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DIE WAND ALS ROMAN Erfolgreiche Romane werden heutzutage gerne verfi lmt. Auch Hörbuch-, Hörspiel- oder sogar Comicfassungen kennt man. Doch wer würde auf der Jagd nach immer mehr Medien wohl ausgerechnet an Wohnzimmertapeten denken? Nun vor zweihundert Jahren sah man das anders, denn Panoramatapeten mit großformatigen Literaturillustrationen erfreuten sich Anfang des 19. Jahrhunderts großer Beliebtheit. Die im Handdruck mit hölzernen Druckstöcken und Leimfarben produzierten Wandbekleidungen waren teuer, ließen sich aber in ausreichend hohen Aufl agen herstellen, um sie für wohlhabende Bürgerhaushalte erschwinglich zu machen. Serien mit mythologischen oder exotischen Themen erreichten teilweise sogar eine Art Bestsellerstatus. Die führenden Tapetenhersteller waren um 1800 überwiegend in Frankreich ansässig. Es gab aber auch deutsche Fabrikanten – so zum Beispiel Wilhelm Schaaf in Barmen, dessen Erzeugnisse im Wuppertaler Friedrich-Engels-Haus zu bewundern sind. Doch während die dortigen Prachttapeten mit ihren meterhohen Landschaftsbildern eher museal wirken, orientierten sich viele Hersteller lieber an populären literarischen Vorlagen. Das einfache Kalkül: Je bekannter und beliebter ein Roman oder eine Reise beschreibung war, desto größer die Chance, dass auch die entsprechende Tapete ihre Liebhaber fand. DER BLICK IN DIE FERNE Heute erlebt man nur noch selten authentische Beispiele für die damaligen Wohnräume, die ein wenig wie begehbare Bilderbücher wirkten. Im westfälischen Warendorf aber sind in einem klassizistischen Bürgerhaus originale Wandbekleidungen aus den 1820er- Jahren erhalten, die mithilfe der NRW-Stiftung restauriert werden konnten. Die von der Pariser Manufaktur Dufour & Leroy herge- 20 DER WARENDORFER TAPETENSAAL stellten Tapetenbahnen illustrieren im Gartensaal des Hauses den Roman „Die Inkas“ von Jean-François Marmontel. Die Eroberung Perus wird darin als Zerstörung eines Paradieses beklagt. Im angrenzenden Salon sieht man hingegen Szenen aus François Fénelons „Telemach“, der die Suche des Odysseussohns nach seinem Vater schildert. Die mit Panoramatapeten geschmückten Wände verstellen den Blick nicht, sie öffnen ihn für exotische und vergangene Welten. So wandelt der in einen signalroten Mantel gehüllte Telemach durch eine zum Greifen nahe antike Szenerie, umgeben von verliebten und eifersüchtigen Nymphen. Zugleich erscheinen mit den Inkas vermeintliche Vertreter farbenprächtiger, aber tugendhafter Wildheit in einem münsterländischen Heim. Das war noch kein Fernsehen im technischen Sinne, wohl aber bereits ein sehnsuchtsvolles „In die- Ferne-Sehen“. Wenn dabei zwischen Wandbezug und Realitätsbezug auch einige Lücken klafften, so störte sich das Publikum daran ebenso wenig wie moderne TV-Konsumenten an allzu blühenden Bildschirmfantasien. D i e N R W - S t i f t u n g Ausgabe 1/2012
Der Gartensaal mit der Tapete „Die Inkas“ illustriert die Eroberung des Reiches von Peru. EIN „MEHRFACHMUSEUM“ IN DER ALTSTADT Das Haus in der Klosterstraße 7 mit seinen spektakulären Tapeten und seiner kostbaren Biedermeierstube ist heute Teil des dezentralen Warendorfer Stadtmuseums. Geschichte wird hier an verschiedenen Originalschauplätzen lebendig. So erzählt zum Beispiel die eindrucksvolle Jugendstilvilla „Haus Bispinck“ vom Wohlstand gut situierter Warendorfer Bürger zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Werner Stapelfeldt 1812 ließ der Arzt Franz Josef Katzen- berger das klassizistische Bürgerhaus in der Warendorfer Klosterstraße erbauen. Etwa zwölf Jahre später wurden die Panoramatapeten angebracht, zu deren Herstellung mehrere Tausend handge- schnitzte Holzmodel benötigt wurden. Nach fast 200 Jahren galt es an dem kostbaren Wandschmuck viele Schäden auszubessern. Um ihn besser gegen Feuchtigkeit zu schützen, haben die Fachleute in die Trickkiste gegriffen: Die Sockelleisten sind neuerdings beheizt! Das Leben der armen Leute wird hingegen durch einen „Gadem“ veranschaulicht. Es ist ein äußerst bescheidenes Häuschen, in dem das Dasein nie ein Zuckerschlecken war – auch wenn der Straßenname „Zuckertimpen“ lautet. Ebenso sehenswert ist das Torschrei - berhaus, das an die frühere Wegezollerhebung erinnert. � Text: Ralf J. Günther Fotos: Bernd Hegert Weniger exotisch als Inkas und Antike, aber nicht weniger kostbar: Das Biedermeierzimmer im Haus an der Klosterstraße bewahrt die Erinnerung an gut situierte Wohnverhältnisse um das Jahr 1840. BLICKPUNKT Die NRW-Stiftung unterstützte die Altstadtfreunde Warendorf e.V. und die Heimatfreunde Warendorf e.V. bei der Einrichtung des Biedermeierzimmers und der Restaurierung der Panoramatapeten im Bürgerhaus an der Klosterstraße 7 in 48231 Warendorf. Alle Objekte im Dezentralen Stadtmuseum sind an Sonn- und Feiertagen von 15 bis17 Uhr ge- öffnet, kostenfreie Führungen können gebucht werden unter: � www.verkehrsverein-warendorf.de D i e N R W - S t i f t u n g Ausgabe 1/2012 21
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