiker noch durch<br />

verbale Differenzierung ausweichen kann, bietet sich dem Politiker,<br />

der über Geldzahlungen entscheiden muß, <strong>und</strong> der l'resse, die ihn<br />

drängt oder ihm folgt, dieser Ausweg nicht an. In solchen Entscheidungssituationen<br />

verdichtet sich das komplexe Geflecht revolutionärer<br />

Handlungsstränge <strong>und</strong> ihrer nachträglichen Bewertung auf<br />

eine simple Kernfrage: Der Diskurs über die Revolution wird dann<br />

zum Prozeß über die Geschichte.<br />

So naheliegend es ist, daß Historiker wiederum das untersuchen,<br />

was andere Historiker früher einmal geschrieben haben, so soll dieser<br />

Weg hier nicht verfolgt w erden, zumal die Historiographie der<br />

Restaurationsepoche als vorzüglich untersucht gelten darf. Das<br />

Nachleben der Französischen Revolution im Frankreich der Restaurationsepoche<br />

soll im politischen Prozeß selbst aufgesucht werden.<br />

Es soll der Versuch unternommen werden, die Ergiebigkeit<br />

einer solchen Phase nachrevolutionärer Vergangenheitsbewältigung<br />

't Vgl. für den deutschen Bauernkrieg Winfried Schulze/Helmut Gabel, Folgen<br />

<strong>und</strong> Wirkungen, in: Horst Buszello/Peter Blickle/Rudolf Endres<br />

(Hrsg.), Der deutsche Bauernkrieg. 2. Aufl. Paderborn 1991, 322-349, <strong>und</strong><br />

für England: Joan Thirsk, The Restoration Land Settlement, in: .1Modli 26,<br />

1954, 315-328, <strong>und</strong> H. J. Hahakkuk, Landowners and the Civil War, in:<br />

EconIIR 18, 1965, 130-151.– Zur Entschädigung der aus Frankreich vertriebenen<br />

Hugenotten im Lauf der Französischen Revolution vgl. unten S. 47.


32 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

zu überprüfen. <strong>Die</strong> generelle Frage soll lauten: Wie diskutiert die<br />

politische Klasse Frankreichs, „le pays legal", in der Restaurationszeit<br />

über die Französische Revolution, welche Parteibildungen ergeben<br />

sich, welche Bedeutung kommt der Erinnerung an die Revolution<br />

zu, welche Spaltungen offenbart der Streit über diese Revolution?<br />

<strong>Die</strong> spezielle Frage soll lauten: Welche Aufschlüsse kann die<br />

publizistisch-parlamentarische Diskussion der Jahre 1824/25 über<br />

die Entschädigung der Emigranten für diesen Fragenkomplex erbringen?<br />

Um den postrevolutionären Diskussionsprozeß außerhalb der<br />

Geschichtsschreibung, die bislang meistens im Mittelpunkt einschlägiger<br />

Untersuchungen gestanden hat 8), präziser beobachten zu<br />

können, soll mit der Entschädigungsdebatte ein begrenzter Themenkomplex<br />

der Restaurationsepoche untersucht werden. Herangezogen<br />

wurden vor allem die Debatten der beiden Kammern des französischen<br />

Parlamentes, wie sie vor allem in der 2. Serie der Archives<br />

Parlamentaires <strong>und</strong> anderen zeitgenössischen Quellen <strong>und</strong> dazugehörigen<br />

Kommentierungen überliefert sind. Freilich zeigt es sich bei<br />

der Benutzung dieser unhandlichen Quellengattung sehr bald, daß<br />

der Großteil der Debatten der beiden Kammern wenig Aussagekraft<br />

für unsere Fragestellung hat, die dem Nachleben der Revolution<br />

während der Restauration gilt; die Masse der Debatten gilt den Fragen<br />

der jeweils aktuellen Innen-, Zensur-, Wirtschafts-, Finanz- <strong>und</strong><br />

Außenpolitik. Insofern müssen jene Streitgegenstände aus dem politischen<br />

Diskussionsprozeß herausselektiert werden, die Antworten<br />

auf unsere Fragen geben können. Untersucht werden soll die Diskussion<br />

über die Entschädigung der Emigranten, die sich überwiegend<br />

im Frühjahr des Jahres 1825 abspielte, also kurz nach dem Antritt<br />

der Regierung Karls X. Sie wurde ausgelöst durch einen am<br />

3. Januar in der Deputiertenkammer eingebrachten Gesetzesentwurf<br />

der Regierung, der sich um eine finanzielle Entschädigung jener<br />

Franzosen bemühte, die im Laufe der Revolution ihr Land verlassen<br />

hatten <strong>und</strong> deren Güterbesitz während der Revolution verkauft<br />

worden war.9)<br />

8)Zuletzt dazu einige wichtige Beiträge in Roger Dufraisse (Hrsg.), Revolution<br />

<strong>und</strong> Gegenrevolution 1789-1830. Zur geistigen Auseinandersetzung in<br />

Frankreich <strong>und</strong> Deutschland. München 1991,<br />

9) Allgemein dazu Guillaume Bertier de Sauvigny, La restauration. Nouv.<br />

edit. revue et augm. Paris 1955, 369ff.; spezieller dazu Marc Bouloiseau,


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 33<br />

Hier ging es nur vordergründig um eine angemessene Entschädigung<br />

einer speziellen Gruppe von Opfern der Revolution. In einem<br />

weiteren Sinne stand vielmehr – wie sich bald zeigen sollte – die Legitimation<br />

der Prinzipien restaurativer Politik zur Debatte, wie sie<br />

den Bourbonen <strong>und</strong> den Ultrakonservativen als verpflichtend galten.<br />

Letztlich ging es damit um die Bewertung der Revolution <strong>und</strong><br />

ihrer Folgen für die französische Gesellschaft. Zunächst müssen einige<br />

Bemerkungen zum historischen Interesse der Restaurationsepoche<br />

gemacht werden, ohne dessen Intensität die weitere Diskussion<br />

nur schwer verständlich wäre.<br />

II. Das neue historische Interesse der Restauration<br />

„Im Augenblick beschäftigt man sich in Paris nur mit Bildern,<br />

<strong>und</strong> man ist ganz zerstritten zwischen den beiden Parteien. die die<br />

Malerei in zwei Schulen teilen." Als der liberale Journalist Adolphe<br />

Thiers am 7. September 1824 mit dieser Bemerkung seinen Brief an<br />

den Stuttgarter Verleger Cotta beendete, bestätigte er damit, daß<br />

man sich in Paris – trotz des nahenden Todes Ludwigs XVIII. – vor<br />

allem über " Das Massaker von Chios" von Eugene Delacroix stritt.<br />

<strong>Die</strong>ses Bild – eine Verherrlichung des griechischen Freiheitskampfes<br />

gegen die Türken – war der Mittelpunkt des gerade eröff<strong>net</strong>en<br />

Salons, ein Symbol der neuen romantischen Malerei, die den Klassizismus<br />

des Kaiserreichs bald überflügeln sollte.'°) Frankreichs ästhetischer<br />

Geschmack erwartete nach einem Wort Ludovic Vitets<br />

noch „seinen 14. Juli".'1) Der politische Diskussionsstand war dem<br />

der Malerei nicht unähnlich, auch hier standen sich zwei Parteien<br />

gegenüber: Royalisten auf der einen Seite, Liberale auf der anderen<br />

Seite; letztere mochten den Ansturm einer neuen Richtung der Malerei<br />

in dieser Zeit der „immobilite" auch als Hoffnungszeichen für<br />

die eigene Sache deuten»)<br />

Etude sur l'emigration et la vente des biens des emigres (1792-1830). Paris<br />

1963.<br />

10) Nach Robert Marquant, Thiers et le baron Cotta. Etude sur la collaboration<br />

de Thiers ä la Gazette d'Augsbourg. Paris 1959, 174. <strong>Die</strong> Berichte Thiers<br />

an Cotta sind eine vorzügliche Quelle nicht nur über die Pariser Kunstszene,<br />

sondern vor allem über die innenpolitischen Verhältnisse Frankreichs der<br />

20er Jahre aus liberaler Sicht.<br />

") Le Globe v. 2. April 1825.<br />

12) Thiers schrieb in der liberalen Zeitschrift „Le Globe" von 1824 einen Be-


34 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

" <strong>Die</strong>ser Augenblick politischer Leere", so schreibt Pierre Nora zu<br />

Recht über die Restaurationsepoche, „ist ein Moment der Fülle des<br />

historischen Gedächtnisses, das von allen politischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Bewegungen gefördert wird, der Erneuerung der Tätigkeit des parlement,<br />

der Renaissance der Salons, dem Kampf gegen die Zensur.<br />

Alles kam zusammen, um die Restaurationszeit zum Fest <strong>und</strong><br />

Drama des Gedächtnisses zu machen."") <strong>Die</strong>se Einschätzung entspricht<br />

durchaus dem Bild, das die Restaurationsepoche selbst von<br />

ihrer Sucht nach Geschichte zeich<strong>net</strong>e: „Wenn ein Volk sich vom<br />

Lärm der Kriege <strong>und</strong> Revolutionen auszuruhen beginnt, werden die<br />

Geister, die vom Bild der jüngsten Katastrophen erschüttert sind,<br />

neugierig auf die Vergangenheit."') So formulierte es ein Kritiker<br />

1825 im „Mercure du XIX. siede". Anläßlich eines Artikels über<br />

Goethe, der bekanntlich selbst ein eifriger Leser des „Globe" war,<br />

glossierte der Verfasser die elementare zeitgenössische Lust an der<br />

historischen Betrachtung <strong>und</strong> traf damit wohl den Charakter seiner<br />

Zeit: „On dirait que le monde entier est une question &cide, et<br />

qu'il n'y a plus qu'a en faire I'histoire. Messieurs les auteurs, crient<br />

de toutes parts les libraires et le public, faites-nous de l'histoire. –<br />

De quoi? – De tout et sur tout. – Mais mon talent me porte ä composer<br />

des romans. – A merveille, composez-les historiques. – Moi,<br />

des tragedies. – Encore mieux: des mceurs, des caracteres, de la couleur<br />

historique, comme dans Hamlet et le Roi Lear. – Qant ä moi,<br />

je m'occupe de notices litteraires: en voulez vous? – Ah, certes! c'est<br />

ce qu'il nous faut pour faire rentrer nos reimpressions dans le genre<br />

historique et (en langage de libraire du dix-neuvieme siede) pour<br />

preparer la prise de possession du domaine entier de la litterature<br />

par l'histoire." 15) Im Zusammenhang mit der eben erwähnten Salondebatte<br />

schrieb die gleiche Zeitschrift, daß auch die Malerei an der<br />

allgemeinen geistigen Bewegung teilnehme. <strong>Die</strong>se Bewegung aber<br />

ziele auf die historische Wahrheit, diese stelle eine der edelsten Neiricht<br />

über den Salon <strong>und</strong> die Malerei von E. Delacroix; Le Globe v. 28. September<br />

1824, 27ff.<br />

' 3 ) Vgl. dazu Pierre Nora, Zwischen Gedächtnis <strong>und</strong> Geschichte. Berlin 1990,<br />

77 ff. (das Zitat ebd.).<br />

14 ) Le Mercure du 19. siede, Livr. 133 v. 22. Oktober 1825, 104 ff. (hier zit. n.<br />

Odette-Adina Rachman, Un periodique liberal sous la Restauration: Le Mercure<br />

du XIXe siecle (avril 1823–mars 1826). Repertoire date et annote.<br />

Genf/Paris 1984, 239.<br />

1 ') Le Globe, Nr. 73 v. 24. Februar 1825, 359.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 35<br />

gungen der Zeit dar. Der menschliche Geist wolle zwar Poesie, aber<br />

er suche sie in der Geschichte: denn die reale Welt habe ihre Poesie,<br />

<strong>und</strong> das sei die einzig wirkliche.") Nach der bekannten Schätzung<br />

des Comte Daru wurden im Jahre 1825 40 Millionen Seiten Geschichte<br />

gedruckt)), Frankreich schien seine Geschichte gerade erst<br />

zu entdecken.<br />

<strong>Die</strong> 20er Jahre des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren in Frankreich zugleich<br />

die hohe Zeit der Memoiren über die Revolutionsepoche, in mehreren<br />

Reihenwerken wurden mehr als h<strong>und</strong>ert Erinnerungswerke veröffentlicht')<br />

Oft genug blieb unklar, wer die Memoiren wirklich<br />

geschrieben hatte, Fälschungen wurden bekannt"), aber der Markt<br />

gierte nach den Erinnerungen an die Revolutionszeit. Während der<br />

anschwellende Strom der Memoirenliteratur vorrangig jene zu Wort<br />

kommen ließ, die die „gute" Revolution der ersten zwei Jahre als<br />

Anhänger getragen hatten") oder als ihr Opfer zu gelten hatten,<br />

während sich die R4icides immer wieder verteidigen mußten')<br />

<strong>und</strong> noch 1819 der schon gewählte Abbe Gregoire daran gehindert<br />

wurde, seinen Platz in der Deputiertenkammer einzunehmen'), eröff<strong>net</strong>en<br />

die Perspektiven der liberalen Historiker der 20er Jahre der<br />

Geschichtsschreibung über die Revolution die erstaunliche Chance,<br />

durch den Blick auf ihre offensichtliche Unvermeidbarkeit <strong>und</strong> Naturnotwendigkeit<br />

die Motivation für den Kampf gegen den Ultraroyalismus<br />

<strong>und</strong> den überall präsenten Klerikalismus zu stärken <strong>und</strong><br />

16) Le Globe, Nr. 6 v. 26. September 1824, 24.<br />

' 7 ) Nach Mellon, Political Uses (wie Anm. 4), 1. Er vergleicht diese Zahl mit<br />

3 Mill. Seiten im Jahre 1811.<br />

18)Ich verweise hier v.a. auf die von Saint-Albin Berville <strong>und</strong> Jean Franwis<br />

Barriere herausgegebene „Collection des Memoires relatifs ä la Revolution<br />

Frafflise", in der zwischen 1820 <strong>und</strong> 1827 mindestens 58 Bände <strong>Revolutionserinnerung</strong>en<br />

publiziert wurden. Weitere Reihen werden genannt bei<br />

Nora, Gedächtnis (wie Anm. 13), 75 f.<br />

19)So Henri Forneron, Histoire generale des emigres pendant la Revolution<br />

francaise. 2 Vols. Paris 1884, hier Vol. 1, III f.<br />

20)<strong>Die</strong>se Beobachtung auch bei Mellon, Political Uses (wie Anm. 4), 32 (über<br />

die Collection des Memoires von Berville <strong>und</strong> Barriere).<br />

21)Vgl. dazu Edme-Etienne Belhomme, Les regicides. Paris 1893; Pierre<br />

Bliard, Les Conventionnels regicides d'apres des documents officiels et inedits.<br />

Paris 1913; <strong>und</strong> Sergio Luzzatto, Un Futur au Passe. La Revolution<br />

dans les memoires des conventionnels, in: AHRF 278, 1989, 455-475.<br />

22)Vgl. Memoires des Gregoire, ancien eveque de Blois lntroduction de<br />

Jean-Michel Leniaud. Paris 1989, 21 u. 286ff. Vgl. dazu auch Mellon, l'olitical<br />

Uses (wie Anm. 4), 37ff.


36 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

so liberalen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen.") So verw<strong>und</strong>ert<br />

es nicht, wenn 1825 das ehemalige Konventsmitglied Barere die Bücher<br />

von Thiers <strong>und</strong> Mig<strong>net</strong> begrüßte <strong>und</strong> zugleich die Defizite im<br />

gegenwärtigen Verfassungsleben Frankreichs beklagte.') Im liberalen<br />

„Globe" rezensierte man 1825 eine vergleichende Übersicht<br />

über die Cahiers de dolances von 1789 mit dem deutlichen Hinweis,<br />

daß die Publikation doppelt wertvoll sei; einmal für den Stand<br />

der Meinungen im Jahre 1789, zum anderen aber auch als „Kriterium<br />

des Regimes von 1825". Man könne daran sehen, wie wenig<br />

gesetzliche Garantien man nach 36 Jahren tatsächlich erhalten<br />

habe.") Als 1824 der Ex-Conventionel <strong>und</strong> Vielschreiber J. Ch. Bailleul<br />

seine Abhandlungen über die „Doctrines i-ligieuses et politiques,<br />

seules propres ä terminer ou ä prvenir les it-volutions ou<br />

Resultats n&essaires de la Revolution fran9aise" (Paris 1824) publizierte,<br />

würdigte der „Mercure du XIXe si&le" daran vor allem die<br />

unverzichtbaren „F<strong>und</strong>amentalregeln der Gesellschaft", die jede<br />

Regierung zu befolgen habe. 26) Es konnte kein Zweifel daran bestehen,<br />

daß damit jene Gedanken gemeint waren, die Bailleul der Revolution<br />

zuschrieb.<br />

Das späte Ancien Regime, ja das ganze aufgeklärte 18. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

wurde zu einer beliebten Vergleichsepoche: Um so mehr w<strong>und</strong>erte<br />

sich ein liberaler Kritiker über die „Blindheit" jenes Teils des<br />

Adels, der in Kenntnis dieser Zustände alles tue, um Frankreich<br />

wieder in einen ähnlichen Zustand zurückzuversetzen.") Besonders<br />

nach der politischen Wende von 1824, dem Ausscheiden Chateaubriands<br />

aus der Regierung <strong>und</strong> seiner Hinwendung zur liberalen Publizistik<br />

wurde das späte 18. Jahrh<strong>und</strong>ert immer stärker zum Reservoir<br />

politischer Normvorstellungen. Nicht zuletzt das enorme Inter-<br />

23) Vgl. dazu Mellon, Political Uses (wie Anm. 4), Kap. 2.<br />

") Roger Massio, Bertrand Barre justifie la Revolution francaise en 1825,<br />

in: AHRF 35, 1963, 506-08. Vgl. auch Leo Gershoy, Bertrand Barere de<br />

Vieuzac, un mCdiateur de la Revolution, in: AHRF 33, 1961, 1-18, <strong>und</strong><br />

ders., Bertrand Barere. A Reluctant Terrorist. Princeton, N. J. 1962.<br />

25) Le Globe, Nr. 147 v. 30. August 1825, 764. <strong>Die</strong> Rezension galt: F. Grille,<br />

Introduction aux trimoires de la Revolution Franoise ou Tableaux comparatifs<br />

des mandats et des pouvoirs donn&s aux clputs aux tats-gi-iraux.<br />

2 Vols. Paris 1825. – Zu „Le Globe", dem „Flaggschiff für eine Generation",<br />

vgl. Alan B. Spitzer, The French Generation of 1820. Princeton 1987, 97ff.<br />

") Paris 1824. <strong>Die</strong> positive Rezension im „Mercure du XIX.s." v. 8. Mai<br />

1824, 216ff.<br />

27 ) Vgl. Le Mercure du XIX. si&le, 95. Livr. v. 29. Januar 1825, 155ff. (hier<br />

zit. n. Rachman, Mercure [wie Anm. 14], 137).


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 37<br />

esse an Voltaire, aber auch an den anderen großen Autoren der<br />

Aufklärung, das sich in einer Flut neuer Gesamtausgaben zeigte, belegt<br />

diesen Vorgang.")<br />

<strong>Die</strong> Leistungen <strong>und</strong> Funktionen der Geschichtsschreibung eines<br />

Thiers, eines Mig<strong>net</strong>, eines Guizot sind vielfach beschrieben worden.<br />

Tatsächlich beeindruckt auch heute noch das Konzept dieser<br />

Historiker"), die naturnotwendig-vernünftige Entstehung dieser Revolution<br />

als den Höhepunkt eines langen Kampfes zwischen Adel<br />

<strong>und</strong> Bürgertum, die Europa vielleicht mehrere Jahrh<strong>und</strong>erte vorangebracht<br />

habe (so Thiers)"), zu verteidigen <strong>und</strong> daraus zugleich die<br />

liberalen Lehren für ihre eigene Epoche zu ziehen. <strong>Die</strong>se „&ole fataliste",<br />

von der zuerst Chateaubriand 1831 gesprochen hat 31 ), ist in<br />

der Historiographiegeschichte Frankreichs wie in der Geschichte<br />

der Erforschung der Französischen Revolution hinreichend gewürdigt<br />

worden») Ihre Leistung besteht darin – so hat es B. IZizov am<br />

Beispiel Thiers formuliert –, daß die Frage „Wer hat Schuld?"<br />

durch die Frage „Welches sind die Gründe der Revolution?" ersetzt<br />

wurde») In diesem Zusammenhang muß die Frage der Emigrantenentschädigung<br />

besonders interessieren, denn eine Entscheidung darüber<br />

war nur durch eine erneute Debatte über die Rechtmäßigkeit<br />

von Revolution oder Emigration zu erreichen.<br />

") Vgl. dazu Ruth Jakoby, Das Feuilleton des Journal des Debats von 1814<br />

bis 1830. Ein Beitrag zur Literaturdiskussion der Restauration. Tübingen<br />

1988, 204f., Mellon, Political Uses (wie Anm. 4), 74ff., <strong>und</strong> allgemein John<br />

Lough. The Philosophes and Post-Revolutionary France. London/New<br />

York 1982.<br />

29)So formuliert Ernst Schulin, <strong>Die</strong> Französische Revolution. München<br />

1988, 27. Vgl. auch Mellon, Political Uses (wie Anm. 4). 18.<br />

30)Zit. n. Peter Stadler, Politik <strong>und</strong> Geschichtsschreibung in der Französischen<br />

Restauration 1814-1830, in: HZ 180, 1955, 265-296, hier 292.<br />

37 ) Chateaubriand, Etudes historiques. Paris 1831, hier zit. n. Shirley Ch. Gruner,<br />

Political Historiography in Restoration France, in: H & T 8, 1969, 346-<br />

365, hier 363.<br />

32)Vgl. die beiden zeitgleich erschienenen Untersuchungen von Stadler <strong>und</strong><br />

Mellon: Peter Stadler, Geschichtsschreibung <strong>und</strong> historisches Denken in<br />

Frankreich 1789-1871. Zürich 1958, 118 ff., <strong>und</strong> ders., Politik (wie Anm. 30),<br />

<strong>und</strong> Mellon, Political Uses (wie Anm. 4), bes. 5 ff., sowie die älteren Arbeiten<br />

von B. L'historiographie romantique francaise, 1815-1830. Moskau<br />

o. J., über Mig<strong>net</strong> <strong>und</strong> Thiers bes. 353 ff., <strong>und</strong> <strong>Die</strong>trich Gerhard, Guizot, Augustin<br />

Thierry <strong>und</strong> die Rolle des Tiers-Etat in der französischen Geschichte,<br />

in: HZ 190, 1960, 290-310. Vgl. auch G. De Marziu. a., La storiografia della<br />

restaurazione francese. Rom 1982.<br />

33) L'historiographie romantique francaise (wie Anm. 32), 397.


38 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

III. Das Problem der Emigrantenentschädigung<br />

<strong>Die</strong> Frage einer Entschädigung der emigrierten Landbesitzer<br />

tauchte im Februar 1825 keineswegs zum erstenmal in der politischen<br />

Öffentlichkeit oder gar in den beiden Kammern auf.") Sie<br />

war vielmehr integraler Bestandteil der öffentlichen politischen Diskussion<br />

seit der Rückkehr der ersten Emigranten noch unter der<br />

Herrschaft Napoleons, der am 26. April 1802 eine Generalamnestie<br />

erlassen hatte.") Sie wurde zu einem zentralen Thema seit der ersten<br />

Restauration der Bourbonen <strong>und</strong> dem jetzt erheblich zunehmenden<br />

Rückstrom der Emigranten.') Am 6. Dezember 1814 wurde ein Gesetz<br />

erlassen, das den Emigranten ihren noch nicht verkauften Besitz<br />

zurückerstattete.") Schon 1814 <strong>und</strong> 1816/17 wurden Vorschläge<br />

über eine weitergehende Entschädigung gemacht"), nicht zuletzt<br />

deshalb, weil das Verbot erneuter Konfiskationen <strong>und</strong> die Garantie<br />

aller während der Revolution erfolgten Besitzwechsel durch die<br />

Charte (Art. 9 <strong>und</strong> 14) neue Handlungsalternativen anboten. Auch<br />

die prinzipielle Wiederherstellung des rechtlichen Status der Emigranten<br />

im Jahre 1815 einerseits <strong>und</strong> die in der Charte eingeräumte<br />

34) Zu dieser ganzen Frage vgl. die Ausführungen bei Jean-Baptiste Capefigue,<br />

Histoire de la Restauration et des causes qui ont amenes la chute de la<br />

branche ainee des Bourbons (1813-1830). 8 Vols. Brüssel 1843, hier v. a. Vol.<br />

7, 114ff. u. 123 ff. — Unter wirtschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten ist<br />

heranzuziehen die ältere Darstellung bei Henri SW, Französische Wirtschaftsgeschichte.<br />

Bd. 2. Jena 1936, 149f.<br />

33 ) Donald Greer, The Incidence of Emigration during the French Revolution.<br />

Cambridge 1950, 105. Eine präzise Übersicht über die einschlägige Gesetzgebung<br />

gegenüber den Emigranten bei Marcel Ragon, La legislation sur<br />

les emigres, 1789-1825. Paris 1904, hier 125 ff. <strong>Die</strong> Texte jeweils im Annex,<br />

hier 293 ff.<br />

36) Vgl. dazu als definitives Standardwerk Andre Gain, La Restauration et les<br />

biens des entigreso La legislation concernant les biens nationaux de seconde<br />

origine et son application dans l'Est de la France (1814-1832). These Paris.<br />

2 Vols. Nancy 1929, <strong>und</strong> als Übersicht über die Geschichte der Emigration<br />

Jean Vidalenc. Les emigres frafflis, 1789-1825. Caen 1963, bes. 434ff.<br />

3 ') Ragon, Legislation (wie Anm. 35), 141 ff.<br />

38) Vgl. H. Dard, De la restitution des biens des emigres. Paris 1814, <strong>und</strong> Falcon<strong>net</strong>,<br />

Lettre ä S. M. Louis XVIII. sur la vente des biens nationaux. Paris<br />

1814, als Beispiele für die intensive öffentliche Diskussion, die bei Ragon,<br />

Legislation (wie Anm. 35), 143 ff., ausführlicher referiert wird. Für Dard<br />

wurde 1825 eine Geldsammlung begonnen, um ihn für seine Verdienste um<br />

die emigrantenfre<strong>und</strong>liche Publizistik zu belohnen; vgl. Rene Caisso, La<br />

vente des biens nationaux de seconde origine et les mutations foncieres dans<br />

le district de Tours, 1792-1830. Paris 1877, 41.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 39<br />

prinzipielle Möglichkeit einer Enteignung mit angemessener Entschädigung<br />

andererseits legten eine Lösung des Besitzproblems auf<br />

dem Entschädigungsweg nahe: <strong>Die</strong> Emigranten konnten in dieser<br />

Deutung als enteig<strong>net</strong>e Staatsbürger gelten, denen man eine Entschädigung<br />

schuldete.") In seiner letzten Adresse an die Kammern<br />

hatte Ludwig XVII I. noch seine Absicht verkünden können, die<br />

Entschädigungsfrage angehen <strong>und</strong> damit die „letzten W<strong>und</strong>en der<br />

Revolution" schließen zu wollen.") Zwar hatte man den Emigranten<br />

schon seit dem erwähnten Gesetz vom Dezember 1814 ihre noch<br />

nicht verkauften Güter, vor allem Waldbesitz, zurückerstattet"),<br />

doch hatte dies noch längst nicht alle einschlägigen Probleme lösen<br />

können. <strong>Die</strong> Forderung nach einer Entschädigung blieb auf der Tagesordnung.<br />

Dabei muß bedacht werden, daß die adeligen Emigranten, um<br />

die es in allen Diskussionen vorrangig ging, nur einen relativ<br />

schmalen Anteil aller politischen Emigranten ausmachten, die<br />

Frankreich während der verschiedenen Phasen der Revolution verlassen<br />

hatten, ihr Anteil lag unter dem des Klerus <strong>und</strong> des dritten<br />

Standes. Von den etwa 150000 bis 200 000 Emigranten lassen sich<br />

nur ca. 25000 adelige Emigranten ausmachen») <strong>Die</strong>s <strong>und</strong> die kaum<br />

bestrittene Tatsache, daß die adeligen Emigranten insgesamt kaum<br />

39)So argumentierte jedenfalls Chateaubriand in seinem 2. Brief an einen<br />

Pair de France, in: ders., Melanges Politiques. Edition critique par Louis<br />

Louvet. Paris o.J., 343; ebd. auch zur Vorgeschichte des Gesetzesprojekts im<br />

Jahre 1814.<br />

40)Zit. n. Alphonse de Lamartine, Geschichte der Restauration. Bd. 8. Stuttgart<br />

1853, 18 u. 29 ff. Vgl. auch Andre Jardin/Andre J. Tudesq, La France des<br />

Notables. L'evolution generale 1815-1848. Paris 1973, 72 ff., über Rentenumwandlung<br />

<strong>und</strong> Entschädigung. — Ein erster Gesetzesantrag zur Indemnität<br />

der Emigranten war im Juni 1824 wegen der damit verb<strong>und</strong>enen zwangsweisen<br />

Rentenumwandlung in der Pairskammer gescheitert. Vgl. Sherman Kent,<br />

The Election of 1827 in France. Cambridge, Mass. 1975, 6 Anm. 1, <strong>und</strong> ausführlich<br />

Marquant, Thiers et le baron Cotta (wie Anm. 10), 151 ff. (v.<br />

4. 6. 1824).<br />

41)Gesetz v. 5./6. Dezember 1814. Vgl. dazu Gain, Restauration (wie Anm.<br />

36), hier Vol. 1, 137 ff.<br />

42)So schätzt Patrice Higon<strong>net</strong>, Class, Ideology and the Rights of the Nobles<br />

during the French Revolution. Oxford 1981, 284. Haupt, Sozialgeschichte<br />

Frankreichs (wie Anm. 3), 130, spricht — wie Greer — von 17% Adelsanteil an<br />

der Emigration. — Allgemein dazu Greer, Incidence of Emigration (wie Anm.<br />

35), 18ff., <strong>und</strong> Vidalenc, Emigres (wie Anm. 36), 375 ff. — Letzte Schätzungen<br />

bei Sedillot, Coüt (wie Anm. 6), 21 f.


40 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

als notleidend zu betrachten waren"), bestärkt die Deutung, daß die<br />

Entschädigungsdebatte letztlich ein politisches Ziel hatte. Chateaubriand<br />

vermutete später in der Parlamentsdebatte, das Gesetz solle<br />

das „heilige" Besitzrecht stärken, der Marquis de Lally sprach von<br />

einer Rehabilitierung des Gr<strong>und</strong>besitzes.") Damit trafen die Beobachter<br />

durchaus richtig den Kern der Absichten des Ministeriums,<br />

das die Entschädigung anderer Vermögensverluste in der Revolutionszeit<br />

nicht erwog.<br />

<strong>Die</strong>se Beobachter stützten sich bei ihrer Bewertung des Vorgehens<br />

der Regierung auf die Erfahrung eines gescheiterten Gesetzesvorhabens<br />

zur Umwandlung der französischen Staatsrenten im Frühjahr<br />

1824. Angesichts der günstigen Kursentwicklung hatte die Regierung<br />

den Versuch unternommen, die fünfprozentigen Staatsanleihen,<br />

die seit Mitte Februar an der Börse zu 100% <strong>und</strong> bald darüber<br />

gehandelt wurden, in 3%ige Werte umzuwandeln, deren Ausgabekurs<br />

auf 75% festgelegt wurde, so daß damit zukünftig insgesamt<br />

eine vierprozentige Rendite zu erreichen war. <strong>Die</strong> Regierung wußte<br />

sehr wohl, daß viele Rentenbesitzer ihre Papiere zu 80, z. T. sogar<br />

50% ihres Nominalwertes erworben hatten, ja noch geringere Sätze<br />

wurden bekannt. Das Kalkül der Regierung lief darauf hinaus, den<br />

Rentiers zwar eine Verminderung ihrer aktuellen Rendite zuzumuten,<br />

sie dafür aber mit der Aussicht auf eine weitere Kapitalvermehrung<br />

<strong>und</strong> ein Steigen der Kurse zu entschädigen. Es war durchaus<br />

angemessen, eine baldige Steigerung der zu 75% des Nominalwertes<br />

ausgegebenen Rentenpapiere zu erwarten.") <strong>Die</strong>ses Gesetz, dessen<br />

erhoffter Gewinn bei etwa 30 Millionen Francs gelegen hätte, scheiterte<br />

ausgerech<strong>net</strong> in der Pairskammer, nachdem es in der Deputiertenkammer<br />

schon akzeptiert worden war. In der Öffentlichkeit galt<br />

dieses Vorhaben als allzu deutlicher Griff in die Taschen der bürgerlichen<br />

Rentiers; vor allem die Tatsache, daß die Umwandlung nicht<br />

43)Zur rechtlichen Stellung des Adels in der Restauration vgl. Alain Texier,<br />

Qu'est-ce que la noblesse? Paris 1988, 114ff. Auskünfte über den Anteil des<br />

gr<strong>und</strong>besitzenden Adels in den beiden Kammern bei Thomas D. Beck,<br />

French Legislators, 1800-1834. A Study in Quantative History. Los Angeles<br />

1974, <strong>und</strong> Patrice B. Higon<strong>net</strong>, La Composition de la Chambre des Deputes<br />

de 1827 ä 1831, in: RH 239, 1968, 351-379.<br />

44)Zit. in Jean-Paul Garnier, Charles X. Le Roi – Le Proscrit. Paris 1967. 47.<br />

45)Zu den Einzelheiten vor allem Jean Fourcassi, Villele. Paris 1954, 275ff.,<br />

<strong>und</strong> Emmanuel Beau de Loiniwie, La carriere politique de Chateaubriand de<br />

1814 ä 1830. Vol. 2. Paris 1929, 126ff., <strong>und</strong> die neuere Zusammenfassung bei<br />

Jardin/Tudesq, La France des notables (wie Anm. 40), 72ff.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 41<br />

fakultativ angeboten, sondern verpflichtend gemacht wurde <strong>und</strong><br />

auch die kleinen Renten nicht aussparte, hatte es diskreditiert. Damit<br />

war auch das Vorhaben der Emigrantenentschädigung betroffen,<br />

denn den erhofften Umwandlungsgewinn von ca. 30 Millionen<br />

hatte Villele für diesen Zweck vorgesehen. An eben dieser Summe<br />

sollte sich auch der nächste <strong>und</strong> angesichts des Meinungsklimas<br />

nicht aufzuhaltende Versuch einer Entschädigung der Emigranten<br />

im folgenden Jahr orientieren.<br />

Tatsächlich schien die Situation nach dem Amtsantritt Karls X.<br />

im September 1824 extrem günstig: <strong>Die</strong> aus der Niederlage von<br />

1815 resultierenden Auslandsschulden waren weitgehend abgetragen,<br />

der spanische Krieg glücklich beendet, die Finanzen in erstaunlich<br />

gutem Zustand. Das Ministerium verfügte in der Deputiertenkammer<br />

über eine solide Mehrheit.") Der Anteil von Adeligen in<br />

dieser Kammer hatte mit 58% seinen höchsten Stand erreicht, er war<br />

noch höher als in der berüchtigten „chambre introuvable" von<br />

1816, ja man sprach sogar von der „chambre introuvable retrouvee".<br />

47) Offiziell standen 413 Royalisten gerade einmal 17 oppositionelle<br />

Abgeord<strong>net</strong>e gegenüber. Zudem ließ die verfassungsrechtlich<br />

problematische neue „septennalite" der Kammer eine lange politische<br />

Ruheperiode erwarten, die bis dahin üblichen jährlichen<br />

Nachwahlen mit ihren zuweilen unkontrollierbaren politischen Risiken<br />

waren passe: die Regierung hatte zudem in den Departements<br />

alles getan, um ihre Anhänger wählen zu lassen.")<br />

Man wird feststellen können, daß die konservative Regierungsmehrheit<br />

der Kammern in der sicheren Erwartung lebte, daß die<br />

Regierung für die Gewährung der „septennalite" jetzt endlich die<br />

Entschädigungen durchsetzen sollte.") Immer wieder hatten die<br />

46)Beck, French Legislators (wie Anm. 43), bes. 94ff.<br />

47)Jean Becarud, La noblesse dans les Chambres sous la monarchie censitaire,<br />

in: Rev. Int. d'Hist. Politique et Constitutionelle 1953, 189 ff.: vgl. auch<br />

Beck. French Legislators (wie Anm. 43), 86 ff.<br />

48)Vgl. etwa den detaillierten Bericht über Einzelheiten der Wahlvorbereitung<br />

im Departement Vaucluse im Jahre 1824 hei Fernand Sauve, Les dessous<br />

d'une election legislative en province en 1824 d'apres le car<strong>net</strong> d'un<br />

sous-prefet d'Apt, in: L'ceuvre nouvelle 2, 1904, 49-60, <strong>und</strong> die Beobachtungen<br />

bei Paul Bastid. Les institutions politiques de la monarchie parlementaire<br />

francaise (1814-1848). Paris 1954, 104 ff. — Für die Wahlen von 1827<br />

vgl. die gründliche Analyse bei Kent, Election of 1827 (wie Anm. 40), 130 ff.<br />

49)Zum politischen Programm der Ultra-Royalisten vgl. Fernand Baldensberger.<br />

Le mouvement des idees dans l'emigration francaise (1789-1815).


42 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

Emigranten die Dringlichkeit der Entschädigungen hervorgehoben,<br />

schon im Sommer 1824 waren während der Wahlversammlungen<br />

Petitionen formuliert worden, die im „Interesse der Eintracht <strong>und</strong><br />

der Moral- eine Entschädigung der Emigranten forderten.') In<br />

einer an den Comte de Villele gerichteten kritischen Bestandsaufnahme<br />

der innenpolitischen Situation Frankreichs im August 1824<br />

stellte der Abgeord<strong>net</strong>e Berryer ein „mecontentement general" fest;<br />

man beschwere sich auf konservativer Seite nicht nur über Machtmißbrauch<br />

<strong>und</strong> Machenschaften bei den Wahlen, man sei auch über<br />

schnell bewilligte Staatsausgaben beunruhigt. Um so mehr sei man<br />

davon betroffen, daß man nicht die „choses demandees pour les<br />

emigres" erhalten habe. Der Verfasser empfahl weiter, für die Emigrantenfrage<br />

eine Kommission zu bilden, um den tatsächlichen<br />

Stand der Verluste festzustellen. Eine solche Kommission „imposera<br />

silence, donnera une premiere satisfaction et peut travailler<br />

pendant deux ans au moins avant qu'on soit en etat de deinander un<br />

projet de loi".51)<br />

<strong>Die</strong>ses taktische Konzept für eine Bereinigung des Emigrantenproblems<br />

konnte angesichts der günstigen politischen Voraussetzungen<br />

jedoch schon erheblich früher verwirklicht werden. Ohne Zweifel<br />

verband die Regierung mit der ins Auge gefaßten finanziellen<br />

Entschädigung auch die Absicht, den großen ländlichen Besitz zu<br />

stärken <strong>und</strong> damit das konservative Lager insgesamt zu stabilisieren»)<br />

Es besteht kein Zweifel daran, daß schon die Einbringung<br />

des Gesetzesvorschlags in die Kammern diesen Zweck erfüllte; er<br />

war ein politisches Signal. Kurz nachdem dies geschehen war,<br />

brachte der Prinz von Polignac dem Präsidenten des Ministerrats,<br />

2 Vols. Paris 1924-1926, <strong>und</strong> spezieller Nora Hudson, Ultra Royalism and<br />

the French Restauration. Cambridge 1936, 107ff.<br />

50) Vgl. Jean Pidancet, L'indemnite aux emigres en Cöte-d'Or (1824-1830),<br />

in: AnnBourg 23, 1951, 157-171, hier 157. Nach Bastid, Institutions (wie<br />

Anm. 48), 104E, gehörte die Entschädigung der Emigranten geradezu zum<br />

Programm Villeles für diese Wahlen. Vgl. freilich demgegenüber die persönliche<br />

Haltung Villeles dem Gesetz gegenüber.<br />

01 ) <strong>Die</strong> Denkschrift von Berryer Pils in: Memoires et correspondances du<br />

Comte de Villele. Vol. 5. Paris 1890, 99 u. 104.<br />

") Zu dieser These Gain, Restauration (wie Anm. 36), hier Vol. 2, 418. Four-<br />

Villele (wie Anm. 45), 318, spricht von der langfristigen Absicht Villeles,<br />

die Stabilisierung der Position des Adels mit der Entschädigung zu sichern<br />

<strong>und</strong> die oft liberal wählenden kleinen Landbesitzer („detestables")<br />

zugunsten des Großgr<strong>und</strong>besitzes zu schwächen. Zuletzt zustimmend dazu<br />

Furet, La Revolution (wie Anm. 2), 296.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 43<br />

Villele, gegenüber seine „wahrhaftige Genugtuung" zum Ausdruck,<br />

daß die Regierung endlich den richtigen Schritt unternommen<br />

habe.") In die gleiche Richtung zielten auch die Bewilligungen von<br />

Pensionen für die Schweizersoldaten, die am 10. August 1792 den<br />

König in den Tuilerien verteidigt hatten, <strong>und</strong> für die Aufständischen<br />

der Vendee.")<br />

<strong>Die</strong>se „querelle de l'ancienne France et de la France nouvelle, de<br />

l'emigration et de la revolution" – wie es Guizot ausdrückte") –<br />

prägte in diesen Jahren das politische Leben Frankreichs, beide Parteien<br />

standen sich unversöhnlich gegenüber. In der Zeitung „Le<br />

Commerce" hieß es: „II s'agit de prouver ä tous les Francais victimes<br />

de la banqueroute, du papier monnaie et du maximum, que<br />

le respect dü ä la propriete (s'applique) dans toute sa force lorsqu'il<br />

s'agit des ernigres, mais qu'il est permis d'en faire abstraction ä<br />

l'egard des autres classes de citoyens." 56) Adolphe Thiers berichtete<br />

an die Redaktion der „Augsburger Allgemeinen Zeitung": „Jamais<br />

l'emigration ne fut plus depopularisee et accusee d'une plus vile avidite.<br />

Elle en est effrayee, la cour est aussi, et an dit que tout cela<br />

pourra retomber sur M. de Villele."") In einer der liberalen Regionalzeitungen,<br />

die sich am Vorbild der Pariser Meinungsführer<br />

orientierten, sprach man respektlos von einem „großen Festmahl"<br />

auf Kosten Frankreichs für jene, die schon immer die besten Plätze<br />

gehabt hätten. 58) Während der Kammerdebatten erschien auch eine<br />

aus liberaler Sicht geschriebene historische Darstellung der Emigration,<br />

die nicht zögerte, den Emigranten die Schuld für die Revolu-<br />

53)Der Brief in: Memoires et correspondances du Comte de Villele (wie<br />

Anm. 51), Vol. 5, 149.<br />

54)Vgl. Archives Parlementaires, Deuxieme Serie (= AP) 44, 533 ff. (v. 11.<br />

April 1825, betreffend eine Pension für die Schweizersoldaten), <strong>und</strong> Isser<br />

Woloch, The French Veteran from the Revolution to the Restoration. Chapel<br />

Hill 1979, 302. <strong>Die</strong> Erlasse waren zwischen 1818 <strong>und</strong> 1825 ergangen.<br />

") Guizot, Memoires, 110 (zit. n. Heinz-Gerhard Haupt. Nationalismus <strong>und</strong><br />

Demokratie. Zur Geschichte der Bourgeoisie im Frankreich der Restauration.<br />

Frankfurt am Main 1974, 332). – Zu Guizot vgl. Dirk Hoeges, Francois<br />

Guizot <strong>und</strong> die Französische Revolution. Bonn 1973.<br />

56)Hier zit. n. Charles Ledre, La Presse ä l'assaut de la monarchic 1815-1848.<br />

Paris 1960, 69.<br />

57)Zit. n. Marquant, Thiers et le baron Cotta (wie Anm. 10), 206.<br />

58)Nach Pidancet, L'indemnite (wie Anm. 50), hier 161. In den regionalen<br />

Auseinandersetzungen taten sich u.a. ehemalige federes hervor. Vgl. R. S.<br />

Alexander, Bonapartism and Revolutionary Tradition in France. The Federes<br />

of 1815. Cambridge 1991, 275.


44 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

tionskriege zuzuweisen.") Noch im Juni 1830, also kurz nach dem<br />

Auslaufen der Rentenzahlungen, wurde eine Karikatur veröffentlicht,<br />

auf der Adelige <strong>und</strong> hohe Kleriker gierig Geldsäcke aus einer<br />

wohlgefüllten Truhe rafften.")<br />

Auf der anderen Seite wurde auch den neuen, meist bürgerlichen<br />

Landbesitzern – man schätzt ihre Zahl durch inzwischen erfolgte<br />

Wiederverkäufe auf etwa 150000 61 ) – zunehmend bewußt, daß angesichts<br />

der latenten Spannungen <strong>und</strong> der neuen Taktik adeliger Emigranten,<br />

vor Gericht um ihren ehemaligen Besitz zu prozessieren<br />

<strong>und</strong> dabei auch vereinzelte Erfolge zu erzielen"), manche Argumente<br />

für eine definitive gesetzliche Regelung dieser Frage sprachen.<br />

Festzuhalten ist jedoch, daß der Erste Minister Joseph de Villele<br />

offensichtlich nicht mit ganzem Herzen hinter dem Gesetz <strong>und</strong><br />

seinen ultrakonservativen Absichten stand, <strong>und</strong> er in dieser Frage<br />

eher in der Pflicht des Königs <strong>und</strong> der Ultrakonservativen („une<br />

force superieure") stand, als sie aus eigener Überzeugung zu verfechten.<br />

<strong>Die</strong>se Differenzen dürften jedoch eher die weitgehenden<br />

politischen Intentionen des Gesetzes als dessen inhaltlichen Kern<br />

betroffen haben.")<br />

Seit dem Frühjahr 1824 arbeitete der Generaldirektor der Domänen<br />

M. de Martignac – der spätere Innenminister <strong>und</strong> Erste Minister<br />

des Jahres 1828 – an der administrativen Vorbereitung einer<br />

Entschädigungsregelung. Sie bestand im wesentlichen darin, daß im<br />

Staatsbudget für die anspruchsberechtigten Entschädigungsgüter im<br />

Wert von ca. 1 Milliarde Francs – dies ist der reale Kern der immer<br />

wieder zitierten „Entschädigungsmilliarde" – etwa 30 Millionen<br />

Francs für Entschädigungszwecke bereitgestellt werden sollten. Basis<br />

der Berechnungen sollte der mit dem Faktor 20 – im endgültigen<br />

59)Franfois de Moignes Montrol, Histoire de l'Emigration 1789-1825. Paris<br />

1825. Der 1799 geborene Verfasser war Redakteur bei liberalen Zeitungen.<br />

60)Abgebildet bei Furet, La Revolution (wie Anm. 2), 313.<br />

61)So die Zahl bei Foureassi, Villele (wie Anm. 45), 315.<br />

62)So Haupt, Nationalismus (wie Anm. 55), 91, <strong>und</strong> die Belege bei Gain,<br />

Restauration (wie Anm. 36), Vol. 1, 340 ff.<br />

63)<strong>Die</strong>s geht aus den Berichten von A. Thiers hervor, die er für die Augsburger<br />

Allgemeine schrieb. Vgl. Marquant. Thiers et le baron Cotta (wie Anm.<br />

10), 205 ff. (hier Bericht v. 11.2.1825, der davon spricht, „que M. de Villele<br />

desapprouve l'indemnite"). – <strong>Die</strong> Memoires et correspondances du comte de<br />

Villele (wie Anm. 51), hier vor allem der relevante Bd. 5, gehen leider auf die<br />

tieferen Beweggründe der Indemnitätspolitik <strong>und</strong> Villeles Distanz überhaupt<br />

nicht ein. Zur Biographie Villeles in dieser Phase: Fourcass&, Villele (wie<br />

Anm. 45), hier 311 ff., jedoch ebenfalls ohne diesen Punkt zu berühren.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 45<br />

Gesetz betrug der Multiplikator 18 – multiplizierte Jahresertrag der<br />

Güter im Jahre 1790 sein.") <strong>Die</strong>se spezielle Regelung galt für die<br />

nach den Prairialgesetzen des Jahres III veräußerten Güter, deren<br />

Wert nach den Erträgen des Jahres 1790 veranschlagt worden war;<br />

für die vor diesem Zeitpunkt verkauften Güter waren nur grobe<br />

Schätzungen vorgenommen worden, so daß die Besitzer dieser Güter<br />

sehr viel schlechter wegkamen. Der Entschädigungsbetrag von<br />

30 Mill. sollte in fünf Tranchen von Regierungsanleihen zu 3% zwischen<br />

1825 <strong>und</strong> 1829 ausgezahlt werden. Lediglich Rentenzahlungen<br />

unter 250 Francs wurden sofort ausgezahlt.<br />

<strong>Die</strong>se Entschädigung bezeich<strong>net</strong>e Martignac in seinem offiziellen<br />

Bericht an die Kammern zum Auftakt der parlamentarischen Behandlung<br />

als „Akt einer ges<strong>und</strong>en Politik" <strong>und</strong> der „Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> der Weisheit", als heilige Verpflichtung zum Ausgleich der<br />

Schäden der Revolution; große Ungerechtigkeiten erforderten<br />

große Entschädigungen, dies müsse in der Öffentlichkeit deutlich<br />

gemacht werden.") Darüber hinaus hatte er freilich auch den unsicheren<br />

Wert des Bodens im Auge. Vor einer abschließenden Regelung<br />

der Entschädigungsfrage blieben die ehemaligen Emigrantengüter<br />

schwer zu verkaufen. Sie waren im Landmarkt notorisch unterbewertet,<br />

weil kein potentieller Besitzer sich ihrer sicher fühlen<br />

konnte.") Eine der vielen Streitschriften sprach davon, daß ein normales<br />

Landgut, das etwa 10 000 Francs Rente bringe, 260000 Francs<br />

koste, während ein Nationalgut gleicher Größe höchstens 180000<br />

koste.") „Deux classes de propri&aires" (Pasquier) standen sich<br />

feindlich gegenüber, die Emigrantengüter galten als Güter "de se-<br />

64) Vgl. dazu den quantitativen Überblick über die nach Departements aufgeteilten<br />

anspruchsberechtigten Güter in: AP 42, 620-627, <strong>und</strong> die allgemeinen<br />

Darstellungen des Gesetzes bei Vidalenc, La Restauration (1814-1830). Paris<br />

1973, 88f., <strong>und</strong> ders., Emigrs (wie Anm. 36), 434ff.; eine Liste der tatsächlich<br />

bezahlten Entschädigungen im Vergleich zur Bevölkerungszahl <strong>und</strong> zur<br />

Emigrantenzahl nach Departements geord<strong>net</strong>, ebd. 377 f. Speziell für das<br />

Departement de l'Eure vgl. ders., Le Departement de l'Eure sous la monarchie<br />

constitutionnelle 1814-1848. Paris 1952, 238 ff. Für die Sarthe vgl. Charles<br />

Girault, La noblesse emigree et ses pertes foncires dans la Sarthe. Laval<br />

1957, 384 ff.<br />

") Abdruck des Berichts v. 3. Januar 1825, mit dem der Gesetzesvorschlag<br />

der Regierung in die Kammern eingebracht wurde, bei Irene Collins, Government<br />

and Society in France 1814-1848. London 1970, 40-44. Vgl. AP 42,<br />

594-603. Ebd. 603 f. auch der Text des Gesetzentwurfes.<br />

66)Vgl. Ragon, Legislation (wie Anm. 35), 164 u. 172.<br />

67)Nach ebd. 164.


46 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

conde origine". Eine Entschädigungsgesetzgebung mußte somit<br />

auch der Schlüssel zur Konsolidierung des gestörten Landmarktes<br />

sein. Lamartine schätzte später, daß die Entschädigung den Wert<br />

dieser Güter um insgesamt 2-3 Milliarden Francs steigen ließ.")<br />

Dabei ist freilich zu bedenken, daß die intensive adelige Öffentlichkeitsarbeit<br />

gegen die „nouveaux acquereurs" <strong>und</strong> für die Bewilligung<br />

von Entschädigungen nicht unschuldig am niedrigen Verkehrswert<br />

dieser Ländereien war, denn sie hatte diese Unsicherheiten<br />

bewußt geschürt.<br />

<strong>Die</strong> Emigranten hatten es keineswegs dem Zufall oder den normalen<br />

politischen <strong>und</strong> publizistischen Möglichkeiten überlassen, ihre<br />

Sache zu fördern. Seit 1821 kümmerte sich eine „Association constitutionelle<br />

pour la defense des interts legitimes" um die publizistische<br />

<strong>und</strong> politische Vertretung der Interessen der Emigranten <strong>und</strong> verstärkte<br />

den politischen Druck auf den König <strong>und</strong> die Regierung.")<br />

Ihr Gründer war ein gewisser Sarran, eine zwielichtige Gestalt aus<br />

dem Umfeld des bezahlten monarchistischen Journalismus.") Obwohl<br />

sich die Regierung von dieser Vereinigung offiziell distanzierte,<br />

hatte ihr Sekretär, der Vicomte de Botherel, in den meisten Departements<br />

keine Schwierigkeiten, mit Hilfe der generell wohlgesonnenen<br />

Präfekten 71) ein Netz von vertrauenswürdigen Korrespondenten aufzubauen<br />

<strong>und</strong> damit den öffentlichen Druck auf die Regierung zu verstärken»)<br />

<strong>Die</strong>se Assoziation kann als klassisches Modell einer<br />

außerparlamentarischen Interessenvertretung bezeich<strong>net</strong> werden,<br />

die sich dabei übrigens an englischen Vorbildern orientierte.<br />

68)Lamartine, Geschichte der Restauration (wie Anm. 40), Bd. 9, 31.<br />

69)Nach J. J. Oechslin, Le mouvement ultra-royaliste sous la Restauration.<br />

Son ideologie et son action politique (1814-1830). Paris 1960, 172 f. – Vgl.<br />

auch Vidalenc, Emigres (wie Anm. 36), 441, über die Förderung dieser Vereinigung<br />

durch Villele selbst. – Weiner, French Exiles (wie Anm. 5), druckt<br />

S. 203 eine adelige Eingabe an den König ab.<br />

70)Über ihn Kent, Elections of 1827 (wie Anm. 40), 98f. Über die Association<br />

vgl. auch Prosper Livn Duvergier de Hauranne, Histoire du gouvernement<br />

parlementaire en France. 19 Vols. Paris 1857-1871, hier Vol. 6, 405, sowie<br />

Gain, Restauration (wie Anm. 36), Vol. 1, 464. Sarran war auch Verfasser<br />

der einschlägigen Schrift: De la necessite et de la legitimite des demandes<br />

en indemnite ä raison des biens vendus par l'Etat et de toutes autres reclamations<br />

legitimes ä poursuivre par toutes voies et contre qui de droit au nom<br />

d'emigres ou autres Francais depossedes. Paris 1821.<br />

71)Vgl. dazu Nicholas Richardson, The French Prefectoral Corps 1814-1830.<br />

Cambridge 1966.<br />

72)Vgl. Pidancet. Indemnite (wie Anm. 50), hier 157f.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 47<br />

IV. <strong>Die</strong> parlamentarische Debatte um die Entschädigung<br />

Als die beiden Kammern im Frühjahr 1825 die Diskussionen über<br />

das Indemnitätsgesetz aufnahmen"), konnten sie auf ein historisches<br />

Vorbild einer Entschädigungsdebatte zurückgreifen, das zudem<br />

den meisten von ihnen durchaus vertraut war. Am 15. Dezember<br />

1790 hatte die Konstituante ein Entschädigungsgesetz erlassen,<br />

das allen aus Frankreich vertriebenen Protestanten die Rückkehr<br />

<strong>und</strong> die französische Staatsbürgerschaft gewährte. 74) <strong>Die</strong>ses Gesetz<br />

war den Abgeord<strong>net</strong>en des Jahres 1825 freilich nur deshalb vertraut,<br />

weil gerade ein Jahr vorher ein Abgeord<strong>net</strong>er die französische<br />

Staatsbürgerschaft des liberalen Deputierten Benjamin Constant angezweifelt<br />

hatte <strong>und</strong> dieser sich deshalb u.a. auf das Gesetz von<br />

1790 bezogen hatte. Im März 1824 hatte Constants Antrag eine<br />

Mehrheit erhalten, jedoch nur, weil es dem liberalen Deputierten<br />

General Foy – der auch in der Entschädigungsdebatte eine Rolle<br />

spielen sollte – gelungen war, einen indirekten Zusammenhang zwischen<br />

der Entschädigung der zurückkehrenden Hugenotten <strong>und</strong> der<br />

Rückkehr der Emigranten herzustellen. Damit wurde der Regierungsmehrheit<br />

klargemacht, daß eine Verweigerung der staatsbürgerlichen<br />

Rechte für Constant eine extrem ungünstige Vorbereitung<br />

des Entschädigungsgesetzes für die Emigranten sein mußte, das alle<br />

Welt erwartete:5)<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Debatten in den beiden Kammern bildete das<br />

schon erwähnte Vorhaben eines Gesetzes „sur l'indemnite ä allouer<br />

aux anciens proprietaires de biens-fonds confisques et vendus au<br />

profit de l'Etat en ex&ution des lois sur les emigres" vom 3. Januar<br />

") In die Deputiertenkammer eingebracht wurde das Gesetz am 3. Januar<br />

1825, nach dem Kommissionsbericht vom 11. Februar dauerte die Debatte<br />

bis zum 15. März, als die Deputiertenkammer das Gesetz annahm <strong>und</strong> an<br />

die Pairskammer weiterleitete. Dort erstattete die Kommission ihren Bericht<br />

am 6. April, die Debatte zog sich vom I I. bis 21. April. Am 23. April entschied<br />

die Deputiertenkammer definitiv über den von den Pairs veränderten<br />

Text.<br />

74)Vgl. Le Moniteur Universel (Reimpr.). Vol. 6. Paris 1861, 597f.<br />

75)Vgl. dazu Rudolf von Thadden, Das Mandat Benjamin Constants. Eine<br />

Gr<strong>und</strong>satzdebatte in der französischen Kammer 1824, in: Festschrift Percy<br />

Ernst Schramm zu seinem 70. Geburtstag. Bd. 2. Wiesbaden 1964, 154--168.<br />

<strong>Die</strong>se Debatte stellt auch einen Beweis für die Ergiebigkeit der Kammerdebatten<br />

für unsere Fragestellung dar. Vgl. auch Paul Bastid, Benjamin<br />

Constant et sa doctrine. Vol. 1. Paris 1966, 387 ff.


48 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

1825. 76) Es war von vornherein zu erwarten, daß die Teilnehmer an<br />

der parlamentarischen Debatte auf ganz verschiedenen Ebenen argumentieren<br />

würden. Vorderhand lassen sich wirtschaftlich-finanzpolitische<br />

<strong>und</strong> historisch-moralische Argumente unterscheiden; letztere<br />

sollen hier vor allem interessieren.") <strong>Die</strong> ersten Zweifel galten<br />

dem moralischen Recht der Kammern <strong>und</strong> ihrer Mitglieder, über<br />

diese Frage zu entscheiden, weil viele Mitglieder der Kammern am<br />

Ausgang des Gesetzgebungsverfahrens persönlich interessiert<br />

seien.") Man verwies zum anderen darauf, daß die Konfiskationen<br />

der adeligen Güter keineswegs aus Rache für die Emigration, sondern<br />

zur Bewahrung der nationalen Unversehrtheit durchgeführt<br />

worden seien. Der schon erwähnte General Foy warf den Emigranten<br />

sogar vor79), Frankreich verlassen <strong>und</strong> dem Land den Krieg gebracht<br />

zu haben. In gleicher Weise argumentierte Benjamin Constant.<br />

Für ihn waren die emigrierten Adeligen aufständische Bürger,<br />

<strong>und</strong> dies könne man nicht noch nachträglich rechtfertigen. Er stellte<br />

auch die kritische Frage, wer denn – wenn nicht der Adel – die Büros<br />

Napoleons bevölkert habe. Viele Bürger hätten Anspruch auf<br />

76)Knapper Überblick über die Debatte bei Vincent W. Beach, Charles X of<br />

France. His Life and Times. Boulder, Col. 1971, 184 ff.<br />

77)Zumal sie in der schon mehrfach zitierten, gründlichen Untersuchung<br />

von Gain praktisch keine Beachtung gef<strong>und</strong>en haben. Vgl. Vol. 1 (wie Anm.<br />

36). 586 ff., wo Gain davon spricht, daß „die Zahl der Redner <strong>und</strong> ihre Weitschweifigkeit"<br />

es verbiete, die Diskussionen im Detail zu verfolgen. <strong>Die</strong> niederländische<br />

Dissertation von Nicolaas Johannes Maarsen, De Strijd om de<br />

Revolutie in de Restauratie. Een onderzoek naar voorstellingen van politici<br />

omtrent de revolutie en de betekenis van deze voorstellingen voor hun politiek<br />

gedrag. Phil. Diss. Leiden 1976, geht auf die parlamentarische Diskussion<br />

ebenfalls nur sehr kursorisch ein. Knappe Zusammenfassung bei Vincent<br />

Beach, Indemnity Bill of 1825, in: Newman/Simpson (Eds.), Historical<br />

Dictionary (wie Anm. 79), Vol. 1, 509-514.<br />

") <strong>Die</strong>se Frage ist in der historischen Forschung lange umstritten gewesen,<br />

weil die Deputiertenkammer von 1824 bekanntlich einen extrem hohen Anteil<br />

(über 200) an ehemaligen Emigranten aufwies. Thiers (Marquant, Thiers<br />

et le baron Cotta [wie Anm. 101, 217 Anm. 1), spricht sogar von 249 Interessierten<br />

bei den Deputierten, während der k<strong>und</strong>ige Gain nur „etwa die<br />

Hälfte" der Mitglieder als interessiert ansieht. In der Pairskammer haben<br />

116 Mitglieder direkt vom Gesetz profitiert.<br />

79 ) Zu den einzelnen Deputierten der Kammer sind jeweils die persönlichpolitischen<br />

Charakterisierungen in: Biographie des Deputes de la Chambre<br />

septennale de 1824 ä 1830, Paris 1830, <strong>und</strong> die einschlägigen Artikel in Edgar<br />

L. Newrnan/Robert L. Simpson (Eds.), Historical Dictionary of France<br />

from the 1815 Restauration to the Second Empire. 2 Vols. New York/Westport<br />

1987, heranzuziehen.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 49<br />

eine Entschädigung: Ruinierte Rentiers, geschädigte Kaufleute, enttäuschte<br />

Gläubiger, von Requisitionen geschädigte Bauern. Alle<br />

diese Gruppen hätten jetzt auch noch die Entschädigung für die<br />

Emigranten aufzubringen.") Ohne Zweifel traf Constant damit die<br />

entscheidende Ungerechtigkeit des Indemnitätsgesetzes. Es ging<br />

ihm nicht um den generellen Ersatz von Verlusten während der Revolution,<br />

sondern um die Entschädigung der mehrheitlich adeligen<br />

Landbesitzer.<br />

In dieser Situation versuchte der Erste Minister, die Entschädigungen<br />

als Erfüllung, ja als Schlußstein der gesamten Restauration<br />

<strong>und</strong> der damit zu sichernden Einheit aller Franzosen zu deuten:<br />

Wer den Emigranten vorwerfe, ihr Land verlassen zu haben, müsse<br />

nach den Opfern derer fragen, die nicht das Land verlassen hätten;<br />

die Alternative habe nur zwischen der Emigration <strong>und</strong> der Guillotine<br />

bestanden. Hätte man heute – so fragte er – einen König, der<br />

Frankreich die Ordnung zurückgegeben habe, wenn er damals nicht<br />

in die Emigration gegangen sei? „Unsere öffentlichen Freiheiten,<br />

die Rückkehr des allgemeinen Friedens, die Wohlfahrt <strong>und</strong> das<br />

Glück, dessen wir uns erfreuen, wir schulden es der Emigration, die<br />

uns unsere Könige erhalten hat." Man sollte aufhören, aus der Emigration<br />

ein Verbrechen zu machen.") In der Pairskammer sprach<br />

man sogar davon, daß „die Emigration Pflicht" gewesen sei, weil<br />

die Ehre sie erfordert habe.")<br />

Auf der anderen Seite ließ er aber auch keinen Zweifel daran,<br />

daß dieses Gesetz von ihm keineswegs als Bestrafung der „neuen<br />

Landbesitzer" gedacht war, so wie das von seiten ultrakonservativer<br />

Adeliger intendiert war, die von „gestohlenem Eigentum" gesprochen<br />

hatten <strong>und</strong> bestenfalls eine Entschädigung für die bisherigen<br />

„neuen" Eigentümer zugestehen wollten.") Er würde das Gesetz lie-<br />

80)Constants Rede hier zit. n. Bastid, Constant (wie Anm. 75), Vol. 1, 396f.<br />

81)AP 43, 316.<br />

82)Vgl. Felix Conny de la Fay, Observations sur les confiscations revolutionnaires,<br />

et le projet de loi d'indemnite, 1825 (zit. n. Mellon, Political Uses [wie<br />

Anm. 4], 68). Andere Beispiele der zeitgenössischen Publizistik zur Indemnitätsfrage:<br />

N. Carre/C. Vanytel, Loi de l'indemnite explique par les motifs et<br />

la discussion. Paris 1825, <strong>und</strong> A. Madrolle, De la Revolution dans ses rapports<br />

avec ses victimes et particulierement avec les emigres. Paris 1824. Vgl.<br />

auch die in Anm. 70 zitierte Schrift von Sarran!<br />

") So hatte sich der Abg. Duplessis de Grenedan geäußert (Gain, Restauration<br />

[wie Anm. 36], Vol. I, 595). Zur Entschädigung der „neuen" Eigentümer<br />

der Vicomte de Beaumont in: AP 43, 279. — Zur ultrakonservativen Position


50 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

ber zurückziehen, als etwa allein die neuen Landbesitzer dafür zu<br />

besteuern oder gar eine Änderung der (lalle dafür hinzunehmen.")<br />

Der Protest der Ultrakonservativen gegen diese Erklärung<br />

zeigte, wie tiefgehend die Differenzen in dieser Frage waren <strong>und</strong><br />

welche weitreichenden Hoffnungen man in diesem Lager mit der<br />

„indemnite" verband. Hier sprach man ganz offen davon, daß das<br />

geplante Gesetz ein tödlicher Schlag gegen alle revolutionären Lehren<br />

sein müsse.')<br />

Gegen solche Versuche einer nachträglichen Revision der Revolution<br />

<strong>und</strong> ihrer Ergebnisse warf der liberale Abgeord<strong>net</strong>e Dupont<br />

de l'Eure ein:<br />

„Was ist das für ein Gesetzesvorhaben, das die ganze Vergangenheit in<br />

Frage stellt? Sie wollen der Revolution den Prozeß machen? Wollen Sie die<br />

Nation auf die Anklagebank setzen, die diese Revolution gewollt hat, <strong>und</strong><br />

30 Millionen Menschen dazu verurteilen, der Emigration öffentlich Abbitte<br />

zu leisten ?"8M1)<br />

Doch es wurde nicht nur Kritik aus der Richtung derer geäußert,<br />

die sich als Anhänger der Revolution oder Liberale gegen die Entschädigungen<br />

wandten, sondern auch von konservativer Seite, die<br />

das ganze, penibel berech<strong>net</strong>e Vorhaben als ein zu schäbiges Angebot<br />

abqualifizierte: Das Gesetz enttäusche alle Seiten; den Emigranten<br />

biete es zu wenig, um die Käufer ihrer Güter endgültig zu beruhigen;<br />

<strong>und</strong> es biete noch zuviel, um nicht jene Kritiker aufzuregen,<br />

die überhaupt nichts geben wollten. Auf dieser Seite der Kammer<br />

forderte der Abgeord<strong>net</strong>e La Bourdonnaye, die Entschädigungen<br />

geradezu als Bestrafung der Revolution zu definieren. Dagegen verwies<br />

ein M. Duplessis auf die fortbestehende <strong>und</strong> durch die Charte<br />

vgl. auch neben Hudson, Ultra Royalism (wie Anm. 49), Paul Thureau-Dangin,<br />

Royalistes et republicains. Paris 1874.<br />

") Vgl. Marquant, Thiers et le baron Cotta (wie Anm. 10), 210 (v. 25.2. 1825).<br />

Vgl. auch Garnier, Charles X. (wie Anm. 44), 48, der Villele zitiert: „Ce n'est<br />

ni une punition infligee aux uns, ni une recompense decernee aux autres,<br />

c'est une mesure indispensable au complement de la restauration, ä la re-<br />

Union de tous les Francais, ä la securite et ä la force du pavs."<br />

AP 44, 638 (Marquis de Villefranche).<br />

") Hier zit. n. Capetigue, Restauration (wie Anm. 34), Vol. 7, 126. Zu Capefigue<br />

<strong>und</strong> anderen Historikern der Restaurationszeit vgl. den Überblick hei<br />

Guillaume Berner de Sauvigny, La Restauration, essai d'historiographie, in:<br />

Rev. de la Soc. d'Hist. de la Restauration 1, 1987, 17-44. Ein ähnliches Argument<br />

hatte 1824 der Abbe de Pradt gebraucht, wenn er vom lndemnitätsgesetz<br />

als einem „Siegerrecht" sprach, das geeig<strong>net</strong> sei, „die ganze Revolution<br />

in Frage zu stellen" (hier zit. n. Ragon, Legislation [wie Anm. 351, 166).


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 51<br />

gesicherte Unverletzlichkeit des Eigentums, die eine Entschädigung<br />

erfordere. Er stellte sogar den Art. 9 der Charte in Frage, indem er<br />

die Unverletzlichkeit des Eigentums auf legitim erworbenes Eigentum<br />

begrenzte <strong>und</strong> damit de facto die revolutionären Besitzveränderungen<br />

aus der Garantie der Charte herausnahm.") Auf der ultrakonservativen<br />

Seite redete man sogar von der notwendigen Rückgabe<br />

der „gestohlenen" Güter.") Schließlich gab es auch Stimmen,<br />

die eine Wiedergutmachung des revolutionären Unrechts nur darin<br />

zu sehen vermochten, daß allein der Lauf der Zeit die W<strong>und</strong>en heilen<br />

könne. Parlamentarische Versammlungen seien nicht in der<br />

Lage, große historische Entscheidungen wie eine Revolution nachträglich<br />

zu reparieren. Für die konservativen Kritiker des Gesetzesvorhabens<br />

war gerade die mit dem Gesetz intendierte schwierige<br />

Verbindung von nachträglicher Sanktionierung der Revolution <strong>und</strong><br />

Beseitigung ihrer besitzrechtlichen Spuren ein unvereinbares Verfahren.<br />

<strong>Die</strong>se „monströse Mischung" von Gerechtigkeit <strong>und</strong> Revolutionsfurcht<br />

stelle einen tiefen Widerspruch dar.")<br />

Es kann nicht übersehen werden, daß in diese Debatte auch ein<br />

innenpolitisches Projekt hineinwirkte, das schon im Jahr 1824 für<br />

politische Unruhe im wohlhabenden Bürgertum gesorgt hatte <strong>und</strong><br />

damals nur dank der Ablehnung der Pairskammer zu Fall gebracht<br />

worden war. Dabei handelte es sich um den schon erwähnten Plan<br />

der Regierung, eine Umwandlung der Staatsrenten vorzunehmen.<br />

So naheliegend ein solcher Versuch für die Regierung sein mußte,<br />

so eindeutig war der Widerstand, nicht zuletzt deshalb, weil dies als<br />

ein Versuch interpretiert wurde, auf Kosten des wohlhabenden Bürgertums<br />

jene Gelder zu erhalten, die notwendig waren, um den Adel<br />

zu entschädigen. Schon in dieser Debatte hatte sich Villele gegen<br />

den Verdacht wehren müssen, als solle das Bürgertum zugunsten<br />

des Adels geplündert werden. Zwar habe der König versprochen,<br />

den Adel „mit den ersten Mitteln, die sich ohne Belastung des Volkes<br />

würden finden lassen", zu entschädigen, doch hier gehe es – so<br />

argumentierte er – vorrangig um das Staatsinteresse. Obwohl die<br />

Regierung in der Deputiertenkammer die Abstimmung gewonnen<br />

hatte, war die Opposition beachtlich stark gewesen, zumal sich auch<br />

Teile der Regierungsmehrheit unter dem abtrünnigen Chateaubri-<br />

") AP 43, 318.<br />

") So der Abgeord<strong>net</strong>e Duplessis de Grenedan am 21.2.1825 (hier zit. n.<br />

Gain, Restauration [wie Anm. 36], Vol. 1, 595).<br />

89 ) AP 45, 73 (Marquis de Duplessis de Grenedan).


52 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

and in dieser Frage der Opposition angeschlossen hauen. Damit<br />

hatte die parlamentarische Zusammenarbeit eigentlich konträrer<br />

Positionen gegen die Regierung begonnen, die gerade das konservative<br />

Lager so sehr beunruhigte.") So konnte es nicht erstaunen, daß<br />

ein Jahr nach dieser Debatte der Plan einer Entschädigung der Emigranten<br />

als die logische Fortführung dieser Rentenumwandlungspolitik<br />

zu Lasten der bürgerlichen Rentiers betrachtet wurde. <strong>Die</strong> Rentenumwandlung<br />

wurde schließlich gebilligt, freilich mit starken Veränderungen<br />

des ursprünglichen Konzepts, so daß sie jetzt nur mit<br />

Zustimmung der Rentiers durchgeführt werden konnte») Wichtig<br />

für die öffentliche Diskussion war jetzt auch, daß Villele jede, auch<br />

zeitliche Verbindung von Rentenumwandlung <strong>und</strong> Emigrantenentschädigung<br />

löste. Der im Endeffekt relativ niedrige Gewinn der<br />

Transaktion diente dazu, die Last der direkten Steuern zu mindern.<br />

Trotz heftiger Gegenwehr der wenigen liberalen Deputierten<br />

konnte die Opposition in der Deputiertenkammer keinerlei Hoffnung<br />

auf einen Sieg in der Sache der Emigrantenentschädigungen<br />

hegen, zumal hier ein erheblicher Teil der Abgeord<strong>net</strong>en von einer<br />

Entschädigungsregelung profitieren würde: „Notre Chambre des<br />

deputes ne nous donne aucune esperance", schrieb Thiers entmutigt<br />

nach Augsburg. 92) In der Pairskammer war dieser Erfolg noch weniger<br />

zu erhoffen. Auch hier wurde noch einmal die gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Frage berührt, als der liberale Duc de Broglie, auf der Seite der Opposition<br />

stehend, betonte, es gehe dabei nicht nur um Geld, sondern<br />

hier stehe die gr<strong>und</strong>sätzliche Forderung der Emigration nach voller<br />

Restituierung zur Debatte.<br />

„Das, was sie [die Adeligen, W. S.] eigentlich wollen, ... ist, daß die Indemnität<br />

eine Prinzipienerklärung sein soll; die Indemnität soll bedeuten,<br />

daß sie im Recht waren; daß sie allein für eine gute Sache gekämpft haben;<br />

daß die Rebellion von ihren Gegnern ausging; aber muß ich hinzufügen,<br />

daß eine solche Erklärung im gleichen Augenblick, mit gleichen Gründen<br />

<strong>und</strong> der gleichen Entrüstung 1/4 Frankreichs aufstehen ließe."")<br />

Damit war ein gr<strong>und</strong>sätzlicher Punkt der Debatte erreicht, der<br />

auch schon in der Deputiertenkammer berührt worden war: Es ging<br />

um die Revolution selbst, um ihre Legitimation <strong>und</strong> ihre Verbin-<br />

") Vgl. dazu das schon zitierte Memorandum Berryers vom 1. August 1824,<br />

in: Memoires et correspondances du Comte de Villele (wie Anm. 51), Vol. 5,<br />

99.<br />

91 ) Vgl. dazu Se›, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 34), 13d. 2, 150.<br />

02) Marquant, Thiers et le baron Cotta (wie Anm. 10), 210 (v. 25.2.1825).<br />

") AP 44, 510.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 53<br />

dung mit der Nation. Der Abgeord<strong>net</strong>e Devaux hatte diesen Zusammenhang<br />

hergestellt, als er ausführte:<br />

„<strong>Die</strong>ses Gesetz stellt das Prinzip <strong>und</strong> alle Wirkungen der Revolution in<br />

Frage; es ruft in allen politischen Parteien ihre eigenen Erinnerungen wach,<br />

es macht alle Streitigkeiten mit neuer Energie lebendig. Es akzeptiert nicht<br />

die Revolution als ein großes unteilbares <strong>und</strong> unumkehrbares Ereignis; es<br />

spaltet die Revolution auf, um hieraus die Unterschiede von Unheil <strong>und</strong> Privilegienangelegenheiten<br />

zu schöpfen. Aber die Revolution ist weder das<br />

Werk einer Partei noch der Fehler von einigen wenigen, noch die Dummheit<br />

der größten Zahl; sie ist das größte, komplizierteste <strong>und</strong> unvorhergesehenste<br />

Ereignis der ganzen Geschichte. Sie entzieht sich jeder Analyse. Ihr Ursprung<br />

liegt in der Vergangenheit verborgen, so schwierig zu entdecken wie<br />

die Quellen des Nils. Ihre tiefere Ursache liegt in der allgemeinen Bewegung<br />

der Geister, ebenso unwiderstehlich für die Welt der Moral wie die Bewegung<br />

der Gestirne für die physikalische Welt. Viel zu viele sind ihre Opfer<br />

gewesen, alle sind ihre Komplizen gewesen. Wenn es unmöglich ist, entsprechend<br />

den Fehlern, der Unklugheit, den Irrtümern <strong>und</strong> dem Unheil eines jeden<br />

die Verantwortung für sie zu fixieren, dann hat auch niemand ein Recht<br />

auf eine Entschädigung."")<br />

Mit den hier ausführlicher zitierten Argumenten war die Debatte<br />

um die Entschädigung der Emigranten definitiv zu einer nationalen<br />

Vergangenheitsbewältigung geworden: <strong>Die</strong> Attacke auf die Revolution,<br />

deren Fehler auch von den Liberalen nicht verschwiegen wurden,<br />

provozierte letztlich als Reaktion eine Nationalisierung der Revolution,<br />

die zum Werk aller Franzosen erklärt <strong>und</strong> damit aus der<br />

Zurechenbarkeit zu allein einer sozialen Gruppe herausgenommen<br />

wurde.<br />

<strong>Die</strong>ser Stand der Debatte war für Chateaubriand das Zeichen, für<br />

sich selbst einen publikumswirksamen Verzicht auf seine persönlichen<br />

Entschädigungsansprüche auszusprechen, dafür aber um so<br />

vehementer Rock <strong>und</strong> Schuhe für seine armen bretonischen Standesgenossen<br />

zu fordern, die mit „nackten Füßen" mit ihrem Monarchen<br />

gezogen seien, um ihre zerrissenen Stiefel für eine weitere<br />

Kampagne zu schonen.") Wie hoch auch immer die Summe gewesen<br />

sein mag, auf die Chateaubriand verzichtete, die Mehrzahl seiner<br />

adeligen Kollegen in den Kammern sah keinen vernünftigen<br />

Gr<strong>und</strong>, auf die Entschädigungssummen zu verzichten. An der<br />

Spitze stand das ohnehin schon hoch apanagierte Haus d'Orlans<br />

mit ca. 303 422 Francs Rentenentschädigung, es folgte der Duc de<br />

Choiseul mit 33000, der Duc de Liancourt mit 12846, der Marquis<br />

94)AP 43, 301.<br />

95)AP 44, 523.


54 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

de Lafayette mit 11687, Charles de Lameth mit 6051 Francs. <strong>Die</strong><br />

führenden Revolutionäre der ersten St<strong>und</strong>e, die jetzt die Häupter<br />

der Opposition in den Kammern waren, ließen sich ohne Bedenken<br />

diese Summen auszahlen, ihre Verwandten taten es ihnen gleich.<br />

Zwei Schwestern des Revolutionärs Saint Just erhielten eine Summe<br />

von je drei Francs.") Insgesamt wurden statt der vielbeschworenen<br />

"milliard des emigres" jedoch nur 866,5 Mill. Francs an Vermögensverlusten<br />

durch die Rentenzahlungen ausgeglichen, die tatsächlich<br />

ausgezahlte Summe betrug insgesamt nur 25,9 Millionen, blieb<br />

also unter allen Vorausberechnungen.") <strong>Die</strong>se Summe wurde auf<br />

etwa 30 000 Empfängerfamilien verteilt, von denen nur 16,2% weder<br />

dem Adel noch dem Klerus angehörten.") Der zeitgenössische Topos<br />

des „milliard des emigres" war in der Tat ein Propagandaschlagwort,<br />

das falsche Assoziationen erwecken sollte.") Der Gr<strong>und</strong><br />

für seine weitgehende Rezeption auch in der späteren Historiographie<br />

muß vor allem darin gesehen werden, daß Thiers, publizistischer<br />

Widersacher der Entschädigung im Jahre 1825, auch nach der<br />

Julirevolution an diesem Begriff festhielt, obwohl er als verantwortlicher<br />

Generalsekretär im Finanzministerium der Julimonarchie genau<br />

wußte, daß mit ca. 26 Mill. Renten erheblich weniger als eine<br />

Milliarde an Vermögenswerten ersetzt worden war. <strong>Die</strong> „Emigrantenmilliarde"<br />

bildete damit einen Teil jener politischen Mythenbildungen,<br />

an denen die Restaurationsepoche so reich war. Nach der<br />

Veröffentlichung des Entschädigungs- <strong>und</strong> des nicht minder umstrittenen<br />

Sakrileggesetzes, das auf klerikalen Druck hin durchge-<br />

") Alle Summen nach den vorsichtigen Berechnungen von Gain, Restauration<br />

(wie Anm. 36), Vol. 2, 231 ff. <strong>Die</strong> oft zitierten Summen der Gesamtkapitalien,<br />

für die die Renten von 3% gezahlt wurden, sind natürlich nicht die<br />

tatsächlich ausgezahlten Summen <strong>und</strong> erwecken somit einen falschen Eindruck,<br />

so etwa bei Rudolf von Thadden, Restauration <strong>und</strong> napoleonisches<br />

Erbe. Der Verwaltungszentralismus als politisches Problem in Frankreich<br />

(1814-1830). Wiesbaden 1972, 223.<br />

97)Gain, Restauration (wie Anm. 36), Vol. 2, 412. Gr<strong>und</strong>lage für alle Aussagen<br />

über die Praxis der Verteilung der Entschädigungssummen ist: Etats detaiNs<br />

des liquidations faites par la Commission d'indemnite en execution de<br />

la loi du 27 avril 1825. 10 Vols. Paris 1826-1830.<br />

98)Nach Gain, Restauration (wie Anm. 36), Vol. 2, 178. Eine knappe Zusammenfassung<br />

der quantitativen Ergebnisse jetzt auch bei Beach, Indemnity<br />

Bill of 1825 (wie Anm. 77).<br />

99)Darauf hat schon M. Marion hingewiesen. Vgl. Marcel Marion, Une legende<br />

historique: le millard des emigres, in: Le Correspondant v. 10. April<br />

1923, 113-123, hier 122 f.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 55<br />

setzt worden war'"), meldete Adolphe Thiers nach Augsburg, daß<br />

beide Gesetze eine allgemeine Verbitterung ausgelöst hätten.'"')<br />

Frankreich sei skeptisch <strong>und</strong> an Handel <strong>und</strong> Gewerbe orientiert.<br />

<strong>Die</strong>ses Land mit Priestern zu quälen oder ihm sein Geld wegzunehmen,<br />

seien zwei Mittel, um ihm den Eindruck zu vermitteln, daß<br />

seine Prosperität verschleudert werde. 102) <strong>Die</strong>se tiefsitzende Verbitterung<br />

wurde noch in späteren Phasen der französischen Geschichte<br />

sichtbar. So beschlossen die Kammern im Januar 1831 ein Gesetz,<br />

das den sog. „fonds commun", der für den Ausgleich von evidenten<br />

Ungerechtigkeiten vorgesehen war, ersatzlos strich <strong>und</strong> dessen Mittel<br />

– fast 4 Millionen Francs – an das Schatzamt zurückverwies.'")<br />

Eine ähnliche Reaktion war spürbar, als 1851 noch einmal vorgeschlagen<br />

wurde, zur Entlastung des Volkes auf die „Emigrantenmilliarde"<br />

zurückzugreifen.'")<br />

Zunächst einmal erlaubte der Sieg in den Kammern dem König<br />

jedoch, am 29. Mai in Reims sein Sacre in obsoleten Formen zu begehen,<br />

<strong>und</strong> damit erneut dem liberalen Bürgertum die Gefahr einer<br />

Abwendung von der Charte zu demonstrieren.<br />

Der von der Regierung angestrebte politische Effekt der Entschädigung<br />

wurde nach den Untersuchungen von Andre Gain keineswegs<br />

erreicht. <strong>Die</strong> älteren Behauptungen eines „immensen Effekts"<br />

der Entschädigungssummen (so noch Capefigue) trafen gewiß nicht<br />

zu 105), konnten schon deshalb nicht zutreffen, weil die Departements<br />

angesichts der regional stark differierenden Emigrationsquoten<br />

ganz unterschiedliche Entschädigungszahlungen erhielten.'")<br />

Das Gesetz bewirkte auch keinesfalls die erwünschte Stärkung des<br />

ultraroyalistischen Lagers, ganz im Gegenteil: <strong>Die</strong> Regierung Villele<br />

erlitt bei den Wahlen von 1827 eine eindeutige Niederlage <strong>und</strong><br />

mußte zurücktreten. 107) <strong>Die</strong> Jahre zwischen 1824 <strong>und</strong> 1827 gelten<br />

vielmehr als Phase einer „transformation profonde" des politischen<br />

l ") Vgl. Mary S. Hartmann, The Sacrilege Law of 1825 in France: A Study<br />

in Anticlericalism and Mythmaking, in: JModH 44, 1972, 21-37.<br />

101)Marquant, Thiers et le baron Cotta (wie Anm. 10), 225 (v. 21.4.1825).<br />

102)Ebd. 214 (v. 11. März 1825).<br />

103)Dazu Marion, Une legende historique (wie Anm. 99), hier 118, <strong>und</strong> Ragon,<br />

Legislation (wie Anm. 35), 186f.<br />

104)Dazu kurz Vidalenc, Emigres (wie Anm. 36), 447.<br />

105)Capefigue, Restauration (wie Anm. 34), Vol. 7, 131.<br />

' 06) Auch hierzu schon Marion, Une legende historique (wie Anm. 99), bes.<br />

120 ff.<br />

107 ) Vgl. de Sauvigny, Restauration (wie Anm. 9), 390 ff.


56 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

Klimas hin zur liberalen Bewegung'"), die von der Zersplitterung<br />

der Konservativen <strong>und</strong> den die Öffentlichkeit alarmierenden Versuchen<br />

der Regierung profitierte, die Presse schärfer zu kontrollieren:1<br />

Gewiß ist es ein Zufall, daß unmittelbar nach dem letzten<br />

der fünf Auszahlungstermine für die Entschädigungsgelder am<br />

20. Mai 1830 die Julirevolution ausbrach, aber man wird die Emigrantengesetzgebung<br />

gewiß jenen Faktoren zurechnen können, die<br />

das Regime Karls X. erheblich geschwächt haben."°) „Eine neue<br />

Generation", so hat es Andr e-Jean Tudesq formuliert, „erneuerte<br />

die Ideen, die Gefühle <strong>und</strong> die Worte, um ihnen Ausdruck zu verleihen.""')<br />

Adolphe Thiers, der scharfe Kritiker der Emigrantenentschädigung<br />

1824/25 <strong>und</strong> Staatssektretär der Julimonarchie, sprach<br />

1830 deutlich aus, daß die Hoffnungen auf Versöhnung aus dem<br />

Jahre 1825 getrogen hätten.' ' 2 ) Er war es auch, der für eine Kürzung<br />

der noch zur Verfügung stehenden Entschädigungsmittel plädierte.<br />

<strong>Die</strong> Kehrtwende in der Entschädigungspolitik wurde vollends deutlich,<br />

als die Kammern 1833 ein Gesetz beschlossen, das Pensionen<br />

für die überlebenden „vainqueurs de la Bastille" aussetzte." 3) Ohne<br />

die „Entschädigungsmilliarde" des Jahres 1825 wären die skurrilen<br />

Pensionen für die Sieger der Bastille kaum denkbar gewesen.<br />

Der tatsächliche wirtschafts-, sozial- <strong>und</strong> mentalitätsgeschichtliche<br />

Langzeiteffekt dieser umkämpften „Entschädigungsmilliarde"<br />

war mit großer Sicherheit eine nur sehr begrenzte Stärkung <strong>und</strong> Modernisierung<br />

der großen Güterkomplexe.'") Neben der schon er-<br />

108) Dazu Pamela Pilbeam, The Growth of Liberalism and the Crisis of the<br />

Bourbon Restauration, in: HJ 25, 1982, 351-366.<br />

X00) Dazu Irene F. Collins, The Governmcnt and the Press in France, 1822 to<br />

1827, in: EHR 66, 1951, 51-66, <strong>und</strong> jetzt Maryse Maget-Dedominici, La „Loi<br />

de Justice et d'Amour" ou la liberte de la presse? Etude d'un mouvement oppositionnel<br />

en France (1826-27), in: SZG 40, 1990, 1-29.<br />

10 ) Zu den langfristigen Voraussetzungen der Revolution von 1830 vgl. David<br />

Pinkney. The French Revolution of 1830. Princeton 1972, bes. 44 ff. Speziell<br />

zu den Unruhen der 20er Jahre Edgar L. Newman, The Blouse and the<br />

Frock Coat: the Alliance of the Common People of Paris with the Liberal<br />

Leadership and the Middle Class during the last Years of the Bourbon Restoration,<br />

in: JModH 46, 1974, 26-69.<br />

"') So Tudesq in: Georges Duby (Ed.), Histoire de la France. Paris 1970, 381.<br />

"2) Nach Vidalenc, Emigres (wie Anm. 36), 449.<br />

"3) Dazu unten S. 61.<br />

14) Wolfgang Mager, Frankreich vom Ancien Regime zur Moderne. Wirtschafts-,<br />

Gesellschafts- <strong>und</strong> politische Institutionengeschichte 1630-1830.<br />

Stuttgart 1980, 210, <strong>und</strong> ders., Soziale Ungleichheit <strong>und</strong> Klassenstrukturen


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 57<br />

wähnten starken regionalen Differenzierung der Entschädigungen<br />

muß auch bedacht werden, daß die Entschädigungssummen ja nicht<br />

in bar, sondern in Rentenpapieren zu 3% ausgezahlt wurden, dazu<br />

noch in fünf Tranchen. Da diese 3%igen Papiere nach ihrer Emission<br />

aber noch lange unter ihrem Ausgabekurs gehandelt wurden,<br />

hätten die Empfänger sie nur mit erheblichen Verlusten zu Kapital<br />

machen können. Ein schneller Landrückkauf in großem Stil konnte<br />

deshalb nicht beobachtet werden.<br />

In der Forschung gilt es immer noch als umstritten, ob es nach<br />

der Entschädigung der Emigranten tatsächlich zu einer gewissen<br />

Angleichung der Interessen adeliger <strong>und</strong> bürgerlicher Gr<strong>und</strong>besitzer<br />

kam." 5 ) So sehr auch gemeinsame Interessen etwa in der Vermarktung<br />

agrarischer Produkte bestanden, so blieben doch die Differenzen<br />

bestehen, die die Herkunft des Bodeneigentums betrafen.<br />

Unabhängig davon kann jedoch nicht bezweifelt werden, daß die<br />

Entschädigungsaktion den Immobilienmarkt erheblich beruhigte;<br />

die latente Unsicherheit war ihm genommen, es gab kein Land „erster"<br />

<strong>und</strong> „zweiter Klasse" mehr, ja, man wird sagen können, daß<br />

die wahren Gewinner des lndemnitätsgesetzes die Masse der<br />

„neuen Besitzer" war, die sich einer beachtlichen Wertsteigerung ihrer<br />

Güter bewußt wurden. Insofern mag das „Entschädigungsgesetz"<br />

tatsächlich eine gewisse Rolle in der Versöhnung der „deux<br />

Frances" gespielt haben' ' 6), wobei der symbolische Wert des Gesetzes<br />

gewiß höher zu veranschlagen ist als der tatsächlich meßbare sozial-<br />

oder wirtschaftspolitische Effekt. Es muß jedoch festgehalten<br />

werden, daß sich Departements mit hohem Nationalgüteranteil in<br />

der Wahlsoziologie des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts weiterhin als „liberale"<br />

Departements erwiesen.<br />

Paul Leuillot hat die Meinung vertreten, daß die Restauration<br />

u. a. durch die Entschädigungsregelung, aber auch durch das Majoratsrecht<br />

von 1826 auf dem Gebiet der Eigentumsordnung partiell<br />

in Frankreich 1630-1830, in: Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Klassen in der<br />

europäischen Sozialgeschichte. Göttingen 1979, 84. Vgl. auch Haupt, Sozialgeschichte<br />

Frankreichs (wie Anm. 3), 134, zur steckengebliebenen Verbürgerlichung<br />

des Adels.<br />

" 5 1 Vgl. dazu vor allem Haupt, Nationalismus (wie Anm. 55), bes. 88 ff., <strong>und</strong><br />

jetzt David I liggs, Nobles in Ni<strong>net</strong>eenth-Century France. The Practice of<br />

Inegalitarianism. Baltimore/London 1987, 102 ff.<br />

"') So argumentiert Gain, Restauration (wie Anm. 36), Vol. 2, 442, im Einklang<br />

mit Lamartine, der von einer „Versöhnung der Klassen <strong>und</strong> der Herzen"<br />

gesprochen hat.


58 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

sogar das Werk der Revolution <strong>und</strong> des Empire beseitigt habe.")<br />

Paul Bois hat für den Westen Frankreichs sogar von einer Stärkung<br />

der Rolle des Adels im Dorf gesprochen. Dort habe er sogar eine<br />

Rolle spielen wollen, an die er vor der Revolution gar nicht gedacht<br />

habe. 18) Tudesq <strong>und</strong> Agulhon haben demgegenüber – wie schon<br />

Gain – keinen Einfluß der Entschädigungen auf die Entwicklung<br />

des Gr<strong>und</strong>besitzes ausmachen wollen, es habe keine Wiederbelebung<br />

der „mceurs agricoles" gegeben: „Pas de re-feodalisation, pas<br />

de retour ü la terre." Insgesamt habe eher eine Einschmelzung der<br />

Unterschiede zwischen adligen <strong>und</strong> bürgerlichen Landbesitzern<br />

stattgef<strong>und</strong>en.') Tatsächlich hatte schon Villele 1824 aus sozialkonservativer<br />

Sicht den starken Trend der Landbesitzer zum Leben in<br />

der Stadt kritisiert.")<br />

V. Resümee<br />

Zwischen 1815 <strong>und</strong> 1830 konnte Frankreich nur ein sehr ambivalentes<br />

Verhältnis zu seiner jüngsten, revolutionären Vergangenheit<br />

entwickeln. <strong>Die</strong> Revolution war noch gegenwärtig in ihren Teilnehmern,<br />

Tätern <strong>und</strong> Opfern, die Historiker konnten sich noch auf<br />

Zeitzeugen der Revolution stützen. Ihre Wirkungen prägten nicht<br />

nur die Sozial- <strong>und</strong> Besitzstruktur des Landes, sie blockierten teil-<br />

" 7 ) Paul Leuillot, hier zit. n. Haupt, Nationalismus (wie Anm. 55), 91, der<br />

sich dieser Auffassung anschließt. Insgesamt zur Frage der Wirkungen der<br />

Revolution auf die soziale Position des Adels vgl. die Übersicht bei Rolf Reiehardt/Eberhard<br />

Schmitt, <strong>Die</strong> Französische Revolution — Umbruch oder<br />

Kontinuität, in: ZHF 7, 1980, 257-320, hier 296. <strong>Die</strong> neue Untersuchung von<br />

Higgs, Nobles (wie Anm. 115), 58, wehrt sich gegen die These einer Verarmung<br />

des Adels in der Revolution <strong>und</strong> behauptet praktisch das Gegenteil.<br />

" 0 ) Paul Bois, Paysans de l'Ouest. Paris/Den Haag 1960, 319-321.<br />

" 9) So Jardin/Tudesq, La France des notables (wie Anm. 40), 75. <strong>und</strong> im<br />

gleichen Sinne schon Andre J. Tudesq, Les survivances de l'Ancien Regime:<br />

la noblesse dans la societe francaise de la premiere moitie du XIXe siede,<br />

in: Daniel Roche/Ernest Labrousse (Eds.), Ordres et Classes. Colloque<br />

d'histoire sociale Saint-Cloud 24-25 mai 1967. Paris 1973, 199-214, hier<br />

208f. Ähnlich argumentiert auch Maurice Agulhon, in: Georges Duby (Ed.),<br />

Histoire de la France rurale. Vol. 3: Apogee et crise de la civilisation paysanne,<br />

1789-1914. Paris 1976, 88f. Vgl. auch Gain, Restauration (wie Anm.<br />

36), Vol. 2, 430.<br />

120) So Villele in einer interessanten Analyse der sozialen Tendenzen schon<br />

der 20er Jahre, in: Memoires et correspondances du Comte de Villele (wie<br />

Anm. 51), Vol. 5, 142 (31.10.1824).


W Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 59<br />

weise auch den wirtschaftlichen Kreislauf des Bodenbesitzes.<br />

Gleichwohl läßt sich zeigen, wie die partielle Akzeptierung der Revolution,<br />

die sich in der Charte <strong>und</strong> in der Festschreibung der Besitzumwälzungen<br />

offenbart hatte, den Beginn einer allmählichen<br />

Besitzergreifung der Revolution durch die Nation andeutete. <strong>Die</strong><br />

unbezweifelbare Bindung der Mehrheit der Franzosen an die Vorgänge<br />

der Revolution <strong>und</strong> an deren Ergebnisse ließ eine Art von<br />

elementarer Affinität an diese Ereigniskette entstehen, die auf irgendeine<br />

Weise mit der Biographie aller Menschen verflochten war.<br />

Das ehemalige Mitglied des Konvents, Barere, schrieb 1825, daß die<br />

von ihren Feinden so diskreditierte Revolution „unsere Sitten, unsere<br />

Gesetze, unsere Gewohnheiten, unsere Bedürfnisse, unsere Gefühle"<br />

unauslöschlich geprägt habe: 2 ') So wie die liberale Historiographie<br />

die Revolution als einen notwendigen Entwicklungsschritt<br />

der europäischen Zivilisation bezeich<strong>net</strong>e <strong>und</strong> sie damit im Kern<br />

akzeptierte, so entstand trotz eines ungünstigen politischen Klimas,<br />

trotz der restaurativen Bemühungen des Königtums, des Klerus <strong>und</strong><br />

des Ultraroyalismus ein bemerkenswertes neues Bild der Revolution.<br />

Auf den ersten Blick muß dieses Bild erstaunen, wenn man an<br />

die revolutionsfeindliche Historiographie späterer Perioden, aber<br />

auch an die vordergründige Stärke des „pays legal" denkt.<br />

Wie läßt sich dieser Vorgang erklären? Der Ausgangspunkt dieses<br />

komplizierten Vorgangs scheint mir – neben der äußeren Bedingung<br />

der Pressefreiheit – die fortschreitende Gleichsetzung von Revolution<br />

<strong>und</strong> Nation zu sein: In Formulierungen wie „Soll der Revolution<br />

der Prozeß gemacht werden?", „Soll die ganze Vergangenheit in<br />

Frage gestellt werden?" oder in der Feststellung, daß die überwiegende<br />

Mehrheit Frankreichs die Revolution getragen habe, liegt zugleich<br />

die Unmöglichkeit, die politische Restauration tatsächlich zu<br />

einer Restituierung der alten Ordnung werden zu lassen. <strong>Die</strong>ses<br />

Gr<strong>und</strong>argument war auch von der politischen Führung der Restauration<br />

nicht ernsthaft in Frage zu stellen, dahinter standen die vom<br />

Duc de Broglie erwähnten 7/8 der Franzosen. Schließlich bewirkte<br />

auch die Neigung der katholischen Konservativen, die Revolution<br />

als eine gerechte Strafe Frankreichs für die Sünden des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu betrachten, eine Tendenz zur fatalistischen Annahme der<br />

Ergebnisse der Revolution, nicht unähnlich der historiographischen<br />

„8cole fataliste". „In allen Revolutionen", sagt de Maistre, „be-<br />

121 ) Massio, Bertrand Barere (wie Anm. 24), 507.


60 Historische Zeitschrift Band 257 (1993)<br />

ginnt das Volk, indem es recht hat, <strong>und</strong> es beendet sie, indem es unrecht<br />

hat')<br />

Damit wurden gewiß auch die Schattenseiten der Revolution erkannt<br />

<strong>und</strong> eingeräumt, doch zugleich beharrte man auf dem „guten"<br />

Beginn der Revolution, weil dieser erst jenen Prozeß ermöglicht<br />

habe, der zum heutigen Stand der liberalen Demokratie hinführe.<br />

Auch dieses Argument war im Kern nicht zu widerlegen, die<br />

Hinnahme der Charte lag in ihm begründet. Es bildet deshalb auch<br />

die Gr<strong>und</strong>lage für jene national-konsensuale Gr<strong>und</strong>auffassung<br />

Frankreichs über die Revolution, die vor allem seit dem Beginn der<br />

Dritten Republik eine parteiübergreifende Revolutionsbejahung<br />

ermöglichte. Ohne die Vorarbeit der Auseinandersetzung mit der<br />

Revolution in der Restauration wäre dies freilich kaum möglich<br />

gewesen.<br />

<strong>Die</strong> Funktion der Geschichtsschreibung des französischen frühen<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts ist in den letzten Jahren erneut intensiv diskutiert<br />

worden, insbesondere in ihrer identitätsbildenden Funktion in einer<br />

Zeit politisch-sozialer Unruhen. Der amerikanische Historiker Lionel<br />

Gossmann hat dabei die besondere Rolle der Geschichtsschreibung<br />

in dem Prozeß des langsamen Vergessens der revolutionären<br />

Greuel betont. Ihre Funktion sei es gewesen, die traumatischen Erinnerungen<br />

an die Revolution festzuhalten <strong>und</strong> sie in einer höheren<br />

Form von Kontinuität, genannt Fortschritt, zu rationalisieren.'n)<br />

<strong>Die</strong> hier untersuchte Debatte um die Gewährung von Entschädigungen<br />

an die Emigranten <strong>und</strong> das damit verb<strong>und</strong>ene schonungslose<br />

Aufrechnen der revolutionären Verfehlungen läßt sich in einen vergleichbaren<br />

sozialpsychologischen Mechanismus einordnen. <strong>Die</strong><br />

<strong>Revolutionsopfer</strong> wurden symbolisch entschädigt, die historischen<br />

Sieger mußten einen symbolischen Preis bezahlen, beide verständigten<br />

sich damit jedoch über den enormen Schritt von der spätabsolutistischen<br />

zur konstitutionellen Monarchie, den Frankreich getan<br />

hatte, <strong>und</strong> fanden sich mit ihm ab.<br />

I ") De Maisire (Etude sur la souverainite, II), hier zit. n. Dominique Bagge,<br />

Les idees politiques en France sous la Restauration. Paris 1952_ 266.<br />

'") Lionel Gossman. History as Dicipherment: Romantic Historiography<br />

and the Discovery of the Other, in: New Literary Hist. 16, 1986-87, 23-57,<br />

hier 25. Dazu jetzt auch Susan Dunn. Michelet and Lamartine: Regicide,<br />

Passion and Compassion, in: H & T 28, 1989, 275-295, hier 294f., mit dem<br />

Hinweis auf Chateaubriands Empfehlung, die Erinnerung zu bewahren, um<br />

vergessen zu können.


W. Schulze, <strong>Revolutionserinnerung</strong> <strong>und</strong> <strong>Revolutionsopfer</strong> 61<br />

Natürlich bedeutete die Revolution von 1830 eine deutliche Abkehr<br />

von einer Politik der Entschädigung für die Emigranten <strong>und</strong><br />

als Ersatz dafür späte Belohnungen für die Helden von 1789. <strong>Die</strong><br />

Debatten der Jahre 1831/33, die sich mit der Bewilligung einer Pension<br />

für die sog. "vainqueurs de la Bastille" beschäftigten, wurden<br />

erneut zur Generaldebatte über den Platz der Revolution in der<br />

französischen Geschichte, der jetzt schon gesichert erschien. Als der<br />

Innenminister Comte d'Argout dem Herzog von La Rochefoucauld<br />

vorwarf, durch seine heftige Ablehnung dieser Pension dem Bastillesturm<br />

<strong>und</strong> der Revolution gleichsam den Prozeß gemacht zu<br />

haben, gab er sich jedoch überzeugt davon, daß weder der Sturm<br />

auf die Bastille noch die Revolution als Ganzes, der Rechtfertigung<br />

durch ihn, den Minister, bedürften, sie verteidigten sich hinreichend<br />

selbst.'") in der Pairskammer hatte man darauf hingewiesen, daß<br />

mit dem Sturm auf die Bastille das Zeitalter der repräsentativen Regierungen<br />

begonnen habe, dem man die eigene Existenz verdanke<br />

<strong>und</strong> das Recht, hier sprechen zu dürfen.') Damit war das F<strong>und</strong>ament<br />

für eine unbezweifelbare Bedeutung der Revolution für das<br />

politische Leben Frankreichs gelegt, die sich über den Tageskampf<br />

hinaus erheben <strong>und</strong> von allen Schichten akzeptiert werden konnte.<br />

<strong>Die</strong> beginnende Verschmelzung von Revolution <strong>und</strong> Nation hatte<br />

ihre erste Wirkung erzielt.<br />

Zusammenfassung<br />

Der Beitrag fragt nach dem Zusammenhang zwischen der Erinnerung<br />

an die Französische Revolution <strong>und</strong> der Opferentschädigung<br />

in der Restaurationsepoche. Gegenstand der Untersuchung im<br />

eigentlichen Sinn ist die Analyse der öffentlichen <strong>und</strong> parlamentarischen<br />

Diskussion um die Entschädigung der Emigranten im Rahmen<br />

der sog. loi d'indemnite von 1824/25. <strong>Die</strong>se symbolische Entschädigung<br />

der Emigranten provozierte eine heftige Auseinandersetzung<br />

um die Bewertung der Revolution, förderte jedoch letztlich<br />

den Prozeß einer „Nationalisierung" der Revolution, der sich im<br />

Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts noch verstärken sollte.<br />

124)<br />

Vgl. AP 79, 121 (Comte D'Argout).<br />

AP 81, 227 (Comte de Pontecoulant). – Zum Kontext der für die Revolutionsdeutung<br />

ähnlich aufschlußreichen Debatte um eine Pension für die<br />

„vainqueurs de la Bastille" vgl. Winfried Schulze, Der 14. Juli 1789. Biographie<br />

eines Tages. 2. Aufl. Stuttgart 1989, 201 ff.

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