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Vortrag von Bischof Dr. Hein als PDF-Datei - Elisabethkirche

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eit danken wir allen, die diese Kirche in ihrem Herz, mit ihren Gedanken, durchhandwerkliche Fertigkeit und mit ihren Händen geschaffen haben.Wir feiern zugleich Christi Himmelfahrt. Christus fährt zum Himmel, er sitzt zurRechten Gottes. Wenn wir da<strong>von</strong> sprechen, dann geht es dabei nicht um einebesondere wundersame Form der Mobilität zwischen Erde und Himmel. Nein,wenn wir die Botschaft <strong>von</strong> Christi Himmelfahrt bedenken, so wissen wir spätestensjetzt, mit welchem Gott wir es <strong>als</strong> Christen zu tun haben, wer wirklich Herrdieser Welt ist: Herr der Welt ist Jesus Christus, in dem sich die Liebe Gotteszeigt.Doch auch ein Zweites ist mit Christi Himmelfahrt verbunden. Jesus verlässtseine Jünger – zumindest nach irdisch-menschlichem Maßstab. Viele Jüngerwaren Jesus auf seinem Weg durch Galiläa gefolgt, sie kannten ihn <strong>von</strong> Angesichtzu Angesicht; sie hatten seine Worte gehört, seine Wunder, seinen Leidenswegerlebt. Am Karfreitag schien alles zu Ende zu sein und Jesu Botschaftder Liebe durch reale menschliche Gewalt widerlegt – bis zur Auferstehung.Jesus zeigt sich, erscheint seinen Jüngern – gleich mehrere Male. Doch dannverlässt er sie und verheißt zugleich seinen Jüngern seinen bleibenden Beistand,den Heiligen Geist. Für die Jünger Jesu war mit der Himmelfahrt desauferstanden Herrn Vieles, wenn nicht alles anders geworden: Seither leben wir<strong>als</strong> Gemeinschaft Jesu in dieser Welt, doch jede Generation befindet sich unteranderen Rahmenbedingungen auf dem Weg der Nachfolge. Es sind neue Aufgaben,neue Formen, Anlässe und Orte der Verantwortung, mit denen sich dieKirche bei ihrem Gang durch die Jahrhunderte auseinandersetzen, an denensie sich bewähren und ihren Glauben leben muss: Das war zur Zeit Elisabethsnicht anders <strong>als</strong> heute. Und die Frage wird auch uns im Jahr 2008 gestellt: Woist der Platz der Jünger Jesu heute, was hat die Kirche heute in der Elisabeth-Stadt Marburg zu sagen?Die Antwort darauf ist in der Überschrift meines <strong>Vortrag</strong>s enthalten: „Zeichender Gegenwart Gottes – Die Kirche in der Stadt hat Zukunft“.Die Kirche hat Zukunft – sie ist Zeichen der Gegenwart Gottes. Was ist aberdamit gemeint? Dem Wort Kirche haftet ja eine doppelte Bedeutung an: Man2


Ich nehme die Schlussfolgerung vorweg: Auch in Zukunft werden unsere KirchengebäudeZeichen der Gegenwart Gottes sein; sie werden dazu beitragen,dass die Kirche in der Stadt (und nicht nur dort) Zukunft hat.Kirche – vom Gebäude zur Gemeinschaft der Heiligen, der heiligen christlichenKirche. Hat auch sie in der Stadt Zukunft? Wer diese Frage offen stellt, erhältoft eine Antwort, in die sich mehr oder minder leise vorgetragene Zweifel mischen.Es scheinen die nüchternen Zahlen mit Blick auf die Zukunft der Kirchein der Stadt wenn nicht zweifeln, so doch Skepsis walten zu lassen: rückläufigeMitgliederzahlen, knappe Ressourcen, mit denen die Kirche ihren Aufgabennachzukommen hat. Um nochm<strong>als</strong> auf die Kirchengebäude zu sprechen zukommen: Eine Nachricht, wie sie neulich in den Medien zu lesen war, wonachdie Evangelische Kirche in der Stadt Frankfurt in absehbarer Zeit 15 Kirchengebäudeaufgegeben werden müssen, kann nur erschrecken, selbst wenn wir inder Evangelischen Kirche <strong>von</strong> Kurhessen-Waldeck vor solche Entscheidungennicht gestellt sind.Angst freilich ist ein schlechter Ratgeber; bei allem Engagement ist auch hiermit Blick auf die Zukunft der Kirche der Stadt Nüchternheit hilfreich, getreu derEinsicht: “Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft,der Liebe und der Besonnenheit.“ Dies durften sich bereits die ersten Christensagen lassen.III.Blickt man auf die Geschichte der Christenheit, so macht man eine eigentümlicheBeobachtung. Das Christentum ist <strong>von</strong> seinen Anfängen her eine städtischeReligion: Die Verbreitung des Christentum fand in den Städten statt: Von Jerusalemerreicht es zunächst die Städte rund ums Mittelmeer. In der Apostelgeschichtewie anhand der Briefe des Apostels Paulus lässt sich das belegen:Antiochia, Ephesus, Thessalonich, Philippi, Korinth, Rom – die Reihe ließe sichfortsetzen. Auch die Reformation – um einen größeren Sprung in der Christentumsgeschichtezu machen – fand ihren Ausgang und ihre erste Resonanz inden Städten. Heute scheint der Ort enger kirchlicher Verbundenheit eher aufdem Land zu liegen. Doch auch die Situation der Kirche in ländlichen Räumen4


ist alles andere <strong>als</strong> eine Idylle. Hier muss ebenfalls die Frage nach der Zukunftder Kirche gestellt werden: Demographischer Wandel, Abwanderung in Ballungsgebiete– das sind Entwicklungen auch in unserer Landeskirche. Die Fragenach der Zukunft der Kirche stellt sich demnach nicht allein in der Stadt,wohl aber in ihr unter einem ganz bestimmten Blickwinkel.Unsere Gesellschaft wandelt sich – in globaler Hinsicht genauso wie hierzulande.Und in einer spezifischen und dann wieder doch sehr unterschiedlichenWeise auch unsere Städte.Die Stadt – gibt es sie überhaupt? Da sind Zweifel angebracht. Anders gesagt:Stadt ist nicht gleich Stadt. Man kann die Megastädte, wie sie vor allem in dersüdlichen Hemisphäre, aber auch in den USA und in Europa in Ansätzen mitBlick auf Paris und London zu finden sind, nicht mit den deutschen Verhältnissenvergleichen. Und selbst bei uns ist das Spektrum ausgesprochen groß: Dasgilt nicht nur in Bezug auf die Einwohnerzahl –Kleinstadt oder Großstadt –, inderen unterem Segment Marburg mit knapp 79000 Einwohnern wohl einzuordnenwäre.Auch mit Blick auf die Zukunft unserer Städte gibt es nicht eine einzige typischeTendenz: Es gibt, zumal in den neuen Bundesländern, schrumpfende Städte –sowohl, was die Wohnquartiere, <strong>als</strong> auch die Innenstadtbereiche anbelangt:Leerstand <strong>von</strong> Geschäften und Wohnungen. Letzteres ist wohl weniger einProblem einer Universitätsstadt wie Marburg mit einer dankbaren wohnungssuchendenKlientel <strong>von</strong> Studierenden. Andererseits ist zu beobachten, dass derTrend ins Grüne, ins entferntere Umland der Stadt zu ziehen, in unseren Tagenerstm<strong>als</strong> seit langem gebrochen, ja rückläufig ist.Angesichts derartiger Entwicklungen verdient die zunächst eher unkirchlich wirkendeFrage, ob man Marburg wohl eher zu den (wirtschaftlichen) Gewinnernoder den Verlierern in der Stadtentwicklung betrachten sollte, eine differenzierteund das heißt vorläufige Antwort. Auf Marburg bezogen wird hierbei ein Aspektsein, wie weit der Atem, der Einfluss der Metropolregion Rhein-Main nach O-berhessen reicht – und mit welchen Konsequenzen. Dass <strong>von</strong> diesen Konsequenzenauch die großen Städte, die Metropolregionen selbst betroffen sind,5


darauf hat der Kirchenpräsident unserer hessischen Schwesterkirche in derletzten Woche auf der Synode der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassauhingewiesen: Das kirchliche Leben, so Kirchenpräsident Steinacker, leide darunter,wenn viele Menschen eine Stadt wie Frankfurt nur <strong>als</strong> Arbeitsort, <strong>als</strong>Pendler wahrnehmen würden. Dies ließe sich unter anderen Vorzeichen freilichauch für die Peripherie sagen: Was bedeutet es denn für die hiesige Region,wenn tagsüber die Menschen fern ihrer Wohnquartiere sind, was für das kirchlicheLeben, wenn Menschen erst abends nach einem langen Arbeitstag in dieRegion zurückkehren?Die Stadt ist seit jeher zwiespältig wahrgenommen worden: „Stadtluft machtfrei“, lautet einerseits die frohe Botschaft. Konkret meint das eine Vielfalt <strong>von</strong>gleichzeitigen Möglichkeiten, die sich in der Stadt auftun: wirtschaftlich, kulturell,an Lebensstilen. In der Stadt ist „öffentlicher Raum“ in einer Qualität zu finden,wie ihn das Land kaum bieten kann. Diese bunte, offene Vielfalt fasziniert, wirdaber zugleich auch <strong>als</strong> Bedrohung empfunden: Die Stadt ist stets auch „dasAndere“, „das Fremde“; sie ist unübersichtlich und ihre Vielfalt wirkt auf alle, dieEindeutigkeit lieben, geradezu beunruhigend. (Das ist kein neues Phänomen;wer hierzu biblisches Belegmaterial sucht, sei auf die Lektüre der beiden Korintherbriefeverwiesen – und das schillernde Innenleben der ersten dortigenChristengemeinde.) Die fremde, die mobile, die vielgestaltige, die widersprüchlicheStadt verwirrt: Nicht zuletzt deshalb hat die Kirche spätestens seit dem 19.Jahrhundert das scheinbar kirchliche Glück des Landes und der Kleinstadt gepriesenund sich <strong>von</strong> der Großstadt, ihrer auch geistig-religiösen Mobilität entfernt,ja sich <strong>von</strong> ihr <strong>als</strong> Ort der Verführung vom rechten Weg des Glaubens wieder Sittlichkeit abgewandt. Dass Kirche in der Stadt Zukunft hat, dass sie einenAuftrag hat, der über das Mahnen hinausgeht, wurde lange Zeit übersehen. Andererseitshaben es sich manche doch zu leicht gemacht, welche die verschwindendePräsenz des christlichen Glaubens in der Stadt <strong>als</strong> legitimen Ausdruckdes durch das Christentum angestoßenen Prozess der Säkularisierungund Mündigkeit des Menschen unkritisch willkommen geheißen haben.Weder Abstinenz noch Verklärung kann deshalb in der Zukunft das Programmder Kirche in der Stadt heißen. Wir müssen die Dynamik der Städte ernst nehmen,wollen wir unserem Auftrag treu bleiben, das Evangelium überall zu ver-6


kündigen. Das kann die Kirche allerdings nur, wenn sie einen klaren Blick dafürbehält oder gewinnt, in welche Situation hinein sie spricht. Gegenwärtig heißtdas: Das Bekennen der Gegenwart Gottes in der Stadt wird in eine Situationgesprochen, in der sich ein Auseinanderdriften unserer Gesellschaft abzeichnet.Es droht die Spaltung zwischen Arm und Reich – in Kassel etwa lässt sichdiese Grenze relativ klar ausmachen und wie eine Linie durch die Stadt ziehen.Es droht mit Blick auf die wirtschaftliche Dynamik ein Verlust der Öffentlichkeit:Die Stadt der letzten Jahrhunderte hatte sich dadurch ausgezeichnet, dass sieVieles, ob Marktplatz, Parks, Bibliotheken, Museen durch bürgerschaftlichesEngagement der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. Hier sind nicht nur dieöffentlichen Kassen an ihre Grenzen gestoßen und geraten unter <strong>Dr</strong>uck. Mitdem Programm zu Privatisierung droht die Gefahr, dass bestimmte Personengruppenvom öffentlichen Zugang ausgeschlossen bleiben.Mehr denn je droht zudem in vielen Städten eine Spaltung zwischen „heimischund fremd“. Man muss hierbei nicht an Neukölln oder die Kasseler Nordstadtdenken; auch in kleineren Städten sind entsprechende Entwicklungen unübersehbar.IV.Damit kommt auch die Frage nach dem religiösen Gesicht unserer Städte inden Blick. „Stadtluft macht frei“, dies galt im 19. und 20. Jahrhundert auch fürMenschen, die sich den staatlichen oder gesellschaftlichen Vorgaben religiöseroder weltanschaulicher Natur entziehen wollten. Wenn in vielen Städten derProzentsatz der Konfessionslosen ausgesprochen hoch ist, so bildet das einerseitsdieses Erbe ab. Andererseits finden wir gerade in den Städten großeGruppen religiös geprägter, ihren Glauben praktizierender Menschen, die ineinem höchst differenzierten Verhältnis zu den hiesigen gesellschaftlichenRahmenbedingungen wie auch dem christlichen religiösen Erbe stehen. Natürlichist hier in erster Linie an Muslime in unserer Stadt zu denken. Die Fragestellt sich: Hat Religion in der Stadt unter diesen Vorzeichen eher eine identitäts-und friedensstiftende Funktion oder wird sie stärker zur Konfrontation beitragen?7


Schließlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass sich der demographischeWandel, <strong>als</strong>o das zahlenmäßige Verhältnis <strong>von</strong> Alt und Jung aufunsere Städte auswirken wird. In welcher Form und mit welchen Tendenzengenau, wissen wir noch nicht: Wird es nach dem Kampf der Kulturen nun aucheinen Kampf der Generationen geben? Oder sind Perspektiven eines neuenMiteinanders zwischen Alt und Jung unter veränderten Bedingungen in positiverWeise ersichtlich?Es sind <strong>als</strong>o eine Vielzahl <strong>von</strong> Entwicklungen und Fragestellungen, denen sichdie Kirche in der Stadt bereits jetzt und erst recht in Zukunft ausgesetzt sieht.Ein Weg, der meines Erachtens gewiss neben schmerzlichen Abschieden auchChancen ermöglicht, nicht zuletzt die klare Besinnung auf den Platz der Kirchein unseren Städten bedeutet. Was ist damit gemeint?Wir feiern das Jubiläum des 725. Jahrestages der Weihe der <strong>Elisabethkirche</strong>.Diese Kirche ist Zeichen der Gegenwart Gottes; zugleich aber rückt die Person,deren Namen dieses Gotteshaus trägt, in den Vordergrund: Elisabeth, die Königstochter,Landgräfin, Dienerin Christi und der Armen, die Heilige. Ich musses in Marburg nicht eigens ausführen – wir konnten es ja im letzten Jahr erleben,wie viele Menschen in ihr ein Zeichen der Gegenwart Gottes sahen. Dassim Glauben und Wirken Elisabeths Gottes Zuwendung zu uns Menschen sichtbarwar, nicht zuletzt das war Anstoß dafür, ein herausragendes architektonischesZeichen der Gegenwart Gottes zu bauen.Vieles ist seit Elisabeths Zeiten bis heute anders geworden; doch hat ihr Wirkenauf grundlegenden Erfahrungen beruht, die auch wir machen können: Wir sollendie Liebe weitergeben, die wir <strong>von</strong> Gott empfangen haben. Adressaten gibtes genug – in der Stadt <strong>von</strong> einst wie der <strong>von</strong> jetzt. Dam<strong>als</strong> wie heute finden wirdas Wort Jesu bestätigt: „Arme habt ihr allezeit bei euch.“ (Matthäus 26,11) Armkönnen die Menschen in dem differenzierten materiellen Sinne sein, <strong>von</strong> demJesu im Bild vom Weltgericht spricht: die Hungrigen, Durstigen, Fremden, Nackten,Kranken und Gefangenen. Die Kirche in der Stadt wird aber auch Zeichender Gegenwart Gottes sein, indem sie sich denen zuwendet, die „im Geist“ armsind, denen in dieser Welt und unserer Zeit ein Ort der Orientierung, der Ruhe8


und Besinnung fehlt. Die Kirche wirkt so hinein in die sich wandelnde, bisweilenunübersichtliche, bisweilen krisenhafte Situation der Städte.Welchen Beitrag können wir hier konkret leisten? Bei Elisabeth fallen uns unweigerlichdie dienenden, die diakonischen Aufgaben der Kirche ein. Es istwahr: Die Sozialarbeit der Kirche hat weithin ein hohes Ansehen und wird <strong>von</strong>der Öffentlichkeit und der Politik durchaus geschätzt. Für viele Menschen, vielleichtbesonders für die kirchlich Distanzierten, ist die Kirche gerade auf diesemGebiet noch vorbildlich, authentisch und bei ihrer Sache. Ohne diakonische Tätigkeitwäre das Image der Kirche in der öffentlichen und in der veröffentlichtenMeinung sicher schlechter.Insofern ist es nahe liegend, dass die Kirche in der Stadt mit der Ausweitung,Vertiefung oder weiteren Differenzierung der diakonischen Arbeit reagiert. Siewird dies allerdings in dem Bewusstsein tun, nicht allein und für alle die sozialenProbleme lösen zu können. Ausweitung und Vertiefung sind dabei nicht gleichbedeutendmit einer Expansion hauptamtlicher Tätigkeiten. Diakonie ist Aufgabealler Christen, jeder Kirchengemeinde – und gerade im Miteinander <strong>von</strong>hauptberuflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit wird das Zeugnis der Kirchesichtbar.V.Die Kirche in der Stadt hat Zukunft, wenn sie Zeichen der Gegenwart Gottes ist.Und das heißt nicht zuletzt: Die Kirche hat eine geistliche Aufgabe! Sie ist einegeistliche Größe, und wegen ihres geistlichen Auftrags ist sie da. Die entscheidendeAufgabe der Kirche ist eine religiöse, eine spirituelle – und zwar um derWelt willen, in die hinein uns Christus stellt. Dass Menschen aus der ganzenWelt dieses Gotteshaus aufsuchen, in dem wir versammelt sind, verdankt sichzwar auch der Tatsache, dass die <strong>Elisabethkirche</strong> in den einschlägigen Kunstführernzu finden ist. Wichtiger aber ist: Pilger wie Tagesbesucher suchen indieser Kirche eine überzeugende Alternative zu den dominierenden Kulturendes Alltags, des 7 Tage – 24 Stunden-Konsums, der Leistungskultur mit ihrerschlichten Logik <strong>von</strong> Kosten und Nutzen. Hier liegt unser geistlicher Auftrag: Wir9


schulden den Menschen den Geist der Lebendigkeit des gegenwärtigen Gottes,um sie vor der seelischen Verwüstung und geistigen Verödung zu bewahren.Wer, wenn nicht die Kirche Jesu Christi kann in biblischen Geschichten, Psalmen,Melodien und Musik, in Ritualen und Bildern auf ein anderes Leben hinweisenjenseits der sonst gängigen beschränkten Lebensausrichtung! Wer,wenn nicht wir, soll die Menschen auf wahres Leben, auf Gott hinweisen, damitsie nicht um die Fülle ihrer Lebensmöglichkeiten betrogen werden! Die Kircheist und bleibt auch in Zukunft <strong>als</strong> Ort und Ansprechpartner für die religiöse Tiefendimensiondes Menschen unersetzlich, und dies nicht nur im privaten Bereich,sondern öffentlich. Dies tut sie in Konkurrenz zu allen, die Religion „light“oder Religion „to go“ an bieten; sie tut dies durch ihr Zeugnis und im Dialog mitMenschen, die nicht glauben, denen Kirche oder Religion fremd geworden sind,die beiseite stehen; sie tut dies im Gespräch mit Menschen, die sich zu einemanderen Glauben bekennen.Wo und wie kann das gelingen? Kirchen sind Zeichen für die Gegenwart Gottes,zuerst und vor allem im Gottesdienst. Sie stehen ein für den Frieden, denJesus seinen Jüngern hinterlassen hat. Das ereignet sich Sonntag für Sonntagunter der Zusage zu Beginn "Der Friede des Herrn sei mit euch allen" undmündet am Ende ein in den Segen "... und gebe dir Frieden". Im Gottesdiensthaben wir Gelegenheit, vor Gott zu bringen, was uns bewegt – auch im Blickauf die Stadt, in der wir leben: ihre Freuden und Nöte. "Suchet der Stadt Bestes",heißt es beim Propheten Jeremia, "und betet für sie zum Herrn". Für dieStadt zu beten, ist ein wichtiger Friedensdienst, es ist eine zentrale Aufgabe derKirche. Der Gottesdienst lässt uns, wer wir auch sind und woher wir auch kommen,sichtbar erfahren, dass wir Gemeinde Jesu Christi sind – unabhängig <strong>von</strong>unserem sozialem Status, <strong>von</strong> unserem Alter oder unserer Nationalität.Kirchen sind Zeichen der Gegenwart Gottes. Als beispielhafte Orte der GegenwartGottes sind Kirchengebäude Symbole dafür, dass nicht alles käuflich undzu besitzen ist. Sie sind Orte, die inmitten des Trubels der Stadt auch jenseitsdes Gottesdienstes zur Begegnung mit Gott einladen. Sie sind Refugien desHeiligen. Um diesen Charakter wahrnehmen zu können, sollten sie – wie die<strong>Elisabethkirche</strong> – geöffnet sein, einladend wirken und <strong>als</strong> Raum der Stille, der10


Andacht, der Meditation, der Begegnungen, des Trostes und der Klage erlebtwerden können. Ich darf hier zu mir selbst kommen, ja mehr noch: Ich kann hierdie Gegenwart Gottes in meinem Leben finden.Die Kirche in der Stadt ist zugleich ein Ort, in denen das Gewissen der Stadtbewohnergeprägt wird. In ihnen kann das Gespräch über Heil und Unheil diesesGemeinwesens in einem anderen Geist stattfinden <strong>als</strong> im Rathaus oder denFraktionsräumen. Öffentlichkeit zu bilden über die engen Grenzen der Kirchengemeindenhinaus, ist Herausforderung und Aufgabe der Stadtkirchenarbeit.Indem wir unsere Kirchen für die öffentliche Diskussion über das bereitstellen,was Bürgerinnen und Bürgern auf den Nägeln brennt, können wir dazu beitragen,Grenzen zu verflüssigen, Mauern einzureißen, die andere Sicht der Dingeim geschützten Raum zu Wort kommen zu lassen, ohne uns parteipolitisch verrechnenzu lassen. Dies kann – denken wir an die Montagsgebete in der ausgehendenDDR – in unseren Kirchen geschehen, aber auch in den kirchlichenEinrichtungen, die sich der Bildung verpflichtet wissen.Damit ist ein weiteres Stichwort gegeben: Bildung. Die Geschichte der Kirche istseit ihren Anfängen wesentlich Bildungsgeschichte gewesen. Mit Blick auf Marburgist ein leiblicher Nachfahr Elisabeths zu erwähnen: Landgraf Philipp derGroßmütige. Sein Programm der Reformation ist – ganz im Geiste des Humanismusund Martin Luthers – ein Bildungsprogramm. Bildung für alle, so mussdeshalb das Programm für die Kirche, in besonderer Weise für die Kirche in derStadt lauten. Man kann hier in besonderer Weise an Kinder, Jugendliche undjungen Familien in sozial benachteiligten Wohngebieten denken. Es zeichnetdie Kirche aus – oder sollte es zumindest, dass ihre Bildungsarbeit Menschen<strong>von</strong> der frühesten Lebenszeit bis ins hohe Alter begleitet – und sie sich darumnach Kräften bemüht, soziale Schranken so niedrig wie möglich zu halten.Kirchliche Bildungsarbeit beginnt für mich in kirchlichen Kindertagesstätten undKindergärten. Hier können Kinder erleben, dass sie <strong>von</strong> Gott angenommensind, und sie können sich einüben in gegenseitige Rücksichtnahme und Toleranz.Gleiches gilt, um es wenigstens anzudeuten, für Kindergottesdienste, fürdie Zusammenarbeit zwischen Kirchengemeinden und Schule, für Jugendarbeitoder Familienbegleitung etwa in Form <strong>von</strong> Familienbildungsstätten. Wir würdenden Bildungsauftrag der Kirche viel zu eng fassen, wollten wir ihn nur auf die11


Mehrung <strong>von</strong> Wissen oder Können beziehen. Es geht in all den genannten Bereichenaus meiner Sicht darum, aus dem Glauben heraus Menschen zu helfen,das zu sein, was sie sind: nämlich Gottes geliebte Kinder, und ihnen Möglichkeitengelingenden Lebens zu zeigen.In unseren heutigen Städten wird sich die Arbeit der Kirche immer ökumenischausrichten müssen. Marburg ist ein gutes Beispiel für ein bewährtes und zukunftsweisendesMiteinander der Konfessionen. Es ist ein sprechendes Zeugnisfür die Gegenwart Gottes, wenn die Kirchen Jesu Christi gemeinsam ihrenGlauben bezeugen und das in der Vielfalt der Formen tun, die ihnen gegebensind. Das macht ihr Zeugnis glaubwürdig in einem Dialog, der zunehmend interreligiössein wird. Hier werden aber fast zwangsläufig die Grenzen der herkömmlichenGemeindebezirke und Konfessionen überschritten. Weil sich mitden religiösen Unterschieden oft auch soziale, ökonomische und rechtliche Unterschiedeverbinden, ist diese Aufgabe sehr arbeitsintensiv. Es verlangt Kenntnisseund Geduld. Solch eine Arbeit hat zum allergrößten Teil mit Menschen zutun, die nicht Gemeindeglieder sind. Doch es ist für mich eine unabweisbareNotwendigkeit, das Gespräch zwischen den Konfessionen und Religionen zusuchen. Die Gegenwart Gottes bezeugen – das gilt nicht erst in den großenAusmaßen der Welt, sondern ist bezogen auf die Stadt, in der wir leben.Ein Letztes, aber um nichts weniger Wichtiges: Die Gegenwart Gottes zu bezeugen,bedeutet Mission: Das ist ein umstrittenes Wort, und dennoch will ichdafür werben; gerade weil damit eben keine eindimensionale Vorgehensweiseund Bevormundung verbunden ist. Die Form des kirchlichen Zeugnisses in derStadt muss experimentell sein und Spielräume bieten, damit das Evangelium inWort und Tat neu ausgesprochen werden kann. Dabei geht es um zukunftsorientierteVersuche, wie die Spaltung der Stadt und das weitere Auseinanderdriftender verschiedenen Lebensbereiche zu verhindern sind. Wir werden alle Anstrengungendarauf richten müssen, schon um in unserer Sprache diejenigenzu erreichen, die aus eher kirchenfremdem Milieu kommen. Wir sollten uns diesenMenschen mit Interesse und Neugier zuwenden und nicht im vertrauten,heimeligen kirchlichen Rahmen verharren. Wir sollten denen entgegengehen,deren Sehnsucht über das Vorfindliche hinausgeht. Das gilt es zu erspüren, unddarin sind diese Menschen ernst zu nehmen. In der entsprechenden Sprache12


und mit dem Wissen um ihre Besonderheiten treten wir in Begegnungen ein, indenen dann die Botschaft des Evangeliums <strong>von</strong> der unbedingten Liebe Gottesin Jesus Christus gesagt und gehört werden kann. Paulus in Athen ist dafür dasbeste Beispiel. So stelle ich mir "Stadtmission" vor! Das alles sollte ohne Selbstüberschätzungoder Selbstanmaßung geschehen.VI.Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Brüder und Schwestern,ein weiter Bogen – wie sollte es bei einem 725jährigen Jubiläum auch anderssein – kommt zu seinem Abschluss. Er schlägt die Brücke vom Beginn derChristenheit bis in die Wirklichkeit (und Unwirklichkeit) der Städte unserer Tage.Die Kirche Jesu Christi vertraut nicht auf ihre eigenen Kräfte, sie lebt aus derHoffnung, dass Gottes Geist sie stärkt und Orientierung gibt, ihr eine Vielfalt derMöglichkeiten eröffnet und deshalb Zukunft gibt. Deshalb wage ich mit Zuversichtdie Prognose – im Vertrauen auf den Gott, der seine Kirche durch die Zeitenbegleitet: Die Kirche in der Stadt hat Zukunft, weil sie Zeichen der Gegenwartunseres Gottes ist.13

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