Eva Witzel Die Konstitution der Dinge ... - transcript Verlag
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Aus:<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Witzel</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Konstitution</strong> <strong>der</strong> <strong>Dinge</strong><br />
Phänomene <strong>der</strong> Abstraktion bei Andreas Gursky<br />
Dezember 2011, 378 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1827-3<br />
Mit seinen monumentalen Fotografien gilt Andreas Gursky wie kaum ein an<strong>der</strong>er<br />
zeitgenössischer Künstler als Diagnostiker <strong>der</strong> Globalisierung. Sein Instrument:<br />
eine neue Bildsprache, <strong>der</strong>en Ausdrucksfülle stets in Zusammenhang<br />
mit <strong>der</strong> Abstraktion und <strong>der</strong> digitalen Bildbearbeitung gesehen wird.<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Witzel</strong> legt mit diesem Buch die erste umfassende Untersuchung <strong>der</strong> Abstraktionsphänomene<br />
in Gurskys Werk von 1984 bis 2001 vor und identifiziert<br />
in synoptischer Analyse die Phasen und Strategien <strong>der</strong> Bildfindung. Dabei<br />
etabliert sie den Terminus »abstrakt« für die thematische Interpretation:<br />
als essenzielle Verdichtung des Motivs, die über den singulären Gegenstand<br />
hinaus auf etwas Universales weist.<br />
<strong>Eva</strong> <strong>Witzel</strong> (Dr. phil.) hat Kunstgeschichte in Bamberg, Marburg und Venedig<br />
studiert, war Volontärin am Saarlandmuseum und Kuratorin an <strong>der</strong> Kunsthalle<br />
Emden. Sie lebt in Hamburg.<br />
Weitere Informationen und Bestellung unter:<br />
www.<strong>transcript</strong>-verlag.de/ts1827/ts1827.php<br />
© 2011 <strong>transcript</strong> <strong>Verlag</strong>, Bielefeld
Inhalt<br />
I. Einleitung | 13<br />
1. Thema | 13<br />
2. Fragestellung und Methodik | 18<br />
3. Literaturbericht | 22<br />
4. Zur Person Gursky | 29<br />
II. Theoretischer Diskurs zur Abstraktion | 37<br />
1. Der Begriff <strong>der</strong> Abstraktion – Eine philosophische,<br />
kunsthistorische und fototheoretische Annäherung | 37<br />
2. Das Ornament als Vermittlungsprinzip | 51<br />
3. ‚Allegorische Potenz‘ | 60<br />
4. Prinzipien für Gursky – potenzielle ‚fotografische<br />
Prägnanz‘ | 69<br />
III. Zum Abstraktionsverständnis bei Andreas Gursky:<br />
Abbild versus Abstraktion? | 73<br />
1. Strukturkategorie: Das Abstrahierende und das Ornamentale | 73<br />
1.1 Das Abbild erhöht das Abgebildete | 73<br />
1.1.1 Zufallsblick | 74<br />
1.1.2 Horizontale Perspektive | 86<br />
1.1.3 Architektonische Perspektivfluchten | 97<br />
1.1.4 Turmperspektive | 107<br />
1.1.5 Panorama | 113<br />
1.1.6 Vogelperspektive | 118<br />
1.1.7 Surreale Welten | 126<br />
1.1.8 Resümee | 128<br />
Vergleichendes Intermezzo A<br />
1.2 Das Abstrahierende und das Ornamentale in <strong>der</strong> Tradition<br />
<strong>der</strong> Landschaftsmalerei | 133<br />
1.2.1 Albrecht Altdorfer | 133
1.2.2 Pieter Bruegel d.Ä. | 136<br />
1.2.3 Jan Vermeer | 141<br />
1.2.4 Caspar David Friedrich | 150<br />
1.3 Wahrnehmung von „Weltgegenden“ | 160<br />
2. Strukturkategorie: Das Konstruktive und das Ornament | 163<br />
2.1 ‚Ordnungsprinzipien‘ | 163<br />
2.1.1 Konstruktion im Innenraum | 164<br />
2.1.2 Konstruktion Außenarchitektur | 172<br />
2.1.3 All-over im Innenraum | 188<br />
2.1.4 Over-all | 201<br />
2.1.5 Geometrisierung | 212<br />
2.1.6 Hyperordnung | 220<br />
2.1.7 Konstellation | 225<br />
2.1.8 Resümee | 228<br />
Vergleichendes Intermezzo B<br />
2.2 Das Konstruktive und das Ornament in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong><br />
abstrakten Malerei | 232<br />
2.2.1 Piet Mondrian | 233<br />
2.2.2 Andy Warhol | 240<br />
2.2.3 Jackson Pollock | 246<br />
2.3 Wahrnehmung von Weltbil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Masse | 255<br />
3. Strukturkategorie: Abstraktion durch Anschauung | 265<br />
3.1 Strategien fotografischer Abstraktionen | 265<br />
3.1.1 Monochrome Anschauungen | 266<br />
3.1.2 Strukturfel<strong>der</strong> | 274<br />
3.1.3 Zitate <strong>der</strong> Malerei | 285<br />
3.1.4 Resümee | 290<br />
Vergleichendes Intermezzo C<br />
3.2 Abstrakte Malerei im Vergleich | 292<br />
3.2.1 Gerhard Richter | 292<br />
3.2.2 Mark Rothko | 296<br />
3.3 Bildliche Raum-Zeit-Phänomene | 301
IV. Reflexionen | 307<br />
1. Gurskys Position in <strong>der</strong> Fotografiegeschichte –<br />
Rückblick, Ausweg, Etablierung, Ausblick | 307<br />
2. Intermedialität: Malerei, Fotografie und Digitalisierung<br />
im Dialog | 322<br />
3. Schluss: <strong>Die</strong> Strukturmomente im Gesamtwerk | 340<br />
V. Literaturverzeichnis | 347
I. Einleitung<br />
1. THEMA<br />
„Meine Vorliebe für klare Strukturen<br />
ist das Ergebnis meines Bedürfnisses<br />
– was vielleicht eine Illusion ist – die<br />
<strong>Dinge</strong> nicht aus den Augen zu verlieren<br />
und die Welt im Griff zu behalten.“<br />
ANDREAS GURSKY<br />
Nicht die Welt, aber die im Zeitraum von 1984 bis 2001 entstandenen<br />
Fotografien von Andreas Gursky „im Griff zu behalten“, ist Anliegen<br />
dieser Arbeit. Den Ansatz dazu bieten die formalästhetischen Abstrahierungsphänomene<br />
und Abstraktionsstrukturen, die sich mittelbar und<br />
unmittelbar im Werk manifestieren und die sich zu einem übergreifenden<br />
Interpretament innerhalb <strong>der</strong> Werkgenese Gurskys entwickelt haben.<br />
„In <strong>der</strong> Tat werden meine Bil<strong>der</strong> zunehmend formaler und abstrakter. Eine<br />
bildnerische Struktur scheint die abgebildeten, realen Begebenheiten zu überlagern.<br />
Ich unterwerfe die reale Situation meinem künstlerischen Konzept <strong>der</strong><br />
Bildfindung.“ 1<br />
1 Gursky, Andreas, in einem Briefwechsel mit Veit Görner: ‚... im Allgemeinen<br />
gehe ich die <strong>Dinge</strong> langsam an‘. In: Andreas Gursky. Fotografien<br />
1994-1998. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Wolfsburg; Fotomuseum Winterthur;<br />
Serpentine Gallery, London; Scottish National Gallery of Mo<strong>der</strong>n
14 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
So beschreibt <strong>der</strong> Künstler selbst jenes bildnerische Konzept, das es<br />
ihm offenbar erlaubt, von <strong>der</strong> visuellen Erscheinung, d.h. von <strong>der</strong> abbildenden<br />
Eigenschaft <strong>der</strong> Fotografie, zu abstrahieren. Es steht also eine<br />
durch Formalisierungsprozesse und Strukturbildung hervorgerufene<br />
‚Abstraktion‘ zur Debatte, die es nun vor dem Hintergrund <strong>der</strong> Fotografie-<br />
und Kunstgeschichte werkimmanent zu analysieren gilt.<br />
Der Gedanke, fotografische Subbereiche mit <strong>der</strong> Abstraktion in<br />
Verbindung zu bringen, ist nicht neu, innerhalb ganzheitlich wissenschaftlicher<br />
und historischer Untersuchungen aber noch von jungem<br />
Erkenntnisinteresse. <strong>Die</strong> eigentliche Geburtsstunde <strong>der</strong> fotografischen<br />
Abstraktion wird in New York und in London mit den Jahren 1916<br />
und 1917 in Verbindung gebracht. So ist Paul Strand (1890-1976) aus<br />
Amerika <strong>der</strong> erste Lichtbildner gewesen, <strong>der</strong> 1916 den Titeln seiner<br />
Stillleben – Tassen und Schalen als ein Konstrukt aus Kreisen in<br />
Schwarz, Grau und Weiß – die Bezeichnung ‚Abstraktion‘ beigibt. 2<br />
Strands Landsmann Alvin Langdon Coburn (1882-1966) sprach sich<br />
im selben Jahr in London in seinem Aufsatz zur ‚Zukunft <strong>der</strong> bildmäßigen<br />
Fotografie‘ für eine Ausstellung mit dem Titel ‚Abstrakte Fotografie‘<br />
3 aus, zu <strong>der</strong> es zu diesem Zeitpunkt zwar noch nicht kam, <strong>der</strong>en<br />
Sachverhalt jedoch ausdrücklich und richtungweisend ins Leben gerufen<br />
wurde. 4 So for<strong>der</strong>t Coburn:<br />
„In den Zulassungsbestimmungen soll deutlich festgelegt werden, daß keine<br />
Arbeit angenommen wird, in <strong>der</strong> das Interesse am Bildgegenstand das Gefühl<br />
für außergewöhnliche Aspekte übersteigt. Ein Gefühl für Form und Struktur ist<br />
Art, Edinburgh; Castello di Rivoli, Museo d’Arte Contemporanea, Torino;<br />
Centro Cultural de Belém, Lisboa. Ostfil<strong>der</strong>n 1998, S. 3-10, hier S. 5.<br />
2 Vgl. Kellein, Thomas: <strong>Die</strong> Erfindung abstrakter Fotografie 1916 in New<br />
York. In: Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie.<br />
Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit 2000, S. 33-56, hier S. 33, S. 40.<br />
3 Coburn, Alvin Langdon: „<strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> bildmäßigen Fotografie<br />
(1916).“ In: Kemp, Wolfgang: Theorie <strong>der</strong> Fotografie II. 1912-1945. München<br />
1999, S. 55-57, hier S. 57. Neudruck <strong>der</strong> Ausgabe München 1979.<br />
4 Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger, Gottfried: <strong>Die</strong> Kunst <strong>der</strong> Abstrakten<br />
Fotografie. In: <strong>der</strong>s. (Hrsg.): <strong>Die</strong> Kunst <strong>der</strong> Abstrakten Fotografie.<br />
Stuttgart 2002, S. 11-72, hier S. 16f.
EINLEITUNG | 15<br />
vor allem von Bedeutung, und man sollte die Gelegenheit nutzen, um unterdrückter<br />
und unerwarteter Originalität zum Ausdruck zu verhelfen.“ 5<br />
„Form und Struktur“ sind – wenn auch unter differenten Voraussetzungen<br />
– sowohl für Coburn damals als auch für Gursky heute notwendige<br />
Instrumente, den Gegenstand in den Hintergrund treten zu<br />
lassen, um so zu einem neuen Verständnis von fotografischer Realität<br />
zu gelangen. Mit den so genannten Vortographs von 1917, durch Spiegelkonstruktionen<br />
entstandenen kaleidoskopischen Bil<strong>der</strong>n, suchte<br />
Coburn schließlich zielgerichtet nach abstrakten Bil<strong>der</strong>n, die keine Beziehung<br />
mehr zu realen Gegenständen aufwiesen. 6<br />
Neben den Pionieren Strand und Coburn gelten die New Yorker<br />
Photo-Secession und ihre Zeitschrift ‚Camera Work‘ als maßgebliche<br />
Protagonisten <strong>der</strong> abstrakten Fotografie in Europa und Amerika. 7 <strong>Die</strong><br />
Photo-Secession wurde, in Anlehnung an die deutschen Sezessionsbewegungen,<br />
von Alfred Stieglitz 1902 als „Fotografengruppe“ bzw.<br />
später als „Ausstellungsorgan“ gegründet. 8 Es folgte 1903 ‚Camera<br />
Work‘, ebenfalls von Stieglitz herausgegeben, die nicht nur die Werke<br />
und Biographien bedeuten<strong>der</strong> europäischer und amerikanischer Fotografen<br />
publizierte, son<strong>der</strong>n auch sachliche Hilfe bei <strong>der</strong> Wahl von fotografischen<br />
Arbeitsmaterialien anbot. In <strong>der</strong> Zeit von 1902 bis zur<br />
Einstellung <strong>der</strong> Fotozeitschrift bzw. bis zum Abriss <strong>der</strong> ‚Little Galleries<br />
of the Photo-Secession‘ in <strong>der</strong> New Yorker Fifth Avenue Nr. 291<br />
im Jahr 1917 findet bei Stieglitz und Mitbegrün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Photo-<br />
Secession wie Eduard J. Steichen (Newark in Ohio) und Clarence H.<br />
White (Milwaukee) sowie beim Photo-Secessionisten Coburn ein<br />
Wandel in <strong>der</strong> Auffassung des fotografischen Ausdrucks statt. Sie<br />
wenden sich ab von <strong>der</strong> durch Retusche, Gummidruck und Glycerinverfahren<br />
impressionistisch anmutenden Kunstfotografie bzw.<br />
‚Pictorial Photography‘ und befürworten die ‚Reine Photographie‘, die<br />
zu Beginn <strong>der</strong> 20er-Jahre in die ‚Straight Photography‘ mündet. Der<br />
Umgang mit neuen Materialien und die Erprobung ausgefallener<br />
Kompositionen bringen abstrakt-linear erscheinende Fotografien her-<br />
5 Coburn (1916) 1999, S. 57.<br />
6 Vgl. Kellein 2000a, S. 39. Vgl. auch Jäger 2002a, S. 17.<br />
7 Thomas Kellein belegt den Sachverhalt <strong>der</strong> Beeinflussung in seinen Studien.<br />
Vgl. Kellein 2000a, S. 33ff.<br />
8 Ebd., S. 34.
16 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
vor, die wesentlich dazu beitragen, <strong>der</strong> Fotografie einen von <strong>der</strong> Malerei<br />
unabhängigen spezifischen Ausdruck zu verleihen. <strong>Die</strong> Ausstellungen<br />
in <strong>der</strong> New Yorker Sezessionsgalerie ‚291‘ sind seit 1908 nicht<br />
nur durch unkonventionelle und sachliche Bildpräsentationen gekennzeichnet,<br />
son<strong>der</strong>n den Fotografien werden überdies avantgardistische<br />
Arbeiten aus <strong>der</strong> Malerei und Bildhauerei gegenübergestellt, um einerseits<br />
die Eigenständigkeit bei<strong>der</strong> Kunstformen zu betonen und an<strong>der</strong>erseits<br />
die Fotografie an sich als legitime Kategorie <strong>der</strong> ‚hohen Kunst‘<br />
zu etablieren. Vom Kubismus beeinflusste Formen lösen 1911 den<br />
Piktoralismus in <strong>der</strong> Zeitschrift ‚Camera Work‘ ab; Fotografien werden<br />
gezeigt, die klaren, spitzwinkligen Bildstrukturen folgen und mit<br />
Schatten, Luftperspektiven sowie leeren Flächen spielen. In den Jahren<br />
1916/17 wird <strong>der</strong> jüngere Paul Strand von Stieglitz in den letzten Ausgaben<br />
von ‚Camera Work‘ als Debütant vorgestellt. Seine avantgardistischen<br />
Aufnahmen weisen bereits eine dem neuen Realismus zugewandte,<br />
direkte und objektiv wirkende Bildsprache auf. 9<br />
Den 1916 von Coburn definierten Kriterien wird erst im Jahr 2000<br />
mit <strong>der</strong> Ausstellung ‚Abstrakte Fotografie‘ in <strong>der</strong> Kunsthalle Bielefeld<br />
entsprochen. 10 In <strong>der</strong> ausstellungsbegleitenden Publikation ‚Abstrakte<br />
Fotografie‘ 11 wird die abstrakte Fotografie erstmals ausführlich in ihrer<br />
Entwicklungsgeschichte aufgearbeitet und als <strong>der</strong> abstrakten Malerei<br />
gleichwertig dargestellt. Das Spektrum <strong>der</strong> Fotografien, die von Thomas<br />
Kellein und Angela Lampe <strong>der</strong> ‚Abstraktion‘ subsumiert werden,<br />
9 Vgl. ebd., S. 34-36, S. 39f. Vgl. auch Newhall, Beaumont: Geschichte <strong>der</strong><br />
Photographie. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. München<br />
1998, S. 166-170, S. 173-176.<br />
10 Vgl. Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7-9, hier S. 7.<br />
11 Kellein, Thomas; Lampe, Angela (Hrsg.): Abstrakte Fotografie. Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit<br />
2000. Aus Anlass <strong>der</strong> Ausst. ‚Abstrakte Fotografie‘ vom 3. Dezember<br />
2000 bis 18. Februar 2001 in <strong>der</strong> Kunsthalle Bielefeld. Mit Teilbereichen<br />
<strong>der</strong> Kunstform <strong>der</strong> abstrakten Fotografie setzte sich 1998 die von<br />
Barbara Auer im Kunstverein Ludwigshafen kuratierte Ausstellung ‚Fotografie<br />
<strong>der</strong> 50er Jahre – Zwischen Abstraktion und Wirklichkeit‘ auseinan<strong>der</strong>.<br />
Thematisiert wurde die von Otto Steinert geprägte ‚subjektive Fotografie‘<br />
mit ihren unterschiedlichen Ausformungen und Entwicklungen.<br />
Vgl. Auer, Barbara (Hrsg.): Fotografie <strong>der</strong> 50er Jahre. Zwischen Abstraktion<br />
und Wirklichkeit. Ausst.-Kat. Kunstverein Ludwigshafen am Rhein<br />
e.V. Ludwigshafen am Rhein 1998.
EINLEITUNG | 17<br />
umfasst divergente Erscheinungsformen: Sie reichen von <strong>der</strong> ‚Wissenschaftsfotografie‘<br />
zur ‚Straight Photography‘ über ‚Fotogramme‘ und<br />
Arbeiten <strong>der</strong> ‚Subjektiven Fotografie‘ bis hin zur ‚Digitalen Fotografie‘.<br />
Bemerkenswert ist <strong>der</strong> Umstand, dass unter den exemplarisch aufgeführten<br />
Künstlern Andreas Gursky nicht genannt und damit nicht zu<br />
den wesentlichen Vertretern <strong>der</strong> fotografischen Abstraktion gezählt<br />
wird. Trotz <strong>der</strong> großen Vielfalt an fotografischen Erscheinungsformen<br />
und Techniken, die Kellein und Lampe für die Kategorie <strong>der</strong> Abstraktion<br />
gelten lassen, scheinen die abstrakter werdenden Arbeiten<br />
Gurskys nicht ihren Auswahlkriterien entsprochen zu haben.<br />
Parallel zur Ausstellung wird die abstrakte Fotografie auf dem 21.<br />
Bielefel<strong>der</strong> Symposium über Fotografie und Medien an <strong>der</strong> Fachhochschule<br />
Bielefeld im Dezember 2000 zum Gegenstand <strong>der</strong> Untersuchung.<br />
<strong>Die</strong> Ergebnisse des Leitthemas ‚Abstrakte Fotografie: <strong>Die</strong><br />
Sichtbarkeit des Bildes’ werden in <strong>der</strong> 2002 herausgegebenen Publikation<br />
‚<strong>Die</strong> Kunst <strong>der</strong> Abstrakten Fotografie‘ 12 zusammengefasst. Beschäftigen<br />
sich die Autoren einerseits mit <strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong><br />
Abstraktion von den Pionieren bis hin zu zeitgenössischen Künstlern,<br />
diskutieren sie an<strong>der</strong>erseits auch die theoretische Leitfrage „Was ist<br />
Abstrakte Fotografie? Was könnte Abstrakte Fotografie sein? Gibt es<br />
Abstrakte Fotografie überhaupt?“ 13 Auf die Debatte wird zu einem<br />
späteren Zeitpunkt in dieser Arbeit ausführlich eingegangen, um den<br />
Definitionsrahmen für das Werk Gurskys festzulegen. Es sei jedoch an<br />
dieser Stelle bereits betont, dass es keinen Konsens darüber zu geben<br />
scheint, welcher Eingrenzungen es innerhalb <strong>der</strong> Fotografiegeschichte<br />
bedarf, um tatsächlich von einem klar definierten Subbereich <strong>der</strong> Fotografie<br />
sprechen zu können – eine Erklärung womöglich auch dafür,<br />
warum Gursky keine explizite Würdigung in den Besprechungen von<br />
Kellein und Lampe erfahren hat.<br />
<strong>Die</strong> Diskussion um die abstrakte Fotografie verweist auf das stets<br />
aktuelle Thema <strong>der</strong> Bildeinteilung. In den vergangenen Jahrzehnten ist<br />
bereits eine Vielzahl theoretischer Ansätze aufzufinden, mit denen<br />
versucht wird, die diversen Bildarten innerhalb <strong>der</strong> Fotografie zu charakterisieren<br />
und zu unterscheiden. Als beispielhafte Vertreter seien<br />
12 Jäger, Gottfried (Hrsg.): <strong>Die</strong> Kunst <strong>der</strong> Abstrakten Fotografie. Stuttgart<br />
2002.<br />
13 Jäger, Gottfried: Vorwort. In: Jäger 2002, S. 7.
18 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
hier J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Gottfried Jäger genannt.<br />
Schmoll gen. Eisenwerth teilt in seinem Vortrag ‚Zum Spektrum <strong>der</strong><br />
Fotografie‘ von 1979 die Fotografie in die Bereiche „Abbild, Sinn-<br />
Bild und Bildstruktur“ 14 ein. Gottfried Jäger modifiziert diese Kategorien<br />
1988 in seiner Typologie zu „Abbil<strong>der</strong>, Sinnbil<strong>der</strong> und Strukturbil<strong>der</strong>“<br />
15 . Verbunden sind damit die jeweiligen Ziele <strong>der</strong> fotografischen<br />
„Aneignung, Vermittlung und Schaffung von ›Wirklichkeit‹“,<br />
die sich u.a. in den Bereichen <strong>der</strong> „abbildende[n]“/„dokumentierende[n]“,<br />
„subjektive[n]“/„kommentierende[n]“ und „schöpferischen“/<br />
„abstrakten“ Fotografie wi<strong>der</strong>spiegeln. 16<br />
Das steigende Interesse <strong>der</strong> Künstler und Historiker des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts,<br />
die Fotografie mit <strong>der</strong> Abstraktion zu verbinden bzw. phänomenologische<br />
Klassifizierungen von ‚Abstraktion‘ in <strong>der</strong> Fotografie<br />
zu finden, und die damit verbundenen definitorischen Schwierigkeiten<br />
unterstreichen das Motiv dieser Arbeit, <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Abstraktion<br />
an einem konkreten Beispiel <strong>der</strong> Fotografie – dem Werk von Andreas<br />
Gursky – nachzugehen. Für diese Untersuchung sind ein differenzierter<br />
Fragenkatalog und eine polymorphe Methode vorgesehen, die im<br />
folgenden Kapitel vorgestellt werden.<br />
2. FRAGESTELLUNG UND METHODIK<br />
Zur Erhellung <strong>der</strong> Abstraktionsparadigmen im Werk von Andreas<br />
Gursky sind konstante Leitfragen erfor<strong>der</strong>lich, welche die Werkanalyse<br />
methodisch fundieren:<br />
14 Schmoll gen. Eisenwerth, J.A.: Zum Spektrum <strong>der</strong> Fotografie: Abbild,<br />
Sinn-Bild und Bildstruktur. Festvortrag beim Festakt ‚75 Jahre Verband<br />
<strong>der</strong> Deutschen Photographischen Industrie‘ in Verbindung mit dem Kongress<br />
<strong>der</strong> Deutschen Gesellschaft für Photographie (‚Berlin und die Photographie‘)<br />
im Internationalen Congress Center Berlin am 18. Mai 1979.<br />
Abgedruckt in: <strong>der</strong>s.: Vom Sinn <strong>der</strong> Photographie. Texte aus den Jahren<br />
1952-1980. München 1980, S. 236-244.<br />
15 Jäger, Gottfried: Fotografik - Lichtgrafik - Lichtmalerei. Bildgebende Fotografie.<br />
Ursprünge, Konzepte und Spezifika einer Kunstform. Köln 1988,<br />
S. 111-114.<br />
16 Ebd., S. 111-114. Vgl. ausführlicher Kap. II.1, S. 43.
EINLEITUNG | 19<br />
Um die Abstraktionsphänomene im Werk Gurskys zu entschlüsseln,<br />
bedarf es im Vorfeld einer Erschließung <strong>der</strong> Bedeutung und Entwicklung<br />
des Abstraktionsbegriffs in <strong>der</strong> Fotografiegeschichte bis hin<br />
zur Fotografiedebatte <strong>der</strong> Gegenwart. Zudem werden die Bedeutungsschichten<br />
und Implikationen unter philosophischen und kunsttheoretischen<br />
Aspekten beleuchtet. Geklärt werden muss, welche Definition<br />
von ‚Abstraktion‘ geltend gemacht und am Werk Gurskys erarbeitet<br />
werden kann. Dabei wird auch die Möglichkeit einer instrumentellen<br />
Erweiterung überdacht: Dafür bieten sich die strukturellen Ausdrucksvarianten<br />
des Ornamentalen und des Ornaments an, da mit diesem<br />
Formvokabular ein größeres Spektrum <strong>der</strong> auf die Abstraktion bezogenen<br />
Erscheinungsweisen sprachlich erfasst werden kann. <strong>Die</strong> Anwendungen<br />
sollen zeigen, auf welche Weise sich innerhalb <strong>der</strong> Werkgenese<br />
abstrakte Formalisierungsprozesse darstellen, zudem ob sie<br />
partiell in Erscheinung treten o<strong>der</strong> ob eine kontinuierliche Abstraktionssteigerung<br />
in den Arbeiten Gurskys stattfindet.<br />
Gurskys Fotografien bewegen sich zwischen den Polen Abbild und<br />
Abstraktion. Zur genaueren Bestimmung dieser Relation bedarf es<br />
nach <strong>der</strong> Definitionsklärung einer Einteilung <strong>der</strong> für die Untersuchung<br />
exemplarisch ausgewählten Werke, die zwischen 1984 und 2001 entstanden<br />
sind. Dabei wird das Ende des Untersuchungszeitraums durch<br />
die Retrospektive im Museum of Mo<strong>der</strong>n Art New York – den ersten<br />
Höhepunkt in <strong>der</strong> öffentlichen Rezeption von Gurskys Œuvre – markiert.<br />
In <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit werden drei Strukturkategorien entwickelt,<br />
die unterschiedliche und eventuell aufeinan<strong>der</strong> aufbauende<br />
Formalisierungsgrade veranschaulichen sollen. Es handelt sich dabei<br />
jedoch nicht um ein starres Gerüst, son<strong>der</strong>n um ein orientierendes Gefüge,<br />
das gleichwohl bildnerische Ausnahmen zulässt.<br />
<strong>Die</strong> Untersuchung <strong>der</strong> Abstraktion im Œuvre Gurskys ermöglicht<br />
zugleich dessen neue Strukturierung, die sich nicht nur von den in <strong>der</strong><br />
Forschungsliteratur aufgeführten Motivkomplexen Natur, Mensch,<br />
Freizeit o<strong>der</strong> Industrie abgrenzt, son<strong>der</strong>n auch einen kritischen Standpunkt<br />
zur epochen- und genrespezifischen Zuordnung in die Kunstgeschichte<br />
einnimmt. Innerhalb sogenannter Intermezzi – Zwischenkapitel,<br />
die sich in den einzelnen Strukturkategorien <strong>der</strong> formalen und inhaltlichen<br />
Analyse <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> Gurskys anschließen – wird festzustellen<br />
sein, welche Kriterien im Bildaufbau, in <strong>der</strong> Bildstruktur und im Bildthema<br />
einen Vergleich mit <strong>der</strong> Kunstgeschichte tatsächlich fruchtbar<br />
machen. Von Interesse ist überdies <strong>der</strong> Vergleich mit Pionieren und
20 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
Zeitgenossen <strong>der</strong> Fotografie, <strong>der</strong>en Arbeiten gleichartige Kompositionen<br />
o<strong>der</strong> Abstraktionsphänomene aufweisen.<br />
<strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Fotografie als bedeuten<strong>der</strong> Einflussgröße, die<br />
immer schon im Dialog zur Malerei stand, darf nicht außer Acht gelassen<br />
werden. Mit <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> formalen Abstraktion kristallisiert<br />
sich die Frage heraus, ob und – wenn ja – inwieweit Gurskys Werk einer<br />
historisch gewachsenen und angereicherten Bildwahrnehmung unterliegt.<br />
Zugleich werden dadurch Gegensätze und Parallelen im Verständnis<br />
von Abstraktion in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Fotografie und in jener<br />
<strong>der</strong> Malerei aufgezeigt.<br />
Neben <strong>der</strong> formalen Erschließung eröffnet sich zugleich <strong>der</strong> zweite<br />
Fragenkomplex, ob nämlich hinsichtlich eines ‚formaler und abstrakter‘<br />
werdenden Œuvres auch den Inhalten <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> eine aufeinan<strong>der</strong><br />
aufbauende Entwicklung zukommt und sich davon womöglich ein<br />
konsistenter Bedeutungsfaden ableiten lässt. Es wird zu analysieren<br />
sein, inwieweit – auf die einzelne Fotografie und auf das gesamte<br />
Werk bezogen – die Formalisierungsprozesse mit den inhaltlichen<br />
Bildaussagen korrespondieren und welche Rolle dabei <strong>der</strong> Rezipient<br />
einnimmt. Letzteres wird unter verschiedenen Prämissen beleuchtet:<br />
So wird die Perspektive des Rezipienten untersucht, auf den die Abstraktionsstrukturen<br />
einwirken. Dabei wird zu erläutern sein, welche<br />
Bildfindungs- und Bildproduktionstechniken Gursky im <strong>Die</strong>nst seiner<br />
Wirkungsabsicht einsetzt und ob die Abstraktion überdies von den<br />
Möglichkeiten <strong>der</strong> digitalen Bildbearbeitung, die Gursky seit 1992 neben<br />
dem analogen Aufnahmeverfahren in Anspruch nimmt, beeinflusst<br />
wird und sich dadurch Beson<strong>der</strong>heiten in <strong>der</strong> Rezeption eröffnen. Es<br />
ist somit dem Spannungsverhältnis und <strong>der</strong> Interaktion zwischen<br />
‚Bildschaffung‘ und ‚Betrachterwirkung‘ nachzugehen.<br />
Der Werkanalyse folgen, mit Blick auf die Ergebnisse dieser Arbeit,<br />
im Kapitel IV die Reflexionen über Gurskys Position in <strong>der</strong><br />
Fotografiegeschichte, über das Verhältnis zwischen Fotografie, Malerei<br />
und Digitalisierung sowie über die analytische Gesamtbilanz.<br />
Als übergeordnetes Interpretationsverfahren bietet sich die kunstgeschichtliche<br />
Hermeneutik an, da sie gleichermaßen auf die formalen<br />
und inhaltlichen Aspekte des Kunstgegenstandes eingeht sowie auch<br />
kontextuelle und historische Bedingungen erörtert. Dem Vier-Stufen-
EINLEITUNG | 21<br />
Modell Oskar Bätschmanns 17 folgend, werden die Arbeiten Gurskys<br />
innerhalb <strong>der</strong> Abstraktionskategorien im ‚Einstieg‘ auf ihre formale<br />
und inhaltliche Sichtbarkeit hin untersucht sowie auf Unklarheiten und<br />
Wi<strong>der</strong>sprüche befragt. Innerhalb <strong>der</strong> ‚Analytik‘ findet zunächst ein<br />
Vergleich mit <strong>der</strong> vorliegenden Forschungsliteratur und persönlichen<br />
Äußerungen des Künstlers statt. Wo es sich als angemessen und sinnvoll<br />
erweist, werden bildliche Traditionen und Motivän<strong>der</strong>ungen innerhalb<br />
<strong>der</strong> Fotografie- und Kunstgeschichte eruiert und Stil-Charakterisierungen<br />
vorgenommen. Außerdem werden im Hinblick auf die<br />
künstlerische Produktion die zeitspezifischen Einflüsse bzw. die kulturellen<br />
Referenzen erörtert. Es schließen sich dann die ‚Kreative Abduktion‘<br />
und die ‚Validierung‘ mit einer Erschließung <strong>der</strong> Bedeutungszusammenhänge<br />
und einer interpretatorischen Absicherung an.<br />
Das interpretierende Vorgehen im Sinne <strong>der</strong> kunstwissenschaftlichen<br />
Hermeneutik trägt erstens dazu bei, den einzelnen Kunstwerken<br />
Gurskys gerecht zu werden. Zweitens kann sie innerhalb <strong>der</strong> Werkeinteilungen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen und Entwicklungen im Gesamtwerk aufzeigen.<br />
Um den spezifischen Untersuchungsmerkmalen beson<strong>der</strong>es Gewicht<br />
zu verleihen, werden weitere Analyse-Methoden berücksichtigt,<br />
welche das hermeneutische Vorgehen ergänzen. Grundlage für die Erschließung<br />
<strong>der</strong> komplexen Bildzusammenhänge ist demnach ein formalistischer<br />
Ansatz, <strong>der</strong> es ermöglicht, im Bereich <strong>der</strong> Formanalyse<br />
eine etwaige Entwicklung abstrakter Bildformen zu konstruieren und<br />
daraus Strukturgesetze abzuleiten. Im Bereich <strong>der</strong> Stilanalyse lassen<br />
sich charakteristische und zeitgemäße Ausdrucksweisen Gurskys definieren.<br />
<strong>Die</strong> Ergebnisse werden in rezeptionsgeschichtlichen Vergleich<br />
gestellt, um die Wie<strong>der</strong>aufnahme von und das Interesse an bestimmten<br />
Motiven und Bildstrukturen zu erörtern sowie die Gemeinsamkeiten<br />
und Differenzen aufzuzeigen. Ein rezeptionsästhetischer Ansatz erweist<br />
sich schließlich als sinnvoll, um die Funktion des Betrachters in<br />
den Arbeiten Gurskys zu hinterfragen. Gemeint sind die gestalterischen<br />
Vorgaben wie Personen, Perspektiven und Erscheinungen des<br />
Werkes an sich, die den Betrachter zum Bild situieren und zur Rezep-<br />
17 Bätschmann, Oskar: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche<br />
Hermeneutik. In: Kunstgeschichte – Eine Einführung. Hrsg. von Hans<br />
Belting, Heinrich Dilly, Wolfgang Kemp, Willibald Sauerlän<strong>der</strong> und Martin<br />
Warnke. 3. durchges. u. erw. Aufl. Berlin 1988, S. 191-221.
22 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
tion animieren. Der Grad <strong>der</strong> „innerbildlichen Kommunikation“ 18 wird<br />
unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Anteilnahme des Betrachters und sozialgeschichtlicher<br />
wie auch ästhetischer Aspekte zu analysieren sein.<br />
3. LITERATURBERICHT<br />
<strong>Die</strong> zahlreichen Besprechungen zum Werk von Andreas Gursky finden<br />
sich im Wesentlichen in den Ausstellungskatalogen. Eine genuin wissenschaftliche<br />
Veröffentlichung, die speziell Gursky gewidmet ist,<br />
existiert bislang noch nicht. In den Katalogtexten liegen also wissenschaftliche<br />
Besprechungen vor, denen durch den Rahmen <strong>der</strong> jeweiligen<br />
Ausstellung enge Grenzen gesetzt sind, so dass wichtige Aspekte<br />
nur angesprochen, aber nicht grundlegend analysiert werden können.<br />
Eine erste umfangreiche Zusammenschau über die Werkgenese<br />
Gurskys hat Peter Galassi 19 geleistet. Anlass ist die von Galassi<br />
kuratierte Ausstellung ‚Andreas Gursky‘ im New Yorker Museum of<br />
Mo<strong>der</strong>n Art im Jahr 2001 gewesen, eine große Retrospektive, dem<br />
Künstler bereits im Alter von 46 Jahren gewidmet. Ausführlich beschreibt<br />
Galassi das Hineinwachsen Gurskys in die Fotografieszene<br />
<strong>der</strong> 70er- und 80er-Jahre, erarbeitet die anfängliche Beeinflussung und<br />
spätere Befreiung des Fotografen von <strong>der</strong> typologischen Methode seiner<br />
Lehrer Bernd und Hilla Becher an <strong>der</strong> Düsseldorfer Akademie und<br />
analysiert die Motiv- und Stilentwicklung sowie die Arbeitsmethode<br />
des Künstlers. Galassi möchte seine Untersuchung als Beginn und Anregung<br />
zu weitergehenden Untersuchungen von „künstlerischen Kontexten<br />
und Ursprüngen“ 20 verstanden wissen. In diesem Zusammenhang<br />
kritisiert er in seinem mit einer umfassenden Bibliographie<br />
schließenden Beitrag den damaligen Forschungsstand: <strong>Die</strong> bis dato erschienene<br />
Literatur bringe die mit <strong>der</strong> Malerei vergleichbaren Momente<br />
in Gurskys Fotografie nur im Ansatz zur Sprache, ohne sie einer dezidierten<br />
Analyse zu unterziehen. Vergleichsbeispiele würden lediglich<br />
aufgrund formaler Ähnlichkeiten herangezogen, die jeweiligen In-<br />
18 Kemp, Wolfgang: Kunstwerk und Betrachter: Der rezeptionsästhetische<br />
Ansatz. In: Belting et al. 1988, S. 240-257, hier S. 246.<br />
19 Galassi, Peter: Andreas Gursky. Ausst.-Kat. The Museum of Mo<strong>der</strong>n Art,<br />
New York. Ostfil<strong>der</strong>n-Ruit 2001.<br />
20 Ebd., S. 7.
EINLEITUNG | 23<br />
halte, ihr kontextueller und historischer Zusammenhang sowie ihre<br />
Auswirkungen auf die Rezeption würden jedoch nicht weiter verfolgt.<br />
21 <strong>Die</strong>ser Umstand dürfte die Ursache dafür sein, dass die Autoren<br />
<strong>der</strong> Katalogtexte kaum voneinan<strong>der</strong> abweichende Positionen vertreten<br />
und sich auf wenige stereotype Selbstkommentierungen Gurskys<br />
berufen. 22<br />
Dennoch bieten die zahlreichen Beiträge <strong>der</strong> Ausstellungen (z.B.<br />
Kunstmuseum Wolfsburg 1998, Kunsthalle Düsseldorf 1998, Tate<br />
Gallery Liverpool 1995, Portikus Frankfurt am Main 1995, Deichtorhallen<br />
Hamburg 1994, Museum Haus Lange 1989) und Kunstzeitschriften<br />
(z.B. Art. Das Kunstmagazin 2001, Parkett 1995, Artis 1995)<br />
einen wertvollen Fundus von Einzelanalysen, Interpretationen und<br />
Werkeinteilungen. In Anbetracht <strong>der</strong> von mir anvisierten Untersuchung<br />
sind folgende Katalogbeiträge hervorzuheben:<br />
Rudolf Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994) spricht am Beispiel<br />
ausgewählter Arbeiten typische Stilmerkmale Gurskys an und leitet<br />
allgemeine Tendenzen für das bis dahin vorhandene Gesamtwerk<br />
ab. Neben einer von Gursky neu bewerteten ‚Totalen‘, <strong>der</strong> Prägung<br />
seiner Fotografien durch das kollektive Bildgedächtnis und seinem<br />
Hang zu ‚scheinbaren Wi<strong>der</strong>sprüchen‘ erwähnt Schmitz das Oszillieren<br />
<strong>der</strong> Werke zwischen einer abbildenden Realitätsnähe und einer<br />
formalen Fülle, die durch Strukturen bzw. serielle Bildelemente definiert<br />
wird und den Betrachter auf einer Ebene <strong>der</strong> Abstraktion vom<br />
21 Vgl. ebd., S. 31.<br />
22 „<strong>Die</strong> Wohnmaschine vom Bahnhof Montparnasse erweckt Assoziationen<br />
an die Farbtafelbil<strong>der</strong> von Gerhard Richter, [...]. [...] Der neutrale Himmel<br />
auf manchen von Gurskys Fotografien erinnert mich an die leicht o<strong>der</strong> gar<br />
nicht grundierte Leinwand, wie sie <strong>der</strong> amerikanische Maler Robert<br />
Ryman zur Erdung seiner Bil<strong>der</strong> gebraucht. [...] Andreas Gurskys Fotografie<br />
eines grauen Teppichbodens hat nichts mit Hoffnungslosigkeit zu tun.<br />
Auch handelt es sich nicht um das Verlangen nach Tabula rasa. Aber ähnlich<br />
wie bei dem Maler [Grauvermalungen Gerhard Richters] könnte davon<br />
eine Kur <strong>der</strong> Vorstellungskraft ausgehen, die zur Auffächerung bildnerischen<br />
Ausdrucks und an<strong>der</strong>sartiger Spannkraft des Werks führen dürfte.“<br />
Schmitz (Deichtorhallen Hamburg 1994, S. 14). „Das Resultat dieses Bildes,<br />
ein monochromes graues Farbfeld, das nicht von ungefähr an die<br />
grauen Farbtafeln von Gerhard Richter erinnert, [...].“ Syring (Kunsthalle<br />
Düsseldorf 1998, S. 5).
24 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
Gegenstand wegleitet. Bedeutsam ist, dass Schmitz für die Ausdrucksfülle<br />
im Werk Gurskys den Begriff des Ornaments heranzieht, diesen<br />
jedoch nicht zum Ausgangspunkt einer umfassenden Analyse macht.<br />
Wie zu Beginn erwähnt, soll in <strong>der</strong> vorliegenden Untersuchung die<br />
Verbindung von Ornament und Abstraktion als stilbildende Erscheinungsform<br />
in Betracht gezogen werden.<br />
Greg Hilty (Tate Gallery Liverpool 1995) teilt die Fotografien des<br />
Künstlers erstmals in thematische Gruppen wie ‚Menschen‘, ‚Schauplätze‘,<br />
‚Fassaden‘, ‚Innenräume‘ etc. ein. Der Aufsatz besticht durch<br />
eine konsequente Beschreibung und Kategorisierung <strong>der</strong> einzelnen<br />
Werke – formaler Bildeigenschaften und inhaltlicher Korrespondenzen<br />
– sowie ihrer Intentionen.<br />
Marie Luise Syring (Kunsthalle Düsseldorf 1998) verfolgt in ihrem<br />
Beitrag die das Werk prägenden Abstraktionsphänomene wie Allover-Strukturen<br />
und horizontale Bildkompositionen. Zudem deutet sie<br />
nicht nur das Verhältnis <strong>der</strong> Fotografien zur Malerei bzw. zur Kunst<br />
des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts an, son<strong>der</strong>n auch zur Alltagsästhetik einer konsumorientierten<br />
Gesellschaft. Im selben Katalog äußert sich Rupert<br />
Pfab zur digitalen Bearbeitung einiger Fotografien und <strong>der</strong> damit verbundenen<br />
Irritation des Betrachters, <strong>der</strong> das Abgebildete nicht mehr<br />
mit <strong>der</strong> ihm bekannten Realität in Einklang bringen könne. Pfab erläutert<br />
dabei die Möglichkeiten <strong>der</strong> Fotografie, die an die Wirklichkeit<br />
und zugleich an ein künstliches Konstrukt gebunden sei. Dabei erwähnt<br />
er erstens den aus <strong>der</strong> Malerei gewohnten aktiven Gestaltungsvorgang,<br />
<strong>der</strong> Eingang in die neuen Medien gefunden habe, zweitens<br />
die Nähe zu kompositorischen Strategien <strong>der</strong> Malerei und drittens die<br />
unmittelbare Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Malerei, wenn diese selbst<br />
zum Bildgegenstand wird. Lynne Cooke greift diesen Aspekt ebenfalls<br />
auf und bespricht die beiden Fotografien Gurskys, in denen Werke von<br />
Pollock und Turner zum Thema wurden. In Erweiterung von Syring<br />
konkretisiert sie die fotografischen Techniken <strong>der</strong> Vogelperspektive<br />
und des horizontalen Bildaufbaus, die zur „Formalisierung und Abstraktion“<br />
23 bei Gursky führen.<br />
23 Cooke, Lynne: Andreas Gursky: Visionäre (Per)Versionen. In: Syring,<br />
Marie Luise (Hrsg.): Andreas Gursky. Fotografien 1984 bis heute. Ausst.-<br />
Kat. Kunsthalle Düsseldorf. München, Paris, London 1998, S. 13-17, hier<br />
S. 14.
EINLEITUNG | 25<br />
Annelie Lütgens (Kunstmuseum Wolfsburg 1998) beschäftigt sich<br />
im Rahmen ihres Beitrags ebenfalls mit <strong>der</strong> Abstraktion in den Werken<br />
Gurskys: erstens in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den seriellen, horizontalen<br />
Bildelementen am Beispiel <strong>der</strong> Architekturaufnahmen und <strong>der</strong><br />
Aufnahmen von Warenregalen, zweitens im Hinblick auf das Ornament<br />
in jenen Fotografien, die All-over-Strukturen – z.B. Menschenmassen<br />
– zum Thema haben. Entsprechend lautet ihre Textüberschrift:<br />
„Der Blick in die Vitrine o<strong>der</strong>: Schrein und Ornament“. Mit Schrein<br />
und Ornament sind einerseits übergeordnete Kompositionsmerkmale,<br />
an<strong>der</strong>erseits Formen <strong>der</strong> erhabenen Präsentation gemeint. Lütgens unternimmt<br />
damit einen durchaus bedeutsamen Versuch, den Abstraktionsphänomenen<br />
bei Gursky auf die Spur zu kommen; allerdings zeigt<br />
sich – wie auch bei den an<strong>der</strong>en Autoren –, dass es sich lediglich um<br />
Analyseansätze handelt, denen kein wissenschaftliches Fundament<br />
beigegeben wurde. Aufgrund <strong>der</strong> selektiven Bildbesprechung können<br />
zudem we<strong>der</strong> Rückschlüsse auf das Gesamtwerk gezogen noch konsistente<br />
Entwicklungslinien dargelegt werden.<br />
Bildet das Jahr 2001 im öffentlichen Diskurs über Gurskys Œuvre<br />
einen ersten Höhepunkt, so werden dem Fotografen sechs Jahre später<br />
erneut umfangreiche Werkschauen in München (Haus <strong>der</strong> Kunst) und<br />
Basel (Kunstmuseum) zuteil, denen 2008 zwei weitere Ausstellungen<br />
in Darmstadt (Institut Mathildenhöhe) und Krefeld (Kunstmuseum,<br />
Haus Lange und Haus Esters) folgen. Während sich <strong>der</strong> Münchner Kurator<br />
Thomas Weski weitgehend auf das Abbilden <strong>der</strong> von Andreas<br />
Gursky selbst ausgewählten Werke beschränkt und Martin Hentschel<br />
für das Krefel<strong>der</strong> Kunstmuseums ebenfalls gemeinsam mit dem Künstler<br />
die zwischen 1980 und 2008 entstandenen Werke enzyklopädisch<br />
zusammenstellt, richten die Beiträge des Kunstmuseums Basel das<br />
Augenmerk erstmals ausführlich auf zwei ausgewählte Bildserien –<br />
‚F1 Boxenstopp‘, 2007 und ‚Pyongyang‘, 2007. <strong>Die</strong> Autoren Beate<br />
Söntgen und Nina Zimmer beziehen in ihre Analysen sinnstiftend foto-<br />
und kunsthistorische Vorbil<strong>der</strong> ein und legen die Bedeutung früherer<br />
Bildstrategien für die gegenwärtige Rezeption dar. Zudem diskutiert<br />
Zimmer den Begriff ‚Ornament <strong>der</strong> Masse‘ von Siegfried Kracauer<br />
zum ersten Mal im ursprünglichen Sinne, sieht das Ornament jedoch<br />
nicht als strukturbildendes Paradigma für die formal-ästhetische Analyse<br />
des Gesamtwerks Gurskys. 2008 begibt sich Ralf Beil (Mathildenhöhe,<br />
Darmstadt) in seinem Beitrag auf eine umfangreiche Suche<br />
nach den fotografischen Standorten Gurskys, um die Architektur-
26 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
Fotografien als komponierte und digital manipulierte Bil<strong>der</strong> zu entlarven.<br />
Für denselben Katalog beschreibt Francesca Ferguson anhand einiger<br />
Bildbeispiele schließlich Gurskys Anliegen, den Betrachter mit<br />
den visuellen Codes einer Gesellschaft im urbanen Zeitalter zu konfrontieren.<br />
<strong>Die</strong> Katalogbeiträge unterscheiden sich von jenen aus den<br />
Jahren vor <strong>der</strong> ersten Retrospektive darin, dass einzelne Werke nicht<br />
nur formal, son<strong>der</strong>n inhaltlich im gegenwärtigen und historischen<br />
Kontext sowie rezeptionsästhetisch untersucht werden.<br />
Ausführliche Interviews von Tim Ackermann (Welt am Sonntag<br />
2010), Nancy Tousley (Canadianart 2009), Guy Lane (Art World Magazine<br />
2009), Susanne Beyer und Ulrike Knöfel (Der Spiegel 2007),<br />
Florian Illies (Monopol 2007), Michael Krajewski (Kunst-Bulletin<br />
1999), Heinz-Norbert Jocks (Kunstforum International 1999), Andreas<br />
Reiter Raabe (Eikon 1997) und Bernhard Bürgi (Katalog Kunsthalle<br />
Zürich 1992) sowie <strong>der</strong> Briefwechsel zwischen Gursky und Veit Görner<br />
(Kunstmuseum Wolfsburg 1998) enthalten zahlreiche Anhaltspunkte<br />
zur fotografischen Ausbildung, zum Arbeitsverfahren und fotografischen<br />
Konzept Gurskys. Das Gespräch zwischen Gursky und<br />
Bürgi liefert im Jahr 1992 erste kurze Bildbesprechungen und umfangreiche<br />
Kommentierungen zur fotografischen Methode und Motivwahl,<br />
zum Umgang mit dem Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit, zu<br />
den Prozessen <strong>der</strong> Formalisierung und Strukturierung des Motivs sowie<br />
zur thematischen Bedeutung von Natur und Mensch und <strong>der</strong>en<br />
Korrespondenz mit Motiven aus <strong>der</strong> Kunstgeschichte. Im Briefwechsel<br />
mit Veit Görner äußert sich Gursky selbst zur fotografischen Technik<br />
und Bildfindung, <strong>der</strong>en Möglichkeiten durch die digitale Bildbearbeitung<br />
erweitert worden seien. Vor allem spricht Gursky die zunehmenden<br />
Abstrahierungen in seinen Bil<strong>der</strong>n an, die eine verän<strong>der</strong>te Rezeptionshaltung<br />
des Publikums erzeugen könnten – Anmerkungen, welche<br />
die Beiträge zum Düsseldorfer Katalog maßgeblich beeinflusst haben<br />
dürften. <strong>Die</strong> umfangreiche Befragung durch Heinz-Norbert Jocks ist<br />
zunächst auf die Biographie Gurskys gerichtet: wie er zur Fotografie<br />
gekommen sei und unter welchen gesellschaftlichen und fotografischen<br />
Einflüssen er das Studium absolviert habe. Überdies werden seine<br />
ersten Landschaftsaufnahmen thematisiert, die Entstehung seiner<br />
Bil<strong>der</strong> und die Themenwahl hinterfragt, <strong>der</strong> Umgang mit dem Computer<br />
erläutert und <strong>der</strong> Bezug zur abstrakten Malerei hergestellt. <strong>Die</strong><br />
jüngsten Interviews von Guy Lane, Nancy Tousley und Tim Ackermann<br />
geben schließlich Auskunft über Gurskys digitale Montage- und
EINLEITUNG | 27<br />
Bearbeitungstechniken sowie über die Zitierung uneigener o<strong>der</strong> computergenerierter<br />
Motive, die seinen komplexen Bildkonstruktionen zugrunde<br />
liegen.<br />
Neben den Einzelkatalogen gibt es eine Vielzahl an Gruppenkatalogen<br />
24 , die sich mit Einzelanalysen und ästhetischen Entwicklungen<br />
Gurskys auseinan<strong>der</strong>setzen. Perspektivenreiche Ansätze liefert <strong>der</strong><br />
Beitrag von Stefan Gronert (Große Illusionen, Kunstmuseum Bonn<br />
1999), <strong>der</strong> seinen Aufsatz zu Gursky mit ‚Verführung <strong>der</strong> Wirklichkeit.<br />
Abstraktion bei Andreas Gursky‘ betitelt. Er spricht sowohl den<br />
ästhetischen Reiz, die Schönheit und Verführungskraft <strong>der</strong> Fotografien<br />
an als auch das Phänomen <strong>der</strong> Formalisierung als Geometrisierung.<br />
Neben <strong>der</strong> formalen Abstrahierung versucht er überdies in ausgewählten<br />
Bildbeispielen eine allgemeine Bildaussage zu identifizieren – dadurch<br />
dass spezifische Themen und Motive Gurskys als universale Paradigmen<br />
aufgefasst werden. Gronerts Ansatz, erprobt an exemplari-<br />
24 U.a.: Click Doubleclick. Das dokumentarische Moment. Hrsg. v. Thomas<br />
Weski. Ausst.-Kat. Haus <strong>der</strong> Kunst, München. Köln 2006; Zwischen Wirklichkeit<br />
und Bild. Positionen deutscher Fotografie <strong>der</strong> Gegenwart. Hrsg. v.<br />
Rei Masuda. Ausst.-Kat. National Museum of Mo<strong>der</strong>n Art, Tokyo 2005;<br />
Cruel and Ten<strong>der</strong>. The Real in the Twentieth-Century Photograph. Hrsg. v.<br />
Emma Dexter und Thomas Weski. Ausst.-Kat. Tate Mo<strong>der</strong>n, London<br />
2003; Zwischen Schönheit und Sachlichkeit. Boris Becker, Andreas<br />
Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff, Thomas Struth. Hrsg.<br />
v. Achim Sommer. Ausst.-Kat. Kunsthalle Emden 2002; Ansicht Aussicht<br />
Einsicht. Andreas Gursky, Candida Höfer, Axel Hütte, Thomas Ruff,<br />
Thomas Struth. Architekturphotographie. Hrsg. v. Monika Steinhauser.<br />
Ausst.-Kat. Museum Bochum; Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig.<br />
Düsseldorf 2000; Große Illusionen. Thomas Demand, Andreas Gursky,<br />
Edward Ruscha. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Bonn; Museum of Contemporary<br />
Art North Miami. Köln 1999; Räume: Lucinda Devlin, Andreas<br />
Gursky, Candida Höfer. Ausst.-Kat. Kunsthaus Bregenz. Köln 1999;<br />
Landschaften. Michael Bach, Andreas Gursky, Axel Hütte, Michael van<br />
Ofen, Andreas Schön. Hrsg. v. Raimund Stecker. Ausst.-Kat. Kunstverein<br />
für die Rheinlande und Westfalen, Düsseldorf 1997; Distanz und Nähe.<br />
Fotografische Arbeiten von Bernd und Hilla Becher, Andreas Gursky,<br />
Candida Höfer, Axel Hütte, Simone Nieweg, Thomas Ruff, Jörg Sasse,<br />
Thomas Struth, Petra Wun<strong>der</strong>lich. Hrsg. v. Wulf Herzogenrath. Ausst.-<br />
Kat. Institut für Auslandsbeziehungen, Berlin 1992.
28 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
schen Bil<strong>der</strong>n, wird in dieser Arbeit auf das Gesamtwerk Gurskys<br />
übertragen: So werden die formalen Abstrahierungen kritisch geprüft<br />
und kategorisiert; darüber hinaus wird untersucht, inwiefern eine über<br />
das konkrete Bildmotiv hinausweisende zweite Sinnebene, eine metamotivliche<br />
Bildidee, für Gurskys Fotografien charakteristisch ist.<br />
Kai-Uwe Hemken (Ansicht Aussicht Einsicht, Museum Bochum,<br />
Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 2000) äußert sich hinsichtlich<br />
<strong>der</strong> Problemstellung analoge vs. digitale Fotografie zu einigen<br />
Werken von Andreas Gursky und Thomas Ruff. Das digitale ‚Bil<strong>der</strong>machen‘<br />
sieht er als Instrument, um Wirklichkeit im Bild zu manipulieren<br />
und durch diese Manipulation zu einer kraftvolleren – konzentrierten<br />
– Bildaussage zu gelangen. Eine formale Abstraktion führe dazu,<br />
dass Gurskys Fotografien zwischen Dokument und Bild changieren.<br />
Zudem könnten Bildthemen wie das <strong>der</strong> Börse o<strong>der</strong> des<br />
Schwimmbades aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Formalisierung und <strong>der</strong> visuellen<br />
Verdichtung als „Spurensicherung“ <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Massen- und<br />
Mediengesellschaft betrachtet werden.<br />
<strong>Die</strong> Filme ‚Andreas Gursky. Das globale Foto‘ (Pars Media, 2009),<br />
‚Gursky World‘ (Channel 4, GB, 2002) und ‚Andreas Gursky und<br />
Thomas Ruff‘ (arte, D/F, 1999) sowie <strong>der</strong> Radiobeitrag 25 auf WDR 5<br />
von 2003 zur Entstehung eines Großfotos im Fotolabor Grieger, Düsseldorf,<br />
geben schließlich wichtige Informationen zur künstlerischen<br />
Produktion.<br />
Rupert Pfab gehört zu den ausgewiesenen Kennern <strong>der</strong> Fotografen,<br />
die bei Bernd und Hilla Becher an <strong>der</strong> Düsseldorfer Akademie in den<br />
70er- und 80er-Jahren gelernt haben. In seiner Dissertation ‚Studien<br />
zur Düsseldorfer Photographie. <strong>Die</strong> frühen Akademieschüler von<br />
Bernd Becher‘, die 1999 abgeschlossen und 2001 veröffentlicht wurde,<br />
arbeitet Pfab die fotografischen Positionen von Candida Höfer, Axel<br />
Hütte, Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky heraus. Leitfrage<br />
dabei ist erstmals ausführlich, inwieweit „die Studenten das<br />
Konzept ihrer Lehrer rezipiert und in welcher Weise sie sich davon<br />
25 „Scala, das Kulturmagazin von WDR 5, stellt die Entstehung eines Großfotos<br />
und die Weiterverarbeitung im Diasec®-Verfahren anhand eines Motivs<br />
von Fotokünstler Andreas Gursky vor.“ In: Grieger GmbH & Co KG<br />
Fotolaboratorien/Grieger News. Siehe http://www.grieger-online.de vom<br />
18.06.2004. <strong>Die</strong> Sendung von Claudia Dichter wurde am 17. September<br />
2003 ausgestrahlt.
EINLEITUNG | 29<br />
abgegrenzt haben.“ 26 In <strong>der</strong> Einzelanalyse zu Andreas Gursky entspricht<br />
Pfabs analytisches Vorgehen jedoch weitgehend <strong>der</strong> Methode<br />
<strong>der</strong> vorangegangenen Literatur: Er geht über eine thematische Ordnung<br />
des Werkes nicht hinaus, erweitert in Beschreibung und Interpretation<br />
das vorhandene wissenschaftliche Material nur geringfügig und<br />
führt typische Stilmerkmale sowie Vergleiche aus <strong>der</strong> Fotografie- und<br />
Kunstgeschichte an, ohne sie differenzierter zu untersuchen.<br />
<strong>Die</strong> Aspekte <strong>der</strong> Formalisierung und Abstraktion stehen in den Katalogtexten<br />
und Interviews sowie in den Beiträgen <strong>der</strong> Kunstzeitschriften<br />
bisher nur in Ansätzen zur Diskussion. Eine grundsätzliche Untersuchung<br />
und stringente Überprüfung dieser bildsprachlichen Muster<br />
steht noch aus. <strong>Die</strong> vorliegende Arbeit soll dieser For<strong>der</strong>ung nachgehen<br />
und damit als Versuch und Beitrag verstanden werden, das gesamte<br />
Werk Gurskys einer einheitlichen, möglichst konsequenten Deutungshypothese<br />
auf formaler und inhaltlicher Ebene zu unterwerfen.<br />
Bevor es nun zu einer Annäherung an das Phänomen <strong>der</strong> Abstraktion<br />
in <strong>der</strong> Fotografie am Beispiel <strong>der</strong> Werke von Andreas Gursky kommt,<br />
werden zum besseren Verständnis im folgenden Kapitel die Phasen<br />
seiner fotografischen Ausbildung dargelegt.<br />
4. ZUR PERSON GURSKY<br />
Andreas Gurskys Weg zur künstlerischen Fotografie ist von drei Ausbildungssequenzen<br />
geprägt. <strong>Die</strong> erste Phase ist bereits in seiner Kindheit<br />
zu finden, da er sich häufig im Düsseldorfer Werbestudio seiner<br />
Eltern aufhielt. 27 Gursky wächst somit in einem unmittelbar durch die<br />
26 Pfab, Rupert: Studien zur Düsseldorfer Photographie. <strong>Die</strong> frühen Akademieschüler<br />
von Bernd Becher. Weimar 2001, S. 15. Zugl.: Berlin, Freie<br />
Univ., Diss., 1999.<br />
27 Andreas Gursky wird 1955 in Leipzig geboren. Seine Eltern Rosemarie<br />
und Willy Gursky ziehen noch im selben Jahr mit ihm nach Essen und<br />
zwei Jahre darauf in das nahe gelegene Düsseldorf. Der Berufsfotograf<br />
Willy Gursky – sein Vater Hans ging bereits <strong>der</strong>selben Tätigkeit nach, jedoch<br />
als Industrie- und Strandfotograf – trifft im wirtschaftlichen Aufschwung<br />
des Westens auf einen guten Nährboden für sein Fotoatelier.<br />
Gursky stand als Kind seinem Vater für diverse Werbeaufnahmen mehr-
30 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
Fotografie geprägten Umfeld auf; er lernt sowohl das fotografische<br />
Handwerk als auch die Methoden <strong>der</strong> kommerziellen Fotografie kennen.<br />
Als junger Mann verweigert er sich <strong>der</strong> aus seiner Sicht allzu materialistisch<br />
orientierten Konsumgesellschaft, boykottiert damit auch<br />
sein Elternhaus und fühlt sich zunächst zum Beruf des Sozialpädagogen<br />
o<strong>der</strong> Psychologen hingezogen. 28 <strong>Die</strong> zweite Ausbildungssequenz<br />
beginnt 1977/78 mit Eintritt in den Fachbereich Fotografie <strong>der</strong> von Otto<br />
Steinert gegründeten Essener Folkwangschule.<br />
Steinert vertrat die ‚subjektive fotografie‘, die er 1951 selbst begründet<br />
hatte und die – unter demselben Namen – in drei Ausstellungen<br />
zwischen 1951 und 1958 namhaft wurde. <strong>Die</strong> ‚subjektive fotografie‘<br />
ging aus <strong>der</strong> Gruppe ‚fotoform‘ 29 hervor, welche – wie <strong>der</strong> Name<br />
ausdrückt – die Form im Bildmotiv betonte. Sie kann als eine „Art Sezession“<br />
verstanden werden, im Gegensatz zur Nachkriegsfotografie,<br />
die noch sentimentale Mutter-Kind-Szenen und Landschaften sowie<br />
ein „heroisierendes Menschenbild“ ablichtete. 30 Im Gegensatz zu<br />
fach Modell. Vgl. Jocks, Heinz-Norbert: „Andreas Gursky: ‚Das Eigene<br />
steckt in den visuellen Erfahrungen‘. Ein Gespräch von Heinz-Norbert<br />
Jocks.“ In: Kunstforum International, Bd. 145, Mai-Juni 1999, S. 248-265,<br />
hier S. 249. Vgl. auch Galassi 2001, S. 12.<br />
28 Gurskys Kindheit bzw. Jugend fällt in die Studentenproteste Ende <strong>der</strong><br />
1960er Jahre. <strong>Die</strong> vom RAF-Terrorismus geprägte BRD erlebt er im Alter<br />
von Anfang zwanzig. Vgl. Galassi 2001, S. 12. Vgl. auch Jocks 1999, S.<br />
249-251.<br />
29 <strong>Die</strong> Gruppe ‚fotoform‘ wurde als Gegenprojekt zur Ausstellung in Neustadt<br />
1949 von Wolfgang Reisewitz gegründet. Der Fotograf Reisewitz organisierte<br />
im Auftrag <strong>der</strong> französischen Besatzer anlässlich einer Wirtschaftsmesse<br />
eine Fotografieausstellung. <strong>Die</strong> beteiligte Jury lehnte jedoch<br />
einen Teil seiner Vorschläge ab. Daher organisierte Reisewitz für die abgelehnten<br />
sechs Fotografen (Peter Keetman, Siegfried Lauterwasser, Toni<br />
Schnei<strong>der</strong>s, Ludwig Windstoßer und Otto Steinert) eine zusätzliche Ausstellung,<br />
die schließlich zusammen die Gruppe ‚fotoform‘ bildeten. Vgl.<br />
Auer, Barbara: „<strong>Die</strong> Fotografie ist ein äußerst spannendes Medium, ungeheuer<br />
vielseitig, flexibel und sicherlich noch lange nicht ausgelotet.“ Ein<br />
Gespräch zwischen Prof. Dr. J.A. Schmoll gen. Eisenwerth und Barbara<br />
Auer am 29. Juli 1998 in München. In: Auer 1998, S. 7-18, hier S. 11.<br />
30 Schmoll, gen. Eisenwerth, im Gespräch mit Barbara Auer: ebd., S. 11, S.<br />
12.
EINLEITUNG | 31<br />
‚fotoform‘ avancierten die ‚subjektive fotografie‘ und die damit verbundenen<br />
Ausstellungen zu internationaler Bedeutung. Otto Steinert<br />
präsentierte 1951 in Saarbrücken avantgardistische Arbeiten von Fotografen<br />
wie László Moholy-Nagy, Herbert Bayer und Man Ray <strong>der</strong><br />
20er-Jahre, um die Tradition <strong>der</strong> experimentellen Fotografie aufzuzeigen.<br />
Überdies vertrat er Fotografen, die sich den Zielen von ‚fotoform‘<br />
anschlossen und im Gegensatz zur vermeintlich objektiven Fotografie,<br />
im Sinne <strong>der</strong> Dokumentations- und Sachfotografie, eine experimentelle,<br />
surreale o<strong>der</strong> abstrahierende Fotografie anstrebten − ihren Arbeiten<br />
also bewusst einen subjektiven, persönlichen Ausdruck verliehen. <strong>Die</strong><br />
‚neue Fotografie‘ <strong>der</strong> 20er-Jahre zeichnet sich dadurch aus, dass mit<br />
dem Medium <strong>der</strong> Fotografie erstmals experimentiert wurde und verschiedene<br />
Techniken, wie das Fotogramm, die Montage, die Doppelbelichtung<br />
etc., erprobt wurden. <strong>Die</strong> Fotografen <strong>der</strong> 50er-Jahre erweiterten<br />
diese Techniken um die ‚Sandwichtechnik‘, erschlossen systematisch<br />
die Strukturfotografie, vergrößerten das Bildformat, experimentierten<br />
mit Bildausschnitt und Blickwinkel und erhöhten die bildnerische<br />
Qualität. Zwar traten Strukturfotografien auch bereits in den<br />
20er-Jahren auf, doch die bewusste und fokussierte Abbildung von<br />
grafischen Spuren in Architektur, Technik und Natur bleibt im Wesentlichen<br />
eine Erscheinungsform <strong>der</strong> ‚subjektiven fotografie‘. 31 Neben<br />
den experimentellen Lösungen war das „formal und inhaltlich gestaltete<br />
Foto“ 32 von hohem Interesse. <strong>Die</strong> von Steinert für die Ausstellungen<br />
ausgewählten Arbeiten reichten<br />
„von Reportageaufnahmen [...] über Bil<strong>der</strong>, bei denen die Komposition wichtiger<br />
als das Motiv wurde, und nachträglich verän<strong>der</strong>te Fotografien bis zu Experimenten<br />
mit Licht und Fotopapier“ 33 .<br />
31 Vgl. ebd., S. 13ff.<br />
32 Steinert, Otto: Vorwort. In: <strong>der</strong>s.: subjektive fotografie. Internationale<br />
Ausstellung mo<strong>der</strong>ner Fotografie. Ausst.-Kat. Fotografische Abteilung <strong>der</strong><br />
Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk. Saarbrücken 1951, S. 5.<br />
33 Koenig, Thilo: „Subjektive Fotografie“ in den fünfziger Jahren. Berlin<br />
1988, S. 9. Dass auch einige Reportageaufnahmen zur ‚subjektiven fotografie‘<br />
gezählt wurden, verweist auf die damalige Diskussion, dass im<br />
Grunde jede Fotografie als ‚subjektiv‘ bezeichnet werden müsse. Eine Dokumentarfotografie<br />
könne nicht als absolut objektiv gelten, da sie immer<br />
vom subjektiv auswählenden Fotografen bestimmt werde. <strong>Die</strong>ser subjekti-
32 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
<strong>Die</strong> Fotomontage und die gleichzeitige Verwendung an<strong>der</strong>er Medien<br />
wie noch in den 20er-Jahren gab es nicht, da sich dies zu sehr von <strong>der</strong><br />
Fotografie als abbildendem Medium entfernte. 34<br />
Gurskys zweijähriges Studium war nur zu Beginn von <strong>der</strong> prominenten<br />
Lehrerpersönlichkeit geprägt, denn Otto Steinert starb ein halbes<br />
Jahr nach Gurskys Immatrikulation. 35 Neben <strong>der</strong> ‚subjektiven fotografie‘<br />
standen die Werbung, die Illustration und <strong>der</strong> Fotojournalismus<br />
im Zentrum <strong>der</strong> künstlerischen Lehrjahre. Von den diversen Gastdozenten,<br />
die auf Steinert folgten, hinterließ Michael Schmidt mit seinen<br />
Stadtlandschaften nachhaltigen Eindruck bei dem jungen Studenten.<br />
Obwohl Gurskys Aufnahmen aufgrund ihrer Nähe zur Werbefotografie<br />
von Schmidts Stilvorstellungen weit entfernt waren, verinnerlichte<br />
er neben den Einflüssen Steinerts und André Gelpkes – <strong>der</strong><br />
ebenfalls zu den Vertretern <strong>der</strong> ‚subjektiven‘ Richtung gehörte – den<br />
poetischen Reiz <strong>der</strong> auf den ersten Blick nüchtern wirkenden Aufnahmen.<br />
Nach seinem Abschluss 1979/80 wollte Gursky schließlich in<br />
Hamburg Fotojournalist werden, dies gelang jedoch nicht. 36<br />
<strong>Die</strong> entscheidende und letzte Phase <strong>der</strong> fotografischen Ausbildung<br />
beginnt im Herbst 1980, als er sich – dem Vorschlag seines Freundes<br />
Thomas Struth folgend – an <strong>der</strong> Düsseldorfer Kunstakademie bewirbt<br />
und auch immatrikulieren kann. Nach dem einjährigen Grundstudium<br />
entscheidet sich Gursky für die Vertiefung ‚Freie Kunst‘, die neben<br />
<strong>der</strong> Kunsterziehung an <strong>der</strong> Kunstakademie angeboten wird. Er bewirbt<br />
sich bei Bernd Becher, <strong>der</strong> 1976 an die Akademie berufen worden war,<br />
und wird in den Kreis seiner Schüler aufgenommen. Eine beson<strong>der</strong>s<br />
ve Einfluss rechtfertige somit die Stellung <strong>der</strong> Fotografie als eine Form<br />
künstlerischen Ausdrucks, gleich <strong>der</strong> Malerei, Graphik etc., die ihr zur Zeit<br />
ihrer Erfindung nicht zugestanden wurde. <strong>Die</strong> ausdrückliche Benennung<br />
von Werken als ‚subjektive fotografie‘ sollte nun den Aspekt <strong>der</strong> Gestaltung<br />
durch den Fotografen ausdrücklich hervorheben. Vgl. ebd., S. 8. Vgl.<br />
dazu ausführlicher die Beiträge von J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Objektive<br />
und subjektive Fotografie und Franz Roh: Über die innere Reichweite<br />
<strong>der</strong> Fotografie. Beide in: Steinert, Otto (Hrsg.): Subjektive Fotografie. Ein<br />
Bildband mo<strong>der</strong>ner europäischer Fotografie. Bonn 1952, S. 8-12, hier S. 9<br />
und S. 13-15, hier S. 13f.<br />
34 Vgl. Koenig 1988b, S. 9.<br />
35 Hinweis von Andreas Gursky an die Verfasserin am 10.04.2011.<br />
36 Vgl. Jocks 1999, S. 252f. Vgl. Galassi 2001, S. 12f.
EINLEITUNG | 33<br />
konstruktive Arbeitsatmosphäre lag damals in <strong>der</strong> nur kleinen Studentengruppe<br />
und in <strong>der</strong> intensiven – zum Teil im Privatbereich des Fotografenehepaars<br />
Bernd und Hilla Becher stattfindenden – Betreuung<br />
begründet. Zu den Studenten <strong>der</strong> Klasse zählten auch Candida Höfer,<br />
Axel Hütte, Thomas Struth, Volker Döhne und Tata Ronkholz. Hütte<br />
und Struth hatten ihre Ausbildung bereits beendet, als die Studenten<br />
Andreas Gursky, Thomas Ruff und Petra Wun<strong>der</strong>lich dem Kreis beitraten.<br />
Später kamen u.a. Simone Nieweg und Jörg Sasse hinzu. 1987,<br />
nach sechsjährigem Studium, verlieh Bernd Becher Andreas Gursky<br />
den Titel des Meisterschülers. 37<br />
Das Werk des Lehrerehepaars Becher steht maßgeblich für eine<br />
gleichermaßen dokumentarische wie künstlerische Fotografie, die in<br />
ihrer unpersönlichen Objektivität konträr zur Fotografie Steinerts<br />
stand. Ihre typologische Arbeitsweise und die serielle Präsentation <strong>der</strong><br />
Werke ermöglichen eine vergleichende Bildbetrachtung, die das Prinzip<br />
ihrer künstlerischen Haltung ausmacht. <strong>Die</strong> aus den Bereichen<br />
Schwerindustrie und Funktionsbau gewählten Motive legen zudem<br />
Zeugnis ab von einer funktional und kapitalistisch geprägten Architekturgeschichte.<br />
Bernd und Hilla Becher begannen in den 60er-Jahren<br />
damit, eine vollständige Dokumentation alter Industriegebäude anzustreben.<br />
Dabei wurden sie nicht von denkmalpflegerischen Ambitionen<br />
geleitet, son<strong>der</strong>n von dem Streben nach einer objektiven Bestandsaufnahme<br />
von Gebäuden, <strong>der</strong>en ursprüngliche Funktion bereits obsolet<br />
geworden war. Ihre fotografische Haltung leitet sich von <strong>der</strong> frühen<br />
Industriefotografie <strong>der</strong> ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts ab, die<br />
einen umfassenden, erhöhten und auf die funktionalen Eigenschaften<br />
<strong>der</strong> Architektur ausgerichteten detailgenauen Blick sowie eine neutrale<br />
Himmel- und Lichtsituation bevorzugten. 38 <strong>Die</strong> Bechers entwickelten<br />
daraus ihre Strategie <strong>der</strong> „fotografischen Aufnahme aus <strong>der</strong> Distanz,<br />
um die <strong>Dinge</strong> nah zu sehen“ 39 . Nach ersten Ausstellungen in Deutsch-<br />
37 Vgl. Jocks 1999, S. 255. Vgl. Galassi 2001, S. 12, S. 15f.<br />
38 Vgl. Herzogenrath, Wulf: Becher und Becher-Schule. In: <strong>der</strong>s.: Mehr als<br />
Malerei. Vom Bauhaus zur Video-Skulptur. Regensburg 1994, S. 202-229,<br />
hier S. 202ff. <strong>Die</strong> Bechers fanden die Aufnahmen <strong>der</strong> Stahlindustriearchitektur<br />
– wie z.B. von Peter Weller – u.a. in den Archiven <strong>der</strong> Firmen des<br />
Siegerlandes. Vgl. Galassi 2001, S. 10f.<br />
39 Herzogenrath 1994, S. 203.
34 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
land, den Nie<strong>der</strong>landen und den USA 40 sowie nach ersten Veröffentlichungen<br />
in Zeitschriften 41 in den 60er-Jahren gaben Bernd und Hilla<br />
Becher 1970 ihr erstes Buch mit dem Titel ‚Anonyme Skulpturen –<br />
Eine Typologie technischer Bauten‘ im Art-Press <strong>Verlag</strong> Düsseldorf<br />
heraus. Darin ordnen sie erstmals die fotografierten Architekturen<br />
nach Formverwandtschaft und definieren spezifische Serien. Der von<br />
den Bechers bereits 1969 geprägte Begriff ‚Anonyme Skulpturen‘ erzeugte<br />
ein neues Verständnis von industrieller Architektur. Der Direktor<br />
<strong>der</strong> Kunsthalle Düsseldorf – Karl Ruhrberg – erklärt 1969 anlässlich<br />
<strong>der</strong> Ausstellung ‚Anonyme Skulpturen‘:<br />
40 Es handelt sich dabei um folgende Ausstellungen: 1963, ‚Fachwerk‘,<br />
(Häuser und Industriegebäude des Siegerlandes), Buchhandlung und Galerie<br />
Ruth Nohl in Siegen; 1965, (Serien von Kalköfen, Hochöfen, För<strong>der</strong>-,<br />
Wasser- und Kühltürmen, Häuser etc.), Galerie Pro in Bad Godesberg bei<br />
Bonn; 1967, ‚Industriebauten 1830-1930. Eine fotografische Dokumentation<br />
von Bernd und Hilla Becher‘, mit einem Vorwort von Wend Fischer,<br />
<strong>Die</strong> Neue Sammlung, Staatliches Museum für angewandte Kunst, München;<br />
1968, ‚Bouwen voor de Industrie in de negentiende en twintgste<br />
eeuw. En fotografische dokumentatie door Hilla en Bernd Becher‘,<br />
Stedelijk Van Abbemuseum Eindhoven; 1968, University of Southern<br />
California in Los Angeles und 1969, ‚Anonyme Skulpturen. Formvergleiche<br />
industrieller Bauten‘, Photos von Bernhard und Hilla Becher, mit Texten<br />
von Bernhard und Hilla Becher, Karl Ruhrberg und Thomas<br />
Grochowiak, Städtische Kunsthalle, Düsseldorf. Vgl. Lange, Susanne: Von<br />
<strong>der</strong> Entdeckung <strong>der</strong> Formen. Zur Entwicklung des Werkes von Bernd und<br />
Hilla Becher. In: dies. (Hrsg.): Bernd und Hilla Becher. Festschrift Erasmuspreis<br />
2002. München 2002, S. 11-31, hier S. 16-21. Vgl. auch Lange<br />
2002, S. 159-162.<br />
41 Es handelt sich dabei u.a. um folgende Veröffentlichungen: Kahmen, Volker:<br />
Möglichkeiten einer Dokumentation <strong>der</strong> Industriearchitektur. In: Werk<br />
und Zeit. 14. Jg., Juli/August 1965, Heft 7/8 und Kahmen, Volker: Industriefachwerk<br />
– Beitrag zur Morphologie des Siegerlandes. In: Bauwelt. 57.<br />
Jg. 1/2, 10. Januar 1966, S. 21-31. Vgl. Lange 2002a, S. 20.
EINLEITUNG | 35<br />
„Es sind Gebilde, die wie anonyme Skulpturen o<strong>der</strong> anonyme Strukturen in <strong>der</strong><br />
Landschaft stehen, die <strong>der</strong>en Bild bestimmen und eine Art zweiter Natur geworden<br />
sind: Organe und Zeugen <strong>der</strong> frühen technischen Existenz.“ 42<br />
Festzuhalten ist, dass das fotografische Prinzip <strong>der</strong> Bechers durch eine<br />
präzise, sachlich-nüchterne und konstante Arbeitsweise, durch das<br />
formatfüllend und in frontaler Darstellung im Zentrum <strong>der</strong> Fotografie<br />
stehende Objekt, durch ein systematisch-archivarisches Vorgehen und<br />
durch die typologische Reihung geprägt ist. Das Subjekt tritt insofern<br />
zurück, als auf eine originäre Gestaltung verzichtet wird.<br />
Bis 1984 verinnerlicht Gursky die streng typologische Arbeitsweise<br />
<strong>der</strong> Bechers. Für die in dieser Zeit entstandene Serie über Foyers<br />
von Industrieunternehmen und Konzernen, in denen Gursky stets zwei<br />
stereotyp gekleidete Empfangspersonen vorfand, erhielt er 1984 bereits<br />
den 1. Kodak-Nachwuchs-För<strong>der</strong>preis. 43 Nach 1984 ebnet sich<br />
Gursky den Weg zu eigenständigem künstlerischen Schaffen, indem er<br />
sich bewusst von den Vorgaben seiner Lehrer löst und mit landschaftlichen<br />
Motiven seinen eigenen Stil sucht. 44 Zu diesem Zeitpunkt arbeitet<br />
er bereits intensiv mit <strong>der</strong> Farbfotografie. Ein Graduiertenstipendium<br />
<strong>der</strong> Kunstakademie im Jahr 1987, das er mit Hilfe von Kaspar König<br />
erhält, erlaubt es ihm, sich nach Beendigung <strong>der</strong> Akademie<br />
1987/88 allein auf seine fotografische Profession zu konzentrieren. 45<br />
42 Ruhrberg, Karl: Anonymität als Stilprinzip. Fotos industrieller Bauten von<br />
Bernhard und Hilla Becher. In: Anonyme Skulpturen. Formvergleiche industrieller<br />
Bauten. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 1969, o.S. Hier nach<br />
Ruhrberg, Karl: Avantgarde – klassisch geworden. Zu den Arbeiten von<br />
Bernd und Hilla Becher. In: Lange 2002, S. 39-40, hier S. 40. Siehe auch<br />
Lange 2002a, S. 23.<br />
43 Vgl. Meister, Helga: Andreas Gursky. Sonntagsbil<strong>der</strong>. In: dies.: Fotografie<br />
in Düsseldorf. <strong>Die</strong> Szene im Profil. 1. Aufl. Düsseldorf 1991, S. 176-179,<br />
hier S. 177. Vgl. auch Jocks 1999, S. 255.<br />
44 Vgl. Jocks 1999, S. 256.<br />
45 1989 erhält er den För<strong>der</strong>preis des Landes Nordrhein-Westfalen für junge<br />
Künstler und den 1. Deutschen Photopreis Stuttgart sowie 1990 ein Stipendium<br />
für Zeitgenössische Fotografie <strong>der</strong> Alfred Krupp von Bohlen und<br />
Halbach-Stiftung; es folgt 1991 <strong>der</strong> RENATA Preis <strong>der</strong> Kunsthalle Nürnberg.<br />
1998 wird ihm <strong>der</strong> Citibank Photography-Prize, London, und 2003<br />
<strong>der</strong> Wilhelm-Loth-Preis <strong>der</strong> Stadt Darmstadt verliehen. Zuletzt hat er 2008
36 | DIE KONSTITUTION DER DINGE<br />
den Kaiserring Kunstpreis <strong>der</strong> Stadt Goslar und den LeadAward,<br />
LeadAcademy für Mediendesign und Medienmarketing e.V., Hamburg,<br />
erhalten. <strong>Die</strong> erste große Einzelausstellung erhält Gursky 1994 in den<br />
Hamburger Deichtorhallen, <strong>der</strong> bis zur Retrospektive durch Peter Galassi<br />
im Jahr 2001 Einzelausstellungen u.a. in Liverpool, Wolfsburg und Houston<br />
folgen. Im Jahr 2007 wird ihm erneut eine Retrospektive im Haus <strong>der</strong><br />
Kunst, München, gewidmet; Ausstellungen in Basel und 2008 in Darmstadt<br />
und Krefeld folgen. In <strong>der</strong> Aufnahme ‚Charles de Gaulle‘ von 1992<br />
bezieht Gursky zum ersten Mal die digitale Bildbearbeitung – die zu einem<br />
wesentlichen Merkmal seiner Arbeiten wird – ein. Seit 1993 wird er von<br />
<strong>der</strong> Galerie Sprüth Magers in Köln betreut. 2002 bezieht Gursky mit seinem<br />
Freund und Kollegen Thomas Ruff das von den Architekten Herzog<br />
& de Meuron zum Atelier umgebaute Umspannwerk im Düsseldorfer<br />
Stadtteil Oberkassel, wo er seitdem lebt und arbeitet. 2010 nimmt er die<br />
Professur für das Fach ‚Freie Kunst‘ an <strong>der</strong> Düsseldorfer Kunstakademie<br />
an.