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Ja zur neuen Linkspartei! - Die Linkspartei - Die Linke

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DISPUT<br />

März 2007<br />

ISSN 0948-2407 | 67 485 | 2,00 Euro<br />

Auf einem guten Weg – <strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />

Profi lsuche – Über programmatische und mentale Schwierigkeiten beim Zusammenschluss<br />

Appetit auf Politik. Politischer Aschermittwoch im Saarland<br />

Iris Töpsch: Helfen, das ist mein Bier. Über Lust und Last im Ehrenamt<br />

Das Ungewisse vorbereiten. Zum Protest gegen den G8-Gipfel<br />

Kubas Zukunft liegt uns am Herzen. Mehr Energie, mehr Bücher, mehr Farbe – Eindrücke von der Insel © Gert Gampe


ZITAT<br />

Manchen<br />

Versammlungseinberufern<br />

gelingts rascher,<br />

hundert<br />

Mitmenschen<br />

als ihre<br />

Gedanken zu<br />

versammeln.<br />

Erwin<br />

Strittmatter,<br />

Selbstermunterungen<br />

INHALT<br />

Auf einem guten Weg 4<br />

<strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>! 6<br />

Aus zwei mach eins – Deins! 7<br />

Profi lsuche 8<br />

Jetzt macht mal hin! 10<br />

Alpenglühen 12<br />

<strong>Linke</strong> Stammtische 13<br />

Appetit auf Politik 14<br />

Chancen, Sorgen und<br />

Verantwortung 18<br />

Ohne Abstufungen.<br />

Zur Behindertenpolitik 21<br />

Sabine Zimmermann:<br />

Ich bin hier wie da dieselbe 22<br />

Pressedienst 26<br />

Iris Töpsch: Helfen,<br />

das ist mein Bier 28<br />

Selbstbestimmung und Würde.<br />

Gastbeitrag Stefan Heinik, ABiD 32<br />

IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, herausgegeben vom Parteivorstand,<br />

und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin<br />

REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10,<br />

Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: disput@linkspartei.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell<br />

DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin<br />

ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin,<br />

Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS 10. März 2007<br />

© Stefan Richter<br />

Eine soziale Neuerfi ndung 33<br />

Kuba tauscht die Lampen aus 34<br />

Strenge Eigentümer 37<br />

Sachsens Armutshauptstadt:<br />

Leipzig 38<br />

Selbstbefragung 40<br />

Das Ungewisse vorbereiten.<br />

Protest gegen G8-Gipfel 42<br />

Nachbelichtet 43<br />

Briefe 44<br />

Bücher 46<br />

Märzkolumne 47<br />

Seite achtundvierzig 48<br />

... konzentriertes<br />

Arbeiten, mehr<br />

Ruhe – Mit ihren<br />

Bundesparteitagen<br />

in Dortmund<br />

wollen <strong>Linkspartei</strong><br />

und WASG am<br />

24. und 25. März<br />

endgültig die<br />

Signale für freie<br />

Fahrt Richtung<br />

neue <strong>Linkspartei</strong><br />

stellen. DISPUT<br />

berichtet darüber<br />

ausführlich in Heft<br />

4 – das Parteitagsheft<br />

erscheint am<br />

5. April.<br />

ZAHL DES MONATS<br />

65<br />

<strong>Die</strong> Nutzung des Internets nahm weiter<br />

zu. 65 Prozent aller Personen ab<br />

zehn <strong>Ja</strong>hren nutzten im ersten Quartal<br />

2006 das Internet. 56 Prozent von<br />

ihnen gingen täglich oder fast täglich<br />

online. Groß sind die Unterschiede in<br />

den Altersgruppen: Bei den Zehn- bis<br />

24-Jährigen waren 92 Prozent Internetnutzer,<br />

bei den über 54-Jährigen<br />

nur 30 Prozent.<br />

DISPUT März 2007 02


INGA NITZ<br />

27 <strong>Ja</strong>hre jung und glücklich verheiratet. Diplom-Verwaltungswirtin. Seit fünf<br />

<strong>Ja</strong>hren in Bremen zu Hause, seit <strong>Ja</strong>nuar 2006 Landessprecherin der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

Bei der Bürgerschaftswahl kandidiert sie auf Platz 4. Ihre Schwerpunkte: Sozial-<br />

und Arbeitsmarktpolitik, Bildung und Jugend. Mitglied bei ver.di und NABU.<br />

Was hat Dich in letzter Zeit am meisten überrascht?<br />

Löwenzahn in diesem Februar.<br />

Was ist für Dich links?<br />

Kein Standpunkt, sondern ein Gehpunkt – frei, gerecht, solidarisch – zu einem<br />

»Zeitwohlstand«.<br />

Worin siehst Du Deine größte Schwäche, worin Deine größten Stärken?<br />

Meine Freundlichkeit kann Stärke sein, manchmal auch Schwäche.<br />

Was war Dein erster Berufswunsch?<br />

Kassiererin, damit ich den ganzen Tag Knöpfe drücken kann.<br />

Wie sieht Arbeit aus, die Dich zufrieden macht?<br />

Ich muss mit ihr etwas aufbauen können, und sei es »nur« Vertrauen.<br />

Wenn Du Parteivorsitzende wärst …<br />

… würde ich – nach tiefem Durchatmen – das Ohr an der Basis haben, die Nase<br />

in viele Bücher stecken, den Finger auf die Wunden legen, das Herz links<br />

schlagen hören.<br />

Was regt Dich auf?<br />

Jegliche Art von Krieg.<br />

Wann und wie hast Du unlängst Solidarität gespürt?<br />

Im Dezember 2006 auf dem Berliner Alexanderplatz, als mehrere Menschen<br />

mit großen Schildern für »kostenlose Umarmungen – free hugs« warben. Sie<br />

schlossen sich einer von einem Australier initiierten weltweiten Initiative an,<br />

um gegen die soziale Kälte zu demonstrieren und um etwas mehr menschliche<br />

Nähe in unsere triste Welt zu bringen. Ich war zutiefst beeindruckt, schloss<br />

mich den vielen Menschen an und nutzte die Gelegenheit, auf einfachem Weg<br />

Solidarität auszudrücken.<br />

Wovon träumst Du?<br />

Von meiner ersten Rede in der Bremer Bürgerschaft habe ich schon oft<br />

geträumt. Wenn die erste Linksfraktion in einem westdeutschen Landtag nach<br />

dem 13. Mai 2007 so läuft wie in meinen Träumen, wäre das traumhaft! Redezeit<br />

und Ideen ohne Ende, gallige Zurufe von den Anderen, guter<br />

Zuspruch von den eigenen Leuten.<br />

Möchtest Du (manchmal) anders sein, als Du bist?<br />

Nö. Obwohl: Künstler sind schon zu beneiden, ob ihres Könnens.<br />

Müssen Helden und Vorbilder sein?<br />

Erst mal müssen sie welche werden, durch außergewöhnliche Leistungen.<br />

Wann fühlst Du Dich gut?<br />

24 Stunden gemeinsam mit meinem Mann Christoph, unserem Kater Felix und<br />

den fünf Meerschweinchen Luna, Elvis, Yoko, Fridolin und Ferdinand. Doch das<br />

hat im Moment Seltenheitswert.<br />

Was bringt Dich zum Weinen?<br />

Das Schälen einer Zwiebel.<br />

Wie lautet Dein Lebensmotto?<br />

Jeder Traum, an den ich mich verschwendet, jeder Kampf, wo ich mich nicht<br />

geschont, jeder Sonnenstrahl, der mich geblendet, alles hat am Ende sich<br />

gelohnt. – Ist leider nicht von mir, sondern von Louis Fürnberg.<br />

30 DISPUT März 2007 FRAGEZEICHEN<br />

© privat


Auf einem guten Weg<br />

Vor den Bundesparteitagen der <strong>Linkspartei</strong> und der WASG am 24. und 25. März<br />

in Dortmund Von Bodo Ramelow<br />

Ich wurde von Mitgliedern unserer Partei<br />

oder der Wahlalternative für Arbeit<br />

und soziale Gerechtigkeit manchmal<br />

gefragt, ob ich angesichts der Probleme<br />

bei der Parteineubildung nicht<br />

lieber das Handtuch werfen würde. Ehrlich<br />

gesagt ist mir der Gedanke ab und<br />

an gekommen. Nicht, weil mir die Probleme<br />

zu groß erschienen. Nein, aber<br />

ich fühlte mich das eine oder andere<br />

Mal beim Kampf für eine neue <strong>Linkspartei</strong><br />

etwas allein gelassen. Aus heutiger<br />

Sicht trog dieses Gefühl sicherlich.<br />

Denn ohne die vielen Helfer hinter den<br />

Kulissen, die monatelang in Sitzungen<br />

beraten oder die Gründungsdokumente<br />

vorbereitet haben, wären die bevorstehenden<br />

Parteitage und die Urabstimmung<br />

nicht möglich.<br />

Es gab auch einen anderen Grund,<br />

nicht bei voller Fahrt abzuspringen: die<br />

vielen Mitglieder der <strong>Linkspartei</strong> und<br />

der WASG, die sich engagiert für eine<br />

gemeinsame <strong>Linke</strong> in Deutschland einsetzen.<br />

Während wir auf Bundesebene das<br />

Zusammengehen der beiden Parteien<br />

noch in Sack und Tüten bringen müssen,<br />

haben einige Kreis- und Stadtverbände<br />

dies schon längst vollzogen. Da<br />

wird nicht nur gemeinsam bei Wahlen<br />

kandidiert, sondern auch für die Menschen<br />

vor Ort gestritten und gekämpft.<br />

Und das Schöne daran: <strong>Die</strong> gibt es im<br />

Westen wie im Osten, im Norden wie im<br />

Süden! Am besten kommen wir überall<br />

dort an, wo in der Tat gemeinsam Politik<br />

gemacht wird. Sei es in Hessen,<br />

Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt oder<br />

Thüringen. Das macht mir Mut, die Parteineubildung<br />

sicher ins Ziel zu bringen,<br />

und es tröstet über einige unschöne<br />

Auseinandersetzungen.<br />

Bedenkt man, dass wir vor noch<br />

nicht einmal zwei <strong>Ja</strong>hren gemeinsam<br />

bei der Bundestagswahl angetreten<br />

sind und den Prozess der Bildung einer<br />

<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n in Deutschland in Angriff<br />

genommen haben, stehen wir schneller<br />

vor unserem Ziel als gedacht. Das<br />

Hauptproblem dabei war nicht der Unterschied<br />

zwischen Ost und West, sondern<br />

die Entstehung und Geschichte<br />

beider Parteien. Auf der einen Seite<br />

die PDS, die aus der DDR-Partei SED<br />

hervorging und sich in den letzten <strong>Ja</strong>hren<br />

im Osten als soziale Volkspartei<br />

fest etabliert hat, während sie im Wes-<br />

NEUE LINKE<br />

ten nur schwer einen Fuß in die Tür bekommen<br />

konnte. Auf der anderen Seite<br />

die Wahlalternative für Arbeit und soziale<br />

Gerechtigkeit, die als Protestbewegung<br />

gegen die Agenda 2010 der SPD/<br />

Grünen-Regierung und gegen die Hartz-<br />

Gesetze vor allem im Westen Deutschlands<br />

ihren Anfang nahm.<br />

Beide vereinte keine politische oder<br />

religiöse Weltanschauung, sondern der<br />

Kampf gegen den Sozialabbau und gegen<br />

die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme.<br />

Da liegt der Spannungsbogen,<br />

in dem wir uns in den vergangenen<br />

Monaten bewegt haben. Indem<br />

sich Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter<br />

und Christen an einen<br />

Tisch setzten, gemeinsam Straßenprotest<br />

organisierten oder vielerorts<br />

Hilfe für Hartz-IV-Empfänger leisteten,<br />

legten sie den Grundstein für eine gesamtdeutsche<br />

linke Partei.<br />

Bei der Bundestagswahl erreichten<br />

wir mit dem gemeinsamen Wahlantritt<br />

von <strong>Linkspartei</strong> und WASG beachtliche<br />

8,7 Prozent. Ich verstehe dies nicht allein<br />

als Erfolg, sondern zugleich als einen<br />

Auftrag der Wählerinnen und Wähler,<br />

gemeinsam linke Politik in diesem<br />

Land zu machen. In der Bundestagsfraktion<br />

haben wir genau die breite Palette<br />

von Menschen, die unserer zukünftigen<br />

Partei Ausdruck verleihen<br />

wird. Das ist nicht immer ohne strittige<br />

Debatte möglich. Wenn wir jedoch<br />

ehrlich zu uns sind, wissen wir, dass<br />

es auch innerhalb der PDS über inhaltliche<br />

Fragen Auseinandersetzungen<br />

gab. Erwähnen will ich an dieser Stelle<br />

nur die Parteitage in Münster und Gera,<br />

die vielen noch in Erinnerung sind.<br />

Aber der politische Streit macht eben<br />

eine demokratische und pluralistische<br />

Partei aus.<br />

Ich denke, in einem solchen Prozess<br />

kann man es sich nicht leisten, im Harry-Potter-Stil<br />

»von dem du weißt schon«<br />

nicht zu reden. Im Gegenteil: Wir müssen<br />

die Probleme benennen, darüber<br />

streiten und einen gemeinsamen<br />

Nenner suchen. Am Schluss muss alles<br />

in einer klaren Positionierung münden.<br />

Das bringt nicht immer Freunde,<br />

und es gibt Menschen in unseren Parteien,<br />

die sich offenbar näher stehen<br />

als einer gemeinsamen <strong>Linke</strong>n. Aber<br />

wir haben nicht das Recht, das Ergebnis<br />

dieses Prozesses durch kleine und<br />

kleinste Haarspaltereien in den Sand<br />

zu setzen. Wenn wir sachlich miteinander<br />

reden, werden wir die Parteineubildung<br />

zum Erfolg führen.<br />

Daran hindert uns auch nicht der<br />

Springer-Konzern oder eine kleine<br />

Gruppe von Mitgliedern, die Revolution<br />

am liebsten mit drei R schreiben würden.<br />

Klar ist es ärgerlich, wenn Landesverbände<br />

der WASG wie Mecklenburg-<br />

Vorpommern oder Berlin konkurrierend<br />

gegen uns antraten. Das hat sicherlich<br />

auch mit der tradierten Kultur des<br />

Misstrauens bei den <strong>Linke</strong>n zu tun. <strong>Die</strong><br />

Wahlergebnisse haben jedoch gezeigt,<br />

dass es keiner Seite Nutzen bringt.<br />

Darüber hinaus sind die öffentlichen<br />

scheinbaren Streitereien vom Betrachter<br />

schwierig einzuordnen. Weil er oft<br />

nicht sehen kann, ob sich ein größeres<br />

oder kleineres Problem offenbart. Seine<br />

Wirkung unter den Wählerinnen und<br />

Wählern verfehlt das allerdings nicht.<br />

<strong>Die</strong> Neubildung einer gemeinsamen<br />

linken Partei sollte für uns ein Beginn<br />

sein, linke und soziale Bewegungen<br />

und Parteien zu bündeln. Wir maßen<br />

uns nicht an, den Alleinvertretungsanspruch<br />

sämtlicher linker Kräfte zu haben.<br />

Wir stehen jedoch als Bündnispartner<br />

<strong>zur</strong> Verfügung. Ich bin froh darüber,<br />

dass viele Bürgerinnen und Bürger<br />

davon ausgehen, dass wir bereits<br />

eine Partei sind. Sicherlich hat dazu die<br />

Ausstrahlung unserer Bundestagsfraktion<br />

DIE LINKE. maßgebend beigetragen.<br />

Interessant ist, dass selbst unsere<br />

Mitgliedschaft sich in Gedanken schon<br />

in der <strong>neuen</strong> Partei sieht. Wenn in Medien<br />

der Name PDS verwendet wird, beschweren<br />

sich bei uns Anrufer: Wir sind<br />

doch jetzt »<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>« ...<br />

Warum sollten wir also diese Motivation<br />

nicht nutzen und in den nächsten<br />

Monaten die Bildung der <strong>neuen</strong> Partei<br />

vollziehen? Nicht nur die meisten Mitglieder<br />

der <strong>Linkspartei</strong> und WASG warten<br />

darauf, sondern auch Menschen,<br />

die sich gern in einer gemeinsamen linken<br />

deutschen Partei engagieren möchten.<br />

In den öffentlichen Debatten, aber<br />

auch innerhalb unserer Partei geht ein<br />

Aspekt der Parteineubildung fast unter,<br />

obwohl er meines Erachtens ein wichtiger<br />

Bestandteil der <strong>neuen</strong> Partei sein<br />

wird. Was viele <strong>Ja</strong>hre nicht gelungen<br />

ist, wird im Ergebnis der Parteineubildung<br />

vollzogen: <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> wird einen<br />

DISPUT März 2007 04


Jugendverband haben, der die bisherigen<br />

verschiedenen Jugendgruppen<br />

bündelt und jungen Mitgliedern der<br />

Partei die Möglichkeit schafft, sich zu<br />

engagieren. Darauf können vor allem<br />

die Jugendlichen selbst stolz sein. Gerade<br />

eine linke Partei sollte jungen und<br />

aufmüpfi gen Menschen eine politische<br />

Heimat bieten.<br />

In den vergangenen Wochen haben<br />

Kreis- und Stadtverbände, Mitglieder<br />

der <strong>Linkspartei</strong> und der WASG Zuarbeiten<br />

für die Gründungsdokumente eingereicht,<br />

Anträge an die Parteitage formuliert<br />

und sich aktiv an der inhaltlichen<br />

Ausgestaltung der <strong>neuen</strong> Partei<br />

beteiligt. Auch wenn am Ende sich nicht<br />

alles in den Dokumenten wiederfi ndet,<br />

macht es mich dennoch zuversichtlich<br />

für die Parteitage in Dortmund.<br />

Unsere »Programmatischen Eckpunkte«<br />

sind noch kein fertiges Programm,<br />

und sie können es auch nicht<br />

sein. <strong>Die</strong> Partei DIE LINKE muss nach ihrer<br />

Gründung an die Arbeit gehen, sich<br />

ein eigenes Programm zu geben. <strong>Die</strong><br />

Grundlagen schaffen wir gemeinsam.<br />

<strong>Die</strong> Delegierten des Bundesparteitages<br />

haben in Dortmund zwei anstrengende<br />

Tage vor sich, um sich durch die Vielzahl<br />

der Anträge zu arbeiten. Für den<br />

einen oder anderen wird es nicht neu<br />

sein, da wir auch bei bisherigen Parteitagen<br />

dicke Antragshefte hatten. <strong>Die</strong><br />

Besonderheit diesmal ist, dass unsere<br />

Beschlüsse der Bestätigung durch den<br />

Parteitag der WASG bedürfen, und umgekehrt<br />

das Gleiche. Deshalb wird es<br />

auch für die Organisatoren der Parteitage<br />

ein schweres Stück Arbeit. Ich bin<br />

dennoch gewiss, dass wir am Abend<br />

des 25. März gültige Gründungsdokumente<br />

haben.<br />

<strong>Die</strong> im April beginnende Urabstimmung<br />

verlangt von unseren Basisorganisationen<br />

und von den ehrenamtlichen<br />

Mitgliedern in den Stadt- und Kreisvorständen<br />

viel Engagement, schließlich<br />

müssen wir alle erreichen und für die<br />

Teilnahme an der Urabstimmung gewinnen.<br />

Jede Stimme muss uns wichtig<br />

sein. <strong>Die</strong> neue Partei braucht einen<br />

guten Start, der von den Mitgliedern<br />

getragen wird. Ich möchte mich nicht<br />

auf irgendwelche Zahlen festlegen lassen,<br />

bin aber überzeugt, dass die überwiegende<br />

Mehrheit der Mitglieder der<br />

<strong>Linkspartei</strong> und der WASG den Gründungsdokumenten<br />

und der Bildung<br />

der Partei DIE LINKE ihre Zustimmung<br />

geben werden. Wir sind auf einem guten<br />

Weg, und ich bin wirklich froh, dabei<br />

sein zu können.<br />

Bodo Ramelow ist Mitglied des Parteivorstandes<br />

und Beauftragter der <strong>Linkspartei</strong><br />

für die Parteineubildung<br />

50 DISPUT März 2007<br />

AKTION<br />

Bis 67 auf dem Dachstuhl balancieren? Gegen die Rentenpläne der Bundesregierung<br />

protestierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit vielfältigen<br />

Aktionen – wie am 26. Februar unweit des Bundestages in Berlin.<br />

Unter dem Motto »Wir steigern des Bruttosozialprodukt« illustrierten Mitglieder<br />

der WASG und der <strong>Linkspartei</strong> in Mannheim am 3. Februar das Bild des Arbeitsalltags<br />

mit 67 <strong>Ja</strong>hren.<br />

© Stefan Richter<br />

© Bernd Merling


<strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />

Zur bevorstehenden Urabstimmung in der <strong>Linkspartei</strong>.PDS Von <strong>Die</strong>tmar Bartsch<br />

Auf parallel tagenden Bundesparteitagen<br />

werden <strong>Linkspartei</strong>.PDS und WASG<br />

am 24. und 25. März in Dortmund über<br />

ihren Zusammenschluss beraten. Danach<br />

entscheiden darüber die Mitglieder<br />

per Urabstimmung. Ich bitte alle<br />

Mitglieder der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, sich<br />

zwischen dem 30. März und dem 18.<br />

Mai 2007 an der Urabstimmung zu beteiligen,<br />

und ich werbe dafür, für die<br />

Verschmelzung von WASG und <strong>Linkspartei</strong><br />

<strong>zur</strong> Partei DIE LINKE zu stimmen.<br />

<strong>Die</strong> neue Partei – so steht es im Entwurf<br />

der Satzung – ist in der Geschichte<br />

der deutschen und der internationalen<br />

Arbeiterbewegung verwurzelt und<br />

der Friedensbewegung und dem Antifaschismus<br />

verpfl ichtet. Sie steht den<br />

Gewerkschaften und <strong>neuen</strong> sozialen<br />

Bewegungen nahe und schöpft aus<br />

dem Feminismus und der Ökologiebewegung.<br />

DIE LINKE strebt die Entwicklung<br />

einer solidarischen Gesellschaft<br />

an, sie ist plural und offen für alle, die<br />

gleiche Ziele mit demokratischen Mitteln<br />

erreichen wollen. Ich denke, dieser<br />

Bestimmung des Platzes und der Ziele<br />

der LINKEN können wir überzeugt zustimmen.<br />

Gewiss, mit der Neugründung ist<br />

auch der Abschied von der Partei verbunden,<br />

für die sich viele von uns seit<br />

<strong>Ja</strong>hren engagieren. <strong>Die</strong>ser Abschied ist<br />

auch bei mir mit Wehmut verbunden.<br />

Ich wurde 1991 Bundesschatzmeister<br />

der PDS und habe in den Auseinandersetzungen<br />

mit der Treuhandanstalt und<br />

der sogenannten Unabhängigen Kommission<br />

für das DDR-Parteivermögen<br />

hautnah erlebt, was der Existenzkampf<br />

einer sozialistischen Partei in Deutschland<br />

praktisch bedeutet. Gemeinsam<br />

mit Karl Holluba, Asunta Koch und vielen<br />

anderen kämpfte ich um die materiellen<br />

und fi nanziellen Grundlagen unserer<br />

politischen Arbeit. Wie Lothar Bisky,<br />

Gregor Gysi, Heinz Vietze und andere<br />

habe ich mich bis hin zu einem<br />

Hungerstreik für die PDS eingesetzt.<br />

Wir waren letztlich erfolgreich dank<br />

der aufopferungsvollen Solidarität der<br />

Genossinnen und Genossen unserer<br />

Partei. Viele Mitglieder und Sympathisanten<br />

haben vergleichbare Erlebnisse<br />

und werden sich gerade jetzt mit Stolz<br />

und manchmal auch mit Ärger an Höhen<br />

und Tiefen in der Geschichte unserer<br />

Partei erinnern.<br />

NEUE LINKE<br />

Und doch tun wir gut daran, im Neuen<br />

vor allem die Chancen zu sehen.<br />

Lothar Bisky hat den Weg der »alten«<br />

PDS in eine neue <strong>Linkspartei</strong> als einen<br />

»zweiten Aufbruch« – nach dem der<br />

<strong>Ja</strong>hre 1989/90 – bezeichnet. Wir können<br />

beweisen, dass in Deutschland etwas<br />

gleichberechtigt zusammenwachsen<br />

kann, was in der Geschichte und<br />

in Ost und West unterschiedliche Wurzeln<br />

hat, was verschiedene Milieus darstellt<br />

und anspricht. Es ist der Aufbruch<br />

in eine neue politische Kultur, wenn<br />

hierzulande demokratische Sozialistinnen<br />

und Sozialisten ebenso selbstverständlich<br />

zum politischen Spektrum<br />

gehören wie Sozialdemokraten, Konservative<br />

und Liberale. In vielen Ländern<br />

Europas ist das schon lange so.<br />

Wir brauchen eine einfl ussreiche linke<br />

Partei, weil der neoliberalen Politik<br />

des Abbaus von Demokratie und Sozialstaatlichkeit,<br />

den Befürwortern von<br />

ungehemmtem Wettbewerb und Militarisierung<br />

eine starke Kraft mit modernen<br />

sozial-ökologischen Alternativen<br />

entgegenstehen muss. Ich denke, DIE<br />

LINKE muss eine sozialistische Partei<br />

sein und eine emanzipatorische Politik<br />

betreiben.<br />

Post an alle<br />

Der Parteivorstand hat an den Dortmunder<br />

Parteitag den Antrag gestellt,<br />

<strong>zur</strong> Urabstimmung die Mitglieder zu<br />

fragen: »Stimmst du dem Entwurf des<br />

Verschmelzungsvertrages zwischen<br />

WASG und <strong>Linkspartei</strong>.PDS und damit<br />

der Verschmelzung von WASG und<br />

<strong>Linkspartei</strong>.PDS auf der Grundlage der<br />

beschlossenen Gründungsdokumente<br />

zu? <strong>Ja</strong> / Nein«. <strong>Die</strong>, wie ich leider gestehen<br />

muss, ziemlich verquaste Fragestellung<br />

hat mit Anforderungen zu tun,<br />

die aus dem Parteien- und Vereinsrecht<br />

entstehen, sowie mit Konsequenzen<br />

aus dem Umwandlungsgesetz, nach<br />

dem wir den Zusammenschluss beider<br />

Parteien juristisch vollziehen wollen.<br />

Der Verschmelzungsvertrag ist unter<br />

www.sozialisten.de im Internet veröffentlicht,<br />

und er gehört zu den Delegiertenunterlagen<br />

für den Dortmunder<br />

Parteitag. <strong>Die</strong> politischen Grundlagen<br />

für unseren Zusammenschluss stehen<br />

in jenen Gründungsdokumenten, die<br />

wir in jüngster Zeit in beiden Parteien<br />

diskutiert haben und über die in Dortmund<br />

beraten und entschieden wird:<br />

den Programmatischen Eckpunkten,<br />

der Bundessatzung, der Bundesfi nanzordnung<br />

und der Schiedsordnung.<br />

Zur Urabstimmung werden alle Mitglieder<br />

der Partei von der Bundesgeschäftsstelle<br />

angeschrieben. Sie erhalten<br />

Erläuterungen <strong>zur</strong> Urabstimmung,<br />

den Beschluss des Parteitages und den<br />

Text des Verschmelzungsvertrages. Alle<br />

Mitglieder bekommen zugleich den Urabstimmungsschein<br />

zum Ausfüllen, der<br />

in ein ebenfalls beigefügtes Kuvert ohne<br />

Absender gesteckt wird. <strong>Die</strong>ses wiederum<br />

kommt verschlossen in einen<br />

bereits adressierten Briefumschlag, der<br />

den Aufdruck »Gebühr bezahlt Empfänger«<br />

trägt. Auf diese Weise ist einerseits<br />

eine anonyme Stimmabgabe gesichert,<br />

und andererseits kann festgehalten<br />

werden, wer bereits seine Stimme<br />

abgegeben hat. <strong>Die</strong> Urabstimmungsbriefe<br />

können entweder auf dem Postweg<br />

für den Absender gebührenfrei an<br />

die aufgedruckten Adressen geschickt<br />

oder aber bei den Geschäftsstellen der<br />

<strong>Linkspartei</strong> abgegeben werden. Letzteres<br />

hilft uns, Kosten zu sparen.<br />

<strong>Die</strong> Auszählung der Urabstimmung<br />

soll am 19. Mai 2007 in der Bundesgeschäftsstelle<br />

erfolgen und von der<br />

Wahlkommission des Parteitages<br />

durchgeführt werden. Vorgesehen ist,<br />

dass die vom Parteitag gewählte Mandatsprüfungskommission<br />

während<br />

der Urabstimmung als Klärungs- und<br />

Schlichtungsstelle fungiert.<br />

Im Berliner Karl-Liebknecht-Haus<br />

arbeitet ab dem 30. März eine Service-Stelle<br />

<strong>zur</strong> Urabstimmung. <strong>Die</strong>se<br />

ist werktags von 9 bis 20 Uhr telefonisch<br />

erreichbar unter 030 – 24 00 95<br />

42 oder unter Fax 030 – 24 00 94 80<br />

bzw. E-Mail parteivorstand@linkspartei.de.<br />

<strong>Die</strong> Urabstimmung endet am 18.<br />

Mai 2007 um 18 Uhr.<br />

Ich hoffe sehr, dass sich möglichst<br />

alle Mitglieder unserer Partei an der<br />

Urabstimmung beteiligen, da kann es<br />

ruhig einen »sozialistischen Wettbewerb«<br />

der Landes- und Kreisverbände<br />

geben! Und natürlich ermuntere ich alle<br />

Genossinnen und Genossen: Sagt <strong>Ja</strong><br />

<strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />

Dr. <strong>Die</strong>tmar Bartsch ist<br />

Bundesgeschäftsführer<br />

DISPUT März 2007 06


Aus zwei mach eins – Deins!<br />

Mitgliederkampagne zum Gründungskongress Von Claudia Gohde<br />

Franz will eintreten, weil jetzt die <strong>Linke</strong><br />

endlich geeint wird.<br />

Svenja will eintreten, weil sie im linken<br />

Hochschulverband die Unterstützung<br />

von Fraktionen in sechs Landtagen,<br />

im Bundestag und im Europaparlament<br />

hat.<br />

Urs will eintreten, weil er die Demütigungen<br />

als Hartz-IV-Empfänger einfach<br />

nicht mehr ertragen will und seinen<br />

Protest zusammen mit anderen<br />

laut heraus schreien will.<br />

Sabine will eintreten, weil sie die<br />

Mindestlohnkampagne klasse fi ndet.<br />

Jochen will eintreten, weil die <strong>Linke</strong><br />

als einzige Partei konsequent für die<br />

Gemeinschaftsschule streitet.<br />

Christine will eintreten, weil sie die<br />

Powerfrauen Petra, Katja, Dagmar und<br />

Kerstin toll fi ndet.<br />

Wilfried will eintreten, weil die <strong>Linke</strong><br />

die einzige sozialistische Partei ist.<br />

Und Edith ist schon lange drin, weil<br />

die <strong>Linke</strong> auf allen Ebenen als antifaschistische<br />

Partei gegen Nazis, Rechtsextremismus<br />

und Fremdenfeindlichkeit<br />

aktiv ist.<br />

Es gibt bestimmt so viele Eintrittsgründe,<br />

wie es Mitglieder gibt. Und darum<br />

gibt es auch sicher einige Tausend<br />

Eintrittsgründe für diejenigen, die noch<br />

nicht drin sind, aber gewinnbar wären.<br />

Für die meisten von ihnen gilt, dass<br />

sie noch nie gefragt wurden. Manchmal<br />

braucht man nur einen Anlass. Das<br />

kann im <strong>Ja</strong>hr 2007 der Gründungskongress<br />

der Partei DIE LINKE sein.<br />

Während wir als Mitglieder möglicherweise<br />

schon etwas geschlaucht<br />

von den Antragsschlachten, der Urabstimmung<br />

und den furchtbar vielen<br />

Verhandlungen über Paritäten, Daten-<br />

70 DISPUT März 2007<br />

abgleichen und Tagesordnungsproblemen<br />

sind, gucken sehr viele <strong>Linke</strong> von<br />

außen mit Interesse und Spannung auf<br />

unseren Parteibildungsprozess:<br />

■ ■ In welcher anderen Partei wird die<br />

Forderung nach mehr direkter Demokratie<br />

durch die Praxis in der eigenen<br />

Partei – Urabstimmung über die Gründungsdokumente<br />

– so nachdrücklich<br />

untermauert?<br />

■ ■ Welche Partei ist so mit den sozialen<br />

Bewegungen in Ost wie West verbunden?<br />

■ ■ Welche andere Partei ist so oft totgesagt<br />

worden und erlebt nach der erfolgreichen<br />

Bundestagswahl 2005 und<br />

in ihrem 18. Lebensjahr nach der Wende<br />

eine solche Stärkung?<br />

■ ■ Welche Partei hat so eloquente<br />

Fraktionsvorsitzende?<br />

■ ■ Wo in der <strong>Linke</strong>n gibt es sonst<br />

ein Stück Aufbruch, der auch den Politikverdrossenen<br />

Mut macht, die<br />

Schwachen stärkt und aufzeigt, dass<br />

es wirklich auch anders geht?<br />

Es gibt viele, die so auf unsere Parteibildung<br />

gucken und die wir nicht unbedingt<br />

mit Erzählungen über gerade<br />

erlebte Endlosdebatten oder skandalöse<br />

Einzelmeinungen von Lieschen<br />

Müller aus Kleinsiehstemichnicht langweilen<br />

sollten. Dass der politische Alltag<br />

auch Durststrecken hat, weiß jede<br />

und jeder. Aber wir wissen ebenfalls,<br />

was uns darüber hinweg trägt: Gemeinschaft<br />

und Solidarität, die Wut auf<br />

Krieg, Unterdrückung und Ungerechtigkeit,<br />

das Glück, ein paar wirkliche Verbesserungen<br />

erreicht zu haben, oder<br />

die Vision eines demokratischen Sozialismus.<br />

Das lohnt sich mit anderen<br />

zu teilen.<br />

Einige haben für sich den 16. Juni zum<br />

symbolischen Datum für den Aufbruch<br />

einer geeinten <strong>Linke</strong>n erklärt und angekündigt,<br />

zu diesem Termin der <strong>neuen</strong><br />

Partei beitreten zu wollen. Warum sollte<br />

dieser Tag nicht auch für uns und viele<br />

andere ein solcher Stichtag sein? »Aus<br />

zwei mach eins – Deins« , formulierte<br />

ein Genosse in der Koordinierungsgruppe<br />

Mitgliederentwicklung. Das ist doch<br />

ein Motto, unter dem unsere neue Partei<br />

nicht nur die Unsere bleibt, sondern<br />

zu einer Partei für die Kollegin, Nachbarin<br />

oder den Freund werden könnte. Außerdem<br />

gibt es noch die lange Reihe der<br />

parteilosen Abgeordneten, die vielleicht<br />

einfach mal angesprochen werden wollen<br />

oder sollten.<br />

Für die ersten 1.000 Mitglieder ab<br />

dem 16. Juni gibt’s übrigens eine Überraschung.<br />

Und die in diesem <strong>Ja</strong>hr erfolgreichsten<br />

Landes- und Kreisverbände<br />

in der Mitgliedergewinnung sollen<br />

ebenfalls ausgezeichnet werden.<br />

Auf unserer Internetseite werden diejenigen<br />

Neumitglieder, die damit einverstanden<br />

sind, mit Bild und Text vorgestellt<br />

werden. Selbstverständlich gibt<br />

es ab dem 16. Juni auch einen <strong>neuen</strong><br />

Flyer und neue Eintrittserklärungen.<br />

Und noch viel mehr…<br />

Für diejenigen, die nicht bis zum 16.<br />

Juni mit dem Eintritt warten wollen, hält<br />

natürlich auch noch die gute alte PDS<br />

(wenngleich mit dem Zusatz <strong>Linkspartei</strong>.)<br />

Eintrittserklärungen bereit und ein<br />

gutes Argument: Wer bis zum 20. April<br />

2007 eintritt, kann an der Urabstimmung<br />

teilnehmen und wird später einmal<br />

den Enkeln sagen können, dass er<br />

oder sie nicht erst eingetreten ist, als<br />

es ab dem 16. Juni Mode wurde.<br />

MITGLIEDER


Profi lsuche<br />

Über programmatische und mentale Schwierigkeiten beim Zusammenschluss<br />

Von Rosemarie Hein<br />

Eine starke linke Politik ist in der Bundesrepublik<br />

nötiger denn je. Seit dem<br />

Frühjahr 2005 haben wir begonnen, an<br />

einer gemeinsamen <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n zu<br />

arbeiten. <strong>Die</strong> Gründungsdokumente<br />

liegen vor, und vielerorts ist man über<br />

das gegenseitige Beschnuppern hinaus<br />

bereits zu einer engen Zusammenarbeit<br />

übergegangen.<br />

Nun soll aber keiner glauben, das<br />

sei einfach. Der Zusammenschluss der<br />

beiden Parteien ist noch lange kein Garant<br />

für eine dauerhafte starke <strong>Linke</strong>.<br />

Es ist schließlich auch nicht der erste<br />

Versuch, zu einer gemeinsamen starken<br />

<strong>Linke</strong>n in Ost und West zu kommen.<br />

<strong>Die</strong> Debatten um das Profi l der <strong>neuen</strong><br />

Partei werden darum auch nach dem<br />

Juni weitergehen müssen.<br />

Eine neue <strong>Linke</strong>, die eine Chance<br />

hat, in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse<br />

einzugreifen, muss eine <strong>Linke</strong><br />

sein, wie es sie in Deutschland<br />

noch nicht gab, nicht in Ost und nicht<br />

in West. Sie muss sozial sein, modern,<br />

zukunftsorientiert, internationalistisch,<br />

demokratisch und natürlich friedlich.<br />

Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist<br />

wohl ausreichend, diesen Schritt zu<br />

wagen. Aber gerade in den Debatten<br />

um Programmatik und Statut ist deutlich<br />

geworden, dass die politischen und<br />

kulturellen Unterschiede größer sind,<br />

als manche und mancher von uns vielleicht<br />

ahnt. Das merkt man, wenn man<br />

von der Ebene der politischen Überschriften<br />

zu konkreten Gestaltungsansätzen,<br />

also zu Politik kommt.<br />

Ich will das an einem kleinen Beispiel<br />

deutlich machen. Es geht mir um<br />

die Frage nach dem Verhältnis von sozialer<br />

Gerechtigkeit und individueller<br />

Freiheit. Da ist der oft nicht ganz richtig<br />

zitierte Satz aus dem Kommunistischen<br />

Manifest von einer Gesellschaft, »in der<br />

die freie Entwicklung eines jeden die<br />

Bedingung für die freie Entwicklung aller<br />

ist«. Gelegentlich wird dieser Satz<br />

zitiert mit dem Schluss »geworden ist«.<br />

Und da liegt der kleine aber feine Unterschied:<br />

»Geworden ist« kann eben<br />

heißen, bis dahin ist die freie Entwicklung<br />

eines jeden eben nicht Bedingung<br />

für die freie Entwicklung aller, oder –<br />

und ich verkürze hier – bis dahin können<br />

Freiheitsrechte einzelner eben im<br />

<strong>Die</strong>nste der vermeintlich guten Sache<br />

eingeschränkt werden.<br />

NEUE LINKE<br />

In Debatten hört man an dieser Stelle,<br />

auch jüngst in der Regionalkonferenz<br />

von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt,<br />

natürlich unterschätze<br />

man individuelle Freiheitsrechte nicht,<br />

aber ohne die sozialen Rechte würden<br />

diese auch nichts nützen. Und da ist er<br />

dann schon wieder, der kleine aber feine<br />

Unterschied. Wer nur so herum herangeht,<br />

rangiert die individuellen Freiheitsrechte<br />

hinter den sozialen ein<br />

und eben nicht auf gleicher Höhe. Es<br />

stimmt nämlich auch umgekehrt. Dass<br />

die Nachrangigkeit individueller Freiheitsrechte<br />

die politische <strong>Linke</strong> ins Dilemma<br />

führt, haben wir im Osten schon<br />

erfahren. Wer sich darauf einlässt, landet<br />

unweigerlich bei autoritären Strukturen.<br />

An diese Betrachtungsweise<br />

knüpfen sich die Fragen des Wie des<br />

Kampfes um eine sozial gerechte Gesellschaft<br />

und noch vieles mehr.<br />

Wenn wir nun gemeinsam eine neue<br />

<strong>Linke</strong> wollen, wird es nicht reichen, allein<br />

die Mitgliedschaft der <strong>Linkspartei</strong><br />

auf der einen Seite und der WASG<br />

auf der anderen Seite zusammenzuführen.<br />

Eine neue <strong>Linke</strong> werden wir<br />

nur dann, wenn wir attraktiv für linkes<br />

Denken über die eigene bisherige Mitgliedschaft<br />

hinaus sind. <strong>Linke</strong> finden<br />

sich auch unter Wissenschaftlerinnen<br />

und Wissenschaftlern, bei den<br />

Gewerkschaften und in Sozialverbänden,<br />

die sich bisher von linken Gruppierungen<br />

und Parteistrukturen tunlichst<br />

ferngehalten haben – alles mögliche<br />

Mitstreiterinnen und Mitstreiter.<br />

Für die neue <strong>Linke</strong> ist es wichtig, dass<br />

sie auch für die als Ansprechpartnerin<br />

attraktiv wird. Das wird ein schweres<br />

Stück Arbeit, weil Vorurteile abzubauen<br />

sind, die aus den Zeiten des Kalten<br />

Krieges stammen, die aber auch<br />

aus der Geschichte der <strong>Linke</strong>n selbst<br />

kommen. So stellt sich die Frage, was<br />

bedeutet es denn für die neue <strong>Linke</strong>,<br />

dass nicht wenige Mitglieder der <strong>neuen</strong><br />

Partei ihre politische Vergangenheit<br />

über viele <strong>Ja</strong>hre in der SPD hatten? <strong>Die</strong><br />

Entscheidung für eine Partei ist doch<br />

nicht beliebig. Sie hat mit programmatischen<br />

Ansätzen zu tun und auch mit<br />

konkreter Politik. <strong>Die</strong> SPD war aber und<br />

wird, auch wenn sie sich nun mit einem<br />

<strong>neuen</strong> Parteiprogramm wieder linkeren<br />

Positionen öffnet, eine andere sein als<br />

die sozialistische <strong>Linkspartei</strong>.<br />

Was für eine Partei wird dann die<br />

neue <strong>Linke</strong>? Eine zweite Sozialdemokratie<br />

als Drohpotenzial für die erste<br />

wird nicht gebraucht. Gebraucht wird<br />

eine neue <strong>Linke</strong>, die in der Lage ist,<br />

weitergehende gesellschaftliche Alternativen<br />

zu entwickeln, Alternativen,<br />

die nicht in den Schranken dieser Gesellschaft<br />

verhaftet bleiben. Und gebraucht<br />

wird eine Partei, die das nicht<br />

nur affi rmativ tut, sondern die in gesellschaftliche<br />

Umgestaltungsprozesse in<br />

diesem Sinne eingreift.<br />

Dafür ist es wichtig, voneinander,<br />

von den unterschiedlichen Auffassungen<br />

und Herangehensweisen zu<br />

wissen, um sich respektieren zu können,<br />

um gemeinsam Neues zu entwickeln.<br />

Das baut auf Vorhandenem auf,<br />

bleibt aber dabei nicht stehen. Darum<br />

einige Überlegungen zum Wert westlinker<br />

Erfahrungen für eine emanzipatorische<br />

<strong>Linke</strong> in ganz Deutschland, <strong>zur</strong><br />

Nachwendegeschichte im Osten und<br />

zu den Gründen, warum es nach wie<br />

vor bei vielen <strong>Linke</strong>n vor allem im Westen<br />

Skepsis gegenüber der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

PDS gibt.<br />

<strong>Die</strong> Haltung <strong>zur</strong> DDR bewegt sich bei<br />

<strong>Linke</strong>n aus dem Westen zwischen Akzeptanz<br />

und Bewunderung einerseits<br />

und Kritik am undemokratischen Agieren<br />

der Staats- und Parteioberen der<br />

DDR andererseits. <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

wird von manchen in dieser Kontinuität<br />

gesehen, und ihr wurde und wird in<br />

diesem Zusammenhang zu geringe Geschichtsaufarbeitung<br />

vorgeworfen. Dazu<br />

kommt, dass die Arbeit der PDS in<br />

den <strong>neuen</strong> Bundesländern seit 1990<br />

in unterschiedlichen Verantwortungen<br />

bei vielen Westlinken nur oberflächlich<br />

oder überhaupt nicht bekannt ist.<br />

Sie wird mitunter auch beargwöhnt,<br />

vor allem, wenn es um Regierungsbeteiligungen<br />

geht, hat man doch die Entwicklung<br />

der Grünen im Westen vor Augen.<br />

Ein zweiter Grund liegt in der Geschichte<br />

der linken Bewegung und ihrer<br />

zahlreichen Parteien im Westen<br />

selbst. Viele linke Parteien und Gruppierungen<br />

im Westen, die sich seit dem<br />

Verbot der KPD neu und umbildeten,<br />

haben heftigst miteinander über die<br />

einzig richtige Auffassung von der kapitalistischen<br />

Gesellschaft und von ihrer<br />

Überwindung gestritten und ha-<br />

DISPUT März 2007 08


en bis auf wenige kommunale Mandate<br />

keine Relevanz über parlamentarische<br />

Arbeit entwickeln können. Sie<br />

erreichten aber in konkreten außerparlamentarischen<br />

Aktionen vor Ort regionale<br />

und manchmal auch überregionale<br />

Aufmerksamkeit. Und so kann es<br />

nicht verwundern, dass die parlamentarische<br />

Arbeit oftmals eher gering geschätzt<br />

und der eigentliche Aktionsraum<br />

im außerparlamentarischen Protest<br />

gesehen wird. Sichten und Vorstellungen<br />

über Lösungsmechanismen für<br />

gesellschaftliche Probleme werden logischerweise<br />

stark davon geprägt. <strong>Die</strong><br />

Konsequenz dieser Entwicklung war<br />

aber auch, dass die <strong>Linke</strong> im Westen<br />

in der gesellschaftlichen Debatte über<br />

die eigenen Diskussionszirkel hinaus<br />

in der Regel marginalisiert wurde.<br />

Noch eines kommt zum Verständnis<br />

für die <strong>Linkspartei</strong>.PDS in West und<br />

Ost hinzu. <strong>Die</strong> Mitglieder der PDS im<br />

Osten haben den Zusammenbruch der<br />

DDR auch als tiefen persönlichen Einschnitt<br />

erfahren: Nahezu alle sicher geglaubten<br />

Wertvorstellungen und Überzeugungen<br />

wurden für sie plötzlich<br />

über den Haufen geworfen. Wofür sie<br />

<strong>Ja</strong>hrzehnte gearbeitet hatten, war nicht<br />

mehr wahr. Sie hatten sich neu zu orientieren.<br />

Solche Erfahrungen wurden<br />

von <strong>Linke</strong>n im Westen kaum gemacht.<br />

Für die meisten ging die politische Arbeit<br />

weitgehend ungebrochen weiter.<br />

Für manche um eine Hoffnung ärmer,<br />

für andere jedoch in Bestätigung<br />

ihrer Skepsis, dass der Sozialismus in<br />

der DDR offensichtlich keiner gewesen<br />

sein kann.<br />

Als wir aus der SED kommend 1990<br />

im Osten die PDS gründeten, war auch<br />

noch lange nicht ausgemacht, ob es<br />

gelingen würde, gesellschaftliche Akzeptanz<br />

zu erringen. <strong>Die</strong> Neufi ndung<br />

der PDS im Osten war auch eine der inhaltlichen<br />

Neuorientierung. Da waren<br />

die Auseinandersetzungen mit linkem<br />

Denken in den alten Bundesländern,<br />

das vor allem in den 60er und 70er <strong>Ja</strong>hren<br />

entwickelt worden war, lehr- und<br />

hilfreich. Davon hat die PDS nach ihrer<br />

Gründung gezehrt. Fragen der Umweltpolitik,<br />

des Feminismus, zivilgesellschaftlicher<br />

Strukturen, gewerkschaftlicher<br />

Rechte und Fragen um den<br />

Wert individueller Freiheitsrechte, wie<br />

sie beispielsweise die linke Politik der<br />

68er wesentlich prägten, waren für die<br />

ehemaligen SED-Mitglieder, die sich<br />

auf den Weg der Erneuerung gemacht<br />

hatten, erst einmal ein umfangreiches<br />

Lernfeld. Wir hatten viel nachzuholen<br />

an linker Debatte. Wir hatten staatszentrierte<br />

und autoritäre Denkstrukturen<br />

aufzugeben und uns auf für uns<br />

sehr Neues einzulassen. Zu diesem<br />

90 DISPUT März 2007<br />

Lernprozess kam die gnadenlose Entwertung<br />

von sozialen Errungenschaften<br />

hinzu, die nun zum Teil mühsam oder<br />

verschämt von der herrschenden Politik<br />

wieder entdeckt werden.<br />

<strong>Die</strong> Arbeit im Osten war aber immer<br />

konkret, in allen Ebenen politischen<br />

Agierens. Und schnell wurde klar: Protest<br />

reicht nicht, man muss auch sagen,<br />

wie es anders gehen kann. Verweigern<br />

wird übel genommen, wenn man keine<br />

Alternativen zu bieten hat. Viele von<br />

uns mussten Entscheidungen treffen,<br />

die Folgen hatten, so oder so, vor allem<br />

(aber nicht nur) in der kommunalen Arbeit.<br />

Dabei kann man Fehler machen.<br />

Heraushalten und auf Grundsätze <strong>zur</strong>ückziehen<br />

ging oft nicht, es wäre auch<br />

der größere Fehler gewesen. Sei es<br />

beim Haushalt, bei Vergabepraxis oder<br />

bei freien Trägern. <strong>Die</strong>s war und ist immer<br />

unter dem Gesichtspunkt zu leisten,<br />

wie ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit<br />

erreichbar ist. <strong>Die</strong>ses Mehr ist<br />

manchmal verdammt klein und nur die<br />

Entscheidung zwischen zwei un<strong>zur</strong>eichenden<br />

Alternativen.<br />

<strong>Die</strong>se Erfahrungen und die Bereitschaft,<br />

Verantwortung zu übernehmen,<br />

waren es, die der PDS im Osten<br />

jene Anerkennung gebracht haben, die<br />

sich auch in den Wahlergebnissen niederschlug,<br />

selbst dann, wenn man, wie<br />

in Sachsen-Anhalt, als PDS offen angekündigt<br />

hatte, regieren zu wollen, sogar<br />

nach acht <strong>Ja</strong>hren Tolerierung.<br />

Mit diesen unterschiedlichen Herangehensweisen,<br />

den Einsichten aus Ost<br />

und West und auch mit den Vorurteilen<br />

werden wir es in der Zukunft noch eine<br />

ganze Weile zu tun haben. Sich gegenseitig<br />

respektieren heißt, die Erfahrungen<br />

der anderen ernst zu nehmen,<br />

auch die der PDS im Osten nach 1989.<br />

Wir haben voneinander zu lernen und<br />

vor allem gemeinsam. Das sage ich<br />

ausdrücklich in Richtung Ost und in<br />

Richtung West.<br />

<strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> kann zwei Fehlern<br />

unterliegen: Der eine ist die Gefahr,<br />

mangels Alternativen und mangels Mut<br />

<strong>zur</strong> eigenen Veränderung den Weg der<br />

Sozialdemokratie und der Grünen zu<br />

gehen und vor den gesellschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen letztendlich zu<br />

kapitulieren. Der andere ist, aus der<br />

Angst der Vereinnahmung heraus und<br />

wegen der Pfl ege ideologischer Grundsätze<br />

sich aus der praktischen Politik<br />

<strong>zur</strong>ück in die linke Nische der Gesellschaft<br />

zu verziehen. Beides ist möglich,<br />

beides macht eine neue <strong>Linke</strong> überfl<br />

üssig. Ich werbe dafür, beiden Fehlern<br />

nicht zu erliegen.<br />

Dr. Rosemarie Hein ist Mitglied des<br />

Parteivorstandes<br />

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Coupon bitte senden an: Parteivorstand der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

PDS, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin


Jetzt macht mal hin!<br />

Miteinander reden und Erfahrungen austauschen – Gedanken zum<br />

Parteineubildungsprozess Von <strong>Ja</strong>n Korte<br />

Neben den üblichen Auseinandersetzungen<br />

mit dem politischen Gegner vor<br />

Ort spielt bei den meisten Genossinnen<br />

und Genossen der <strong>Linkspartei</strong>.PDS die<br />

Frage der Parteineubildung seit Monaten<br />

eine zentrale Rolle. <strong>Die</strong> häufi gsten<br />

Fragen, die mir gestellt werden, wenn<br />

ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin,<br />

lauten: »Wie lange braucht ihr noch?«,<br />

»Wird der demokratisch-sozialistische<br />

Charakter der PDS bleiben?« und »Welche<br />

Rolle wird der Osten in der <strong>neuen</strong><br />

<strong>Linke</strong>n spielen?«. Auf fast allen Veranstaltungen<br />

von Basisorganisationen<br />

und Kreisverbänden wird ein großer<br />

Teil der Zeit für eine Debatte um den<br />

Prozess <strong>zur</strong> Bildung einer <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />

verwendet.<br />

Dabei herrscht völlige Einigkeit, dass<br />

die neue <strong>Linke</strong> kommen muss. Niemand<br />

stellt die Parteineubildung in Frage.<br />

Vielmehr wird der Prozess mit großem<br />

Interesse, Spannung und vielen Hoffnungen<br />

verbunden. Besonders bemerkenswert<br />

fi nde ich die Anteilnahme der<br />

Partei im Osten an der Entwicklung im<br />

Westen. Natürlich freut mich dies persönlich,<br />

da ich, aus dem Westen kommend,<br />

meinen Wahlkreis in Bernburg,<br />

Bitterfeld und dem Saalkreis, also in<br />

den <strong>neuen</strong> Bundesländern, habe.<br />

Das Interesse an der Entwicklung<br />

der <strong>Linke</strong>n im Westen hat Gründe: Nach<br />

vielen Niederlagen im Westen gibt es<br />

nun die reale Chance, auch dort dauerhaft<br />

eine starke linke Partei zu verankern.<br />

Viele Gespräche in Bernburg drehen<br />

sich deshalb beispielsweise um<br />

die Fragen: Was können wir aus 17 <strong>Ja</strong>hren<br />

PDS-Geschichte in Ost und West<br />

lernen? Was müssen wir tun, um im<br />

Westen Fuß zu fassen und unsere starke<br />

Stellung als Volkspartei im Osten zu<br />

halten und auszubauen?<br />

Dabei wird sehr oft über die Mitgliedergewinnung<br />

gesprochen, die für den<br />

Osten und den Westen gleichermaßen<br />

substanziell ist. Ich halte einen verstärkten<br />

und systematischen Ausbau<br />

der Kontakte zwischen Basisorganisationen,<br />

zwischen Landesorganisationen,<br />

zwischen Ost und West für äußerst<br />

wichtig, um voneinander zu lernen –<br />

sowohl politisch als auch kulturell.<br />

Ein Beispiel, das schon ein bisschen<br />

<strong>zur</strong>ückliegt, verdeutlicht dies: Als ich<br />

im <strong>Ja</strong>hr 2005 im Wahlkreis 72 mit dem<br />

Bundestagswahlkampf anfi ng, kamen –<br />

NEUE LINKE<br />

für mich – fremde Bürger/innen an den<br />

Infostand und gaben mir wie selbstverständlich<br />

die Hand <strong>zur</strong> Begrüßung.<br />

Für mich völlig ungewohnt, da dies im<br />

Westen nicht üblich ist. Wenn ich nun<br />

Freunde im Westen besuche, gebe ich<br />

ihnen automatisch <strong>zur</strong> Begrüßung die<br />

Hand, wobei die dann denken: »Was<br />

ist denn mit dem los?«<br />

Besonders oft werde ich in Veranstaltungen<br />

der Partei auf den demokratischen<br />

Sozialismus angesprochen.<br />

Das zeigen auch die vielen Briefe an<br />

den Parteivorstand mit der Aufforderung,<br />

dafür Sorge zu tragen, dass er<br />

klar und deutlich in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />

verankert ist. <strong>Die</strong> Bereitschaft in der<br />

Partei vor Ort, sich dafür stark zu machen,<br />

ist groß und muss Aufgabe für<br />

die Gesamtpartei sein. Gerade hierzu<br />

ist der Kontakt untereinander wichtig:<br />

Wir müssen diejenigen, die aus historischen<br />

oder biographischen Gründen<br />

Probleme mit dem demokratischen Sozialismus<br />

haben, überzeugen, warum<br />

wir diese Frage für immanent wichtig<br />

halten, was sie für uns und unsere Geschichte<br />

bedeutet.<br />

Was waren die Stärken,<br />

was die Schwächen?<br />

In diesem Zusammenhang werde ich<br />

oft auf Fragen der eigenen Geschichte<br />

angesprochen: Wäre es nicht eine interessante<br />

Diskussion, die Geschichte der<br />

<strong>Linke</strong>n in Ost und West zu diskutieren<br />

und zu analysieren? Was waren Unterschiede,<br />

wo waren die Stärken und die<br />

Schwächen? <strong>Die</strong>se Fragen wären wichtig,<br />

um gegenseitiges Verständnis füreinander<br />

zu entwickeln und selbstkritisch<br />

Fehler zu vermeiden.<br />

Schon in der alten PDS gab es diverse<br />

Strömungen und unterschiedliche<br />

politische Biographien. In der<br />

<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n kommen noch viel mehr<br />

Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen,<br />

Erfahrungen, Niederlagen<br />

und Erfolgen zusammen. Besonders<br />

auf diesem Gebiet könnte man herausarbeiten,<br />

was das Neue an der »<strong>neuen</strong><br />

<strong>Linke</strong>n« ist. Viele Genossinnen und Genossen<br />

stellen vor diesem Hintergrund<br />

die Frage, wie wir weitere <strong>Linke</strong> für den<br />

Parteineubildungsprozess gewinnen<br />

können. Denn klar muss sein: <strong>Die</strong> Verschmelzung<br />

von <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />

WASG allein sollte uns zu wenig sein.<br />

Wie kommen wir also an andere »frei<br />

schwebende« <strong>Linke</strong>, an kritische Wissenschaftler/innen,<br />

an junge Leute<br />

und an Querdenker heran, die unseren<br />

Prozess bereichern können. Hierfür, so<br />

wird oft angemerkt, könnte eine umfangreiche<br />

Programmdebatte, die versucht,<br />

viele einzuschließen, sehr hilfreich<br />

sein. <strong>Die</strong>se darf jedoch nicht abgehoben<br />

von den realen Problemen<br />

der Menschen geführt werden. Gerade<br />

auch deshalb muss die neue Partei viel<br />

mehr sichtbar werden, vor Ort, bei den<br />

Menschen. Eine Debatte um die Kampagnenfähigkeit<br />

der <strong>Linke</strong>n wird deshalb<br />

zu recht immer wieder gefordert.<br />

Und alle bisherigen Erfahrungen zeigen,<br />

dass über diesen Weg viele neue<br />

Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewonnen<br />

werden können. Insbesondere die<br />

Mindestlohnkampagne wird von den<br />

Genossinnen und Genossen hier angeführt.<br />

Und dies bereichert unsere Debatte<br />

um Programm und Wirkungsweise<br />

der Partei ungemein.<br />

Allerdings, es gibt auch kritische<br />

Stimmen, besonders in Bezug auf die<br />

lange Zeit der Diskussionen und des<br />

Streites. Nicht selten wird kritisiert,<br />

dass der Parteineubildungsprozess viel<br />

zu lange andauert. Das gilt für die Parteimitglieder,<br />

aber auch für die Bürgerinnen<br />

und Bürger, die eigentlich schon<br />

2005 der Meinung waren, dass es die<br />

neue <strong>Linke</strong> schon gibt. »Jetzt macht<br />

mal hin!« ist deshalb eine oft zu hörende<br />

Mahnung. Damit verbunden ist<br />

die Hoffnung, dass mit dem Abschluss<br />

der Parteineubildung im Juni neuer<br />

Schwung für die <strong>Linke</strong> entsteht, der in<br />

den letzten Monaten doch etwas verloren<br />

gegangen ist.<br />

Wenn ich meine Erfahrungen zusammenfassen<br />

soll, so werden mit der<br />

<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n große Hoffnungen verbunden,<br />

die sich aber nicht von allein<br />

erfüllen. <strong>Die</strong> Mitglieder und Aktivisten<br />

in meinem Wahlkreis wissen aus vielen<br />

<strong>Ja</strong>hren PDS-Geschichte, dass <strong>Linke</strong> immer<br />

dicke Bretter bohren müssen. Und<br />

so wird mir oft als Mahnung der Satz<br />

mitgeben: Zuerst entscheidet die Partei,<br />

dann die Fraktion.<br />

<strong>Ja</strong>n Korte, 29 <strong>Ja</strong>hre alt, ist Mitglied des<br />

Parteivorstandes und Bundestagsabgeordneter<br />

DISPUT März 2007 010


Verheizen Sie Ihr Geld nicht:<br />

Ziehen Sie Ihr Haus warm an.<br />

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mittel ständische Handwerk vor Ort. Nähere Informationen zu unseren Förderprogrammen unter www.energie-fuer-morgen.de<br />

CO<br />

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Alpenglühen<br />

Von Jens <strong>Ja</strong>nsen<br />

SATIRE<br />

Wenn bei Berchtesgaden die Sonne<br />

hinter den Alpen versinkt, lässt sie die<br />

Berggipfel erglühen. Das Purpurlicht erinnert<br />

an den Mantel der Könige und an<br />

die Spruchweisheit: »Fällt der Purpur –<br />

fällt der König«. Rufmord ist der Auftakt<br />

zum Putsch. <strong>Die</strong> Ära Stoiber geht<br />

zu Ende.<br />

Das erklärt, warum am Aschermittwoch<br />

im bayerischen Passau die Donau<br />

beinahe über die Ufer trat. Nach<br />

dem letzten Faschingsauftritt Edmund<br />

Stoibers als Landesfürst hatten sich<br />

Sturzbäche von Tränen der 5.000 treuesten<br />

CSU-Gefolgsleute aus der Halle<br />

ergossen.<br />

Was war geschehen? Edmund der<br />

Große, der Bayern an die Weltspitze<br />

gehoben hat – im Bierverbrauch, im<br />

PISA-Test, im Bau von Präzisionswaffen,<br />

in der Personalpolitik des Vatikans<br />

und zeitweilig sogar<br />

im Fußball –, dieser<br />

geniale Landesvater<br />

wurde von einer<br />

rothaarigen Hexe<br />

aus den eigenen<br />

Reihen zu Fall gebracht.<br />

Das ist dreifache<br />

Schmach: Weil<br />

die Pauli ein Weib ist.<br />

Weil sie aus Franken<br />

kommt. Und weil sie gerade mal ein<br />

Landratsamt in Führt erklommen hat.<br />

Das ist im Vergleich zu Stoibers Thron<br />

ein Maulwurfshügel!<br />

Aber eben diese Dame zupfte an<br />

Stoibers Purpurmantel mit dem Hinweis,<br />

dass dies kein »Erbstück« sei und<br />

dass er sich einer Abwahl zu stellen habe.<br />

Als abgebrochener Kanzlerkandidat<br />

und Geisterfahrer zwischen Berlin und<br />

München habe er Kredit verloren. Sein<br />

autoritärer Führungsstil schade dem<br />

Land und der Partei!<br />

Man sieht, wie weltfremd dieses<br />

Weibsbild daherkommt! Der Bayer als<br />

solcher hat nämlich mehrere Gene, die<br />

ihm das Treuebekenntnis zum jeweiligen<br />

Landesfürsten ständig vererben!<br />

Das funktioniert wie bei der Gicht –<br />

über Generationen. Ebenso die Sprachstörungen,<br />

die man bei vielen Politikern<br />

dortzulande beobachten kann,<br />

weil sie als Choleriker meist schneller<br />

sprechen, als sie denken können.<br />

So kam ja Stoiber unlängst in einer öffentlichen<br />

Rede durch Kopfrechnen zu<br />

dem Schluss, dass die 40 Minuten lange<br />

Fahrt zum Münchener Flughafen nur<br />

zehn Minuten dauert. Aber solche gestandenen<br />

Mannsbilder wie Strauß<br />

und Stoiber, Seehofer und Beckstein,<br />

die kippt man nicht einfach. <strong>Die</strong> sind<br />

als Gipfelstürmer eingebunden in starke<br />

Seilschaften. Da fi ndet im Golfclub<br />

wie im Landtag ein Fingerhakeln statt,<br />

wo am Ende nur der gewinnt, der dem<br />

anderen von hinten ans Schienbein<br />

drischt. Jetzt war es eine Frau mit Pfennigabsätzen,<br />

was einen ganz gemeinen<br />

Schmerz auslöst!<br />

Doch, was wäre ein König ohne Lakaien?<br />

Stoiber in Passau, das wurde<br />

daher zu einem Staatsbegräbnis erster<br />

Klasse: der triumphale Einmarsch zum<br />

bayerischen Defi liermarsch. Das rhythmische<br />

Klatschen der Tölzer und Starnberger.<br />

<strong>Die</strong> Junge Union in T-Shirts mit<br />

der Aufschrift »Danke für 14 tolle <strong>Ja</strong>hre!<br />

Vergelt’s Gott, Stoiber!« <strong>Die</strong> dreistündige<br />

Ansprache des Ajatollah Alpini.<br />

<strong>Die</strong> kernigen Sätze: Wir beugen uns<br />

vor dem Kreuz, aber nicht vor dem Zeitgeist!<br />

Schluss mit dem Egoismus und<br />

der Selbstprofi lierung! Wir brauchen<br />

die Einheit und Geschlossenheit der<br />

Partei!<br />

Pattex im Rentenalter<br />

Macht wirkt offenbar wie Pattex. Besonders<br />

im Rentenalter. Dann führt<br />

die Führungskrise der führenden Partei<br />

geradeaus <strong>zur</strong> Staatskrise. Da kann<br />

ein Steinchen eine Lawine auslösen,<br />

die alles begräbt. Auch die Erbprinzen.<br />

Schon rief die Halle: »Pauli raus!« und<br />

»Wo ist Seehofer?« Aber der Gesuchte<br />

kam nicht rein, und die Verfl uchte ging<br />

nicht raus. So stand denn der Stoiber-<br />

Eddi allein auf der Bühne, umtost vom<br />

Jubel. Man war bereit, jeden »Problembär«<br />

zu erwürgen, der an dieses Denkmal<br />

monarchistischer Demokratie pinkelt.<br />

Dabei will das keiner. <strong>Die</strong> Parteifreunde<br />

an der Basis wollen nur die<br />

nächste Wahl gewinnen. Sie spüren in<br />

ihren Wahlkreisen, dass das mit Stoiber<br />

eng wird. Da rächt sich der brutale<br />

Sparkurs auf Kosten der Schwächsten.<br />

Büchergeld und Studiengebühren führen<br />

<strong>zur</strong> Ausgrenzung der Arbeiterkinder<br />

in Bayern. <strong>Die</strong> Schmiergelder von Siemens<br />

würden reichen, wenn die Reichen<br />

einsichtig wären. <strong>Die</strong> brauchen<br />

vor allem hochqualifi ziertes Personal.<br />

Aber nur 17 Prozent aller Schulabgänger<br />

in Bayern haben das Abitur. In vielen<br />

Bereichen machen sich Schimmelpilze<br />

breit. Wer das kritisiert, wird mit<br />

Spitzeln umzingelt. So sitzt jeder Gegenkandidat<br />

auf einem Schleudersitz.<br />

Da kann man auch Ludwig II. ausbuddeln<br />

und in die Staatskanzlei setzen.<br />

Der nächste CSU-Parteitag wird lustig,<br />

denn alle haben harte Schädel wie<br />

die Gamsböcke. Wird Zeit, dass die <strong>Linke</strong>n<br />

ihre Keiler durch den Saal treiben<br />

können. Noch besser, wenn sie dann<br />

ein Programm haben, das beweist:<br />

»Mir san mir, nämlich anders als die<br />

Anderen!«<br />

DISPUT März 2007 012


<strong>Linke</strong> Stammtische<br />

Für eine andere Politik auch im Saarpfalzkreis. Erfahrungen eines<br />

jungen Kreisverbandes Von Wolfgang Bourgett<br />

Im Saarland haben 113.000 Wählerinnen<br />

und Wähler bei der Bundestagswahl<br />

2005 die <strong>Linke</strong> gewählt. Dank<br />

der 18,5 Prozent entsenden WASG und<br />

<strong>Linkspartei</strong> jeweils einen Bundestagsabgeordneten<br />

nach Berlin: Hans-Kurt<br />

Hill und Volker Schneider, und Oskar<br />

Lafontaine wurde als Spitzenkandidat<br />

in Nordrhein-Westfalen gewählt. Beide<br />

Landesverbände sind Gliederungen<br />

bundesweit aktiver Parteien. <strong>Die</strong> neue<br />

<strong>Linke</strong> erhielt von den Wählern den Auftrag,<br />

sich gegen die neoliberale Politik<br />

der großen Koalition zu stellen. Im Saarland<br />

will die <strong>Linke</strong> drittstärkste Partei,<br />

hinter der SPD und der CDU, werden.<br />

<strong>Die</strong> Parteiarbeit im Saarpfalzkreis<br />

wurde Ende 2005 mit gerade einmal 40<br />

Mitgliedern aufgenommen. Den Anfang<br />

machten die Ortsverbände St. Ingbert,<br />

Bliestal und Bexbach. Danach wurde<br />

im <strong>Ja</strong>nuar 2006 auf einer Kreismitgliederversammlung<br />

der Kreisvorstand der<br />

<strong>Linke</strong>n im Saarpfalzkreis gegründet. In<br />

den ersten Vorstand wurden jeweils<br />

drei Mitglieder aus den Ortsverbänden<br />

St. Ingbert und Bexbach und ein<br />

Vertreter aus dem Ortsverband Bliestal<br />

gewählt. Nach einem <strong>Ja</strong>hr gehören dem<br />

Kreisverband bereits 78 Mitglieder an.<br />

Derzeit ist man in Kirkel dabei, einen<br />

weiteren Ortsverband zu gründen.<br />

<strong>Die</strong> Ortsverbände treffen sich regelmäßig<br />

zu Stammtischen, wo sie ihre<br />

politischen Vorstellungen diskutieren<br />

und Aktionen miteinander abstimmen.<br />

Für den 3. März wurde ein landesweiter<br />

Aktionstag gegen »Rente mit 67«<br />

vorbereitet.<br />

Der Kreisvorstand tagt monatlich. Er<br />

diskutiert über gesellschafts- und kommunalpolitische<br />

Probleme. Außerdem<br />

werden Aktionen und Veranstaltungen<br />

geplant. Ziel ist es, die Partei auf<br />

Kreisebene zu stärken und gleichzeitig<br />

die politischen Vorstellungen den Wählern<br />

verständlich zu machen.<br />

Erfreulicherweise sehen WASG und<br />

<strong>Linkspartei</strong> auch im Saarpfalzkreis den<br />

Parteibildungsprozess als sehr wichtige<br />

Aufgabe an. Deshalb wurde bereits<br />

Anfang 2006 der Kontakt mit dem<br />

Kreisvorstand der WASG aufgenommen.<br />

Es fanden mehrere gemeinsame<br />

Kreisvorstandssitzungen statt. Zu diesem<br />

Zweck wurde eigens eine gemeinsame<br />

Geschäftsordnung verabschiedet,<br />

die die Zusammenarbeit regelt.<br />

130 DISPUT März 2007<br />

Probleme bei der Organisation des Parteineubildungsprozesses<br />

auf Kreisebene<br />

gibt es daher nicht. Schon jetzt werden<br />

alle Fragen im gegenseitigen Einvernehmen<br />

geregelt.<br />

Im Saarpfalzkreis konnte der Aufbau<br />

von Konkurrenzgliederungen rechtzeitig<br />

vermieden wurden. So ist man derzeit<br />

mit fünf Ortsverbänden der gemeinsamen<br />

<strong>Linke</strong>n politisch vor Ort tätig. Im<br />

gemeinsamen Kreisverband werden<br />

ungefähr 200 Mitglieder betreut. Zum<br />

rerseits in diesen Bereichen anschließend<br />

die Gebühren erhöht werden.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> ist auch dagegen, wenn<br />

ständig Tafelsilber der Kommunen<br />

veräußert wird oder wenn staatliche<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen privatisiert werden,<br />

nur um die kommunalen Haushalte<br />

zu sanieren. Durch ein solches politisches<br />

Verhalten wird den Kommunen<br />

jede Möglichkeit genommen, steuernd<br />

in die kommunale Arbeitsmarktpolitik<br />

einzugreifen.<br />

Mit »Oskar« will die <strong>Linke</strong> drittstärkste Partei im Saarland werden.<br />

gemeinsamen Übergangsvorstand gehören<br />

Wolfgang Bourgett, Michael Boßlet,<br />

Carsten Schuler und Birgit Meydanci<br />

von der <strong>Linkspartei</strong> und Claus Priester,<br />

Patricia Jesberger, Ernst Hemmer<br />

und Helmut Welker von der WASG. Sie<br />

waren auf ihren Kreismitgliederversammlungen<br />

nominiert worden.<br />

Im Hinblick auf die Kommunalwahlen<br />

2009 werden schon jetzt die<br />

Eckpunkte für ein gemeinsames kommunalpolitisches<br />

Programm diskutiert.<br />

So gilt es, Alternativen aufzuzeigen,<br />

wenn den Kommunalpolitikern bei<br />

Haushaltsdefi ziten nichts anderes einfällt,<br />

als durch Steuer- und Gebührenerhöhungen<br />

den Bürgern immer wieder in<br />

die Tasche zu greifen. Es ist nicht mehr<br />

nachvollziehbar, wenn die Bürger einerseits<br />

aufgefordert werden, den Wasserverbrauch<br />

zu senken oder die Müllmenge<br />

zu verringern, und wenn ande-<br />

Konkret betrachten wir es beispielsweise<br />

als Auftrag des Kreisverbandes,<br />

den Bürgern von Blieskastel die Solidarität<br />

der <strong>Linke</strong>n zu zeigen – gegen<br />

den Versuch einer zwielichtigen Bürgermeisterin,<br />

Verletzungen des Datenschutzes<br />

und Steuerhinterziehung zu<br />

verschleiern.<br />

Wir wollen mit den Bürgerinnen und<br />

Bürgern ins Gespräch kommen. Dazu<br />

dienen insbesondere Flugblätter mit<br />

regionalem Bezug, die bei den gemeinsamen<br />

Infoständen verteilt werden. Wir<br />

fordern außerdem mehr Bürgerbeteiligung<br />

und Mitsprache an den kommunalpolitischen<br />

Entscheidungen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> fühlt sich auch im Saarpfalzkreis<br />

dazu aufgerufen, den Sozialstaat<br />

zu verteidigen.<br />

Wolfgang Bourgett ist Vorsitzender des<br />

Kreisverbandes Saarpfalzkreis<br />

IM KREIS<br />

© Stefan Richter


Appetit auf Politik<br />

Ein Politabend kann Spaß machen. Den vielen Gästen und den vielen Organisatoren.<br />

Der Politische Aschermittwoch ’07 im Saarland Von Stefan Richter<br />

REPORTAGE<br />

»Wo bleiben die Heringe?« – Oh, Gott, Heringe<br />

habe ich auf einer Politveranstaltung<br />

noch nie vermisst.<br />

Anders die Frau gegenüber. »Wo haben<br />

Sie denn schon jetzt den Hering her?«, will<br />

sie quer übern Tisch wissen. Sie fragt in einer<br />

Weise, die Biss verrät. Und der Herr, der<br />

antworten darf, ein Kollege vom Saarländischen<br />

Rundfunk, vermag <strong>zur</strong> Privilegie-<br />

DISPUT März 2007 014


ung seiner Person lediglich vorzubringen, er müsse in Kürze<br />

»auf Sendung« und von hier berichten, vom Politischen<br />

Aschermittwoch der <strong>Linke</strong>n.<br />

Fürs Erste ist die Frau besänftigt, und fürs Zweite klärt<br />

sie mich, den Fremden aus der Ferne, nachsichtig darüber<br />

auf, dass Heringsessen nun mal zu jedem echten Aschermittwoch<br />

gehört.<br />

Das möchte ich vorsichtshalber schnell verstehen. Aber<br />

was, bitte schön, gehört zu einem politischen Aschermitt-<br />

15 0 DISPUT März 2007<br />

woch, außer dem Hering? Auch dies verrät die gute Frau sogleich:<br />

gute Leute, gute Redner, gute Getränke, gute Stimmung.<br />

Alle saarländischen Parteien versuchen sich daran. Was<br />

die Wahl ihrer Versuchsorte betrifft, sind sie vielleicht ein<br />

bisschen einfallslos: <strong>Ja</strong>hr für <strong>Ja</strong>hr wählen sie dafür Lokalitäten<br />

vorwiegend im Landkreis Saarlouis. Das nennt sich<br />

dann Tradition.<br />

<strong>Die</strong> Aschermittwochs-Tradition der Saar-<strong>Linke</strong>n ist über-<br />

© Stefan Richter (5)


sichtlich, sie begann mit Lafontaine und Gysi anno Aschermittwoch<br />

’06. In Wallerfangen, Landkreis: Saarlouis.<br />

Es ist halb vier. Der Landesvorsitzende höchstpersönlich<br />

erspart mir nach fünf Bahnfahrten zwei anschließende<br />

Busfahrten, er holt mich in der Kreisstadt ab. Hans-Kurt Hill<br />

ist verschnupft, nicht meinetwegen und nicht mal politisch,<br />

sondern richtig. Am Ort des Aschermittwochsgeschehens<br />

bringt er mich sogleich zu Landesgeschäftsführer Thomas<br />

Lutze, der wiederum die praktische Eingebung verspürt, der<br />

Presseverantwortlichen Birgit Huonker eine weitere Aufgabe<br />

zukommen zu lassen (nämlich mich), was diese (Frau Huonker)<br />

umgehend zum Start einer Informationsoffensive anstachelt:<br />

Das wird heute toll! Für die Medien haben wir extra<br />

Plätze, und wegen des Andrangs ist vor dem Saal noch ein<br />

Festzelt mit Videowand aufgebaut worden. Sehr viele Ehrenamtliche<br />

haben das alles gut vorbereitet.<br />

Birgit spendiert Kaffee und auch sonst Muntermachendes:<br />

»Wir sind die Drittstärksten im Land!« Und die <strong>Linke</strong> wachse<br />

weiter und werde bei der nächsten Landtagswahl »absolut<br />

sicher« zweistellig werden.<br />

So weit sind wir an diesem Mittwoch noch nicht. Schon<br />

gar nicht jetzt, halb fünf. Yvonne Ploetz kommt vorbei, sie<br />

hat sich schön chic gemacht. Nicht für die Pressehanseln,<br />

sondern fürs große Publikum. Im vorigen <strong>Ja</strong>hr versorgte sie<br />

die Gäste mit Getränken und Heringen, diesmal wird sie auf<br />

der Bühne für die Ansage sorgen. Mir sagt sie erst einmal an:<br />

Das wird heute bestimmt toll. <strong>Die</strong> 22-Jährige ist nicht ganz<br />

unaufgeregt, ein paar Stichpunkte hat sie auf eine Speisekarte<br />

(auf die Rückseite) geschrieben. Sicher ist sicher. Das<br />

meinte übrigens ein paar Stunden vorher auf ihre Art auch<br />

die Polizei, als sie die unangeschnallte Yvonne in ihrem Auto<br />

erspähte. 30 Euro kostete die Aktion, kein Spaß für eine Studentin.<br />

Nie stehen die Polizisten dort ... Ach wären sie doch<br />

zum Aschermittwoch nach Wallerfangen gefahren!<br />

Der Festsaal ist groß und lang. Von außen erinnert er an<br />

eine Schulsporthalle und von innen an einen Budenzauber.<br />

Bunte Bahnen aus Krepppapier überspannen den Saal<br />

in seiner gesamten Breite. An den Wänden hängen Plakate,<br />

darunter treffend: »Dem Trübsinn ein Ende«. Am Bühnenende<br />

unübersehbar das Transparent: »DIE LINKE.Saar – Politischer<br />

Aschermittwoch«. Auf den Tischen Blumentöpfe mit<br />

<strong>Linkspartei</strong>-Fähnchen, außerdem Flyer zu Rente mit 67 und<br />

Bierdeckel zum Mindestlohn (oder umgekehrt). Dazu zwei<br />

besonders wichtige Zettel: Eintrittserklärungen für die <strong>Linkspartei</strong>.<br />

Und – Speisekarten: Alkoholfreies für einen Euro, Bier<br />

für anderthalb, Heringsfi let und Kartoffeln für fünf. Gutes Essen,<br />

soziale Preise, damit hatte die <strong>Linke</strong> geworben.<br />

Wer hierher, an den Ortsrand von Wallerfangen, kommt,<br />

hat sich nicht verirrt. Aber wer hierher kommt, muss beileibe<br />

kein eingeschriebenes Mitglied sein (was andererseits<br />

bei dem saarländischen Mitgliedertrend nicht verwunderlich<br />

wäre). Zwei Drittel der Besucher, meint Thomas Stunden<br />

später, seien weder in der <strong>Linkspartei</strong> noch in der WASG.<br />

Thomas muss es wissen, mit seinen geschätzten 3,14 Meter<br />

hat er einen einzigartigen Überblick.<br />

Halb sechs soll, offi ziell, der Einlass beginnen. Das klappt<br />

nicht. Halb sechs ist der Saal bereits <strong>zur</strong> Hälfte gefüllt.<br />

Zu zweit, zu dritt, zu viert strömen die Leute herbei. Kleine<br />

Trupps statt großer Busladungen. »Delegationen« aus den<br />

Kreisen habe man nicht gewollt und nicht nötig – Denn wer<br />

im Vorjahr dabei war, kommt wieder. Und bringt noch ein<br />

paar Leute mit. Am Ende werden es bald an die 800 Frauen<br />

und Männer sein. (Das zählen selbst die Saarbrücker Zeitung<br />

und – fast – BILD. Und weil wir bei Zahlen sind: Für CDU und<br />

SPD vermelden sie je 1.000, für FDP und Grüne gut 200. Also<br />

tatsächlich Rang 3, an diesem Aschermittwochabend!)<br />

Meine Nachbarin <strong>zur</strong> <strong>Linke</strong>n, so um die 50, schiebt für ih-<br />

REPORTAGE<br />

ren Besuch persönliche Gründe vor: Einer der Bundestagsabgeordneten<br />

war ein Schulkamerad. Seinetwegen war sie<br />

schon im Vorjahr dabei, damals herrschte eine prima Stimmung.<br />

Dennoch werde sie nicht in eine Partei eintreten; einer<br />

Linie folgen, das sei nichts für sie. Konkret: Den Einsatz<br />

der Lafontaine-<strong>Linke</strong>n für die Rechte der Kohlekumpel hält<br />

sie für übertrieben. Klar würden die hart arbeiten (wie andere<br />

auch), aber mittlerweile seien die Bergleute die »eigentlichen<br />

Beamten« – Wenn sie nach der Arbeit nach Hause<br />

komme, sitze mancher ihrer einstigen Schulfreunde längst<br />

auf der Bank und hatte einen schönen Tag. Sie selbst, gelernte<br />

Sozialarbeiterin, sucht im Berufsalltag Ausbildungsplätze<br />

für benachteiligte Jugendliche.<br />

Mir gegenüber ergattern Mutter, Vater, Sohnematz die<br />

letzten freien Plätze weit und breit. Mutter, geballte und bestimmte<br />

Fröhlichkeit, sorgt gleich für eine eigene Stimmung.<br />

»<strong>Die</strong> beiden«, sagt sie nach ein paar Minuten allen und meint<br />

ihre beiden neben sich, »die beiden hab ich lieb. <strong>Die</strong> beiden<br />

schmeiß ich nicht weg.« Das hätten die beiden auch nicht<br />

verdient, so ruhig wie sie Muttern das Festsaalfeld überlassen.<br />

<strong>Die</strong> beiden horchen brav zu, den ganzen Abend.<br />

Kurz vor sechs gibt Concordia Wallerfangen, ein Musikverein<br />

mit 30 Frauen und Männern, erstmals Laut. Unterdessen<br />

wieselt, soweit das in der Enge zwischen den Stuhlreihen<br />

überhaupt möglich ist, zum siebten oder achten Mal<br />

eine junge Kellnerin vorbei. Sie ist eigentlich Fachfrau für<br />

Bürokommunikation und gelegentlich, wie heute Abend,<br />

Kellnerin; sie braucht das Geld für »Urlaub und Skiurlaub«.<br />

Concordia schwankt zwischen Märschen und Schlager-<br />

Medley. Meine rechte Nachbarin schwankt in ihrem Kommentar<br />

zwischen Achtung und Ablehnung.<br />

Kurz vor sieben erscheint Lafontaine, der hat’s nicht weit,<br />

er wohnt um die Ecke in einem Ortsteil von Wallerfangen. Oskar<br />

schreitet längs durch den Saal, der Gang ist lang, die<br />

Massen applaudieren, viele stehen auf, auch – zuerst – die<br />

Frau gegenüber und – dann – ihre beiden, der Ehe- und der<br />

Sohnemann.<br />

Oskar geht auf die Bühne. Dort steht das Pult und dort<br />

sitzt Concordia. Oskar schüttelt Hände, anschließend den<br />

Taktstock, und Concordia spielt mit.<br />

Jetzt sind sie alle da. Musikalisch der »Steiger«, politisch<br />

der Lafontaine und akustisch die Stimmung.<br />

<strong>Die</strong> Abrechnung beginnt mit der Außen- und Militärpolitik:<br />

»Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden ... Von<br />

deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.« <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong><br />

werde im Bundestag beantragen, dass deutsche Flughäfen<br />

und deutscher Luftraum nicht für einen Angriffskrieg <strong>zur</strong><br />

Verfügung gestellt werden dürfen.<br />

<strong>Die</strong> Frau gegenüber streckt eine Faust nach oben, ruft<br />

»<strong>Ja</strong>« und übersetzt dem Kleinen: »Der redet jetzt übern Frieden.<br />

Das ist wichtig.« <strong>Die</strong> Nette neben mir, die mit den persönlichen<br />

Gründen, schreibt etwas in ihren Block. Hinter<br />

mir raunt einer: »Das ist gut. Das ist sehr gut!« Der privilegierte<br />

Rundfunkmann ist hoffentlich an seinem Arbeitsplatz,<br />

und die fl otte Büro-Kellnerin versucht rastlos und freundlich,<br />

Durstwünsche zu erfüllen. Nur nach Hering, nach Hering verlangt<br />

jetzt wirklich niemand.<br />

<strong>Die</strong> Luft steht, der Qualm drückt, dabei ist das mit dem<br />

Aschermittwoch doch irgendwie anders gemeint. An diesem<br />

Ort und an diesem Abend wird das Nichtrauchergesetz jedenfalls<br />

nicht verhandelt.<br />

Lafontaine hat die Sozialpolitik erreicht. Er greift Statistiken<br />

auf und Regierungssprüche an: Gut, dass wieder mehr<br />

Leute Arbeit fi nden – Aber was für Arbeitsplätze sind das?<br />

Teilzeitjobs, prekäre Arbeit ...? Und überhaupt: Entscheidend<br />

ist, wo der Wohlstand ankommt! »<strong>Ja</strong>«, ruft wieder die<br />

Frau gegenüber und gibt dem etwa Zehnjährigen einen Auf-<br />

DISPUT März 2007 016


trag: »Hör gut zu, das ist was fürs Leben!« Fast alle im Saal,<br />

soweit einzeln wahrnehmbar, klatschen. <strong>Die</strong> Stimmung ist<br />

prächtig. Sozusagen gut. (Via Phoenix ist das nicht annähernd<br />

so zu spüren, live ist eben doch live.)<br />

Als der einstige Ministerpräsident ankündigt: »Wir haben<br />

an der Saar etwas vor. Wir wollen 2009 den Regierungswechsel<br />

herbeiführen, und ich werde wieder für das Amt des saarländischen<br />

Ministerpräsidenten kandidieren«, da erheben<br />

sich viele. Bravo, Pfi ffe, Jubel, die Halle tobt, als hätte er soeben<br />

das entsprechende Wahlergebnis verkündet.<br />

Bis dahin ist noch ein bisschen Zeit. Bis dahin gibt’s für<br />

die <strong>Linke</strong> noch viel zu tun, zum Beispiel weitere Ortsvereine<br />

gründen und zum Laufen bringen.<br />

Yvonne Ploetz leitet den Ortsverein Blieskastel. An die 40<br />

seien sie, auch Mama und Schwester sind dabei. Papa noch<br />

nicht. Mit 14 war sie in der Jungen Union, die machten Politik<br />

und Party. Jetzt macht Yvonne Politik und Party, von links.<br />

Vor zwei <strong>Ja</strong>hren trat sie in die <strong>Linkspartei</strong> ein: »... als ich<br />

merkte, da ist Zukunft drin.« Sie steht, mittlerweile auch als<br />

Landesvorstandsmitglied, vor allem für die Themen Jugend<br />

und Kampf gegen Rechtsextremismus. Ihr coolstes Erfolgserlebnis<br />

war das Konzert »Red Rock« mit Ska und Rock und<br />

fast 500 Leuten in der Festhalle Blieskastel. Was im Sommer<br />

2006 so viel Resonanz hatte, soll im Sommer 2007 wiederholt<br />

werden.<br />

Yvonne studiert in Trier Politik, dazu Kunst und Soziologie.<br />

Auch ansonsten scheint sie sich für die Herausforderungen<br />

des Lebens zu wappnen: Im Judo hat sie den braunen Gürtel,<br />

außerdem lernt sie chinesisch. Vielleicht führt ihr Berufsweg<br />

später in die Politik. Käme da die Landtagswahl nicht<br />

recht? <strong>Die</strong> gängige Floskel beherrscht sie jedenfalls schon:<br />

»Ich lass es auf mich zukommen.«<br />

Inzwischen ist Gregor Gysi eingetroffen; vormittags machte<br />

er im bayrischen Passau auf Aschermittwoch und nun im<br />

saarländischen Wallerfangen. Lafontaine kommt mit seiner<br />

Rede bald zum Ende – Applaus, Applaus –, damit Gysi mit<br />

seiner Rede zum Anfang kommen kann. Phoenix diszipliniert;<br />

die Fraktionschefs teilen sich artig die Redezeit, die<br />

ihnen die 60-Minuten-Sendung zubilligt. Gysi pocht heftig<br />

auf Solidarität und Chancengleichheit: »Ich will nicht, dass<br />

ein Krankenhaus sich rechnet, ich will, dass in einem Krankenhaus<br />

alle gesund werden. – Das sind zwei völlig unterschiedliche<br />

Ansätze.« <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> habe Alternativen: für einen<br />

gesetzlichen Mindestlohn, für Investitionen in Bildung und<br />

Kultur ...<br />

Auch Gysi jubeln die Festsaalleute begeistert zu. Eine<br />

Stimmung wie im heißen Wahlkampf. Ein Volksfest zum Wiederkommen.<br />

Es ist zwei nach acht, Phönix hat sich verabschiedet, Gysi<br />

macht auch Schluss, womit die Politik rein redenmäßig am<br />

Ende ist. Doch vom Publikum verlässt (fast) niemand den<br />

Saal. Am Lafontaine-Gysi-Tisch versammelt sich eine Wartegemeinschaft:<br />

einige bringen kleine Geschenke mit (nur<br />

für Oskar), etliche reichen Wimpel, Bücher, Flyer für Autogramme<br />

(von beiden) herüber. Und Fotos sind auch noch zu<br />

machen.<br />

Unterdessen erlebt die Vorfreude auf den Hering ihren<br />

Höhepunkt: Der Fischzug erreicht endlich den Saal. Halt,<br />

erst gibt’s die Beilage in Brikettgröße: Riesenpellkartoffeln.<br />

Auf Riesenplatten schleppt meine Servierin sie herbei. Den<br />

Fisch bringen andere. Wie der Landesgeschäftsführer, der<br />

einen Wagen voller Teller durch die schmalen Reihen bugsiert.<br />

Über all dem musiziert unverdrossen Concordia, und<br />

die Leute reden und mampfen und reden miteinander.<br />

Im kleinen Saarland, erläutert mir jemand, kenne jeder jeden.<br />

Das ist möglicherweise übertrieben, denn ich beobachte<br />

mindestens sechs, sieben Saarländerinnen und Saarländer,<br />

170 DISPUT März 2007<br />

die zu Beginn des Abends einander nicht kannten und trotzdem<br />

miteinander bestens ins Gespräch kommen. (Ich fl üchte<br />

ein bisschen in aufmerksame Passivität, was von der Gegenüber-Frau<br />

verständnisvoll mit den Worten quittiert wird:<br />

»Sie sind mehr so ein Zuhörer – ich liebe auch mehr das Zuhören.«<br />

Das sagt sie wirklich, und ich bin ihr dankbar.)<br />

Allein die servierende Bürokraft mimt Empörung, als ich<br />

sie mit Blick auf den Aufdruck »DIE LINKE« auf ihrem Poloshirt<br />

frage, ob man Mitglied sein müsse, um hier und heute<br />

kellnern zu dürfen. »Nein!«, gibt sie <strong>zur</strong>ück, sie habe sich<br />

überreden lassen, und einen Abend lang könne sie das ja<br />

schon mal tragen. Zur Politik, philosophiert sie, sagen die einen<br />

so und die anderen so. Und sie selbst? Manchmal interessiere<br />

sie auch Politik. Wann? Wenn’s um Steuern geht.<br />

Thomas schiebt und schleppt unaufhörlich Teller durch<br />

die Gegend. Yvonne auch, Christa, die Frau eines der Hauptredner,<br />

ebenfalls. Der Mann der Pressefrau, ein Bauingenieur,<br />

hat seinen Helferplatz an der Spüle gefunden. Gut 40<br />

Freunde helfen. Zu vorgerückter Stunde nimmt der Landesvorsitzende<br />

Blumen und Gysi und bedankt sich in der Küche.<br />

Schon am Vortag, einige nahmen extra Urlaub, hatten<br />

sie mit Hand angelegt für ihren Politischen Aschermittwoch.<br />

<strong>Die</strong>s scheint hier das Selbstverständlichste der linken Welt<br />

zu sein.<br />

Ebenso selbstverständlich nimmt mich Manfred mit nach<br />

Saarbrücken. Manfred ist Former. Zunächst verstehe ich Farmer,<br />

Landwirt, das muss an meinen müden Ohren liegen. Er<br />

ist seit vielen <strong>Ja</strong>hren in einer Gießerei (wo es ja bekanntlich<br />

selten Farmer gibt), er ist Betriebsrat und WASG. Lange <strong>Ja</strong>hre<br />

gehörte er der SPD an, damals, als er sie noch mit dem<br />

Eintreten für die kleinen Leute in engste Verbindung bringen<br />

konnte. Geschichte für ihn. <strong>Die</strong> Zukunft sieht er in einer<br />

<strong>neuen</strong> und starken <strong>Linke</strong>n. Es wird Zeit, sagt er mir zwischen<br />

Bous und Völklingen, dass auch formal alles klar wird und<br />

dass sich die <strong>Linke</strong> auf einem höheren Niveau stabilisiert.<br />

Das Saarland, erklärt mir Manfred, sei ziemlich klein:<br />

Wenn du in Saarbrücken aufs Gas trittst, bist du schon in<br />

Rheinland-Pfalz. Das aber wäre nach diesem Abend irgendwie<br />

schade.<br />

Im Sommer folgt die nächste große Politsause: das Sommerfest<br />

der <strong>Linke</strong>n am 14. August. Ohne Hering, wahrscheinlich.<br />

Aufmerksam und begeistert. Der Politische Aschermittwoch<br />

bescherte der <strong>Linke</strong>n ein volles Haus.<br />

© Stefan Richter


Chancen, Sorgen und Verantwortung<br />

Mitglieder des Parteirates zu den Perspektiven der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n.<br />

Eine DISPUT-Umfrage Von David Pfender<br />

Der Parteirat ist laut Statut ein Organ<br />

der Gesamtpartei mit Konsultativ-, Kontroll-<br />

und Initiativfunktion gegen über<br />

dem Parteivorstand. Am Rande der<br />

jüngsten Parteiratssitzung wollte DIS-<br />

PUT von Mitgliedern des Gremiums erfahren,<br />

welche Erfahrungen und Erwartungen<br />

sie mit dem Parteibildungsprozess<br />

verbinden.<br />

1) Welche Erwartungen setzt Du in die<br />

neue <strong>Linkspartei</strong>?<br />

2) Was ist zu tun, damit die neue <strong>Linke</strong><br />

eine starke <strong>Linke</strong> wird?<br />

3) Welche thematischen Schwerpunkte<br />

sollten im ersten <strong>Ja</strong>hr gesetzt werden?<br />

4) Ist die Parteibildung mehr Zweckehe<br />

oder mehr Liebesheirat?<br />

Angelika Mai (53)<br />

Parteiratssprecherin<br />

1) <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong> ist natürlich zuerst<br />

mal eine Chance, für die wir etliches<br />

tun müssen. Das wollen wir als Parteirat<br />

auch. Wenn man sich die vorgeschlagene<br />

Bundessatzung anguckt, ist<br />

ein Organ wie der Parteirat nicht mehr<br />

vorgesehen, was schade ist. Daher wollen<br />

wir jetzt intensiv arbeiten, um den<br />

Prozess der Parteibildung voranzubringen.<br />

Zentrales Thema des Bundesparteitages<br />

im März wird es sein, nach den<br />

Gemeinsamkeiten zu schauen, denn<br />

wir wollen eine Partei für das Volk, für<br />

den Alltag sein. Wir dürfen uns nicht<br />

mehr zu sehr mit uns selbst beschäftigen.<br />

Vielmehr sollten wir darauf gucken,<br />

was die Gesellschaft braucht.<br />

Dafür müssen wir uns, jeder an seinem<br />

Platz, entsprechend einbringen.<br />

2) Selbstverständlich müssen wir<br />

das Ohr an der Masse haben, besonders<br />

bei den Schichten, die uns gewählt<br />

haben und die große Hoffnungen<br />

in uns setzen. Hier sollten wir aktiv werden.<br />

Dazu gehört, dass wir in der Auseinandersetzung<br />

mit den Hartz-IV-Gesetzen<br />

sichtbar werden, dass wir uns<br />

den Problemen der sozialen Sicherung<br />

annehmen, dass wir Alternativen verständlich<br />

rüberbringen und im Dialog<br />

mit den einzelnen Schichten bleiben.<br />

Ich hoffe sehr sowohl auf Schwung<br />

als auch auf Druck durch einen gemein-<br />

NEUE LINKE<br />

samen Jugendverband. Es kann nicht<br />

verkehrt sein, durch eine klare Artikulation<br />

der Jugendinteressen ein Stück<br />

weit geschoben zu werden. <strong>Die</strong>s hilft,<br />

den Blick nach vorn zu schärfen.<br />

3) Natürlich ist das eine Frage des<br />

Zusammenwirkens. Da muss man Wert<br />

auf Dialog und Erfahrungsaustausch legen.<br />

Mitglieder aus Ost und West treffen<br />

aufeinander. Sie sollten das Gespräch<br />

miteinander suchen, sich aufmerksam<br />

zuhören und Vorstellungen<br />

und Sorgen des Anderen aufnehmen,<br />

um so als vereinte linke Kraft stark und<br />

den Erwartungen von außen gerecht<br />

werden zu können. Das ist eine große<br />

Herausforderung.<br />

Vermehrt brauchen wir Gespräche<br />

mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden.<br />

Und natürlich hoffen wir, das<br />

die entscheidenden Männer, die das<br />

Ganze vorangetrieben haben, Oskar<br />

Lafontaine und Gregor Gysi, sich weiterhin<br />

so innovativ, wie wir sie kennen,<br />

einbringen.<br />

4) Es ist größtenteils eine Vernunftehe.<br />

Nach den Bundestagswahlen<br />

sind die Emotionen im Alltag natürlich<br />

etwas <strong>zur</strong>ückgegangen. Man muss<br />

jetzt noch einmal die Chancen verdeutlichen,<br />

um so Freude und Optimismus<br />

zu entwickeln.<br />

Robert <strong>Ja</strong>rowoy (53)<br />

Landesverband Hamburg, seit vier<br />

<strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />

1) Fangen wir mit dem Positiven an. Wir<br />

im Westen haben bekanntlich das Problem,<br />

dass wir dort bisher nicht den<br />

Durchbruch geschafft haben, in Parlamente<br />

zu kommen. Jetzt haben wir<br />

die wohl berechtigte Hoffnung, dass<br />

es anders wird. In Hamburg sind in<br />

einem <strong>Ja</strong>hr Bürgerschafts- und Bezirksversammlungswahlen.<br />

Wir sehen dort<br />

durchaus eine realistische Chance, die<br />

fünf Prozent zu knacken, nachdem wir<br />

bei der letzten Wahl bei zwei Prozent<br />

rumdümpelten und kaum Aussicht auf<br />

Besserung hatten. Wie gesagt, durch<br />

die Fusionsgeschichte mit der WASG<br />

haben sich die Chancen deutlich verbessert.<br />

Ich sehe aber auch eine Reihe von<br />

Gefahren, zum Beispiel: Der sozialistische<br />

Charakter der Partei rückt immer<br />

weiter in den Hintergrund. Aspekte wie<br />

Internationalismus, Ökologie, Antifaschismus<br />

und Kommunalpolitik werden<br />

durch die WASG <strong>zur</strong>ückgedrängt,<br />

so dass der soziale Charakter die fast<br />

einzig verbleibende Position darstellt.<br />

Böse Zungen könnten behaupten, dass<br />

jetzt alles auf eine Bürgerinitiative gegen<br />

Hartz IV hinausläuft, und das ist<br />

etwas, was uns, den alten <strong>Linkspartei</strong>lern,<br />

vom Anspruch her nicht reicht.<br />

2) Wie bereits angedeutet, wenn wir<br />

nicht in allen politischen Bereichen<br />

präsent und aktiv sind, kann das Ganze<br />

sehr schnell wieder in sich zusammenfallen.<br />

Wir müssen den Menschen<br />

Alternativen aufzeigen und somit die<br />

Attraktivität unserer Partei unter Beweis<br />

stellen.<br />

Das darf sich nicht allein an ehemalige<br />

oder Alt-Gewerkschafter richten,<br />

sondern überhaupt an aktive Menschen.<br />

Beispielsweise haben wir in<br />

Hamburg derzeit das Problem mit der<br />

Volksgesetzgebung. <strong>Die</strong> CDU hat mit<br />

ihrer absoluten Mehrheit die Volksentscheide<br />

gestürzt, und jetzt gibt es einen<br />

Volksentscheid für den Volksentscheid.<br />

Das ist eine Sache, die sehr<br />

viele Menschen interessiert und durch<br />

die sie sich mobilisieren lassen. Wenn<br />

man da nichts bietet und wenn man<br />

sagt »Wir machen nur Hartz IV«, wird<br />

das vielen Leuten nicht genügen.<br />

3) Ökologie, Antifaschismus, Kommunalpolitik,<br />

Internationalismus, Integration<br />

von Migranten und Solidarität<br />

mit Befreiungsbewegungen. In Sachen<br />

Frauengleichberechtigung haben<br />

wir bei der WASG das Gefühl, dass die<br />

Quotierung nicht sehr ernst genommen<br />

und langsam abgebaut wird, weil es<br />

dort fast keine Frauen gibt. Da sehe ich<br />

große Probleme, das ist eine Haltung,<br />

die wir bisher nicht hatten. Wir haben<br />

immer versucht, Frauen zu gewinnen<br />

und in Positionen zu bringen, so dass<br />

die Quotierung erfüllt ist.<br />

<strong>Die</strong> jungen Leute sind heutzutage<br />

nicht mehr so politisch aktiv. Wenn man<br />

sie für etwas gewinnen kann – zumindest<br />

sehe ich das in Hamburg –, dann<br />

ist es das Thema Antifaschismus. Kommunalpolitik<br />

wird sehr unterschätzt,<br />

gerade in Bezug auf die Demokratiefrage.<br />

Es gibt viel Kampf gegen die Schließung<br />

von Schwimmbädern, gegen die<br />

Privatisierung öffentlicher Parks und<br />

DISPUT März 2007 018


dergleichen. Aktivitäten dagegen sind<br />

ein wichtiger Ansatzpunkt.<br />

4) Das ist schwer zu sagen. Ich würde<br />

mehr Zweck als Liebe sehen.<br />

Petra Hauthal (46)<br />

Landesverband Thüringen, seit<br />

November vorigen <strong>Ja</strong>hres im Parteirat<br />

1) Mit einer <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong> besteht<br />

die Möglichkeit, eine gemeinsame <strong>Linke</strong><br />

in ganz Deutschland zu installieren.<br />

Dabei gibt es die Gefahr, dass das Gedankengut<br />

der PDS verloren geht. <strong>Die</strong>se<br />

Sorge teilen wir mit unseren Mitgliedern.<br />

2) Man muss mehr an die Öffentlichkeit<br />

gehen und sich mehr mit Bürgerinitiativen<br />

kurzschließen, um Dinge außerparlamentarisch<br />

klären zu können,<br />

denn das meiste passiert auf der Straße<br />

und nicht im Parlament.<br />

Verstärkt müssen wir außerdem an<br />

die Jugend heran.<br />

3) All das, was mit Hartz IV zusammenhängt,<br />

denn die Situation auf dem<br />

Arbeitsmarkt wird nicht besser. Nicht<br />

vergessen werden sollten die kleinen<br />

Unternehmer, denen es nicht besser<br />

geht als normalen Arbeitnehmern, oft<br />

sogar schlechter.<br />

Ewa Tröger (56)<br />

Landesverband Saarland,<br />

seit zwei <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />

1) Zuerst sehe ich natürlich eine große<br />

neue Chance. Es ist gut, dass sich eine<br />

<strong>Linke</strong> in dieser Größe formiert, Das<br />

war in der Vergangenheit nicht der Fall.<br />

Wenn dieser Einigungsprozess klappt,<br />

werden auch weitere linke Vereinigungen<br />

mehr Vertrauen zu uns entwickeln.<br />

Allerdings ist es bei der Breite politischer<br />

Ideen wohl schwierig, einen<br />

Grundkonsens zu fi nden. Ich möchte,<br />

dass der demokratische Sozialismus<br />

Ziel unserer Politik ist. Ich brauche eine<br />

Vision für eine gerechtere Gesellschaft,<br />

und das scheint mir durch die Realpolitik,<br />

die ja notwendig ist, in immer weitere<br />

Ferne zu rücken. Eine Rückbesinnung<br />

auf einstige Ziele sollte stattfi nden,<br />

besonders für die Entwicklung<br />

junger Menschen.<br />

2) Vor allem im Rahmen der Kommunalpolitik<br />

muss man mit den Menschen<br />

arbeiten. Mit den Menschen vor Ort, in<br />

den Kreisen und Städten. Sie müssen<br />

wir aufklären und ihnen neben Alternativen<br />

auch Hilfe <strong>zur</strong> Selbsthilfe anbieten.<br />

Dabei sind mir die Diskussionen<br />

innerhalb des Parteirats eine Interpretations-<br />

und Argumentationshilfe.<br />

190 DISPUT März 2007<br />

3) Viele Schwerpunkte bleiben während<br />

des gesamten Fusionsprozesses<br />

ein bisschen auf der Strecke, was bedauerlich<br />

ist: sei es die Rente mit 67,<br />

die Diskussion um den Mindestlohn<br />

oder landespolitische Probleme. Da<br />

müssen wir viel aktiver werden.<br />

4) Eine Liebesheirat ist es auf alle<br />

Fälle nicht, eher eine Zweck- und Vernunftehe.<br />

Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung<br />

ist sie unbedingt notwendig.<br />

Dirk Hoeber (33)<br />

Landesverband Baden-Württemberg,<br />

seit vier <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />

1) Ich sehe es positiv, dass es eine bundesweite<br />

Kraft geben wird, die sowohl<br />

in den alten als auch in den <strong>neuen</strong> Bundesländern<br />

verankert ist. Hoffnung habe<br />

ich, dass sie eine Partei wird, die<br />

den neoliberalen Angriffen standhalten<br />

und eine Gegenöffentlichkeit herstellen<br />

kann.<br />

Sorgen habe ich, wenn ich mir so<br />

manches in den »Programmatischen<br />

Eckpunkten« anschaue, wenn ich sehe,<br />

wie manche realpolitischen Vorstellungen,<br />

gerade in Berlin, in Richtung<br />

zweite Sozialdemokratie gehen.<br />

Dafür haben wir einfach keinen Platz<br />

in unserem Parteiensystem, dann wird<br />

DIE LINKE. genauso baden gehen wie<br />

2002 die PDS.<br />

2) <strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> muss auf jeden<br />

Fall glaubhaft sein. Sie muss das tun,<br />

was sie verspricht, und darf nicht mit<br />

Tricks arbeiten, um dann doch noch um<br />

Parteitagsbeschlüsse herum arbeiten<br />

zu können, wie es beispielsweise beim<br />

■ ■ CD gegen G8<br />

»Lebe den Widerstand« heißt ein<br />

CD-Projekt, mit dem [’solid] den<br />

Protest gegen den G8-Gipfel unterstützen<br />

will. 20.000 CD mit globalisierungskritischen<br />

Liedern<br />

sollen produziert und kostenlos<br />

an junge Menschen in Deutschland<br />

verteilt werden. Zahlreiche<br />

Künstlerinnen und Künstler haben<br />

zugesagt, ohne Gage Musik<br />

<strong>zur</strong> Verfügung zu stellen. <strong>Die</strong> CD<br />

sollen die Kritik an Krieg, Ausbeutung<br />

und Umweltzerstörung unterstützen<br />

helfen.<br />

Für die Produktion wird Geld benötigt.<br />

Spenden bitte auf Konto<br />

130 019 201, Postbank Hamburg,<br />

Bankleitzahl 200 100 20, Kennwort:<br />

G8-CD.<br />

Träger des Projekts ist der gemeinnützige<br />

Verein Gesellschaft für politische<br />

Bildung, der auf Wunsch<br />

Spendenquittungen ausstellt.<br />

Abstimmungsverhalten des Landes<br />

Berlin <strong>zur</strong> EU-Verfassung im Bundesrat<br />

der Fall war. Wenn man so etwas<br />

auf Bundesebene macht, sehe ich das<br />

Ganze in einem Desaster enden.<br />

3) <strong>Die</strong> Schwerpunkte sollten die gleichen<br />

bleiben. Man sollte weiterhin mit<br />

der Mindestlohnkampagne und mit<br />

dem, was Hartz IV anbelangt, arbeiten.<br />

Dort besteht großes Potenzial. Wenn<br />

man tatsächlich aus 1,50-Euro-Jobs sozialversicherungspfl<br />

ichtige Arbeitsplätze<br />

schaffen kann, wäre das ein großer<br />

Fortschritt.<br />

Manfred Millow (58)<br />

Parteiratssprecher, seit vier <strong>Ja</strong>hren<br />

im Parteirat<br />

1) Ich bin sehr optimistisch, dass die<br />

Parteibildung klappt. Vorbehalte und<br />

Zweifel, die es auf beiden Seiten gibt,<br />

sehe ich als abbaubar an. <strong>Die</strong> Überlegungen<br />

zu den Gründungsdokumenten<br />

haben ja verdeutlicht, dass es Möglichkeiten<br />

gibt, sich <strong>zur</strong> Parteibildung<br />

zu einigen. <strong>Die</strong> gemeinsame Fraktion<br />

im Bundestag zeigt, dass es geht. <strong>Die</strong><br />

Wahl der Bundestagsfraktion macht<br />

auch eine gewisse Erwartungshaltung<br />

in der Bevölkerung deutlich. <strong>Die</strong>se Erwartungshaltung<br />

dürfen wir weder als<br />

<strong>Linkspartei</strong> noch als WASG enttäuschen.<br />

2) Es ist notwendig, sich in den strittigen<br />

Punkten, die auch in den Gründungsdokumenten<br />

aufgeführt sind, zu<br />

einigen. <strong>Die</strong>se Fragen muss man ausdiskutieren,<br />

wenn man einheitlich auftreten<br />

will. Es wird zwar immer Unterschiede<br />

geben, doch wenn man eine<br />

starke <strong>Linke</strong> sein will, sollte man zumindest<br />

in ganz wichtigen Bereichen<br />

eine Sprache sprechen.<br />

3) Umstritten ist momentan die Frage<br />

des demokratischen Sozialismus.<br />

Auf demokratischen Sozialismus sollte<br />

man sich einigen, denn das ist ein<br />

Knackpunkt in unserer Partei. Lange<br />

hat man darum gestritten, dass das<br />

überhaupt in den »Programmatischen<br />

Eckpunkten« erscheint. Ich hätte kein<br />

Verständnis dafür, wenn er wegfi ele.<br />

Demokratischer Sozialismus gehört zu<br />

dieser Partei und gehört auch zu einer<br />

<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n. <strong>Die</strong> SPD hat sich schon<br />

lange davon verabschiedet, selbst<br />

wenn sie ihn zwischendurch wieder<br />

auffl ammen lässt.<br />

Des Weiteren sollte man sich über<br />

die Haltung <strong>zur</strong> Entwicklung des Rechtsextremismus<br />

und zu Militäreinsätzen<br />

einigen. Hier muss es eine einheitliche<br />

Auffassung und Sprache geben.<br />

4) Beinahe hätte ich mit einer Gegenfrage<br />

geantwortet: Wo gibt’s denn


heute noch eine Liebesheirat? – Nein,<br />

die Parteibildung wird von vielen <strong>Linke</strong>n<br />

als eine Notwendigkeit gesehen.<br />

Ich habe in letzter Zeit oft mit jungen<br />

Leuten sehr unterschiedlicher linker<br />

Gruppierungen zu tun. Manchmal sage<br />

ich ihnen, sie wären genauso »beknackt«<br />

wie die Alten, wenn es kein Zusammenkommen<br />

gibt, obwohl alle das<br />

gleiche Ziel verfolgen.<br />

Gerald Grünert (51)<br />

Arbeitsgemeinschaft<br />

Kommunalpolitik,<br />

seit zwölf <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />

1) Ich sehe eine große Chance, dass linke<br />

alternative Politik in der Bundesrepublik<br />

durch eine starke <strong>Linke</strong> vertreten<br />

werden kann. Probleme liegen in<br />

den unterschiedlichen Sichtweisen, in<br />

den Lebenserwartungen und -erfahrungen<br />

von Ost und West. <strong>Die</strong>se müssen<br />

zueinander fi nden.<br />

Anzeige<br />

NEUE LINKE<br />

In der Kommunalpolitik haben wir<br />

gute Ansätze, denn zunehmend tragen<br />

jetzt auch WASG-Mitglieder kommunalpolitische<br />

Verantwortung. Ich<br />

denke, dass sich anhand der Realpolitik<br />

und der Zukunftsvisionen Politikansätze,<br />

die derzeit noch strittig sind, neu<br />

gestalten lassen.<br />

2) Eine neue <strong>Linke</strong> sollte sich in drei<br />

Punkten stark verankert sehen. Der<br />

erste ist die Friedenspolitik, der zweite<br />

ist die Frage nach der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />

und der dritte ist natürlich<br />

Arbeit. Jeder Mensch muss durch<br />

seine Arbeit leben können.<br />

Weiterhin haben wir das Problem der<br />

demografi schen Entwicklung. <strong>Die</strong> Überalterung<br />

der Bevölkerung setzt neue<br />

Maßstäbe in der Frage des öffentlichen<br />

Eigentums, der Frage nach der Zugänglichkeit<br />

der Institutionen für jedermann.<br />

Das sind die Hauptschwerpunkte, die<br />

auch im Parteineubildungsprozess eine<br />

Rolle spielen werden.<br />

3) <strong>Die</strong> Schwerpunkte werden von<br />

der thematischen Strukturierung der<br />

<strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong> abhängig sein. Wir<br />

haben Bundesarbeitsgemeinschaften,<br />

die sich in den Landesverbänden nach<br />

dem <strong>neuen</strong> Statut neu verankern müssen.<br />

Durch diese inhaltliche Arbeit<br />

kann auch die Frage der Programmatik<br />

und der strategischen Zielsetzung bearbeitet<br />

werden. Da gibt es, durch die<br />

unterschiedlichen Erfahrungen, noch<br />

Differenzen zwischen WASG und <strong>Linkspartei</strong>.PDS.<br />

4) Es ist beides. Beide Parteien sind<br />

linke Kräfte. Unser Ziel ist es, über<br />

dieses Bündnis noch mehr an linksorientierte<br />

Bürgerinnen und Bürger<br />

sowie an Bewegungen und Initiativen<br />

wie attac und andere heranzukommen,<br />

um ein Potenzial zu bündeln, damit<br />

die neo liberale Politik beendet und<br />

Deutschland zukunftsfähig ausgerichtet<br />

werden kann.<br />

David Pfender ist Student und war<br />

Praktikant in der Bundesgeschäftsstelle<br />

DISPUT März 2007 020


Ohne Abstufungen<br />

Zur Behindertenpolitik in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n Von Ralf Sondermeyer<br />

Eine Alltagssituation: Eine Rollstuhlfahrerin<br />

und ein Vater mit Kinderwagen<br />

wollen an einer Haltestelle in einen normalen<br />

Linienbus einsteigen. Den Vater<br />

schauen alle anderen Fahrgäste fragend<br />

an, weil ein Mann es doch alleine<br />

schafft, die zwei Stufen den Kinderwagen<br />

reinzuheben, und die Rollifahrerin<br />

muss draußen bleiben, weil man den<br />

Elektrorolli nicht anheben kann. Fazit:<br />

Beide Menschen werden in diesem Moment<br />

gleichermaßen behindert.<br />

<strong>Die</strong>ses kleine Beispiel zeigt, dass<br />

die Behinderung eines Menschen<br />

nichts mit einem körperlichen Gebrechen<br />

zu tun haben muss. Dabei wäre<br />

der Einsatz eines Niederfl urbusses<br />

mit entsprechender Anpassung an<br />

die Bordsteinkante die Lösung dieses<br />

Problems, und alle könnten selbstbestimmt<br />

und ohne Hilfe ihr Leben meistern.<br />

Ein kleines Beispiel für das Prinzip<br />

der Nutzen-für-alle-Politik der <strong>neuen</strong><br />

<strong>Linke</strong>n.<br />

Auch in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n müssen<br />

wir über das Selbstverständnis einer<br />

modernen Behindertenpolitik nachdenken.<br />

<strong>Die</strong>s soll nicht heißen, das Rad<br />

neu zu erfi nden. Es heißt vielmehr, dass<br />

Bewährtes erhalten und geschützt werden<br />

soll und dass dennoch auch neue<br />

Wege beschritten werden müssen.<br />

<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik bedeutet:<br />

Wir stehen dafür, dass Menschen mit<br />

Behinderungen und chronisch kranke<br />

Menschen in allen Situationen des Lebens<br />

einen echten Nachteilsausgleich<br />

bekommen. Sei es in einer persönlichen<br />

Assistenz im Arbeitsleben oder<br />

im privaten Bereich oder im Abbau von<br />

Barrieren, oder sei es durch einen fi -<br />

nanziellen Ausgleich für den behindertenbedingten<br />

Mehraufwand durch die<br />

Gesellschaft. Wir wollen keine Gleichmacherei.<br />

Wir wollen aber die gleichen<br />

Chancen für alle Menschen!<br />

Es heißt oft, der Staat hat kein Geld.<br />

Müsste es nicht vielmehr richtig heißen:<br />

Wie viel ist der Gesellschaft der<br />

Nachteilsausgleich für Menschen mit<br />

Behinderungen wert?<br />

<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik steht für<br />

den Artikel 1 unseres Grundgesetzes<br />

und lässt keine Abstufungen zu. Es<br />

bleibt dabei: <strong>Die</strong> Würde des Menschen<br />

ist unantastbar. Doch auch in der <strong>neuen</strong><br />

<strong>Linke</strong>n müssen wir dafür kämpfen,<br />

dass Menschen mit Behinderungen<br />

210 DISPUT März 2007<br />

oder chronisch kranke Menschen nicht<br />

ausgegrenzt werden.<br />

Warum werden Veranstaltungen in<br />

Räumen organisiert, die nicht barrierefrei<br />

sind? Warum erfüllen wir selbst<br />

nicht die Ansprüche, die wir als Partei<br />

in den Parlamenten und auf allen Politikfeldern<br />

einfordern?<br />

Es muss eine Fortschreibung sein,<br />

wenn wir uns im Statut der <strong>neuen</strong> Partei<br />

selbst auferlegen, Veranstaltungen<br />

auf Bundesebene oder auf den Landesebenen<br />

(nicht nur in Nordrhein-Westfalen)<br />

barrierefrei zu gestalten. Barrierefrei<br />

heißt aber nicht allein, dass wir einen<br />

Tagungsraum haben, der für Rollifahrer/innen<br />

geeignet ist. Das bedeutet<br />

auch, dass Menschen mit Sinnesbehinderungen<br />

oder Sprachproblemen nicht<br />

an enge Redezeiten gebunden sind.<br />

Es ist manchmal verständlich, dass<br />

gesunde Menschen diese Forderungen<br />

nicht nachvollziehen können oder ökonomische<br />

Gesichtspunkte in den Fordergrund<br />

stellen. Eine einfache Lösung<br />

ist deshalb, die betroffenen Menschen<br />

zu fragen, welchen Nachteilsausgleich<br />

sie für eine selbstbestimmte Teilhabe<br />

in der Partei und der Gesellschaft brauchen.<br />

Daher ist es unerlässlich, dass<br />

wir in allen Landesverbänden und auf<br />

Bundesebene verpflichtend eine behindertenpolitischeArbeitsgemeinschaft<br />

oder zumindest einen Behindertenbeauftragten<br />

fest, also statutenmäßig,<br />

installieren.<br />

Moderne, linke Behindertenpolitik<br />

soll nicht heißen, dass wir hinter jedem<br />

Satz schreiben, dass Menschen mit Behinderungen<br />

oder chronisch Kranke besonders<br />

gefördert werden sollen. Das<br />

ist eine ressortübergreifende Politik,<br />

die dem Nutzen-für-alle-Prinzip folgt.<br />

Wenn es selbstverständlich wird, dass<br />

Menschen nicht mehr behindert werden,<br />

sind wir ein großes Stück weiter.<br />

Nun zeigt uns jedoch die Erfahrung,<br />

dass manche Dinge in Statuten festgeschrieben<br />

werden müssen. Damit<br />

kann sie keiner uminterpretieren! Daher:<br />

Barrierefreiheit bei Veranstaltungen<br />

gehört ins Statut auf Landes- und<br />

auf Bundesebene!<br />

<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik weiß, dass<br />

Menschen nicht danach eingeschätzt<br />

werden dürfen, was sie alles nicht können.<br />

Jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten,<br />

diese müssen gefördert wer-<br />

den. Erworbene Fertigkeiten sind wertvoll<br />

und gesellschaftlich anzuerkennen.<br />

<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik ist für<br />

die Integration aller Menschen in die<br />

Gesellschaft. Dabei bedeutet Integration<br />

nicht, die Menschen so zu »formen«,<br />

dass sie in die Gesellschaft passen.<br />

Ralf Sondermeyer ist Mitglied des Landesvorstandes<br />

Nordrhein-Westfalen<br />

■ ■ Neuer Sprecherrat<br />

<strong>Die</strong> AG Selbstbestimmte Behindertenpolitik<br />

der <strong>Linkspartei</strong>-WASG<br />

wählte am 17. Februar in Berlin<br />

ihren <strong>neuen</strong> Sprecherrat. Nach<br />

einem ausführlichen Tätigkeitsbericht<br />

des alten Sprecherrates<br />

wurden die besonderen Verdienste<br />

von Jürgen Muskulus (Sachsen)<br />

und Ursula Teltow (Berlin) für linke<br />

Behindertenpolitik gewürdigt.<br />

Mit Christian Schröder (Berlin)<br />

und Irene Müller (Mecklenburg-<br />

Vorpommern) wurden zwei der<br />

vier Sprecher der AG in ihren Ämtern<br />

bestätigt. Neu gewählt wurden<br />

Christine Lichtwardt (Mecklenburg-Vorpommern)<br />

und Ralf<br />

Sondermeyer (Nordrhein-Westfalen).<br />

Sie werden die Arbeitsgemeinschaft<br />

leiten, politische Akzente<br />

der Behindertenpolitik der <strong>Linkspartei</strong>/WASG<br />

zusammenfassen,<br />

<strong>zur</strong> Diskussion stellen und daraus<br />

resultierende linke Behindertenpolitik<br />

in die Öffentlichkeit tragen<br />

und vertreten. Auf der Sitzung<br />

der AG wurde ein Arbeitsplan verabschiedet.<br />

Eine neue linke Partei ist für<br />

Vertreter/innen der Behindertenpolitik<br />

auch Anlass, neue und moderne<br />

Ansatzpunkte der Behindertenpolitik<br />

zu verankern. Um diese<br />

Arbeit kontinuierlich und effektiv<br />

gestalten zu können, wird sich<br />

die Arbeitsgemeinschaft alle zwei<br />

Monate in Berlin treffen und in der<br />

nächsten Zeit eine neue Struktur<br />

in den Bundesländern aufbauen.<br />

Konkrete Termine der Arbeitsgemeinschaft<br />

können dem Arbeitsplan<br />

entnommen werden. Er<br />

steht unter anderem auf der Internetseite<br />

www.irenemueller.de.<br />

ARBEITSGEMEINSCHAFT


Eine Lobbyistin hat »BILD« sie genannt – und die Bundestagsabgeordnete<br />

Sabine Zimmermann ist inzwischen stolz darauf Von Brigitte Holm<br />

»Ich habe gedacht, das kann doch nicht<br />

wahr sein, dass die mich nicht nehmen,<br />

weil ich eine Frau bin!« Obwohl diese Erfahrung<br />

16 <strong>Ja</strong>hre <strong>zur</strong>ückliegt, merkt man Sabine<br />

Zimmermann die Empörung noch an. Im<br />

Rückblick meint sie, dadurch sei sie <strong>zur</strong> Politik<br />

gekommen.<br />

Damals, 1990, als das große Betriebssterben<br />

im Osten einsetzte, war ihre Familie<br />

aus dem Sächsischen nach Bayern gegangen.<br />

Eine Wohnung und eine Stelle für den Mann waren<br />

schnell gefunden. Auch, weil es in der <strong>neuen</strong> Heimat Verwandtschaft<br />

gab, Westverwandtschaft. Sie war einst hinderlich,<br />

als Sabine nach der Schulzeit Journalistin werden wollte.<br />

Geworden ist sie Baustofftechnologin. Ein Beruf, den sie,<br />

wie sie sagt, gern ausgeübt hat. In einer Ziegelei in Zwickau<br />

arbeitete sie nach dem Studium als rechte Hand des Produktionsdirektors.<br />

Sie hatte unter anderem zu überwachen,<br />

dass die Mischung der Rohstoffe und die Brenntemperaturen<br />

stimmten. <strong>Die</strong> Betriebsteile, die zum Werk gehörten,<br />

waren sehr unterschiedlich ausgestattet: Da gab es noch Anlagen<br />

von 1890, aber auch moderne Technik aus den Siebzigern.<br />

Anstrengend war es für die Produktionsarbeiter hier<br />

wie da. Wenn heute die Rente mit 67 durchgedrückt werden<br />

soll, denkt sie an ihre früheren Kollegen. In Zwickau war sie<br />

die einzige Frau unter Männern. Trotzdem, fi ndet sie, war<br />

das nichts Besonderes. Schließlich waren in der DDR Frauen<br />

Kranführerinnen oder haben eine Lok gefahren.<br />

Deshalb wollte sie erst gar nicht glauben, was ihr bei der<br />

Arbeitsuche in Bayern passierte. Sie hatte sich in verschiedenen<br />

Keramikfi rmen beworben und musste erfahren, dass<br />

Stellen mit ihrer Qualifi kation nur von Männern besetzt sind.<br />

Eine Frau, und dann noch mit zwei Kindern, damals fünf (der<br />

Sohn) und elf (die Tochter)! Am Band, bedeutete man ihr, ließe<br />

sich vielleicht was machen.<br />

Es fand sich doch noch etwas, was mit ihrer Ausbildung<br />

zu tun hatte. Im Landratsamt Neustadt in der Ober pfalz hat<br />

sie mit dem Aufbau eines Recyclingsystems für Bauschutt<br />

begonnen. <strong>Die</strong>se Sache stand damals ganz am Anfang, weshalb<br />

es über eine Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme lief. Heutzutage<br />

machen Unternehmen damit richtig Geld.<br />

Sabine indes betrat seinerzeit ein weiteres Neuland. Als<br />

sie zufällig – auf privatem Wege – den DGB-Vorsitzenden von<br />

Weiden kennenlernte, machte sie ihrem Herzen Luft und erzählte<br />

von ihren Erfahrungen bei der Stellensuche. Der gute<br />

Mann erkannte sogleich eine Mitstreiterin in ihr. Er wollte<br />

nämlich seine Gewerkschaftsfunktionäre und Mitglieder<br />

für die Probleme der Ostdeutschen sensibilisieren. Schließlich<br />

ging es um den Aufbau eines gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes.<br />

So hielt Sabine, in der DDR ein »einfaches«<br />

Gewerkschaftsmitglied, ehrenamtlich Seminare ab, die unter<br />

dem Thema »Weg mit der Mauer in den Köpfen« standen.<br />

Viele, erinnert sie sich, kannten die DDR überhaupt nicht.<br />

Ihre Ausführungen müssen Anklang gefunden haben. Jedenfalls<br />

wurde sie ermutigt, sich bei den Wahlen zum DGB-<br />

Vorsitz in Zwickau zu bewerben. Zwickau war der erste Kreis<br />

in Ostdeutschland, wo sich der DGB konstituierte. Für ihre<br />

Bewerbungsrede musste sie eine Treppe hochgehen. »Meine<br />

Beine waren wie Blei. Ich dachte, ich komme gar nicht<br />

hoch.« DGB-Vorsitzende ist sie damals nicht geworden. Ein<br />

Mann aus Nürnberg wurde gewählt. Westerfahrung galt wohl<br />

in diesem Moment mehr als Osterfahrung. Ganz verzichten<br />

mochte man darauf allerdings nicht: Sabine Zimmermann<br />

begann als Volontärin beim DGB. Nach einem dreiviertel <strong>Ja</strong>hr<br />

war sie – nein, nicht Frauensekretärin – Organisationssekretärin<br />

im DGB-Kreisvorstand. Zu den vielen Aufgaben, die<br />

an diesem Amt hingen, gehörten auch »Frauen« und »Senioren«.<br />

Später war sie noch Jugendbildungsreferentin und Jugendsekretärin.<br />

Als 2001 die Wahl zum Vorsitz der Region Vogtland-Zwickau<br />

anstand (es hatte inzwischen eine Reform gegeben), wollte<br />

sie es noch einmal wissen – und wurde gewählt. Acht Mitgliedsgewerkschaften<br />

hat sie unter einen Hut zu bringen, mit<br />

rund 45.000 Mitgliedern. Gemessen an der Zahl der 150.000<br />

versicherungspfl ichtigen Beschäftigten ein normaler Organisationsgrad.<br />

An die 40 Prozent der Mitglieder sind in der<br />

IG Metall. <strong>Die</strong> Region um Zwickau und der DGB haben Glück,<br />

jedenfalls relatives: Im <strong>neuen</strong> VW-Werk in Zwickau arbeiten<br />

fast 7.000 Beschäftigte. Dazu kommen zahlreiche Zulieferbetriebe.<br />

Das bringt Einkommen für die Gegend und Mitglieder<br />

für die Gewerkschaft. Doch das Glück ist, wie gesagt,<br />

relativ: Obwohl deutlich niedriger als noch vor einem <strong>Ja</strong>hr,<br />

lag im Agenturbezirk Zwickau die Arbeitslosenquote im <strong>Ja</strong>nuar<br />

bei 16,7 Prozent. Das sind 38.379 Menschen ohne Arbeit.<br />

Besorgniserregend für Sabine Zimmermann ist die Zunahme<br />

bei den Langzeitarbeitslosen. Sie machen fast die<br />

Hälfte aller Arbeitslosen aus. <strong>Die</strong> DGB-Vorsitzende verlangt<br />

dringend mehr Fördermöglichkeiten für die Betroffenen. Dafür<br />

macht sie sich auch als Vorsitzende des Verwaltungsausschusses<br />

der regionalen Arbeitsagentur stark.<br />

<strong>Ja</strong>, eine DGB-Vorsitzende muss, darf und will auf vielen<br />

Hochzeiten tanzen. Das ist gut so, sagt sie, dass man an<br />

der Gewerkschaft nicht so leicht vorbeikommt. So ist sie in<br />

Gremien der IHK und der Handwerkskammer vertreten. Außerdem<br />

fungiert sie als Sprecherin eines Bündnisses gegen<br />

Rechts. <strong>Die</strong>ses Engagement ist ihr sehr wichtig. Wenn Demonstrationen<br />

gegen Rechts stattfi nden, wird man sie dort<br />

treffen. Erst kürzlich hat sie eine Anzeige erstattet – Während<br />

eines Nazi-Aufmarsches hatte ein Teilnehmer gerufen,<br />

DGB und PDS solle man mit Steinen bewerfen. Demonstrationen<br />

oder eine Anzeige können aber nur die eine Seite der<br />

Auseinandersetzung sein, meint sie. Deshalb spricht sie auf<br />

Veranstaltungen und kümmert sich um Fördermittel für Projekte,<br />

die junge Leute stärken und sie kritisch machen gegenüber<br />

den Parolen der Neonazis.<br />

Genug zu tun in der Region. Trotzdem hat sie <strong>Ja</strong> gesagt,<br />

als die <strong>Linkspartei</strong> im Sommer 2005 fragte, ob sie als Parteilose<br />

für den Bundestag kandidieren wolle. Noch wenige<br />

Monate zuvor war ihre Partei die SPD. Genauer gesagt: Sabine<br />

Zimmermann war noch deren Mitglied. Eingetreten war<br />

»Wenn ich in Berlin am Pult stehe, dann merke ich, die<br />

wollen unsere Argumente und Vorschläge nicht.«<br />

PORTRÄT<br />

DISPUT März 2007 022


230 DISPUT März 2007<br />

Ich bin hier<br />

wie da dieselbe<br />

© Erich Wehnert (3)


sie in den 90ern. »Weil Gewerkschafter halt traditionell der<br />

SPD nahe standen und weil mir die Partei Willy Brandts imponiert<br />

hat. Sie imponiert mir heute noch – aber es gibt sie<br />

nicht mehr. Wir als <strong>Linke</strong> außerhalb der SPD nehmen heute<br />

stärker Einfl uss auf diese Partei als deren linker Flügel. Ich<br />

meine, den gibt es leider auch nicht mehr.«<br />

Sabine war sogar einmal für die SPD im Sächsischen<br />

Landtag, allerdings als »Nachrückerin« nur für vier Monate,<br />

als kurz vor Ende der Wahlperiode der damalige Fraktionsvorsitzende<br />

sein Mandat niederlegt hatte. Der Austritt ist ihr<br />

nicht leicht gefallen. »Eine Partei zu verlassen ist schwer.<br />

Aber ich hatte schon längere Zeit viel zu kritisieren und habe<br />

es auch getan. Dafür musste ich einiges einstecken. Als SPD-<br />

Mitglied sollte ich die Agenda 2010 verkaufen. Das ging einfach<br />

nicht.« Stattdessen hat sie die Hartz-IV-Proteste in der<br />

Region organisiert.<br />

Insofern war die Anfrage der <strong>Linkspartei</strong> eher logisch als<br />

überraschend, jedenfalls aus deren Sicht. Für Sabine kam<br />

das Angebot schon unerwartet. Sie hat lange und intensiv<br />

überlegt, sich mit vielen beraten – mit der Familie, mit<br />

Freunden. Ausschlaggebend war die Meinung ihrer Gewerkschaftskolleginnen<br />

und -kollegen. Als sie aus allen Mitgliedsgewerkschaften<br />

in der Region von ver.di bis Metall Zuspruch<br />

erfuhr, hat sie zugesagt. Drei Tage nach der Bundestagswahl<br />

hat sie diese Ermunterung noch einmal per Abstimmung erfahren<br />

können: Als sie sich erneut <strong>zur</strong> Wahl als DGB-Vorsitzende<br />

stellte, gab es nur wenige Gegenstimmen. Ein richtig<br />

gutes Ergebnis, wie am Sonntag zuvor im Wahlkreis 167<br />

bei der Bundestagswahl: 26,1 Prozent für Sabine Zimmermann;<br />

auf den SPD-Kandidaten entfi elen 25,2 Prozent. Im<br />

Unglücksjahr der PDS, 2002, stand es 18,4 zu 32,1 Prozent.<br />

(Das sind Zahlen aus dem Internet. Sabine selbst würde sich<br />

darüber nicht weiter auslassen wollen und hatte die Angaben<br />

auch nicht <strong>zur</strong> Hand. Und überhaupt: Das Rennen um<br />

das Direktmandat hat der CDU-Kandidat gewonnen.)<br />

Seit Herbst 2005 ist sie also im Bundestag, in der Linksfraktion.<br />

<strong>Die</strong> Frage, wie sie beide Ämter – das Abgeordnetenmandat<br />

samt Wahlkreisarbeit und den DGB-Vorsitz – unter<br />

einen Hut bringt, liegt nahe. <strong>Die</strong> ersten Wochen, räumt<br />

sie ein, habe sie gedacht, das ist nicht zu packen. Aber auch<br />

dank der guten Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen<br />

in den verschiedenen Büros habe sie ihren Stil gefunden.<br />

Da sie beim DGB nur noch über neun Stunden pro Woche<br />

einen Vertrag hat, konnte dort eine weitere Stelle eingerichtet<br />

werden. Und schließlich gibt es Telefon, ihr wichtigstes<br />

Arbeitsinstrument. »Von solchen Organisationsfragen<br />

abgesehen: Es ist doch hier wie da dieselbe Politik, die ich<br />

mache. Sie fi ndet nur auf verschiedenen Ebenen statt. Ich<br />

bin überall dieselbe und muss mich nicht verstellen oder<br />

hier eine andere Meinung vertreten als da.« Einmal die Woche,<br />

ist auf Nachfrage zu erfahren, plant sie einen Termin<br />

ganz allein für sich: Sonntagnachmittag für einen Saunabesuch.<br />

Wer einmal in ihren Kalender schaut, kann sich vorstellen,<br />

wie sie häufi g von einer Verabredung <strong>zur</strong> nächsten hetzt.<br />

Selten nimmt sie nur einfach teil an einer Zusammenkunft.<br />

Ganz klar, wo sie auch hinkommt – <strong>Die</strong> Leute wollen wissen,<br />

was die DGB-Vorsitzende von dieser oder jener Sache hält<br />

und was in »Berlin« gerade dazu läuft.<br />

Was haben Bundestag und Fraktion auf der einen Seite<br />

und was der DGB in der Region davon, dass sie in Berlin ist?<br />

Sabine fi ndet, eine Menge und hat gleich einige Themen pa-<br />

PORTRÄT<br />

rat, bei denen sie ihre Erfahrungen in den Bundestag einbringen<br />

konnte. Sie nennt die Probleme der Saisonbeschäftigten.<br />

Für das Baugewerbe hat die Bundesregierung im vorigen<br />

<strong>Ja</strong>hr zwar eine Regelung getroffen, aber es gibt weitere<br />

Branchen, in denen nicht durchgehend gearbeitet wird,<br />

zum Beispiel im Tourismus. Für diese Beschäftigten muss es<br />

ebenfalls eine Lösung geben. Oder als vor einem <strong>Ja</strong>hr herauskam,<br />

dass die Bundesregierung eine Milliarde Euro im Haushaltsloch<br />

verschwinden ließ, weil sie nicht von der Möglichkeit<br />

Gebrauch gemacht hatte, ungenutzte Fördermittel für Arbeitslose<br />

aus dem <strong>Ja</strong>hr 2005 in das <strong>Ja</strong>hr 2006 zu übertragen.<br />

Für Sabine Zimmermann war es ein Skandal, dass die Mittel<br />

nicht im laufenden <strong>Ja</strong>hr genutzt worden waren. (»Das muss<br />

man sich mal vorstellen, fast jeder zweite Euro ist nicht ausgeben<br />

worden!«) Dass das Geld den Arbeitslosen nun gänzlich<br />

entzogen werden sollte, setzte dem Ganzen die Krone<br />

auf. Als sie im Bundestag einen entsprechenden Antrag der<br />

Linksfraktion begründete, war sie um 22 Uhr die letzte Rednerin.<br />

<strong>Die</strong> Abgeordneten der übrigen Fraktionen zogen es vor,<br />

ihre (ablehnenden) Reden zu Protokoll zu geben.<br />

Sabine hatte an diesem 16. Februar 2006 überhaupt das<br />

erste Mal im Plenum gesprochen. Ihre Erfahrungen sind nicht<br />

besser geworden. »Das ist der Unterschied«, sagt sie. »Wenn<br />

ich in Berlin am Pult stehe, dann merke ich, die wollen unsere<br />

Argumente und Vorschläge nicht. Ich spüre förmlich die<br />

Arroganz gegenüber den Problemen, die mir auf Schritt und<br />

Tritt begegnen. Ob zu Hause oder im Wedding, wo ich für die<br />

Sitzungswochen eine kleine Wohnung gemietet habe. Wenn<br />

DISPUT März 2007 024


ich bei einer Kundgebung vor 4.000 Leuten rede, weiß ich,<br />

die da vor mir stehen und zuhören und ich – wir sprechen eine<br />

Sprache.« Und damit meint sie nicht den sächsischen Dialekt,<br />

den sie als gebürtige Pasewalkerin gar nicht pfl egt.<br />

Kurz vor dem Gespräch mit DISPUT hat Sabine auf einer<br />

Kundgebung vor VW-Beschäftigten in Zwickau gesprochen.<br />

Über eintausend von ihnen waren einem Aufruf der IG Metall<br />

gefolgt, um gegen die Rente erst ab 67 zu protestieren. Dafür<br />

hatten sie ihre Schicht eine dreiviertel Stunde eher beendet,<br />

natürlich ohne Lohnausgleich. Es war an einem der wenigen<br />

kalten Tage dieses Winters. Sabine stand bei Frostgraden am<br />

Werktor Süd auf dem Hänger eines Multicars und sprach den<br />

Versammelten aus dem Herzen, als sie unter Hinweis auf die<br />

real sieben Millionen Arbeitslosen sagte: »Wenn die alle einen<br />

Arbeitsplatz hätten, der vernünftig bezahlt wird, dann<br />

hätten wir kein Problem mit den Versicherungssystemen.«<br />

Natürlich, sie ermuntert und ermutigt ihre Leute, ihren<br />

Protest und ihre Forderungen zu artikulieren. Zugleich weiß<br />

sie, wie selten am Ende der große Erfolg steht. Manchmal<br />

auch gar keiner. Wie damals 2003, als die ostdeutschen Metaller<br />

für die 35-Stunden-Woche streikten (die im Westteil<br />

seit Langem tarifl ich gesichert ist). <strong>Die</strong>ser zum Teil wochenlange<br />

Streik war buchstäblich über Nacht von der IG-Metall-<br />

Spitze abgebrochen worden. Ohne auch nur das kleinste Ergebnis.<br />

Sabine sieht noch heute die Gesichter der Männer<br />

und Frauen vor sich, die sich bei dieser Auseinandersetzung<br />

besonders engagiert hatten.<br />

Als Realistin freut sie sich auch über Erfolge im Kleinen.<br />

250 DISPUT März 2007<br />

Zum Beispiel, wenn sie jemandem helfen konnte und nach<br />

Monaten kommt zu Weihnachten eine Karte mit guten Wünschen<br />

und einem nochmaligen Dank.<br />

Halb verärgert, halb belustigt erzählt sie von einer Attacke<br />

der BILD-Zeitung gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter<br />

im Bundestag. Auslöser dafür war der CDU-Abgeordnete<br />

Norbert Röttgen. Er wollte Hauptgeschäftsführer<br />

beim Bundesverband der Deutschen Industrie werden, ohne<br />

sein Bundestagsmandat abzugeben. Das löste eine öffentliche<br />

Debatte über den großen politischen Einfl uss der Wirtschaft<br />

aus. BILD mochte das nicht stehen lassen und wollte<br />

den Lobbyismus seitens der Gewerkschaften geißeln. Sabine<br />

Zimmermann wurde – wie andere auch – als Lobbyistin<br />

vorgeführt. Damals fühlte sie sich angegriffen und glaubte,<br />

sich rechtfertigen zu müssen. Heute ist sie stolz darauf, eine<br />

Lobbyistin zu sein: »eine Lobbyistin für die Beschäftigten,<br />

für die Leute mit Niedriglohn und Minijob, für die Arbeitslosen<br />

und Hartz-IV-Empfänger, für die Familien, in denen die<br />

Kinder in Armut aufwachsen, und für die Rentner.«<br />

Sie erzählt, wie sie nach Weihnachten die »Tafel« in Plauen<br />

besucht hat, wo die Armen kostenlos oder zu kleinen Preisen<br />

Nahrungsmittel erhalten. Auch Saisonartikel wie Schokoladenweihnachtsmänner.<br />

»Wenn ich sehe, wie die Frauen<br />

mit ihren Kindern nach dem Fest die Weihnachtsmänner in<br />

Empfang nehmen, und wenn ich mir vorstelle, wie bescheiden<br />

es bei ihnen zu den Feiertagen zugegangen sein muss«,<br />

berichtet Sabine Zimmermann, »dann läuft es mir kalt den<br />

Rücken runter.«<br />

»Ich spüre förmlich die Arroganz gegenüber<br />

den Problemen, die mir auf Schritt und Tritt begegnen.«<br />

© Erich Wehnert (3)


PRESSEDIENST<br />

■ ■ Vorstandssitzung: Auf seiner Sitzung<br />

am 12. Februar in Berlin befasste<br />

sich der Parteivorstand ausführlich<br />

mit der Auseinandersetzung mit dem<br />

Rechtsextremismus. Lothar Bisky bezeichnete<br />

es als dringliche Aufgabe,<br />

antifaschistisches Denken und Handeln<br />

auf allen Ebenen fest zu verankern.<br />

In der zweistündigen Aussprache<br />

wurden unterschiedliche Positionen<br />

zu einem NPD-Verbot deutlich. Einig<br />

war man sich darin, dass die Haltung<br />

zu einem solchen Verbotsantrag nicht<br />

der Gradmesser für eine antifaschistische<br />

Einstellung sein dürfe.<br />

Einstimmig fasste der Vorstand einen<br />

Beschluss <strong>zur</strong> Schaffung eines öffentlich<br />

geförderten Beschäftigungssektors.<br />

Der Vorstand rief alle Mitglieder<br />

auf, die Aktionen der Gewerkschaften<br />

gegen »Rente mit 67« zu<br />

unterstützen. Auf der Tagesordnung<br />

standen weiterhin europapolitische<br />

Fragen und der Parteibildungsprozess.<br />

Mehr zu den Beschlüssen im Internet<br />

unter: http://www.sozialisten.de/partei/parteivorstand/vorstand2006/beschluesse/index.htm<br />

■ ■ Antifaschisten: Lothar Bisky beglückwünschte<br />

die Vereinigung der Verfolgten<br />

des Naziregimes (VVN-BdA) zu<br />

ihrem 60. <strong>Ja</strong>hrestag am 23. Februar.<br />

<strong>Die</strong> authentischen Stimmen von Antifaschistinnen<br />

und Antifaschisten seien<br />

die Garanten für eine fortwährende<br />

Auseinandersetzung mit dem deutschen<br />

Faschismus, mit dem Völkermord<br />

an Juden ... Der antifaschistische<br />

Widerstand gehöre zum lebendigen Erbe<br />

der demokratischen Gesellschaften.<br />

»In den Mitgliedern der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

PDS habt Ihr zuverlässige Verbündete«,<br />

schrieb Bisky.<br />

■ ■ Familienpolitik: <strong>Die</strong> stellvertretenden<br />

Vorsitzenden der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

PDS Katja Kipping und Katina Schubert<br />

sowie die Mitglieder des WASG-Bundesvorstandes<br />

Ulrike Zerhau und Heidi<br />

Scharf erklärten am 23. Februar: »Das<br />

Recht auf Selbstbestimmung von Frauen<br />

über ihren Körper und ihre Lebensweise<br />

sowie das Recht auf eigenständige<br />

Existenzsicherung gehören zu den<br />

unveräußerlichen Grundrechten, die<br />

die <strong>Linke</strong> aufgerufen ist, zu verteidigen<br />

und auszuweiten. <strong>Die</strong> Äußerungen von<br />

Bischoff Mixa und die Unterstützung<br />

dieser Positionen durch die Saarländer<br />

<strong>Linkspartei</strong>-Politikerin Christa Müller<br />

lehnen wir deshalb entschieden ab.«<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> stehe für die eigenständige<br />

Existenzsicherung jedes Menschen<br />

als Grundlage für ein selbst bestimmtes<br />

Leben.<br />

■ ■ Klima-Handeln: <strong>Die</strong> Unterzeichnung<br />

des Kyoto-Protokolls vor zehn <strong>Ja</strong>hren<br />

sei ein Meilenstein in der internationalen<br />

Klimaschutzpolitik gewesen,<br />

sagte am 2. März der stellvertretende<br />

Parteivorsitzende Wolfgang Methling.<br />

<strong>Die</strong> Bilanz der Ergebnisse falle angesichts<br />

der Dramatik des Klimawandels<br />

allerdings bescheiden aus: »Geht die<br />

Entwicklung so weiter wie bisher, wird<br />

nicht einmal das bescheidene Ziel, fünf<br />

Prozent weniger Treibhausgase als<br />

1990 auszustoßen, erreicht. Und jedem<br />

müsste inzwischen klar sein, dass das<br />

bei weitem nicht ausreiche.«<br />

■ ■ Arbeitslosigkeit: »Über vier Millionen<br />

Arbeitslose bleiben ein gesellschaftlicher<br />

Skandal, auch wenn sich<br />

bei ausbleibendem Frost das Tauwetter<br />

am Arbeitsmarkt fortsetzt«, unterstrich<br />

Bundesgeschäftsführer <strong>Die</strong>tmar Bartsch<br />

am 28. Februar zu den aktuellen Arbeitslosenzahlen.<br />

Gravierende Probleme –<br />

wie die hohe Sockelarbeitslosigkeit vor<br />

allem bei Langzeitarbeitslosen und die<br />

doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in den<br />

ostdeutschen Ländern – blieben bestehen.<br />

Mit Verzicht auf die Unternehmenssteuerreform<br />

ließen sich Gelder für mehr<br />

Beschäftigung gewinnen.<br />

■ ■ Mindestlohn: Fünf Euro seien<br />

kein Mindestlohn, sondern ein Minilohn,<br />

kommentierte Parteivize Katja<br />

Kipping am 21. Februar einen Vorschlag<br />

von Bundesarbeitsminister Müntefering<br />

(SPD): »<strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />

die Bundestagsfraktion DIE LINKE. bleiben<br />

dabei: Von Arbeit muss man leben<br />

können. Deshalb fordern wir einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn von acht Euro<br />

die Stunde.«<br />

■ ■ Rentenprotest: <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

unterstützt die Proteste gegen<br />

die Rente mit 67, bekräftigte der gewerkschaftspolitische<br />

Sprecher Harald<br />

Werner am 26. Februar: »Das Renten-<br />

eintrittsalter auf 67 heraufzusetzen ist<br />

nicht nur unsozial, sondern auch wirklichkeitsfremd.«<br />

Nichts zeige besser,<br />

wie weit sich die Abgeordneten der<br />

herrschenden Parteien von der sozialen<br />

Realität entfernt haben. Bei der gegenwärtigen<br />

Massenarbeitslosigkeit und<br />

den bestehenden Arbeitsbedingungen<br />

sei eine Erhöhung des Renteneintrittsalters<br />

auf 67 <strong>Ja</strong>hre unterm Strich nichts<br />

weiter als eine Rentenkürzung.<br />

■ ■ Hafterleichterung: Zur Ablehnung<br />

von Hafterleichterungen für den<br />

früheren RAF-Terroristen Christian Klar<br />

durch den Baden-Württembergischen<br />

Justizminister Ulrich Goll meinte der<br />

Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi am<br />

1. März: »Hier verletzt der FDP-Minister<br />

Grundzüge der Rechtsstaatlichkeit.<br />

Hafterleichterungen werden nach dem<br />

Grad der Gefährdung der Gesellschaft<br />

durch einen Inhaftierten und nach anderen<br />

Kriterien gewährt, aber niemals<br />

nach der politischen Gesinnung. Dass<br />

Herr Goll und andere Politiker meinen,<br />

dass Hafterleichterungen prokapitalistische<br />

Ansichten und Äußerungen voraussetzen,<br />

ist hanebüchen und grundgesetzwidrig.«<br />

■ ■ Steuer: Um Konzepte für eine alternative<br />

Steuerpolitik und eine gerechtere<br />

und gleichmäßigere Verteilung<br />

gesellschaftlichen Reichtums ging es<br />

bei einer steuerpolitischen Konferenz<br />

der Bundestagsfraktion am 24. Februar<br />

in Berlin. Neben Mitgliedern der<br />

Bundestags- und Landtagsfraktionen<br />

waren Vertreter/innen aus Gewerkschaften,<br />

Wissenschaft und Wirtschaft<br />

eingeladen, darunter der Vorsitzende<br />

der Deutschen Steuer-Gewerkschaft.<br />

■ ■ Freie Heide: Zur Überreichung<br />

des Göttinger Friedenspreises an die<br />

Bürgerinitiative FREIe HEIDe gratulierten<br />

die Fraktionsvorsitzenden Gregor<br />

Gysi und Oskar Lafontaine am 2. März:<br />

Seit 15 <strong>Ja</strong>hren kämpfe die Initiative gegen<br />

das Bombodrom im Nordwesten<br />

Brandenburgs. Sie wehre sich gegen<br />

die Pläne der Bundesregierung, die<br />

Heide als Luft-Boden-Schießplatz zu<br />

nutzen, und sei zu einer der größten<br />

deutschen Bürgerrechtsbewegungen<br />

geworden. DIE LINKE. werde weiter an<br />

ihrer Seite stehen.<br />

DISPUT März 2007 026


■ ■ Familienkonzept: <strong>Die</strong> Bundestagsfraktion<br />

beschloss am 6. März ein<br />

modernes Familienkonzept. Mit ihm, so<br />

Vize-Fraktionschef Klaus Ernst, werden<br />

die Entscheidung für Kinder erleichtert<br />

und die Lebensbedingungen von Familien<br />

konsequent verbessert: »Allen<br />

Frauen und Männern wird die Entscheidungsfreiheit<br />

gegeben, wie sie ihre<br />

Kinder betreuen und aufziehen wollen.<br />

Der gleichberechtigte Zugang von<br />

Frauen und Männern zum Arbeitsmarkt<br />

wird gefördert. Wir wollen Vorfahrt für<br />

die Infrastruktur – der Kinderkrippenausbau<br />

muss so vorangetrieben werden,<br />

dass Eltern einen Rechtsanspruch<br />

auf eine fl ächendeckende öffentliche<br />

Kinderbetreuung in hoher Qualität ab<br />

1. Lebensjahr haben, ohne dafür Beiträge<br />

zahlen zu müssen. Wir wollen den<br />

Ausbau des Elterngeldes nach skandinavischem<br />

Vorbild zu einer Sozialleistung,<br />

die Elternschaft ermöglicht und<br />

Gleichstellung fördert.«<br />

■ ■ Rauchfrei: <strong>Die</strong> Einigung der Gesundheitsminister<br />

von Bund und Ländern<br />

auf ein weitgehendes Rauchverbot<br />

in Gaststätten wertete Martina<br />

Bunge, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses<br />

im Bundestag, am 23.<br />

Februar als große Chance. Wichtig, um<br />

schnell zu einem wirksamen Nichtraucherschutz<br />

zu kommen, sei: »<strong>Die</strong> Länder,<br />

die sich jetzt noch Ausnahmeregelungen<br />

vorbehalten, sollten sich bis <strong>zur</strong><br />

abschließenden Entscheidung der Ministerpräsidenten<br />

fragen, ob sie wirklich<br />

aus dem Kompromiss der übrigen<br />

Länder ausscheren wollen. Ausnahmen<br />

vom generellen Rauchverbot, die noch<br />

vorgesehen sind, sollten eng begrenzt<br />

und konkret geregelt werden.«<br />

■ ■ Mikrofon: Der rätselhafte Mikrofonfund<br />

im Bundestagsbüro des <strong>Linkspartei</strong>-Abgeordneten<br />

Wolfgang Neskovic<br />

hat sich laut einem Zeitungsbericht<br />

als Scherz entpuppt. Zwei ehemalige<br />

SPD-Mitarbeiter hätten Bundestagsvizepräsident<br />

Thierse (SPD) gestanden,<br />

2004 in dem Büro aus Jux eine Abhör-<br />

Parodie installiert zu haben. Bis <strong>zur</strong><br />

Bundestagswahl 2005 war der Raum<br />

an die SPD-Fraktion vermietet.<br />

■ ■ Dessauer Erklärung I: <strong>Die</strong> Konferenz<br />

der Fraktionsvorsitzenden verab-<br />

270 DISPUT März 2007<br />

schiedete auf ihrer Tagung am 16. Februar<br />

eine »Dessauer Erklärung«. Sie<br />

würdigt die Arbeit der Berliner Abgeordnetenhausfraktion<br />

und die Resultate<br />

der langjährigen Regierungsbeteiligung<br />

der <strong>Linkspartei</strong>.PDS in Mecklenburg-Vorpommern.<br />

<strong>Die</strong> Erklärung betont,<br />

dass es der <strong>Linkspartei</strong> vor allem<br />

darum gehen müsse, ihr politisches<br />

Engagement auf die zentralen sozialen<br />

Fragen zu konzentrieren.<br />

■ ■ Dessauer Erklärung II: <strong>Die</strong> Erklärung<br />

der Fraktionsvorsitzendenkonferenz<br />

ist auf Widerspruch von Abgeordneten<br />

gestoßen. »Insbesondere teilen<br />

wir nicht die herausgehobene Bedeutung<br />

von Regierungsbeteiligungen<br />

und die Sichtweise auf die rot-rote Koalition<br />

in Berlin als Referenzprojekt linker<br />

Politik. Wir treten in den Landtagen,<br />

im Bundestag und im Europaparlament<br />

entschieden für einen anderen<br />

Kurs ein«, heißt es in der Erklärung. In<br />

der »Dessauer Erklärung« werde das<br />

schlechte Wahlergebnis 2006 völlig<br />

ausgeblendet. Wenn die <strong>Linke</strong> in Regierungsbeteiligung<br />

sich auf diese Weise<br />

immer wieder vermeintlichen Sachzwängen<br />

beuge, verliere sie an Rückhalt<br />

und schwäche gesellschaftlichen<br />

Widerstand.<br />

■ ■ Sozialismus-Unterstützung: In<br />

Berlin trafen sich am 3. und 4. März<br />

mehr als 100 Unterstützer/innen des<br />

Aufrufs »Also träumen wir mit hellwacher<br />

Vernunft: Stell Dir vor, es ist Sozialismus,<br />

und keiner geht weg« (www.forum-ds.de)<br />

zu einem Forum. Das Netzwerk<br />

»Forum demokratischer Sozialismus«<br />

trete dafür ein, erklärte Stefan<br />

Liebich als einer der Initiatoren, dass<br />

der demokratische Sozialismus Grundlage<br />

der Politik der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />

und in der <strong>neuen</strong> Partei mehrheitsfähig<br />

werde. Über die Bildung einer Plattform<br />

wurde kontrovers diskutiert.<br />

■ ■ Bremen-Wahl: <strong>Linkspartei</strong> und<br />

WASG der Hansestadt einigten sich am<br />

3. März auf parallel tagenden Veranstaltungen<br />

auf ein gemeinsames Elf-Punkte-<br />

Wahlprogramm für die Bürgerschaftswahl<br />

am 13. Mai. Zentrale Forderung ist<br />

der Verzicht auf Privatisierungen öffentlicher<br />

Betriebe und Aufgaben. <strong>Die</strong> Privatisierung<br />

der öffentlichen Daseins-<br />

vorsorge zerstöre das soziale Fundament<br />

der Stadt, betonte Klaus-Rainer<br />

Rupp, Landessprecher der <strong>Linkspartei</strong><br />

und deren Spitzenkandidat auf Listenplatz<br />

2.<br />

■ ■ Sachsen-Anhalt-Wahl: Mit ihrem<br />

Landesparteitag am 10. März begann<br />

die <strong>Linkspartei</strong> in Sachsen-Anhalt die<br />

heiße Phase des Wahlkampfes für die<br />

Kommunalwahlen. Am 22. April werden<br />

sich 586 Kandidatinnen und Kandidaten<br />

der <strong>Linkspartei</strong> und 22 der WASG<br />

dem Votum der Wählerinnen und Wähler<br />

stellen. 202 von ihnen sind Frauen,<br />

167 sind parteilos.<br />

■ ■ Mecklenburg-Vorpommern-Koope<br />

ration: Nach einstimmigen Beschlüssen<br />

in beiden Vorständen unterzeichneten<br />

am 3. März die Landesvorstände<br />

von <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />

WASG eine Vereinbarung <strong>zur</strong> Zusammenarbeit.<br />

Der Gründungsparteitag in<br />

Meck lenburg-Vorpommern wird für den<br />

23./24. Juni 2007 einberufen.<br />

■ ■ Brandenburg-Debatte: <strong>Die</strong> ersten<br />

Regionalkonferenzen im Rahmen<br />

des durch die <strong>Linkspartei</strong> initiierten<br />

Dialogs für ein Brandenburg der Regionen<br />

forderten die Landesregierung<br />

auf, die ländlichen Regionen Brandenburgs<br />

nicht aufzugeben. <strong>Die</strong> Vorsitzende<br />

der Landtagsfraktion Kerstin Kaiser<br />

stellte die Schwerpunkte des Leitbild-<br />

Entwurfes der Landtagsfraktion vor. Er<br />

setze auf Teilhabe und Mitgestaltung<br />

durch die Bürgerinnen und Bürger.<br />

■ ■ Thüringen-Diskussion: Für den<br />

31. März lädt die <strong>Linkspartei</strong> Thüringen<br />

zu einer Landesbasiskonferenz in die<br />

Messehalle nach Erfurt ein. Dort soll jedes<br />

Mitglied die Möglichkeit erhalten,<br />

an den Ergebnissen des Bundesparteitages<br />

teilzuhaben und an der weiteren<br />

Diskussion mitzuwirken.<br />

■ ■ Brandenburg-Bürgermeister:<br />

Der Kandidat der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, Fred<br />

Fischer, wurde am 11. Februar zum <strong>neuen</strong><br />

Bürgermeister von Perleberg (Land<br />

Brandenburg) gewählt. Fischer (parteilos)<br />

erhielt bei der Stichwahl 69,4 Prozent<br />

der gültigen Stimmen.<br />

Zusammenstellung: Florian Müller


Du bist gelernte Brauerin und Mälzerin. Wie<br />

kommt eine junge Frau zu einer solchen Berufswahl?<br />

Ich hätte gern Sozialpsychologie studiert.<br />

Aber das Zeugnis war nicht so. Also musste<br />

ich was anderes machen: erst das Abitur,<br />

danach einen Facharbeiter. Und weil meine<br />

Eltern in einer Brauerei beschäftigt waren,<br />

hat sich diese Richtung so ergeben. Mir<br />

hat‘s gefallen, ich bin in der Branche geblieben<br />

und habe später Lebensmitteltechnologie studiert.<br />

Das ist ein Weilchen her. Seit 1. März bist Du berufl ich selbständig<br />

...<br />

(lacht) Für mich ist es noch ein neues Gefühl, das zu sagen.<br />

Ich biete jetzt als »Tagesmutti für Pfl egebedürftige« eine<br />

Rund-um-Betreuung bei Leuten zu Hause an, wenn pfl egende<br />

Angehörige mal eine Entlastung brauchen, in den Urlaub<br />

fahren oder wegen Krankheit ausfallen.<br />

Du hast darin schon Erfahrung?<br />

Ich besuchte einen Lehrgang mit anschließendem Praktikum:<br />

Im Haushalt der Pfl egebedürftigen in Essen habe ich<br />

den gesamten Haushalt, die Terminplanung, die Arztbesuche<br />

gemacht ... Ein 24-Stunden-Job. Auf Grund der demografi<br />

schen Entwicklung und der Pfl egeheimsituation ist das<br />

eine Alternative für später.<br />

Wie gehst an diese Aufgabe heran: als Art Zwischenstation (3)<br />

oder als ernsthafter Neustart?<br />

Wenn ich eine Orientierung gefunden habe, will ich da auch Richter<br />

durch, egal was sich rechts und links noch für Probleme auf-<br />

Stefan<br />

tun. <strong>Die</strong> Arbeit macht Spaß, sie hat unmittelbar mit Men- ©<br />

MITGLIED<br />

DISPUT März 2007 028


schen zu tun. Den ersten bezahlten Auftrag als Selbständige<br />

habe ich ab Mitte März in Frankfurt/Main – die Betreuung<br />

einer demenzkranken Frau. Und wenn ich dort bin, recherchiere<br />

ich, wo ich einen Anschlussauftrag bekomme.<br />

Das ist wie bei Wanderarbeitern ...<br />

Tja, bei den einen fahren die Männer auf Montage und hier<br />

halt die Frau. Reich werden kann man davon nicht. Doch die<br />

Alternative für mich wäre gewesen: noch vier Monate Arbeitslosengeld<br />

und anschließend Hartz IV. Das <strong>Ja</strong>hr, in dem<br />

die Existenzgründerzuschläge laufen, will ich nutzen, um<br />

mich weiterzubilden. Ich kann mir vorstellen, Sterbebegleitung<br />

zu machen oder Krankenhausnachsorge. Das sind sensible<br />

Bereiche.<br />

Welche besondere Fähigkeiten braucht man dort vor allem?<br />

Geduld und dass man ertragen kann, sich beispielsweise –<br />

wie jetzt bei der Demenzkranken – vielleicht viermal am Tage<br />

der Dame vorstellen zu müssen: Ich bin Frau Töpsch, Ihre<br />

neue Pfl egerin ... Man muss ein bisschen Wehleidigkeit hinnehmen<br />

und selber abschalten können.<br />

Wo hast Du das gelernt?<br />

Iris Töpsch, 50, zu Hause in Sangerhausen. Ehrenamtlich im Stadtrat und im Kreistag,<br />

im Kinderschutzbund und in der Hartz-IV-Beratung<br />

Weiß ich nicht. Aber ich kenne das von meiner Mutti – sie<br />

hat sich in ähnlichen Situationen zwei, drei Stunden abgekapselt,<br />

und danach war alles wie weggeblasen. Ich konnte<br />

im Beruf auch schnell abschalten: aus dem Betriebstor raus,<br />

Schalter rum, Angelegenheit erledigt ...<br />

Du hast Emotionen angesprochen – was regt Dich im Alltag<br />

am meisten auf?<br />

Zum Beispiel die bürokratischen Vorgänge bei der Arbeitslosenberatung<br />

– wenn sich keiner bemüht, Spielräume auszuloten<br />

und nach Möglichkeiten der Hilfe zu suchen. Ich hab‘s<br />

neulich wieder erlebt: Nach Ablehnung eines Antrages haben<br />

wir mit unseren Argumenten einen Überprüfungsantrag<br />

gestellt und am nächsten Tag kam die Bewilligung. Aber<br />

erst mal gingen sie auf Dummenfang, nach dem Motto: Vielleicht<br />

lässt sich‘s derjenige ja gefallen ... Solche Sachen regen<br />

mich auf. Oder wenn man eine schon ausdiskutierte Sache<br />

wieder und wieder auf den Punkt bringt und damit die<br />

290 DISPUT März 2007<br />

anderen nervt. Wie bei uns im Stadtrat, wo Fragen, die bereits<br />

entschieden worden sind, immer wieder aufgerufen<br />

werden, nur um einer Person deutlich zu machen, wir wollen<br />

dich nicht.<br />

Meinst Du die eigene Partei?<br />

Nein, Abgeordnete der Bürgerinitiative für Sangerhausen,<br />

die alle Dinge, die schief laufen, dem Oberbürgermeister anlasten<br />

wollen. Der OB ist von uns, <strong>Die</strong>ter Kupfernagel.<br />

Wie hat sich Sangerhausen in den vergangenen anderthalb<br />

<strong>Ja</strong>hrzehnten entwickelt?<br />

<strong>Die</strong> Infrastruktur sehr positiv. In der Innenstadt ist viel saniert<br />

und schön gemacht worden, auch die Achse zum Rosarium,<br />

dem berühmten Rosengarten. In den Wohngebieten<br />

hat sich ebenfalls einiges getan, leider auch eine Menge Abriss.<br />

Das Problem von Sangerhausen ist, dass die Stadt nur<br />

wegen des Bergbaus so groß geworden ist. Viele sind wegen<br />

der Arbeit hierher gezogen, sie haben nicht so die emotionale<br />

Bindung <strong>zur</strong> Stadt.<br />

Es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Der Bergbau ging<br />

völlig den Bach runter, Mifa, die Fahrradfabrik, war so gut<br />

wie auf Null, und die Maschinenfabrik ist total abgerissen.<br />

Helfen,<br />

das ist<br />

mein Bier<br />

<strong>Die</strong> Firmen kommen und gehen, darauf hat Kommunalpolitik<br />

keinen Einfl uss.<br />

Worauf hat Kommunalpolitik Einfl uss?<br />

Auf die Rahmenbedingungen für die Ansiedlung, indem du<br />

Unternehmen durch Wirtschaftsförderung den Weg ebnest,<br />

indem du durch entsprechende Preisverhandlungen verdeutlichst,<br />

dass man jemanden unbedingt in der Stadt haben<br />

will.<br />

Müssen sich <strong>Linke</strong> über solche Dinge mehr Gedanken machen<br />

als über die Sicherung sozialer Leistungen?<br />

Das ist immer eine konkrete Einzelentscheidung. Kindergärten<br />

brauchen wir nur, wenn auch Familien hier sind, und Familien<br />

sind nur hier, wenn sie Arbeit haben. Deshalb Wirtschaftsförderung<br />

– ja, Kindertagesstätten und dergleichen –<br />

auf jeden Fall! Das ist der Zwiespalt der Frage, wie ich Wirtschaft<br />

fördere. Nehmen wir Mifa. <strong>Die</strong> haben ein Grundstück


<strong>zur</strong> Erweiterung spottbillig gekriegt, weil sie mit ihrem Wegzug<br />

gedroht haben. Wir waren dagegen der Meinung, Mifa<br />

ist ein Aktienunternehmen, die machen Dumpinglöhne, die<br />

machen überhaupt kein Sponsoring in der Stadt, die sollen<br />

einen angemessenen Grundstückspreis zahlen. Wir wägen<br />

also ab. Mit der Meinung zu Mifa waren wir im Stadtrat allein<br />

und wurden abgeschmettert.<br />

Vor drei Tagen hast Du im Finanzausschuss als einzige gegen<br />

den Haushaltsplan 2007 gestimmt. Der muss nun überarbeitet<br />

werden. Warum?<br />

Es war die zweite Lesung. Im Vergleich <strong>zur</strong> ersten Lesung ist<br />

eine ganze Reihe verändert worden, insbesondere was Konsolidierungsansätze<br />

für den Haushalt anbelangt. Zahlen haben<br />

sich ruckartig verändert: so von 600.000 auf 2,5 Millionen.<br />

Auf meine Nachfragen erhielt ich keine konkreten Antworten.<br />

Für uns als Stadträte ist der Haushaltsentwurf gegenwärtig<br />

nicht plausibel. Deswegen konnte ich ihm nicht<br />

zustimmen.<br />

Gab‘s aus dem Rathaus eine Reaktion auf Deine entscheidende<br />

Gegenstimme?<br />

Aus dem Rathaus nicht. Ich habe mich am nächsten Morgen<br />

hingesetzt, die Argumente für meine Entscheidung zusammengefasst<br />

und das an Fraktionsmitglieder und an den<br />

Oberbürgermeister gemailt. <strong>Die</strong> Fraktion wird sich zu einer<br />

Sondersitzung treffen.<br />

Hat der OB reagiert?<br />

Nein. Das erwarte ich auch gar nicht; er bekommt am Tage<br />

bestimmt sehr viele Mails, hat seine normale Arbeit und zig<br />

Termine. Da ist es verständlich, dass er nicht unmittelbar reagiert.<br />

Er wird es <strong>zur</strong> Kenntnis nehmen.<br />

Ich denke, er trägt vieles nicht mit, was wir als Argumente<br />

bringen. Er sagt, ich bin in dem Moment nicht Politiker, sondern<br />

der »Geschäftsführer der Stadt«, er sieht alles mehr aus<br />

wirtschaftlicher Sicht, und wir sehen das natürlich aus politischer<br />

Sicht. Er wird bestimmt zu unserer Sondersitzung<br />

kommen und dort auf den einen oder anderen Punkt reagieren.<br />

Wie bereitet sich Eure Fraktion generell auf Entscheidungen<br />

vor?<br />

Im Normalfall bekommen wir am Wochenende die Unterlagen<br />

für die nächste Ratssitzung. Unsere Fraktion geht montags<br />

kurz durch, in welchem Ausschuss was nachzufragen ist<br />

und wo wir Knackpunkte sehen; wir verteilen Aufträge, wer<br />

zu welchem Thema recherchieren muss. Jeder geht dann in<br />

seine Ausschüsse. Am Tag der Ratssitzung werten wir früh<br />

diese Sitzungen aus und bereiten die Ratssitzung vor.<br />

Im Ausschuss entscheidet jeder Stadtrat für sich. Darin<br />

besteht seine Eigenverantwortung.<br />

Gibt es deswegen anschließend manchmal Ärger?<br />

Nein, wir haben ja keinen Fraktionszwang. Allerdings fi nden<br />

das nicht alle gut, sie sagen, wir müssten ein geschlossenes<br />

Bild abgeben.<br />

Ihr habt nicht allein bei den Finanzen sehr komplizierte Fragen<br />

zu entscheiden. Seid Ihr ausreichend qualifi ziert dafür,<br />

ist das überhaupt möglich?<br />

Es gibt genügend Möglichkeiten, sich fachlich zu qualifi zieren.<br />

Ich bin im Kommunalpolitischen Forum aktiv. Manche<br />

machen das, manche schaffen das aus berufl ichen und familiären<br />

Gründen nicht – es ist nun mal ein Ehrenamt zusätzlich<br />

<strong>zur</strong> normalen Arbeit –, und manche machen es aus Bequemlichkeit<br />

nicht.<br />

MITGLIED<br />

Du sprichst von unserer Fraktion?<br />

<strong>Ja</strong>. Da sagen welche offen, ich setze mich hin und entscheide<br />

aus dem Bauch heraus ohne fundiertes Wissen. Oder sie sagen,<br />

das ist mir alles zu hoch und ich gucke deswegen, wie<br />

der oder der entscheidet.<br />

Ist das letztlich auch eine Folge dessen, dass wir zunächst<br />

einmal froh sind über jeden, der bereit ist, für uns zu kandidieren?<br />

<strong>Ja</strong>. Oft ist es auch so, dass die, die über Fachkenntnisse verfügen,<br />

unangenehme Dinge ansprechen, unbequeme Fragen<br />

stellen und deshalb nicht so Liebfreund sind für die breite<br />

Masse und dann bei Entscheidungen unter Umständen das<br />

Nachsehen haben. Ich denke, das ist keine Spezifi k in Sangerhausen.<br />

Wie ist das Verhältnis zum Oberbürgermeister?<br />

Anfangs freuten wir uns: Wir stellen den Bürgermeister und<br />

kommen an Machtwissen heran. Das ist nicht so eingetreten.<br />

Wir gehen zuwenig auf <strong>Die</strong>ter zu und fragen nach. Wir erwarten<br />

von ihm zuviel und tun selber zuwenig, um an die nötigen<br />

Informationen zu gelangen.<br />

Das ist immer eine Gradwanderung. Auf der einen Seite<br />

sagen wir: Mensch, das ist unser <strong>Die</strong>ter, den können wir<br />

doch nicht hängen lassen, wie jetzt mit dem Haushalt: Er<br />

bringt die Vorlage ein – und die Fraktion stimmt dagegen.<br />

Auf der anderen Seite kriegen wir von ihm zuwenig Hintergrundinformationen:<br />

Passt auf Leute, das und das kommt<br />

als Problem, wir müssten darüber reden.<br />

Das klappt beispielsweise bei der CDU viel besser: <strong>Die</strong><br />

fangen jetzt an, für die Gesamtstadt ein Feuerwehrkonzept<br />

zu erarbeiten – nach Hinweisen des Kämmerers, der Stellvertreter<br />

des OB und CDU-Mitglied ist. Außerdem fangen die mit<br />

einem Kinder- und Jugendkonzept für die Gesamtstadt an.<br />

Das sind Dinge, auf die wir auch hätten kommen können.<br />

Wie steht es um das kommunale Eigentum, um seinen möglichen<br />

Verkauf?<br />

Das gab‘s bisher noch nicht. Aber es wird wohl nicht mehr<br />

lange auf sich warten lassen. Zunehmend ins Gespräch gebracht<br />

wird die Ausgliederung von Leistungen, die von der<br />

Kommune erbracht werden: die Reinigung in Kindereinrichtungen,<br />

der Bauhof oder die Bewirtschaftung des Friedhofs.<br />

Wir sind dagegen, denn sparen kann ein Dritter höchstens<br />

bei den Lohnkosten. Wenn die Stadt immer weiter Leistungen<br />

privatisiert, sind wir als Stadträte mitverantwortlich für<br />

Lohndumping.<br />

Ein Grund für meine Ablehnung des Haushaltsplanes war,<br />

dass auf einmal Kosten für die Fremdbewirtschaftung von<br />

Friedhöfen aufgeführt worden sind. Es gibt aber keinen Ratsbeschluss<br />

<strong>zur</strong> Auftragsvergabe an Dritte. Da wurde mir gesagt,<br />

das Verfahren solle jetzt in Gang gebracht werden ...<br />

Wie erfahren die Bürgerinnen und Bürger davon, dass Ihr andere<br />

Positionen vertretet als CDU usw.?<br />

Im Wesentlichen durch Gespräche. Oder durch die Lokalpresse.<br />

Vor <strong>Ja</strong>hren gaben wir nach den Ratssitzungen ein<br />

kleines Infoblatt heraus. Es war aber sehr mühsam, die Infoblätter<br />

an die Leute zu bringen, auch an unsere eigenen<br />

Leute. Wir setzten damit mal aus – und es gab nicht eine einzige<br />

Nachfrage. Wenn‘s keiner will, können wir‘s lassen.<br />

Wie viel Mitglieder hat die <strong>Linkspartei</strong>?<br />

In der Stadt 60, im Kreis etwa 140. Das ist nicht mehr so dolle.<br />

Bei den guten Wahlergebnissen – wir haben die zweitstärkste<br />

Fraktion in der Stadt – spürst du, dass es viele Sympathisanten<br />

geben muss. Aber die outen sich nicht.<br />

DISPUT März 2007 030


… doch dann sagte ich mir, die<br />

Blöße gibst du dir nicht.<br />

Auf welche Veränderungen dank der <strong>Linkspartei</strong> bist Du besonders<br />

stolz?<br />

Zum Beispiel darauf, dass endlich die Bushaltestelle <strong>zur</strong><br />

Lernbehindertenschule verlegt wurde. Und dass die Gebühren<br />

für den Straßenausbau mit unserer Hilfe gesenkt werden<br />

konnten. Du musst sehen: Wir haben im Rat nicht die Mehrheit,<br />

dort gibt es quasi eine große Koalition aus CDU, Bürgerinitiative<br />

und FDP, und die SPD fi ndet so gut wie nicht statt.<br />

Lange haben wir auch für den ARGE-Beirat gekämpft. Er<br />

begleitet im Kreis die Umsetzung von Hartz IV. Wir stellen<br />

Anfragen, geben Arbeitsempfehlungen, nutzen Kritik der Betroffenen.<br />

Der Beirat hat zwar keine Entscheidungsgewalt,<br />

aber die Informationen sind nützlich, um dem einen oder<br />

anderen helfen zu können.<br />

Als Vorsitzende des Sozialausschusses im Kreistag sitze<br />

ich im ARGE-Beirat. Das passt sehr gut mit anderen Verantwortungen<br />

zusammen, wie mit der Beratung von Hartz-IV-<br />

Empfängern bei der Gewerkschaft. Dort fl ießt wiederum das<br />

Thema Familien und Kinder hinein, und da bin ich bei der Tätigkeit<br />

im Kinderschutzbund. Das hört sich mehr an, als es<br />

ist. Ich wirble nicht 24 Stunden am Tag rum.<br />

Wie viele Stunden wirbelst Du denn rum?<br />

Das ist unterschiedlich. An manchen Tagen bin ich wirklich<br />

von 9 bis 16 oder 17 Uhr unterwegs, und an manchen Tagen<br />

ist überhaupt nichts.<br />

Du bist ehrenamtlich sehr aktiv. Muss das in dem Umfang<br />

sein? Gibt es niemanden, der Dir was abnehmen könnte?<br />

Das hat sich nach und nach aufgebaut. Ich arbeitete einige<br />

<strong>Ja</strong>hre als Mitarbeiterin eines Landtagsabgeordneten und bin<br />

auf diese Weise von vielen Seiten <strong>zur</strong> Mitarbeit angespro-<br />

310 DISPUT März 2007<br />

© Stefan Richter<br />

chen worden. Das hat sich so ergeben. Als die Wahlkreisarbeit<br />

zu Ende ging – der Abgeordnete kandidierte nicht wieder<br />

–, war mir die bis dahin geleistete Arbeit zu schade, das<br />

irgendwie ad acta zu legen. Auch jetzt mit meiner Selbständigkeit<br />

schmeiße ich die Aufgaben nicht Knall und Fall hin,<br />

ich werde sehen, was sich so noch weiterführen lässt, und<br />

wenn es nicht mehr geht, muss ich eben Abstriche machen.<br />

Wärst Du nicht gern selbst berufl ich in die Politik gewechselt,<br />

in den Landtag?<br />

Ich kandidierte 2006. Aber es klappte nicht mit einem aussichtsreichen<br />

Platz auf der Landesliste. Ich landete da ganz<br />

hinten.<br />

Warum?<br />

Weiß ich nicht. Ich trat bei den Kampfkandidaturen ab Platz<br />

12 jedes Mal an, kam jedes Mal in die Stichwahl und verlor<br />

jedes Mal.<br />

Wie gehst Du mit solchen Niederlagen um?<br />

14 Tage lang war ich stinksauer und eigentlich soweit, den<br />

ganzen Krempel hinzuschmeißen. Ich war mächtig enttäuscht<br />

und hatte gegenüber allen, die auf Landesebene<br />

irgendwie mit PDS zu tun hatten, einen Groll – auch wenn<br />

ich’s mir nicht anmerken ließ. Im Hinterkopf blieb die Frage:<br />

Warum soll ich mich noch engagieren, wenn ihr mich nicht<br />

wollt? Doch dann sagte ich mir, die Blöße gibst du dir nicht.<br />

Wir wollten ja alle keine vom Landesvorstand vorgegebene<br />

Liste, und wenn man sich <strong>zur</strong> Wahl stellt, muss man auch damit<br />

rechnen, nicht den erhofften Platz zu kriegen.<br />

Was motiviert Dich in den Ehrenämtern?<br />

Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, für andere – und für<br />

mich selber. Es baut ja auch auf, wenn ich spüre, ich kann<br />

jemandem helfen. Das motiviert weiterzumachen.<br />

Zum Beispiel bei der Unterstützung von Hartz-IV-Empfängern.<br />

Sie sitzen auf den Ämtern manchmal wie ein kleines<br />

unglückliches Häufl ein, werden überfahren von Leuten, die<br />

sich tagtäglich damit beschäftigen. Da ist es unter Umständen<br />

schon eine erste Hilfe, mit dabei zu sitzen und zuzuhören<br />

und ihnen hinterher zu erklären, wie es weitergehen<br />

kann.<br />

Am 22. April wird in Sachsen-Anhalt wegen der Kommunalreform<br />

gewählt. Du trittst erneut für den Kreistag an.<br />

<strong>Ja</strong>, im Umland von Sangerhausen. Das bedeutet: Infostände,<br />

Veranstaltungen und Gemeindetouren mit Steckaktion in<br />

Roßla, Berga, Kelbra ... Vor den Einkaufszentren versuchen,<br />

mit den Leuten aus den Dörfern ins Gespräch zu kommen.<br />

Macht Dir das Spaß?<br />

Das kommt auf die Tagesform an. Manchmal habe ich überhaupt<br />

keine Hemmungen, die Leute anzusprechen – es<br />

kommt ja keiner von sich aus, viele laufen extra zu einem anderen<br />

Eingang, um nicht am Stand vorbei zu müssen. Dann<br />

gehe ich übern Parkplatz und versuche es am Auto. Doch es<br />

gibt auch Tage, wo ich denke: Oh Gott, einpacken und weg!<br />

Das ist unterschiedlich. Insgesamt macht‘s schon Spaß.<br />

<strong>Die</strong> Frage kann ich der gelernten Brauerin nicht ersparen:<br />

Trinkst Du gern selbst mal ein Bier?<br />

Aber super. Sehr gern sogar. Entweder ein richtiges Bockbier<br />

oder ein normales Export, ein leichteres Bier, das, was man<br />

früher als Frauenbier bezeichnet hat. Und an heißen Sommertagen<br />

gibt‘s nichts Besseres als ein kühles Hefeweizen.<br />

Gespräch: Stefan Richter


Für Selbstbestimmung und Würde<br />

Gastbeitrag von Dr. Stefan Heinik, Vorstandsmitglied des Allgemeinen<br />

Behindertenverbandes in Deutschland e. V.<br />

Der Allgemeine Behindertenverband in<br />

Deutschland e. V. (ABiD) ist ein Zusammenschluss<br />

behinderter Menschen,<br />

ihrer Angehörigen und Freunde, unabhängig<br />

von der Art der Behinderung.<br />

Er ist parteipolitisch, religiös, ethnisch<br />

und weltanschaulich unabhängig.<br />

Zweck ist die Förderung der Selbstbestimmung<br />

und Hilfe für Menschen mit<br />

Behinderungen sowie die öffentliche<br />

und politische Vertretung für diese Bürger.<br />

Hilfe <strong>zur</strong> Selbsthilfe erfolgt unabhängig<br />

von einer Verbandszugehörigkeit.<br />

Unsere Mitgliedsverbände<br />

sind juristisch<br />

selbständig und souverän<br />

in ihrer Verbandsarbeit.<br />

Im April 1990 trafen<br />

wir uns – Vertre-<br />

terinnen und Vertre-<br />

ter von Selbsthilfegruppen<br />

und Behindertenverbänden<br />

– in Berlin, um den ABiD e. V., damals<br />

noch als Behindertenverband der DDR,<br />

zu gründen. Eine Organisation von behinderten<br />

Menschen, die unabhängig<br />

von parteipolitischen Interessen und<br />

Weltanschauungen Einfl uss auf die Behindertenpolitik<br />

aller Ebenen nehmen,<br />

um Benachteiligungen von behinderten<br />

Menschen, ihren Familien, Angehörigen<br />

und Freunden abzuwenden!<br />

Dabei unterstützt der ABiD alle Selbsthilfegruppen,<br />

Organisationen und Parteien,<br />

die die realen Lebensinteressen<br />

von Menschen mit Behinderungen, ihren<br />

Angehörigen und Freunden vertreten<br />

beziehungsweise sich für solche<br />

gesetzlichen Regelungen einsetzen,<br />

die geeignet sind, die Integration und<br />

Teilhabe von Menschen mit Behinderungen<br />

in und durch die Gesellschaft<br />

zu fördern.<br />

Das ist für unseren Verband der einzig<br />

akzeptable Weg, Chancengleichheit<br />

und reale Teilhabe von Menschen mit<br />

Behinderungen auf allen Ebenen des<br />

gesellschaftlichen Lebens zu fördern<br />

und auch durchzusetzen.<br />

Im ABiD haben sich sechs Landesverbände<br />

mit circa 90 Kreis- und<br />

Stadtorganisationen zusammengeschlossen.<br />

Wichtig war und ist dabei,<br />

das behinderte Bürgerinnen und<br />

Bürger, ihre Angehörigen, Helfer und<br />

Freunde sich in den Orts-, Kreis- und<br />

© privat<br />

BEHINDERTENPOLITIK<br />

Landesverbänden zusammengetan haben,<br />

um die eigenen Interessen zu artikulieren<br />

und wirksam selbst zu vertreten.<br />

Sie tauschen sich zu sozialen Problemen<br />

und Befi ndlichkeiten aus und<br />

suchen nach eigenen Lösungen für die<br />

anstehenden Fragen und Probleme. So<br />

setzen sich die Mitglieder des ABiD in<br />

Mobilitäts- und Fahrdiensten, integrativen<br />

Kindertagesstätten, Frühfördereinrichtungen,<br />

Begegnungszentren sowie<br />

in parlamentarischen Gremien von<br />

der Gemeinde bis<br />

zum Bundestag<br />

für die Interessen<br />

von behinderten<br />

Menschen ein.<br />

Der ABiD beteiligte<br />

und beteiligt<br />

sich aktiv<br />

an den sozialpolitischenDiskussionen,insbesondere<br />

zum Sozialgesetzbuch IX, zum<br />

Schwerbehindertengesetz, zu den Baugesetzen<br />

und Landesbauordnungen,<br />

zum Bundesgleichstellungsgesetz und<br />

aktuell unter anderem an der Diskussion<br />

<strong>zur</strong> Gesundheitsreform. Wir fordern<br />

dort, wo wir durch behindernde<br />

Bedingungen – beispielsweise mangelnde<br />

Barrierefreiheit, mangelnde soziale<br />

Unterstützung des Staates <strong>zur</strong> Beschäftigung<br />

Schwerbehinderter im ersten<br />

Arbeitsmarkt – bei unserer Teilhabe<br />

am Leben der Gesellschaft benachteiligt<br />

werden, entsprechende Veränderungen<br />

und deutlich mehr Förderung.<br />

Wir fordern die Modernisierung der<br />

Nachteilsausgleiche zum Beispiel bei<br />

Steuern und bei der Kraftfahrzeughilfe.<br />

Zur Herstellung von Chancengleichheit<br />

brauchen wir differenzierte, konkrete<br />

und ausfi nanzierte gesetzliche Vorgaben<br />

und Aktionsprogramme vor allem<br />

<strong>zur</strong> Beschäftigung schwerbehinderter<br />

Menschen im ersten Arbeitsmarkt und<br />

zu mehr Barrierefreiheit auf allen Ebenen.<br />

Hier muss vom Staat in Zukunft<br />

deutlich mehr materielle Unterstützung<br />

erfolgen.<br />

Der ABiD unterbreitete zu diesem<br />

Zweck ein Nachteilsausgleichgesetz<br />

(NAGAS), für das wir uns mehr Aufmerksamkeit<br />

als bisher wünschen.<br />

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die<br />

Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.<br />

So ist der ABiD Gründungs-<br />

mitglied des seit Dezember 1999 existierenden<br />

Behindertenbeirates (DBR).<br />

Der DBR vertritt etwa sechs Millionen<br />

behinderte Menschen in Deutschland<br />

und repräsentiert rund 80 Organisationen.<br />

<strong>Die</strong> demokratische Willensbildung<br />

auf dieser Ebene führt zu<br />

einem genaueren und differenzierteren<br />

Selbstverständnis der eigenen Interessen<br />

gegenüber der Gesellschaft. <strong>Die</strong><br />

Wege der Umsetzung werden konkreter,<br />

klarer und effektiver.<br />

Wir sind Mitglied im Deutschen Paritätischen<br />

Wohlfahrtsverband e. V., in<br />

der »Nationalen Koordinierungsstelle<br />

Tourismus für Alle« e. V. und im Deutschen<br />

Verein für öffentliche und private<br />

Fürsorge, Very Special Arts.<br />

Allgemeiner Behindertenverband<br />

in Deutschland e. V.<br />

■ ■ Bundesverband<br />

Georgenstraße 35, 10117 Berlin<br />

Telefon/Fax (030) 27 59 34 30<br />

abid.bv@t-online.de<br />

www.abid-ev.de<br />

■ ■ Landesverbände<br />

Berlin<br />

Jägerstraße 63 d, 10117 Berlin<br />

Telefon (030) 20 43 847<br />

bbvev.b@berlin.de<br />

Brandenburg<br />

Hegelallee 8, 14467 Potsdam<br />

Telefon (0331) 280 38 10<br />

abb-lv.org@t-online.de<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

Am Blumenborn 23<br />

17033 Neubrandenburg<br />

Telefon/Fax (0395) 369 86 55<br />

ABiM-V@t-online.de<br />

Sachsen<br />

Scheffelstr. 3, 09496 Marienberg<br />

Telefon/Fax (03735) 226 08<br />

marienberg@abidsachsen.de<br />

Sachsen Anhalt<br />

Moskauer Straße 23<br />

39218 Schönebeck<br />

Telefon (03928) 72 86 72<br />

ABiSALV@aol.com<br />

Thüringen<br />

über: Landesverband für<br />

Menschen mit Behinderungen<br />

in Thüringen e. V.<br />

Dr. Karl Schran<br />

Scheffelstr. 5B, 98693 Ilmenau<br />

Telefon (03677) 67 12 83<br />

karl.schran@tu-ilmenau.de<br />

DISPUT März 2007 032


Eine soziale Neuerfi ndung<br />

Über Seniorengenossenschaften als ein nachhaltiges Lebensmodell und über<br />

Beispiele in <strong>Ja</strong>pan Von Norbert Schneider<br />

Es ist sehr ungewiss, wie die immer<br />

mehr älteren Menschen – bei gleichzeitig<br />

abnehmender Zahl jüngerer<br />

Menschen – gute Lebensbedingungen<br />

im Alter haben können. Der weiter um<br />

sich greifende Egoismus, das Zerbrechen<br />

von sozialen Beziehungen in den<br />

Kommunen und die Anonymisierung<br />

des Gemeinwesens durch die Vergeldlichung<br />

der menschlichen Beziehungen<br />

stellen unsere Gesellschaft vor neue<br />

Herausforderungen.<br />

Vor noch nicht allzu langer Zeit gab<br />

es die Großfamilie, in der solidarisch<br />

generationsübergreifend gelebt wurde.<br />

<strong>Die</strong>ses System existiert praktisch nicht<br />

mehr, die Vereinzelung schreitet voran,<br />

der Individualismus bestimmt den Zeitgeist,<br />

ist aber ein Rückschritt für die Gesellschaft.<br />

Dabei haben solidarische Systeme<br />

im Sozialen schon immer besser funktioniert<br />

als Systeme, die auf Wettbewerb<br />

beruhen. Wie könnte ein System aussehen,<br />

das heute dem Zeitgeist standzuhalten<br />

vermag, das neue soziale Beziehungen<br />

in der Kommune generationsübergreifend<br />

wiederherstellen<br />

kann und damit das soziale Gemeinwesen<br />

praktisch neu erfi ndet?<br />

Seniorengenossenschaften praktizieren<br />

eine ursprüngliche soziale Form<br />

der gegenseitigen Unterstützung, die<br />

zudem die Forderung nach einer aktiven<br />

Bürgergesellschaft mit mehr<br />

Selbstbestimmung und Selbstorganisation<br />

umsetzt. <strong>Die</strong> Basis dafür bilden<br />

langfristige Reziprozität, soziales Vertrauen<br />

und zwischenmenschliche, gabeorientierte<br />

Kooperation innerhalb<br />

des Gemeinwesens.<br />

Man stelle sich vor: In einer Stadt<br />

wie Erfurt wären mehr als 7.000 Einwohner<br />

Mitglied in einer Seniorengenossenschaft.<br />

Sie nutzen ihre Fähigkeiten<br />

für Nachbarschaftshilfe, Jugend-<br />

und Altenarbeit und für die Stadtentwicklung.<br />

Man stelle sich weiterhin<br />

vor: Sie alle würden für ihre Arbeit in<br />

der Seniorengenossenschaft den gleichen<br />

Lohn erhalten; jede Arbeitsstunde<br />

wird mit zwei Punkten verrechnet.<br />

Eine Utopie? Für Erfurt schon. Nicht<br />

jedoch für das hessische <strong>Die</strong>tzenbach<br />

mit 33.000 Einwohnern. Dort haben<br />

sich ca. 1.500 Bewohner in der Seniorenhilfe<br />

<strong>Die</strong>tzenbach (SHD) zusammengeschlossen.<br />

Jung und Alt bringen ihre<br />

330 DISPUT März 2007<br />

Ideen und Fähigkeiten ein, um die Alten<br />

vom Abstellgleis zu führen und den<br />

Jugendlichen den Start ins Leben zu erleichtern.<br />

<strong>Die</strong> Seniorenhilfe übernimmt Einkaufsdienste<br />

und kleinere Reparaturen<br />

sowie Begleitdienste zum Arzt oder zu<br />

Behörden. Der SHD veranstaltet Vorträge<br />

und Spielenachmittage und bietet in<br />

Grundschulklassen Lesehilfen an. Und<br />

weil die <strong>Die</strong>tzenbacher mit der Zeit gehen,<br />

eröffneten sie im <strong>Ja</strong>nuar 2000 ein<br />

Internet-Café.<br />

1994 wurde die Seniorengenossenschaft<br />

gegründet. Sie kommt heute ohne<br />

ständige Zuschüsse aus. Es gab lediglich<br />

eine bescheidene Anschubfinanzierung<br />

durch den Kreis Offenbach<br />

und eine geringe Starthilfe von<br />

der Stadt.<br />

Der rasche Erfolg beruhte auf einem<br />

einfachen Prinzip: <strong>Die</strong> Mitglieder stellen<br />

ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft<br />

<strong>zur</strong> Verfügung und erhalten dafür Zeitgutschriften,<br />

die auf einem Konto verbucht<br />

werden. <strong>Die</strong>se Zeitgutschriften,<br />

hier Punkte genannt, können gegen<br />

andere Leistungen eingetauscht werden<br />

oder in späteren <strong>Ja</strong>hren, bei eigener<br />

Pfl egebedürftigkeit, wie eine Zusatzrente<br />

abgerufen werden.<br />

Rund 200 Aktive gibt es in der SHD.<br />

Ein Dutzend von ihnen organisiert beispielsweise<br />

den Bürodienst. In den<br />

vergangenen drei <strong>Ja</strong>hren wurden rund<br />

40.000 Punkte notiert – als Äquivalent<br />

für 20.000 Arbeitsstunden. <strong>Die</strong> SHD hat<br />

auch eine Lösung für die Mitglieder gefunden,<br />

die sich durch Krankheit oder<br />

wegen hohen Alters keine Punkteguthaben<br />

erarbeiten konnten: Wollen sie<br />

Hilfe in Anspruch nehmen, zahlen sie<br />

eine geringe Verwaltungsgebühr.<br />

<strong>Die</strong> Seniorenhilfe ist kein Verein bzw.<br />

Genossenschaft im üblichen Sinne. Sie<br />

hat sich in <strong>Die</strong>tzenbach zu einem zuverlässigen<br />

Partner für die Stadt, die Wohlfahrtsverbände<br />

und Kirchen, für die<br />

Wirtschaftsverbände, Schulen und für<br />

den Ausländerbeirat entwickelt.<br />

<strong>Die</strong> Pfl ege- und sozialen Hilfsdienste<br />

empfi nden die SHD nicht als Konkurrenz,<br />

sondern als Ergänzung. Denn die<br />

Einführung der Pfl egeversicherung hat<br />

die Hilfsdienste in ihren Leistungen eingeschränkt:<br />

Für eine umfassende soziale<br />

Betreuung der alten Menschen, ja<br />

oft auch nur für ein Gespräch, wie sie<br />

die Seniorenhilfe leistet, ist selten Zeit.<br />

Seniorengenossenschaften könnten<br />

auch in Thüringen zu einem wichtigen<br />

Pfeiler der sozialen Stadtentwicklung<br />

werden.<br />

Am weitesten verbreitet sind solche<br />

Systeme derzeit in Fernost. In <strong>Ja</strong>pan vergrößert<br />

sich der Anteil alter Menschen<br />

an der Bevölkerung rasant. Als Reaktion<br />

darauf haben die <strong>Ja</strong>paner eine Art<br />

Pfl egewährung eingeführt. <strong>Die</strong> Pfl egewährung<br />

heißt »Hureai Kippu« (»Pfl ege-<br />

Beziehungs-Ticket«). Bei diesem System<br />

werden die Stunden, die ein Freiwilliger<br />

bei der Pfl ege oder Unterstützung<br />

alter oder behinderter Menschen<br />

verbringt, auf einem Sparkonto geführt.<br />

Der einzige Unterschied besteht darin,<br />

dass die Rechnungseinheit nicht Yen<br />

sind, sondern Stunden. Mit dem Guthaben<br />

des Zeitkontos kann man die<br />

normale Krankenversicherung ergänzen.<br />

Im Folgenden kurz einige Merkmale<br />

des dortigen Systems:<br />

■ ■ Verschiedene Aufgaben werden<br />

verschieden bewertet. So wird für Arbeiten<br />

im Haushalt und fürs Einkaufen<br />

weniger angerechnet als beispielsweise<br />

für Körperpfl ege.<br />

■ ■ Das Guthaben in der Pfl egewährung<br />

können Freiwillige für sich selbst<br />

oder für jemanden innerhalb und außerhalb<br />

der Familie verwenden.<br />

■ ■ Besonders erfreulich: Auch die alten<br />

Menschen bevorzugen diese Form<br />

der Pfl ege, da die Qualität der Leistungen<br />

höher ist als bei den in Yen bezahlten<br />

Pfl egerinnen und Pfl egern.<br />

■ ■ <strong>Die</strong> <strong>Ja</strong>paner berichten zudem über<br />

einen deutlichen Anstieg der freiwilligen<br />

Leistungen, und das auch bei Helfern,<br />

die gar keine eigenen Zeitkonten<br />

eröffnen wollen. Der Grund könnte sein,<br />

dass durch dieses System alle Freiwilligen<br />

das Gefühl haben, ihre Leistungen<br />

würden mehr anerkannt.<br />

Ungefähr 350 Pfl egedienste arbeiten<br />

nach dem Prinzip der Zeitkonten.<br />

Insgesamt betrachtet erweist sich die<br />

japanische Pfl egewährung kostengünstiger<br />

und persönlicher als das im Westen<br />

übliche System.<br />

Norbert Schneider ist ehrenamtlich<br />

Stadtrat in Saalfeld und arbeitet im<br />

Arbeitskreis Lokale Ökonomie<br />

bei der Thüringer Rosa-Luxemburg-<br />

Stiftung mit<br />

SOZIAL


Kuba tauscht die Lampen aus<br />

Mehr Energie, mehr Bücher, mehr Farbe<br />

Von Gert Gampe<br />

Mehr Energie. Es gibt sie. Mit der »revolución<br />

enérgetica« wurden 2005 tiefgreifende<br />

Veränderungen im gesamten<br />

Stromnetz der Insel eingeleitet. Landesweite<br />

Stromausfälle und die folgenschwere<br />

Abschaltung Dutzender<br />

Fabriken gehören der Vergangenheit<br />

an. Es wurde investiert in die Modernisierung<br />

der überalterten Elektrizitätswerke,<br />

und mehr als 250 importierte<br />

<strong>Die</strong>selaggregate, angeschlossen<br />

an das nationale Netz, garantieren fast<br />

fünfzig Prozent des täglichen Strombedarfs.<br />

Zusätzlich bereitgestellt wurden<br />

Notfallgeneratoren mit einer Leistung<br />

von mehr als 300 Megawatt für Krankenhäuser,<br />

Polikliniken, Feuerwachen,<br />

Bäckereien, Sendeanstalten und ausgewählte<br />

Betriebe.<br />

»Schaltet die Lampen aus, stellt den<br />

Ventilator ab, lasst den Fernseher nicht<br />

eingeschaltet«, appellierte Fidel Castro<br />

in seiner berühmten Rede am 17. November<br />

2005 in der Universität Havanna<br />

an die Bevölkerung. Hunderttausende<br />

Glühlampen wurden ausgewechselt<br />

(Hat nicht gerade ein deutscher Minister<br />

über »Glühbirnen« einen Brief geschrieben?),<br />

man trennte sich von energiefressenden<br />

amerikanischen Kühlschränken<br />

aus den 50ern, eine Million<br />

Fernseher (mit einer Leistung von 50<br />

Watt) wurden auf der Insel preiswert<br />

verkauft. Der Strompreis bis 100 Kilowattstunden<br />

blieb unverändert. Darü-<br />

BESUCH<br />

ber wurden die Preise bis zu 1.400 Prozent<br />

erhöht, was die Bevölkerung zum<br />

Wechsel auf neue Geräte und zu einem<br />

höheren Verbraucherbewusstsein führen<br />

soll. Noch gehen 15 Prozent der produzierten<br />

Energie im Verteilungssystem<br />

wegen Überlastungen von Transforma-<br />

Tüfteln und lesen – Alltag auf Kuba.<br />

<strong>Die</strong> 16. Internationale Buchmesse im<br />

Februar hatte 800.000 Besucher.<br />

Viel Farbe brachten die »Wandmaler« in<br />

den Arbeiterbezirk Havanna-Lawton.<br />

DISPUT März 2007 034


35 0 DISPUT März 2007<br />

toren und wegen ungeeigneter Kabelstärken<br />

verloren; schleierhaft ist mir<br />

die »Funktionstüchtigkeit« der Stromzähler<br />

an den Häusern. Sparen bleibt<br />

das Schlüsselwort der Energie-Revolution.<br />

Erfolgreich bekämpft wurde auch eine<br />

Art von Tankstellenmafi a. <strong>Die</strong> Kontrollen<br />

über die knapp 800 Tankstellen<br />

im Land wurden verstärkt. Gleichzeitig<br />

setzt die kubanische Regierung auf erneuerbare<br />

Energien wie Biogas, Windkraft<br />

und Solarenergie.<br />

Das ist die Entwicklung, aber die<br />

Wirklichkeit zeigt noch Mängel. Es ist<br />

klar, dass eine Aufhebung des Wirtschaftsboykotts<br />

viele sinnvolle Kooperationen<br />

ermöglichen und die Lage<br />

schneller verändern würde. Aber die<br />

Kubaner sind Erfi nder und Bastler, wie<br />

der mobile Fuhrpark amerikanischer<br />

Straßenkreuzer in Havanna täglich geruchsintensiv<br />

unter Beweis stellt.<br />

Zur Eröffnung des Festivals des Neuen<br />

Lateinamerikanischen Films lief ein<br />

Dokumentarfi lm (la cuchufl eta) über


die Elektrifizierungsbemühungen in<br />

einem vergessenen Dorf in der Sierra<br />

Maestra. <strong>Die</strong> Energie-Revolution ist<br />

im Tal davor stehen geblieben, doch<br />

die Dorfbewohner, meist jüngere Familien,<br />

wollen fernsehen und Radio hören.<br />

Und so stauen sie Wasser an, leiten es<br />

auf kleine selbstgebaute Wasserräder<br />

in Verbindung mit Lichtmaschinen und<br />

führen den Strom in ihre Hütten, das<br />

Fernsehbild fl ackert, der Ton schwankt.<br />

Sie sind zufrieden und lachen in die Kamera.<br />

Das hauptstädtische Premierenpublikum<br />

ist begeistert und lacht besonders,<br />

als ein Dorfbewohner erklärt,<br />

hoffentlich werde ihre »Privatinitiative«<br />

nicht verboten.<br />

Auf der 16. Internationalen Buchmesse<br />

in Havanna (vom 8. bis 18. Februar<br />

2007) ging nur einmal ganz kurz<br />

das Licht aus. Ein schwerer Sturm fegte<br />

über die alte Festung La Cabana, den<br />

Messeort; Elektroleitungen rissen, und<br />

Bücherstände kippten um. Das konnte<br />

jedoch das größte Kulturereignis Kubas<br />

nicht stören. Mehr als 800.000 Menschen,<br />

meist Jugendliche und junge Familien,<br />

kamen, um sich für einen Gesamtumsatz<br />

von ca. acht Millionen Pesos<br />

mit Büchern zu versorgen, Konzerte<br />

zu erleben und soviel Kulinarisches zu<br />

konsumieren, wie nie zuvor. Sagte jedenfalls<br />

Kulturminister Abel Prieto.<br />

Im Schnitt kosteten die Bücher fünf<br />

Peso (25 Pesos entsprechen einem<br />

Euro). Der Renner, für den sich die<br />

Kuba ner schon mal stundenlang anstellten<br />

und 20 Pesos hinlegten, war<br />

das biographische Interview »100<br />

Stunden mit Fidel« (Cien Horas con Fidel)<br />

als Serie auf Zeitungspapier oder<br />

gebunden. <strong>Die</strong> ausgedehnte Unterhaltung<br />

mit dem hispo französischen Intellektuellen<br />

Ignacio Ramonet (Le Monde<br />

Diplomatique) gilt als Zeugnis eines Lebens<br />

und einer Epoche. Bei der Vorstellung<br />

der dritten überarbeiteten Ausgabe<br />

sagte Ramonet: »<strong>Die</strong>ses Buch ist<br />

unerlässlich für die <strong>neuen</strong> Generationen.<br />

Es ist auch eine Waffe im ideologischen<br />

Terrain, und es bricht die Belagerung<br />

auf, die das Imperium um Fidel<br />

und Cuba gelegt hat.«<br />

Das Buch ist spannend, kritisch, offen<br />

und hat wohl schon einen deutschen<br />

Verleger gefunden. Fidel Castro<br />

spricht alle Themen an. Zum Beispiel<br />

sagt Castro <strong>zur</strong> Situation der schwarzen<br />

Bevölkerung in Kuba, zu Formen<br />

der Diskriminierung: »<strong>Die</strong> Revolution<br />

hat es nicht geschafft, jenseits der für<br />

alle Staatsbürger unabhängig von Ursprung<br />

oder Ethnie erreichten Rechte<br />

und Garantien, den gleichen Erfolg<br />

im Kampf um die Ausrottung der Unterschiede<br />

im sozialen und ökonomischen<br />

Status der schwarzen Bevöl-<br />

BESUCH<br />

kerung zu erreichen … Wenn du in die<br />

Gefängnisse gehst, entdeckst du viele,<br />

die aus den ausgegrenzten Vierteln<br />

kommen, die Kinder von jenen, deren<br />

Familien in den vergessenen Vierteln<br />

leben … Du erschrickst, wenn du analysierst,<br />

wie viele Jugendliche zwischen<br />

20 und 30 <strong>Ja</strong>hren – und wir sind immer<br />

noch am untersuchen – in den Gefängnissen<br />

sind …«<br />

Zurück <strong>zur</strong> Buchmesse. Argentinien<br />

war diesmal das Gastland mit einer bemerkenswerten<br />

Buchpräsentation, mit<br />

Musikern, Kunst- und Fotoausstellungen.<br />

Das Berliner Büro Buchmesse Havanna<br />

war mit 55 deutschen Verlagen<br />

vertreten und konnte vom Veranstalter<br />

einen »Ehrenpreis als bester ausländischer<br />

Aussteller« entgegennehmen.<br />

Mit dem offi ziellen Boykott der Bundesregierung<br />

2004 war dieses solidarische<br />

Projekt notwendig geworden und auch<br />

über die <strong>Ja</strong>hre erfolgreich. Ärgerlich für<br />

die Kalten Krieger im Auswärtigen Amt.<br />

Sie haben nun ihre Strategie geändert<br />

und in diesem <strong>Ja</strong>hr mit Bundesmitteln<br />

einen Auftritt der Frankfurter Buchmesse<br />

fi nanziert und so ein Comeback eingeleitet.<br />

<strong>Die</strong> Solidarität mit Kuba ist aber keine<br />

Spekulationsware, und so werden<br />

Cuba Sí und Partner diese Herausforderung<br />

gelassen annehmen. <strong>Die</strong> Internationale<br />

Buchmesse versteht sich gerade<br />

als kulturelle Brücke zwischen Lateinamerika,<br />

der Karibik und Europa.<br />

Freundschaftliche Begegnungen unterschiedlicher<br />

Kulturen, respektvoller<br />

Umgang und der Austausch von Ideen<br />

stehen im Vordergrund. Gegen neoliberale<br />

Konfrontationspolitik und gegen<br />

jede »weiche Variante«, die dem kubanischen<br />

Volk schadet, werden Cuba Sí<br />

und Partner Widerstand leisten.<br />

Bekannt ist die gute Zusammenarbeit<br />

von Venezuela und Kuba auf wirtschaftlichem<br />

und sozialem Gebiet. Erst<br />

kürzlich wurden 16 Kooperationsverträge<br />

in Caracas in den Bereichen Landwirtschaft,<br />

Stahl und Telekommunikation<br />

im Gesamtwert von fast zwei Milliarden<br />

Dollar unterzeichnet. Innerhalb<br />

von 18 Monaten soll ein 1.550 Kilometer<br />

langes Unterwasser-Glasfaserkabel<br />

die Unabhängigkeit auf diesem Gebiet<br />

vom Wirtschaftsembargo der USA ermöglichen.<br />

Das erste große kulturelle Projekt,<br />

der Kulturfonds der »Bolivarischen Alternative<br />

für Amerika« (ALBA), wurde<br />

auf der Buchmesse von Farruco Sesto<br />

und Abel Prieto, den Kulturministern<br />

beider Länder, präsentiert. Auch hier<br />

geht es um Alternativen <strong>zur</strong> neoliberalen<br />

Freihandelspolitik der USA, um<br />

eigene Vertriebswege und politische<br />

Emanzipation. Eine erste Buchedition<br />

wurde vorgelegt.<br />

Ganz im Sinne von dem erfolgreichen<br />

Projekt des »Fernsehsenders<br />

des Südens«, Telesur. <strong>Die</strong>ser Sender ist<br />

eine Alternative zu den großen privaten<br />

Medienkonzernen und wird getragen<br />

von Venezuela, Argentinien, Uruguay,<br />

Bolivien sowie Kuba. »<strong>Die</strong> fünf Regierungen<br />

setzen auf einen anderen Ansatz<br />

der Kommunikation. Sie betrachten<br />

dabei ihre Bevölkerung als Protagonisten<br />

der Fernsehlandschaft, die<br />

durch Macht der Öffentlichkeit und Demokratie<br />

direkt Einfl uss auf einen anderen<br />

Typ von Fernsehen nehmen können«,<br />

sagt Pascual Serrano, einer der<br />

Macher des Senders. Mit viel Energie<br />

sollte dieses interessante Modell innerhalb<br />

der europäischen <strong>Linke</strong>n debattiert<br />

werden, um auch für Europa alternative<br />

Kommunikationsmodelle zu<br />

entwickeln.<br />

Energie und viel Farbe haben die<br />

»Wandmaler« von Havanna-Lawton gebraucht.<br />

In diesem Arbeiter-Stadtbezirk,<br />

den die Touristenführer nicht ausweisen,<br />

haben sich seit 2001 Künstler<br />

und Bewohner in das Projekt Muraleando<br />

begeben, um das Wohnumfeld zu<br />

verschönern und Kultur im Kiez, von<br />

HipHop bis <strong>zur</strong> Bildhauerei, zu verankern.<br />

Nicht jeder Hauseigentümer wollte<br />

sich der Freiheit der Kunst ausliefern,<br />

aber heute werden viele Gebäude<br />

durch »Wandbilder« auch internationaler<br />

junger Künstler geschmückt, die hier<br />

ehrenamtlich gearbeitet haben. Ein<br />

Haus wurde von Victor Hernández und<br />

von deutschen und französischen Graffi<br />

ti-Aktivisten verschönert. Muraleando<br />

arbeitet ohne fi nanzielle Unterstützung<br />

durch staatliche Stellen, ist auf Spenden<br />

angewiesen und sucht die internationale<br />

Zusammenarbeit. Aktuell gestalten<br />

sie eine Website, die Cuba Sí<br />

auf seiner Seite verlinken würde.<br />

Ich fahre mit dem Taxi wieder in die<br />

touristische Altstadt. Gerne schalten<br />

die Taxifahrer ihre Uhren ab und verdienen<br />

an einem Abend soviel wie andere<br />

Berufsgruppen in einem Monat. Dann<br />

denke ich an die Debatte über die »drei<br />

Schutzmechanismen«, die die Revolution<br />

retten können (siehe: Kuba – nach<br />

Fidel, von Castro, Roque, <strong>Die</strong>terich, erschienen<br />

im Kai Homilius Verlag), über<br />

Ethik und Konsum oder die verheerende<br />

Wirkung von zwei Währungen in<br />

einem Land.<br />

Beim Rückflug fällt mir eine Zahl<br />

in der Granma Internacional ins Auge:<br />

5,3 Prozent – die niedrigste Säuglingssterblichkeit<br />

in der Geschichte des<br />

Landes. In Amerika weist nur Kanada<br />

einen besseren Wert auf. Ich schlafe<br />

ein und träume ...<br />

DISPUT März 2007 036


Strenge Eigentümer<br />

Noch einmal zu einer »alltäglichen« Problematik: Privatisierung oder Erhaltung und<br />

Nutzung von kommunalem Eigentum? Von Hans-Georg Trost<br />

<strong>Die</strong> Eigentumsfrage ist seit über einem<br />

<strong>Ja</strong>hrhundert für die <strong>Linke</strong> eine – wenn<br />

nicht die entscheidende – politische<br />

Frage, um die gesellschaftliche Entwicklung<br />

zu beeinfl ussen bzw. zu gestalten.<br />

Sie spielt auch seit Entstehen<br />

der PDS stets eine zentrale Rolle.<br />

<strong>Die</strong> programmatischen Debatten<br />

brachten neue Einsichten, Beiträge <strong>zur</strong><br />

Eigentumstheorie, die zum großen Teil<br />

in dem derzeit geltenden Programm<br />

bzw. dem Entwurf der »Programmatischen<br />

Eckpunkte« für die Parteineubildung<br />

enthalten sind. Hier soll auf einige<br />

für die praktische politische Arbeit<br />

wichtige Gedanken und Schlussfolgerungen<br />

verwiesen werden.<br />

Heute ist nicht mehr »nur« vom Eigentum<br />

an Produktionsmitteln die Rede.<br />

Eigentum wird vor allem als eine<br />

Frage der realen Verfügung über wirtschaftliche<br />

Machtressourcen angesehen.<br />

<strong>Die</strong> für die Praxis nicht zu unterschätzende<br />

Frage nach der Rechtsform<br />

wird weiter betont. Bedeutender ist<br />

aber die Hervorhebung der wirtschaftlichen<br />

Macht- und Herrschaftsverhältnisse<br />

als eigentlicher Inhalt des Eigentums,<br />

was den Marx‘schen Gedanken<br />

vom Eigentum als einer Beziehung<br />

zwischen Menschen (und nicht zu Dingen!)<br />

als Kern der Produktionsverhältnisse<br />

entspricht und ihn nachdrücklich<br />

unterstreicht.<br />

Wenn nicht mehr »nur« vom Eigentum<br />

an den Produktionsmitteln die Rede<br />

ist, so ist der Gegenstand, das Objekt<br />

des Eigentums ausgeweitet: zum<br />

Beispiel um entscheidende Lebens-<br />

und Existenzbedingungen der Menschen<br />

wie Wohnungen, Krankenhäuser,<br />

Schulen, soziale Einrichtungen,<br />

Verkehrsbetriebe, Versorgungseinrichtungen,<br />

Stadtwerke und Ähnliches. Sie<br />

beeinfl ussen enorm die Lebensweise<br />

der Menschen und befi nden sich derzeit<br />

zu einem großen Teil noch in kommunalem<br />

Eigentum.<br />

Auch außerhalb der Kommunen<br />

hat der Eigentumsbegriff neue Gegenstände<br />

über den klassischen Begriff<br />

der Produktionsmittel hinaus erfasst:<br />

Wenn Karl Marx im »Kapital« Maschinerie<br />

und große Industrie als Produktivkrafttyp<br />

des damaligen Manchesterkapitalismus<br />

beschrieb, so beruht der<br />

heutige Kapitalismus auf Kommunikations-<br />

und Informationstechnologien.<br />

370 DISPUT März 2007<br />

Nicht mehr allein Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände<br />

im klassischen (alten)<br />

Sinne, sondern auch Wissen, Information,<br />

Patente, Lizenzen, Geschäftskonzepte<br />

und andere Projekte werden<br />

Gegenstände/Objekte von Eigentum.<br />

In der Programmatik der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

wird betont, dass die verschiedenen<br />

Eigentumsformen nach dem<br />

Prinzip gleichberechtigt in dem Maße<br />

gefördert werden sollten, wie sie die<br />

Lebensgrundlagen der Menschen sichern/ermöglichen.<br />

Innerhalb dieses<br />

Rahmens der Gleichberechtigung wird<br />

aber das öffentliche Eigentum grundsätzlich<br />

favorisiert. Das erfordert in der<br />

Praxis die Bewahrung, Verteidigung<br />

und die Mehrung des öffentlichen Eigentums,<br />

zu dem das kommunale Eigentum<br />

gehört. Verteidigung schließt<br />

grundsätzlich seinen Schutz gegen Verkauf<br />

in private Hand, Abriss oder sonstige<br />

Formen seiner Negation/Vernichtung<br />

ein. Bei der nicht zu unterschätzenden<br />

Bedeutung von kurzfristigen<br />

Sanierungen kommunaler Haushalte<br />

muss aber stets berücksichtigt werden,<br />

dass Privatisierung ein einmaliger Prozess<br />

mit einem einmaligen Effekt ist,<br />

dass aber dabei für eine lange währende<br />

Zukunft wirtschaftliche Macht permanent<br />

aus der Hand gegeben wird.<br />

Ein langer, strittiger Weg<br />

In der Programmatik der <strong>Linkspartei</strong>.<br />

PDS und in vielen praktischen Politikansätzen<br />

wird immer wieder die dem<br />

Grundgesetz entsprechende Sozialpfl<br />

ichtigkeit jeglichen Eigentums eingefordert.<br />

Sie schrittweise zu realisieren,<br />

ist beispielsweise Anliegen der Steuerund<br />

Abgabenkonzepte der <strong>Linke</strong>n (Vorschläge<br />

zu Vermögensteuer, Unternehmenssteuer,<br />

Besteuerung von Börseneinkommen<br />

...), den Forderungen nach<br />

echter Wirtschaftsdemokratie ... All das<br />

kann, wenn tatsächlich realisiert, die<br />

heutige Profi tdominanz des Eigentums<br />

zunächst einschränken und sie allmählich<br />

– das ist ein langer und strittiger<br />

Weg – in eine Sozialdominanz umwandeln.<br />

Das ist zugleich Umsetzung von<br />

Elementen des »strategischen Dreiecks«,<br />

womit auch Keime, Elemente<br />

des demokratischen Sozialismus in der<br />

heutigen kapitalistischen Gesellschaft<br />

entstehen können.<br />

Der von uns oft zitierte Artikel 14 aus<br />

dem Grundgesetz, wonach Eigentum<br />

verpflichtet und sein Gebrauch dem<br />

Wohle der Allgemeinheit dienen soll,<br />

muss auch auf das kommunale Eigentum<br />

bezogen werden.<br />

Das Erheben und das Durchsetzen<br />

allgemeiner Forderungen nach der Erhaltung<br />

kommunalen Eigentums und<br />

seinem Schutz vor seiner Privatisierung<br />

durch neoliberale Politik sind richtig<br />

und notwendig – stellen jedoch nur eine<br />

Seite der Medaille dar: Wichtiger ist<br />

dann doch, dass Unternehmen in kommunalem<br />

Eigentum mit höchster Effektivität<br />

dazu beitragen müssen, durch<br />

hohe Leistungen Bedürfnisse der Bürger<br />

in den Kommunen effektiv zu befriedigen.<br />

Eine hohe Effektivität/Produktivität<br />

ist Voraussetzung dafür und für ihre<br />

erweiterte Reproduktion von innen<br />

heraus – wie sollte es auf Dauer denn<br />

sonst wachsen? Auch darum sind hohe<br />

Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität<br />

erforderlich, die zu Einsparungen<br />

an Arbeitszeit führen; dessen darf man<br />

sich dann nicht »schämen«, sondern<br />

die verschiedenen Konsequenzen (zum<br />

Beispiel Einsparung von Arbeitsplätzen<br />

und mit ihnen verbundene Verringerung<br />

von Lohnkosten ...) sozial und<br />

vernünftig auswägen. Zugleich gebietet<br />

das, dass unsere Vertreter in der Legislative,<br />

die Gemeinde- und Stadträte<br />

(zum Beispiel in ihrer Funktion als<br />

Aufsichtsräte) sich wirklich als strenge<br />

Eigentümer verhalten und die Exekutive<br />

(Verwaltung und Geschäftsführer<br />

dieser Unternehmen) <strong>zur</strong> Durchsetzung<br />

einer hohen Produktivität wirksam<br />

veranlassen. Vor allem das gehört<br />

<strong>zur</strong> Machtausübung (Mitregieren!) unserer<br />

gewählten Abgeordneten – ist<br />

letztlich Wahrnehmung ihrer Eigentümerfunktion.<br />

Prof. Dr. Hans-Georg Trost ist aktiv in der<br />

AG Politische Bildung beim Regionalverband<br />

Oberlausitz der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

Aus der Fülle der Literatur sei wenigstens<br />

der Beitrag von <strong>Die</strong>ter Klein: Ȇber einen<br />

alternativen Umgang mit der ungeheuren<br />

Präsenz des totgesagten Eigentums« in<br />

Brie/Chrapa/Klein »Sozialismus als<br />

Tagesaufgabe« (Rosa-Luxemburg-<br />

Stiftung, Heft 38, Berlin 2003) genannt.<br />

KOMMUNAL


Sachsens Armutshauptstadt: Leipzig<br />

Das produzierende Gewerbe entscheidet über Sozialranking zwischen den<br />

drei Metropolen des Freistaates Von <strong>Die</strong>tmar Pellmann<br />

Auf einer Pressekonferenz am 5. März<br />

stellte der sozialpolitische Sprecher<br />

der Linksfraktion im Sächsischen Landtag,<br />

Dr. <strong>Die</strong>tmar Pellmann, seine Sozialvergleichsstudie<br />

zu den sächsischen<br />

Großstädten Chemnitz, Dresden und<br />

Leipzig vor.<br />

Das Ergebnis: <strong>Die</strong> Armutsquote ist<br />

stetig gewachsen und hat seit Hartz IV<br />

einen regelrechten Schub erhalten. Beträchtliche<br />

Unterschiede weist ein Sozialranking<br />

aus. Herangezogen wurden<br />

37 Positionen, die die soziale Lage unmittelbar<br />

oder mittelbar beeinfl ussen.<br />

Nach einer einfachen Punkteskala ist<br />

die Situation in Dresden mit 52 Punkten<br />

am günstigsten, gefolgt von Chemnitz<br />

mit 77 Punkten, während Leipzig einen<br />

Wert von 96 erreicht. Leipzig ist danach<br />

die Stadt mit der kompliziertesten<br />

sozialen Situation und kann »mit Fug<br />

und Recht als die sächsische Armutshauptstadt«<br />

bezeichnet werden.<br />

Würden allein die für Armut besonders<br />

entscheidenden Bereiche, wie Arbeitslosigkeit,<br />

Sozialhilfe oder Einkommen,<br />

berücksichtigt, wäre der Abstand<br />

zwischen Dresden und Leipzig noch<br />

größer. Betrug die Arbeitslosenquote<br />

im <strong>Ja</strong>hresdurchschnitt 2005 in Dresden<br />

16,4 Prozent, waren es in Chemnitz<br />

19,4 und in Leipzig 23,0 Prozent.<br />

Im August 2006 waren in Leipzig mehr<br />

als 86.000 Personen auf Arbeitslosengeld<br />

II oder Sozialgeld angewiesen; in<br />

Chemnitz waren es 34.298 und in Dresden<br />

60.769.<br />

DISPUT dokumentiert<br />

die Zusammenfassung der<br />

Pellmann-Studie:<br />

Erstens: <strong>Die</strong> zwischen den drei Städten<br />

ermittelte Reihenfolge kommt nicht<br />

überraschend, dürfte sich auch kaum<br />

ändern, wenn in den Vergleich weitere<br />

Bereiche einbezogen würden. Es verwundert<br />

auch nicht, dass Chemnitz<br />

vor Leipzig liegt, weil diese Stadt wesentlich<br />

früher auf die eigenen Stärken<br />

gesetzt und sich mehr als andere aus<br />

sich selbst heraus entwickelt hat. Es<br />

war auch klar, dass Dresden vor Leipzig<br />

liegen würde. Inzwischen bestätigen<br />

das auch andere Untersuchungen<br />

von anerkannten Wirtschaftsinstituten.<br />

Überraschen könnte lediglich der<br />

beträchtliche Abstand zwischen den<br />

SOZIAL<br />

beiden größten Städten des Freistaates.<br />

Im Alltagsbewusstsein vieler Menschen<br />

ergibt sich jedoch oft eine andere<br />

Wahrnehmung. So erlebt man immer<br />

wieder, dass Leipzig wesentlich positiver<br />

bewertet wird, als es sich eigentlich<br />

darstellt. <strong>Die</strong> Umkehrung trifft man<br />

oft in Dresden an. Und Chemnitz sieht<br />

sich meist weit hinter den anderen beiden<br />

Großstädten.<br />

Zweitens: <strong>Die</strong> drei sächsischen Ballungszentren<br />

haben ihr Profi l über die<br />

<strong>Ja</strong>hrhunderte unterschiedlich ausgeprägt.<br />

Während sich Dresden zu einem<br />

Zentrum der Repräsentation als Landeshauptstadt<br />

entwickelte, wurde<br />

Leipzig in bewusster Konkurrenz dazu<br />

zu einer eher weltoffenen und reichen<br />

Bürgerstadt. Chemnitz trat lange<br />

Zeit dahinter <strong>zur</strong>ück und blieb eher<br />

das »Schmuddelkind« aus der Optik<br />

der beiden Großen. <strong>Die</strong>s hat auch die<br />

Bürgerschaft der drei Metropolen beeinflusst<br />

und geprägt. Während der<br />

Zeit der DDR prägten sich dieser Unterschiede<br />

nicht weiter aus, verringerten<br />

sich sogar beträchtlich. Alle drei waren<br />

nun lediglich noch Hauptstädte eines<br />

Bezirkes, wiesen allerdings jeweils ein<br />

beträchtliches Wirtschaftspotenzial auf<br />

und hatten so im Wesentlichen gleiche<br />

Ausgangsbedingungen am Ende der<br />

achtziger <strong>Ja</strong>hre des vergangenen <strong>Ja</strong>hrhunderts.<br />

Drittens: Nach dem gesellschaftlichen<br />

Umbruch 1989/1990 gab es Bestrebungen,<br />

die zu DDR-Zeiten weitgehend verschüttete<br />

ursprüngliche Rolle wieder<br />

einzunehmen. Das gelang in Dresden,<br />

das erneut Landeshauptstadt wurde,<br />

am ehesten, wurde auch massiv unterstützt<br />

durch die unter Kurt Biedenkopf<br />

gebildete CDU-Regierung. So siedelte<br />

sich in Dresden nicht nur eine<br />

große Zahl von Staatsbediensteten an;<br />

die wichtigsten Stätten der Hochkultur<br />

wurden nunmehr durch den Freistaat<br />

gefördert, und die Technische Universität<br />

wurde <strong>zur</strong> zweiten sächsischen<br />

Volluniversität ausgebaut.<br />

Darüber hinaus erhielt Dresden den<br />

Großteil staatlicher Fördergelder, um<br />

sich als Standort moderner Technologie<br />

zu entwickeln.<br />

In Leipzig dagegen wurde ein anderer<br />

Weg beschritten. Bewusst vernach-<br />

lässigt wurden die vorhandenen Industriestandorte<br />

in der Annahme, die vor<br />

dem Zweiten Weltkrieg vorhandene<br />

deutschlandweite Bedeutung als Messe-,<br />

<strong>Die</strong>nstleistungs-, Buch- und Finanzmetropole<br />

wieder erlangen zu können.<br />

Das war mit gewaltigem Mitteleinsatz<br />

für Großprojekte der Infrastruktur verbunden,<br />

die so kaum in Bereiche produktiver<br />

Wertschöpfung fl ossen. Das<br />

führte zum Verlust von Arbeitsplätzen<br />

im produzierenden Gewerbe, der<br />

durch den <strong>Die</strong>nstleistungssektor auch<br />

nicht annähernd kompensiert werden<br />

konnte.<br />

<strong>Die</strong> seit Anfang des laufenden <strong>Ja</strong>hrzehntes<br />

einsetzenden industriellen<br />

Neuansiedlungen, vor allem in der Automobilbranche,<br />

konnten diesen Substanzverlust<br />

in keiner Weise ausgleichen,<br />

zumal gewaltige Millionensummen aus<br />

dem Stadthaushalt aufgewendet wurden,<br />

um diese Neuansiedlungen unter<br />

Dach und Fach zu bekommen.<br />

Chemnitz, das von staatlichen Fördermitteln<br />

am wenigsten profitierte,<br />

besann sich auf die eigenen Stärken,<br />

kämpfte viel mehr als Leipzig um den<br />

Erhalt industrieller Kerne, die später<br />

die Ausgangsbasis für das Wachstum<br />

des produktiven Sektors bildeten. Bewusst<br />

wurde lange <strong>Ja</strong>hre eine gewisse<br />

Vernachlässigung der städtischen Infrastruktur<br />

in Kauf genommen.<br />

Viertens: Entscheidendes Kriterium<br />

für die soziale Situation einer Stadt ist<br />

die wirtschaftliche Stärke und die davon<br />

abgeleitete Lage auf dem Arbeitsmarkt.<br />

Sowohl beim Anteil sozialversicherungspflichtig<br />

Beschäftigter als<br />

auch bei der Arbeitslosenquote hat<br />

Dresden die mit Abstand günstigsten<br />

Werte, vor Chemnitz und weit vor Leipzig.<br />

<strong>Die</strong>ser Trend hat sich seit Inkrafttreten<br />

von Hartz IV noch verstärkt, weil<br />

Leipzig die mit Abstand höchste Zahl<br />

von ehemaligen Beziehern von Arbeitslosen-<br />

oder Sozialhilfe hatte. Auch bei<br />

der Inanspruchnahme von Wohngeld<br />

sowie Grundsicherung im Alter und bei<br />

Erwerbsminderung weist Leipzig die<br />

höchste Rate auf.<br />

Fünftens: <strong>Die</strong> Betrachtung der Einkommensverhältnisse<br />

der Privathaushalte<br />

weist aus, dass der Anteil derer mit besonders<br />

niedrigem Einkommen in Leip-<br />

DISPUT März 2007 038


Klaus Stuttmann<br />

zig am höchsten ist, während Dresden<br />

und Chemnitz fast gleichauf liegen.<br />

Daran lässt sich auch am ehesten die<br />

Zahl der Personen ableiten, die als arm<br />

gelten. <strong>Die</strong> Armutsrate ist in Leipzig<br />

mit Abstand am höchsten und dürfte,<br />

je nach Defi nition, zwischen 20 und 25<br />

Prozent der Gesamtbevölkerung liegen.<br />

Deshalb ist es durchaus berechtigt, von<br />

Leipzig als der sächsischen Armutshauptstadt<br />

zu sprechen. Dresden liegt<br />

schließlich beim Anteil der Besserverdienenden<br />

weit vor Chemnitz und Leipzig.<br />

Mittelfristig dürfte sich an der Differenziertheit<br />

der Einkommensverhältnisse<br />

zwischen den drei Städten kaum<br />

etwas ändern. Es steht sogar eher zu<br />

erwarten, dass Leipzig im Vergleich zu<br />

Dresden noch weiter <strong>zur</strong>ückfällt, weil<br />

durch die hier seit vielen <strong>Ja</strong>hren höhere<br />

Langzeitarbeitslosigkeit eher Altersarmut<br />

als Massenerscheinung auftreten<br />

wird.<br />

Sechstens: <strong>Die</strong> Möglichkeiten der Armutsbekämpfung<br />

durch den Einsatz fi -<br />

nanzieller Mittel der Kommunen sind<br />

in Leipzig weit geringer als in Chem-<br />

390 DISPUT März 2007<br />

nitz oder Dresden. In erster Linie liegt<br />

das am höheren Schuldenstand der<br />

Messestadt und am wesentlich niedrigeren<br />

Steueraufkommen gegenüber<br />

Chemnitz und noch mehr gegenüber<br />

Dresden. Leipzig befindet sich<br />

hier mehr und mehr in einem Teufelskreis.<br />

<strong>Die</strong> Stadt verfügt nicht nur über<br />

den geringsten fi nanziellen Spielraum,<br />

sondern muss überdies noch wesentlich<br />

höhere Sozialausgaben schultern.<br />

Deshalb ist schon lange ein Soziallastenausgleich<br />

im Rahmen des Freistaates<br />

Sachsen zu Gunsten von Leipzig geboten,<br />

zumal eine Kommune faktisch<br />

kaum Einfl uss auf Sozialausgaben hat,<br />

weil es sich hierbei um gesetzlich fi -<br />

xierte Rechtsansprüche der Hilfebedürftigen<br />

handelt.<br />

Siebentens: Für die Frage, ob die Einwohnerzahl<br />

einer Stadt wächst oder <strong>zur</strong>ückgeht,<br />

ist nicht nur die objektive soziale<br />

Situation verantwortlich. Weitere<br />

Faktoren wie Jugend- oder Altersquote<br />

sowie kulturelle Angebote oder Betreuungsmöglichkeiten<br />

in Kindertagesstätten<br />

sind ebenso wichtig. Nachdem<br />

GEDANKENSTRICH<br />

die Einwohnerzahl nach 1989 in allen<br />

drei Großstädten, wenn auch in unterschiedlichem<br />

Ausmaß, <strong>zur</strong>ückging,<br />

steigt sie seit einigen <strong>Ja</strong>hren in Dresden<br />

und Leipzig wieder an. In Chemnitz hat<br />

sich der Rückgang zwar verlangsamt,<br />

ist aber noch nicht gestoppt. War der<br />

Abstand zwischen Leipzig und Dresden<br />

am Anfang der neunziger <strong>Ja</strong>hre noch<br />

beträchtlich, dürfte die Landeshauptstadt<br />

vielleicht noch im laufenden <strong>Ja</strong>hr<br />

die Messestadt als größte sächsische<br />

Metropole ablösen. In erster Linie liegt<br />

das an der höheren Geburtenzahl, an<br />

einer geringeren Sterberate und nicht<br />

zuletzt auch an größeren Wanderungsgewinnen.<br />

Wahrscheinlich hätte Dresden<br />

Leipzig schon überholt, wenn es in<br />

der Messestadt nicht ein besseres Betreuungsangebot<br />

für Kinder geben würde.<br />

Ob Leipzig diesen Vorsprung allerdings<br />

halten kann, bleibt angesichts<br />

der wesentlich angespannteren Haushaltslage<br />

fraglich.<br />

www.sozialisten.de


Selbstbefragung<br />

Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf wird eine Mitgliederbefragung organisiert.<br />

Über Absichten, Ansichten und Aussichten Von Rainer Ferchland<br />

Ausgangspunkt war die enttäuschende<br />

Wahlbilanz: In unserem Bezirk Marzahn-Hellersdorf<br />

musste die <strong>Linkspartei</strong><br />

am 17. September 2006 den Verlust<br />

der absoluten Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung<br />

und – wie<br />

in Berlin insgesamt – fast eine Halbierung<br />

der Zahl der Zweitstimmen für<br />

das Abgeordnetenhaus (im Vergleich<br />

zu 2001) verkraften. Dabei kamen wir<br />

noch einmal (?) mit einem blauen Auge<br />

davon. <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong> blieb im Bezirk<br />

die stärkste Partei, und mit Bürgermeisterin<br />

Dagmar Pohle wurde erneut<br />

ein <strong>Linkspartei</strong>-Mitglied an die Spitze<br />

des Bezirks gewählt. Ähnlich war es<br />

in Lichtenberg. Beide Bezirke haben<br />

in diesem Sinne ihren Ruf als die Berliner<br />

Hochburgen der <strong>Linkspartei</strong> behauptet.<br />

Aber werden wir diese Position auch<br />

künftig verteidigen können? <strong>Die</strong> Wählerinnen<br />

und Wähler haben uns eine<br />

deutliche Warnung ausgesprochen.<br />

Doch worauf bezieht sich diese Warnung?<br />

Wodurch kann die <strong>Linkspartei</strong><br />

Wählervertrauen <strong>zur</strong>ückgewinnen?<br />

Schnelle Erklärungen und Schlussfolgerungen<br />

waren rasch <strong>zur</strong> Hand – erwiesen<br />

sich indes zumeist als spekulativ<br />

und wenig fundiert. <strong>Die</strong> Wahlergebnisse<br />

müssen gründlich analysiert<br />

werden. Darüber hinaus kommt es darauf<br />

an, möglichst alle Genossinnen<br />

und Genossen zu einem kritischen<br />

und selbstkritischen Nachdenken über<br />

die Perspektiven unseres Bezirksverbandes<br />

zu animieren, die Ergebnisse<br />

dieser Denkarbeit zusammenzuführen<br />

und gemeinsam zu erörtern – um dann<br />

notwendige Entscheidungen treffen zu<br />

können.<br />

Eine schriftliche Befragung aller<br />

Mitglieder unserer Bezirksorganisation<br />

schien uns dazu der geeignete Weg<br />

zu sein. Das Projekt sollte »mit den eigenen<br />

Leuten« bewerkstelligt werden.<br />

Nicht nur wegen der Kosten, sondern<br />

vor allem auch, weil wir so ein größeres<br />

Vertrauen der Mitglieder und eine<br />

höhere Bereitschaft, sich in einer Befragung<br />

zu offenbaren, erwarten konnten.<br />

An qualifi zierten und in der wissenschaftlichen<br />

Arbeit erfahrenen Genossinnen<br />

und Genossen für eine solche<br />

Aufgabe fehlt es bei uns nicht. Schnell<br />

und in engem Kontakt mit dem Bezirksvorstand<br />

konstituierte sich eine »Pro-<br />

ANALYSE<br />

jektgruppe Analyse«. Das Hauptvorhaben<br />

Mitgliederbefragung wird – jeweils<br />

in der Regie der Projektgruppe – fl ankiert<br />

durch eine Wahlanalyse und durch<br />

Expertengespräche. Zusätzliche Impulse<br />

erwarten wir aus einer Studie zu Tendenzen<br />

und Perspektiven der sozialdemografischen<br />

und sozialräumlichen<br />

Entwicklung des Bezirks, die hoffentlich<br />

von der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />

unterstützt und Ende des <strong>Ja</strong>hres vorliegen<br />

wird.<br />

<strong>Die</strong> Wahlanalyse ist seit längerem<br />

fertiggestellt: eine den Basisorganisationen<br />

zugängliche stadtteil- und wahlbezirkskonkrete<br />

Bewertung sowie »straßengenaue«<br />

Aufbereitung der Wahlergebnisse.<br />

In Ergänzung der Befragung<br />

sollen die »Expertengespräche« mit<br />

politisch Verantwortlichen des Bezirks<br />

(nicht allein der <strong>Linkspartei</strong>) konzipiert<br />

und realisiert werden.<br />

Ende Februar wurde die Befragung<br />

der mehr als 1.100 Parteimitglieder<br />

gestartet. Um die Anonymität der Befragten<br />

zu sichern, erfolgt der Rücklauf<br />

ausschließlich auf dem Postweg.<br />

Eine Testbefragung mit etwa 40 Befragten<br />

verlief ermutigend und vermittelte<br />

wichtige Hinweise <strong>zur</strong> Verbesserung<br />

der Fragestellungen. Ca. 85 Prozent<br />

der Fragebogen wurden ausgefüllt<br />

<strong>zur</strong>ückgesandt.<br />

In der jetzigen Phase der Befragung<br />

lässt sich natürlich noch nichts über<br />

den Erfolg und die Ergebnisse sagen.<br />

Hier geht es darum, einige Grundsätze<br />

unseres Herangehens darzustellen und<br />

so vielleicht Anregungen und kritisches<br />

Hinterfragen auszulösen.<br />

Das Gesamtprojekt mit den genannten<br />

Bestandteilen steht unter einer<br />

zentralen Frage: Marzahn-Hellersdorf<br />

– auch künftig ein »roter« Bezirk?<br />

Wie kann sich die Bezirksorganisation<br />

der <strong>Linkspartei</strong> für diese Aufgabe besser<br />

rüsten?<br />

Das Ganze muss schließlich zu Empfehlungen<br />

und Schlussfolgerungen führen,<br />

die auf<br />

■ ■ höhere praktische Wirksamkeit<br />

der Partei als linke Kraft im gesellschaftlichen<br />

Leben des Bezirks,<br />

■ ■ stärkere politische Resonanz der<br />

<strong>Linkspartei</strong> und<br />

■ ■ die Verbesserung der dazu nötigen<br />

innerparteilichen Voraussetzungen<br />

zielen.<br />

Allerdings übersteigt die Erarbeitung<br />

und vor allem die Entscheidung dieser<br />

Schlussfolgerungen die Möglichkeiten<br />

und auch die Kompetenzen der Projektgruppe.<br />

Ihre Aufgabe bestand bzw. besteht<br />

darin, die Mitgliederbefragung,<br />

die Wahlanalyse und die Expertengespräche<br />

gut vorzubereiten, durchzuführen<br />

und auszuwerten. Dabei ist natürlich<br />

die aktive Mitwirkung vieler Genossinnen<br />

und Genossen – beispielsweise<br />

beim Erfassen der Daten von<br />

Hunderten Fragebogen – unerlässlich.<br />

Bestandteil der Auswertung sind die Interpretation<br />

und Wertung der Befunde<br />

und das Aufzeigen von Handlungsbedarf.<br />

Spätestens hier setzt erneut die Verantwortung<br />

der Gesamtmitgliedschaft<br />

und der gewählten Gremien des Bezirksverbands<br />

ein. Es gilt, die Ergebnisse<br />

der Befragung in einer offenen<br />

und kritischen Atmosphäre und in<br />

einem organisierten Prozess gemeinsam<br />

zu diskutieren. Kontroversen müssen<br />

dabei verantwortungsvoll ausgetragen<br />

werden. Denn wenn auch zum Beispiel<br />

durch die Befragung Positionen<br />

von Mehrheiten und Minderheiten<br />

deutlich werden – ist damit schon klar,<br />

welche Auffassung die bessere/richtigere<br />

ist? Und wie gehen wir mit einem<br />

Patt um, also mit dem möglichen Ergebnis,<br />

dass die Meinung unserer Mitgliedschaft<br />

in einer oder mehreren Fragen<br />

gespalten ist?<br />

Unser Analyseprojekt ist zugleich<br />

Ausdruck und Bewährungsprobe der<br />

innerparteilichen Demokratie: <strong>Die</strong> Befragung<br />

zeigt, wie wichtig die Meinung<br />

jedes Parteimitglieds ist. <strong>Die</strong> aktive<br />

Mitwirkung der Mitglieder an der Meinungsbildung,<br />

der breite Diskurs über<br />

Ergebnisse und Folgerungen in Basisorganisationen,Bildungsveranstaltungen,<br />

im Vorstand und in Hauptversammlungen,<br />

der schließlich und endlich<br />

zu Beschlüssen und praktischen<br />

Veränderungen führen muss, ist praktizierte<br />

Demokratie.<br />

In diesem Zusammenhang folgen einige<br />

Bemerkungen – aus meiner Sicht<br />

– zum Verhältnis von Bezirksvorstand<br />

und Projektgruppe sowie <strong>zur</strong> spezifi<br />

schen Verantwortung beider Gremien<br />

am Beispiel der Befragung. Ausschlaggebender<br />

Initiator des Projekts ist zweifellos<br />

der Bezirksvorstand. Er erteil-<br />

DISPUT März 2007 040


te den Auftrag, eine Befragung durchzuführen,<br />

er unterstützt das Vorhaben<br />

in personeller, organisatorischer, technischer<br />

und fi nanzieller Hinsicht (so<br />

sind die Portokosten erheblich), organisiert,<br />

moderiert und leitet die innerparteilichen<br />

Debatten über die Ergebnisse,<br />

Wertungen und Schlussfolgerungen<br />

der Befragung. Der Vorstand<br />

positioniert sich (spätestens) am Ende<br />

dieses Prozesses schließlich selbst<br />

durch Beschlüsse bzw. durch die Vorbereitung<br />

von Beschlussvorlagen für<br />

die Hauptversammlung des Bezirksverbandes.<br />

Ein Mitglied der Projektgruppe<br />

gehört auch dem Vorstand an.<br />

Mit dem Auftrag an die Projektgruppe<br />

erbringt der Vorstand einen großen<br />

Vertrauensvorschuss. Denn die Projektgruppe<br />

muss die Untersuchung weitgehend<br />

autonom konzipieren, gestalten<br />

und auswerten. Unabhängigkeit und<br />

Objektivität sind berechtigte und unerlässliche<br />

Anforderungen an die Arbeit<br />

der Analysegruppe. Der Vorstand<br />

ist also nicht für die inhaltliche Gestaltung,<br />

den methodischen Aufbau, die<br />

Qualität der Aufbereitung der Befragung<br />

und den sachlichen Gehalt der<br />

Befunde verantwortlich. Er verzichtet<br />

deshalb auf inhaltliche Eingriffe in den<br />

Analyse- und Aufbereitungsprozess,<br />

auch weil jeder Eindruck eines »Gefälligkeitsgutachtens«<br />

strikt vermieden<br />

werden muss. Zum anderen bewahrt<br />

sich der Vorstand so die Möglichkeit<br />

für den unvoreingenommenen und kritischen<br />

Umgang mit den Ergebnissen<br />

der Befragung.<br />

Autonomie der Projektgruppe bedeutet<br />

keineswegs eine autokratische<br />

Arbeitsweise. Im Gegenteil! In die Vorbereitung<br />

der Befragung waren viele<br />

Genossinnen und Genossen einbezogen.<br />

Entwürfe des Fragebogens wurden<br />

Mitgliedern des Bezirksvorstands,<br />

Abgeordneten und anderen Verantwortlichen<br />

mit der Bitte übermittelt,<br />

410 DISPUT März 2007<br />

Vorschläge und Hinweise <strong>zur</strong> Verbesserung<br />

einzubringen – allerdings mit<br />

magerer Resonanz. In einzelnen Basisorganisationen<br />

stellten Projektgruppenmitglieder<br />

den Fragebogen <strong>zur</strong> Diskussion.<br />

<strong>Die</strong> Testbefragung erfasste<br />

auch die Meinung der Befragten zum<br />

Inhalt und <strong>zur</strong> Gestaltung des Fragebogens<br />

sowie Vorschläge für ergänzende<br />

Fragestellungen. Wertvolle Hinweise<br />

verdanken wir Konsultationen mit verschiedenen<br />

Sozialwissenschaftlern.<br />

Wie aber steht es um die Unabhängigkeit<br />

und Objektivität der Projektgruppe?<br />

Immerhin besteht sie ausnahmslos<br />

aus erfahrenen, in vielen Funktionen<br />

erprobten und der <strong>Linkspartei</strong> eng verbundenen<br />

Parteimitgliedern. Wichtig<br />

ist, dass wir uns dieses Problems bewusst<br />

sind und den Arbeitsprozess kollektiv,<br />

kritisch und in strenger Selbstevaluation<br />

organisieren. Insbesondere<br />

bei prekären Befunden ist die Situation<br />

wohl ein bisschen vergleichbar mit<br />

der des Arztes, der Familienangehörige<br />

untersucht: Mitgefühl bei der Diagnose<br />

krankhafter Symptome, ohne sie<br />

zu ignorieren; Mitleiden bei schmerzhafter,<br />

aber notwendiger Therapie, ohne<br />

sie zu unterlassen.<br />

<strong>Die</strong> Projektgruppe versteht sich als<br />

Arbeitsgremium, in der jedes Mitglied<br />

»seinen« aktiven Beitrag leistet – nicht<br />

nur in den Debatten, sondern auch bei<br />

der konkreten inhaltlichen Arbeit. Für<br />

die Auswertung der Befragung wird eine<br />

Arbeitsteilung vereinbart, wonach<br />

jeweils zwei Projektgruppenmitglieder<br />

bestimmte Themen gemeinsam bearbeiten.<br />

<strong>Die</strong> auszuarbeitenden Dokumente<br />

sollen den gemeinsamen Standpunkt<br />

der Projektgruppe zum Ausdruck<br />

bringen. Falls wir zu keiner gemeinsamen<br />

Auffassung gelangen, werden<br />

Mehrheiten- und Minderheiten-Aussagen<br />

gesondert ausgewiesen, sofern<br />

nicht auf die Darstellung des betreffenden<br />

Sachgebiets verzichtet wird.<br />

Spätestens im Mai 2007 wird die<br />

Projektgruppe einen Auswertungsbericht<br />

vorlegen, der dann Gegenstand<br />

kritischer Diskussionen im Bezirksverband<br />

sein sollte.<br />

<strong>Die</strong> folgenden übergreifenden Fragen<br />

und Schwerpunkte des Gesamtprojekts<br />

werden von keinem der Teilprojekte<br />

– also weder von der Wahlanalyse,<br />

der Befragung, den Expertengesprächen<br />

noch von der Sozialstudie<br />

– für sich genommen befriedigend zu<br />

beantworten sein. Wir hoffen aber,<br />

dass wir als Gesamtbilanz dieser Vorhaben<br />

und der damit ausgelösten Diskurse<br />

im Bezirksverband den Antworten<br />

ein gutes Stück näher kommen und<br />

klüger sein werden »als wie zuvor«.<br />

■ ■ Wie nutzt die <strong>Linkspartei</strong> ihren<br />

großen politischen Einfl uss, um im Bezirk<br />

reale Verbesserungen der Lebensqualität<br />

im Sinne höherer sozialer Gerechtigkeit<br />

bzw. geringerer sozialer Ungerechtigkeit<br />

durchzusetzen? Welche<br />

Chancen existieren dafür überhaupt?<br />

■ ■ Was sind die Ursachen für die<br />

Stimmenverluste? Welche Voraussetzungen<br />

sind nötig für bessere Wahlergebnisse?<br />

■ ■ Wie ist das Meinungsbild <strong>zur</strong><br />

<strong>Linkspartei</strong> im Bezirk? Welche Bevölkerungsgruppen<br />

erweisen sich ihr gegenüber<br />

als besonders reserviert bzw.<br />

besonders verbunden und warum?<br />

■ ■ Welche Entwicklungstendenzen<br />

zeigt das Aktivitätsprofil der Mitglieder?<br />

■ ■ Wie ist die sozial-demografi sche<br />

Struktur des Bezirksverbandes? Welche<br />

Schlussfolgerungen ergeben sich<br />

daraus a) für die innerparteiliche Organisations-<br />

und Kommunikationsstruktur,<br />

b) für die Öffentlichkeitsarbeit und<br />

c) für die Mitgliedergewinnung?<br />

■ ■ Braucht die <strong>Linkspartei</strong> in Marzahn-Hellersdorf<br />

eine sozial und räumlich<br />

differenzierte Öffentlichkeitsarbeit?<br />

Welchen Anforderungen sollte<br />

sie genügen?<br />

■ ■ Wie wird sich die sozial-demografi<br />

sche und sozialräumliche Situation<br />

im Bezirk voraussichtlich verändern?<br />

Welche Anforderungen ergeben sich<br />

daraus für eine sozial gerechte und solidarische<br />

Kommunalpolitik?<br />

■ ■ Wie positionieren sich die Mitglieder<br />

des Bezirksverbands <strong>zur</strong> politischen<br />

und sozialen Orientierung und<br />

Wirksamkeit der <strong>Linkspartei</strong>.PDS auf<br />

Bundes-, Landes- und Bezirksebene?<br />

Am Ende des Prozesses jedenfalls<br />

wird die Projektgruppe ihre Arbeit mit<br />

einem Resümee abschließen, indem<br />

sie zu diesen Fragen Stellung bezieht.<br />

Dr. Rainer Ferchland leitet die neunköpfi<br />

ge ehrenamtliche Projektgruppe


Das Ungewisse vorbereiten<br />

Mecklenburg-Vorpommerns <strong>Linkspartei</strong>.PDS bereitet sich auf den G8-Gipfel vor und<br />

muss ohne sichere Erkenntnisse arbeiten Von Steffen Bockhahn<br />

Vom 6. bis 8. Juni 2007 wird der G8-<br />

Gipfel in Heiligendamm stattfinden.<br />

<strong>Die</strong> »Weiße Stadt am Meer« liegt etwa<br />

25 Kilometer von Rostock entfernt und<br />

wird gegenwärtig von einem 12 Millionen<br />

Euro teuren Zaun umschlossen.<br />

<strong>Die</strong> großen Acht scheinen Angst vor der<br />

Öffentlichkeit zu haben, was dem Unternehmer<br />

aus Bargeshagen, der den<br />

Zaun baut, durchaus freuen kann. Er<br />

hat den Auftrag gegen harte internationale<br />

Konkurrenz bekommen. Für die regionalen<br />

Medien ein Grund, den Mann<br />

immer wieder zu porträtieren. Er gilt als<br />

Vorzeigetyp eines mecklenburgischen<br />

Unternehmers, der sich auf dem Weltmarkt<br />

durchsetzen konnte. Dass er<br />

wohl deutlich unter Tarif zahlt und Subunternehmen<br />

einbindet, die noch deutlicher<br />

unter Tarif zahlen, das schreibt irgendwie<br />

keiner.<br />

Auch nicht, dass der Name der verantwortlichen<br />

Polizeisondereinheit<br />

bloß mit einem speziellen Humor oder<br />

mit Ignoranz als glücklich gewählt betrachtet<br />

werden kann. »Kavala« nennt<br />

sich die Einheit. Kleiner Exkurs in die<br />

Geschichte: <strong>Die</strong> christliche Stadt in<br />

Griechenland wurde Anfang des 15.<br />

<strong>Ja</strong>hrhunderts von den Türken eingenommen<br />

und völlig zerstört. <strong>Die</strong> Christen<br />

errichteten sie wieder, sie befestigt<br />

Kavala massiv (bauten also so etwas<br />

wie einen Zaun, der bei der Polizei offi<br />

ziell nur »technische Sperre« genannt<br />

wird). <strong>Die</strong> islamischen Ottomanen versuchten,<br />

die Stadt abermals einzunehmen.<br />

Aber die 12.000 Mann starke Kavallerie<br />

der Angreifer konnte von den<br />

tapferen Kriegern der christlichen Stadt<br />

in die Flucht geschlagen werden.<br />

Wer ist im Juni böser Aggressor und<br />

wer guter Verteidiger? Ist das die Einstellung<br />

der Bundesregierung und der<br />

Sicherheitsbehörden gegenüber Menschen,<br />

die ihr demokratisches Recht<br />

auf freie Meinung und auf Versammlungsfreiheit<br />

wahrnehmen wollen?<br />

<strong>Die</strong> Kanzlerin meinte zum Ende des<br />

Gipfels in St. Petersburg im vorigen <strong>Ja</strong>hr<br />

sinngemäß, sie könne sich keinen Gipfel<br />

ohne Protest vorstellen, und das sei<br />

ja auch demokratisch. Wollte sie damit<br />

nur Putin ärgern, der alles, was nach<br />

Protest aussah, brutal unterbinden ließ,<br />

oder war es ihre Überzeugung?<br />

Wie auch immer – klar ist, ab 2. Juni<br />

wird in Rostock und Umgebung protes-<br />

ALTERNATIV<br />

tiert. Gegen den G8-Gipfel, gegen die<br />

neoliberale Globalisierung, gegen Militarismus.<br />

Mehr als 100.000 Menschen<br />

werden erwartet.<br />

Vielen Mecklenburgern scheint das<br />

Angst zu machen. Sie können sich keinen<br />

eigenen Zaun leisten. Man hört immer<br />

wieder: »<strong>Die</strong>se Chaoten sollen zu<br />

Hause bleiben. <strong>Die</strong> wollen doch nur Unruhe<br />

stiften und hier alles in Schutt und<br />

Asche legen!«<br />

Auf einer Mitgliederversammlung<br />

empörte sich ein Genosse darüber,<br />

dass eine der Demonstrationsrouten<br />

durch die Südstadt führen soll. Dann<br />

könne er sich ja gleich eine neue Wohnung<br />

suchen. Er wisse schon, wie das<br />

hinterher aussieht. Und wer bezahlt eigentlich<br />

die Beseitigung des ganzen<br />

Mülls? <strong>Die</strong> Frage ist schon erstaunlich.<br />

Denn kurz zuvor hatte er vom Referenten<br />

gehört, dass der Gipfel mehr als<br />

200 Millionen Euro kosten wird. Für drei<br />

Tage. Das entspricht in etwa der Verschuldung<br />

von Rostock. Darüber hatte<br />

sich der Genosse nicht erregt. Danach,<br />

woher das Geld für den Gipfel kommt,<br />

hatte er nicht gefragt. Und auch nicht<br />

darüber geklagt, dass solche Summen<br />

für acht Staatschefs <strong>zur</strong> Verfügung stehen,<br />

für das protestierende Volk aber<br />

kein Cent an die »betroffenen« Kommunen<br />

überwiesen wird. Mit Ausnahme<br />

der Gelder, die für die Sicherheit<br />

nötig sind, also für die Sicherheit der<br />

ängstlichen Staatschefs.<br />

Mit diesen Sorgen und mit der Frage,<br />

wo die tausenden Menschen nächtigen<br />

sollen, haben es die Kommunalvertreter<br />

der <strong>Linkspartei</strong> in diesen Wochen<br />

zu tun. Zum einen sagt die Polizei<br />

nicht, wie weit sie ihr Sperrgebiet<br />

um Heiligendamm ziehen will, zum anderen<br />

wollen Landrat und Oberbürgermeister<br />

noch nicht einsehen, dass es<br />

auch aus Sicherheitsgründen sinnvoll<br />

wäre, diese Fragen einvernehmlich mit<br />

den Organisatoren des Protests zu klären.<br />

Viele Gespräche werden in diesen<br />

Tagen geführt. Doch die Bretter, die zu<br />

bohren sind, kann man nicht als dünn<br />

bezeichnen.<br />

Und dann sind da noch die Alternativen,<br />

die man anbieten möchte. <strong>Die</strong><br />

<strong>Linke</strong> ist nicht nur »dagegen«. <strong>Die</strong> linke<br />

Welt ist gerecht und fair. Aber auch<br />

das muss gesagt werden, und zuerst<br />

den eigenen Mitgliedern. Aus diesem<br />

Grund sind derzeit einige Genossen<br />

wie Wanderprediger im Land unterwegs<br />

und berichten über die Entstehung<br />

der G8. Sie erklären, warum dieser<br />

Club illegitim und warum die UNO<br />

die reformbedürftige, aber einzig sinnvolle<br />

Alternative ist. Und sie predigen<br />

immer wieder, dass man es nicht zulassen<br />

darf, dass der Protest auf die Gewaltfrage<br />

reduziert wird.<br />

Wer sich die beteiligten Organisationen<br />

anschaut, kommt selbst darauf.<br />

Neben der <strong>Linke</strong>n rufen Gewerkschaften,<br />

Kirchenvertreter und jede<br />

Menge durchaus auch konservativer<br />

nichtstaatlicher Organisationen zu Protesten<br />

auf.<br />

Kommt in den Nordosten!<br />

Es wird verschiedenste Formen der<br />

Auseinandersetzung mit den G8 geben,<br />

an erster Stelle die Demonstration am<br />

2. Juni. Hunderte Busse müssen in die<br />

Stadt kommen mit Zehntausenden, die<br />

auf die Straße gehen und sich für eine<br />

gerechte und friedliche Welt stark machen.<br />

So können sie für einen grandiosen<br />

Start der Aktionswoche sorgen.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> in Mecklenburg-Vorpommern<br />

mobilisiert seit Wochen dafür und hofft,<br />

dass viele Landesverbände mit großer<br />

Beteiligung <strong>zur</strong> Unterstützung in den<br />

Nordosten kommen werden.<br />

Ein Schwerpunkt werden darüber<br />

hinaus die Veranstaltungen des Alternativgipfels<br />

sein. Dort werden sich Landesarbeitsgemeinschaften<br />

einbringen<br />

und gemeinsam mit Partnern konkrete<br />

Alternativen zum gegenwärtigen System<br />

aufzeigen.<br />

Klar ist: Es bleibt noch eine Menge<br />

Arbeit, damit Mitgliedschaft und Bevölkerung<br />

ihre Angst verlieren und es eine<br />

mächtige Demonstration gegen die<br />

selbst ernannte Weltregierung werden<br />

kann. Klar ist aber auch: <strong>Die</strong> Mecklenburger<br />

Genossinnen und Genossen<br />

sind stur genug, um dafür mit aller Kraft<br />

zu arbeiten. Von den Ergebnissen überzeugen<br />

können sich dann alle ab 2. Juni<br />

in Rostock und Umgebung. Wie die<br />

aussehen werden, ist aber noch ungewiss.<br />

Steffen Bockhahn ist stellvertretender<br />

Landesvorsitzender der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

Mecklenburg-Vorpommern<br />

DISPUT März 2007 042


NACHBELICHTET<br />

Von Arthur Paul ■ ■ Fremde können<br />

nicht ahnen, was hier zu sehen ist. Vielleicht<br />

eine Imbissbude <strong>zur</strong> Baustellenversorgung,<br />

irgendwo in Deutschland?<br />

Ist es aber nicht! Im Hintergrund sieht<br />

man die Reste vom Palast der Republik<br />

in Berlin. Der befi ndet sich im »Rückbau«<br />

– wie ein Großteil von Ostdeutschland.<br />

Abriss wäre deutlicher, aber zu<br />

deutlich. Da war Asbest zum Brandschutz<br />

eingebaut, wie es in jenen <strong>Ja</strong>hren<br />

international üblich war. Das war zu<br />

beheben. Aber beheben hieße bewahren,<br />

und das durfte nicht sein! Ein »Palast<br />

des Volkes« in einer Gesellschaft,<br />

wo die Paläste den Mächtigen gehören,<br />

den Banken, Versicherungen, Leuteschindern,<br />

Steuerschwindlern und ih-<br />

430 DISPUT März 2007<br />

ren Handlangern in den Amtsstuben?<br />

Das geht nicht!<br />

Es gab eine Zeit, da spiegelte sich<br />

die Sonne in der Glasfassade des Palastes,<br />

da strahlte der weiße Marmor,<br />

da summte es in dem Haus wie in<br />

einem Bienenkorb. Da gab es drinnen<br />

13 Restaurants, Espressos und Bars<br />

mit 1.494 Plätzen und 322 Terrassenplätze<br />

vor der Tür. Da lud das große Café<br />

mit 294 Plätzen ein. Da gab es die<br />

Milchbar, die Mokkabar, die Spreeklause,<br />

die Bierstube, die Weinstube,<br />

die Diskothek, acht Bowlingbahnen,<br />

den großen Saal mit 5.000 Plätzen, 12<br />

Kassen für den Kartenverkauf, ein Postamt,<br />

Souvenirläden und Speisekarten,<br />

wo einem beim Anblick der damaligen<br />

Preise heutzutage die Augen tränen<br />

würden. Ganz klar: Das Ding musste<br />

weg! Und weil manche das immer noch<br />

nicht glauben wollen, wurde die Baustelle<br />

<strong>zur</strong> Schaustelle.<br />

<strong>Die</strong> Imbissbude reicht Thüringer<br />

Bratwürste rum. <strong>Die</strong> kommen vermutlich<br />

aus Bayern. Kann sein, da ist eine<br />

Prise Gammelfl eisch drin, aber wie soll<br />

man denn sonst mit den Preisen konkurrieren,<br />

die jedem an dieser Stelle<br />

einfallen?<br />

Nein, meine Herren Stadtplaner, die<br />

Sie nun vom Kaiserschloss träumen, so<br />

löblich ihre Rettung der Karl-Marx-Allee<br />

im Namen des Denkmalschutzes ist, so<br />

schändlich ist Ihre Tilgung des Volkspalastes!<br />

© Erich Wehnert


BRIEFE<br />

zustimmend<br />

Es wird immer dringlicher, dass der<br />

Handlungsspielraum der Kommunen<br />

in Ost wie West unseres Landes umfassender<br />

wird. <strong>Die</strong> kommunale Selbstverwaltung<br />

muss auf die Gewährleistung<br />

politischer, wirtschaftlicher, sozialer,<br />

juristischer und fi nanzieller Freiheiten<br />

ausgerichtet sein. So werden Kommunen<br />

wieder in die Lage versetzt, die<br />

Teilhabe ihrer Einwohnerinnen und Einwohner<br />

am gesellschaftlichen Leben<br />

besser als derzeit zu gewährleisten.<br />

<strong>Die</strong> Mitglieder der AG Kommunalpolitik<br />

und parlamentarische Arbeit diskutierten<br />

diese Probleme am 3. Februar<br />

– kurz vor Antragsschluss zu den<br />

Gründungsdokumenten. Positiv bewertet<br />

wurde, dass Empfehlungen von Mitgliedern<br />

unserer AG zu Ergänzungen<br />

bzw. Präzisierungen im Verlaufe der<br />

Diskussion zu den anfänglich vorgelegten<br />

»Programmatischen Eckpunkten«<br />

Beachtung gefunden haben. <strong>Die</strong><br />

Kommunalpolitischen Leitlinien, die<br />

auf dem Dresdener Parteitag der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />

beschlossen wurden, haben<br />

diesbezüglich Themenfelder benannt.<br />

<strong>Die</strong> neue <strong>Linkspartei</strong> hat damit<br />

viel Diskussionsstoff auf kommunaler<br />

und Länderebene für die nächste Zeit.<br />

Schwerpunkt wird sicher sein, wie<br />

effektiv das kommunale Eigentum <strong>zur</strong><br />

Sicherung der Daseinsvorsorge einzusetzen<br />

ist und wie uns die Verbindung<br />

von parlamentarischer und direkter Demokratie<br />

besser als bisher gelingt. Da<br />

bieten sich die Vorbereitungen auf die<br />

kommunalen Haushalte durch Bürgerhaushalte<br />

ebenso an wie die dringliche<br />

Mobilisierung der übergroßen Mehrheit<br />

der Bevölkerung im Kampf gegen<br />

das Wiedererstarken faschistischen<br />

Ungeistes.<br />

In den Gründungsdokumenten erfahren<br />

Mandatsträger/innen auch der<br />

kommunalen Ebene eine hohe Wertschätzung.<br />

Das verpfl ichtet aber auch<br />

dazu, Entscheidungen der kommunalen<br />

Vertretungskörperschaft transparent<br />

mit Mitgliedern der Partei und<br />

Vertretern der außerparlamentarischen<br />

Kräfte zu beraten und gegebenenfalls<br />

den Widerstand gegen Fehlentscheidungen<br />

mit zu entwickeln. <strong>Die</strong> AG-Mitglieder<br />

teilen die Auffassung der Einreicher<br />

der »Programmatischen Eckpunk-<br />

te«, dass es immer wichtiger wird, sehr<br />

öffentlich, verständlich und unmittelbar<br />

vor Ort unsere Reformvorstellungen<br />

für die gesellschaftliche Umgestaltung<br />

zu erläutern.<br />

Dazu benötigen die Kommunalpolitiker/innen<br />

neben der festen Verankerung<br />

in ihren heimatlichen Parteistrukturen<br />

auch die Chance zu Erfahrungsaustauschen<br />

und Bildungsangeboten.<br />

So hat die AG beschlossen, sich mit<br />

einem Änderungsantrag <strong>zur</strong> Satzung<br />

der <strong>neuen</strong> Partei an die 2. Tagung des<br />

10. Parteitages der <strong>Linkspartei</strong>.PDS zu<br />

wenden, um die Verankerung der Mandatsträgerinnen<br />

und Mandatsträger als<br />

Mitglieder des bundesweiten Zusammenschlusses<br />

AG Kommunalpolitik zu<br />

ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> AG-Mitglieder werden sich in die<br />

Debatte auf dem Weg zu einer Partei<br />

DIE LINKE weiter einbringen. Entscheidungen<br />

in (nicht nur) ostdeutschen<br />

Kommunen zum Verkauf von kommunalem<br />

Eigentum, vornehmlich von<br />

Wohnungen, <strong>zur</strong> Beteiligung an Unternehmen<br />

gemeinsam mit privaten Dritten,<br />

Diskussionen <strong>zur</strong> Beschreibung<br />

der Aufgaben, die heute die öffentliche<br />

Daseinsvorsorge ausmachen und was<br />

wir unter Bürgerkommune und Bürgerhaushalt<br />

verstehen – das sind nur einige<br />

der gemeinsam in der Partei auch<br />

mit KommunalpolitikerInnen zu diskutierenden<br />

Fragen.<br />

<strong>Die</strong> beiden Delegierten aus der AG<br />

Kommunalpolitik wurden gebeten, den<br />

»Programmatischen Eckpunkten« die<br />

Zustimmung zu geben.<br />

Regina Frömert, (eine) Sprecherin<br />

der AG Kommunalpolitik<br />

und parlamentarische Arbeit<br />

stolz<br />

Aus eigenem Erleben möchte ich daran<br />

erinnern: <strong>Die</strong> Vergangenheit lehrt uns,<br />

dass nur eine starke <strong>Linke</strong> Kontrolleur<br />

einer volksfeindlichen und kapitalismusfördernden<br />

Politik sein kann und<br />

dass sie im Kampf gegen die kapitalistische<br />

Ausbeutung die Ziele eines demokratischen<br />

Sozialismus entgegenstellen<br />

muss. Dafür ist es unbedingt<br />

notwendig, dass im gemeinsamen Programm<br />

die Zielsetzung eines demokratischen<br />

Sozialismus verankert wird. Als<br />

Sozialisten haben wir das Ziel einer sozialistischen<br />

Gesellschaft vor Augen.<br />

Mit ist bewusst, dass bei einem<br />

Zusammenschluss gegenseitig Argumente<br />

ausgewogen und abgestimmt<br />

werden. Als Mitglied des Aktions-Ausschusses<br />

seitens der SPD erinnere ich<br />

mich, wurde 1946 paritätisch verfahren,<br />

obwohl bei uns die Ehe aus 240:7<br />

Mitgliedern zu Ungunsten der KPD bestand.<br />

Ich erinnere mich noch an den 1.<br />

Parteitag der SPD in Freital, wo der Genosse<br />

Otto Buchwitz an die dringende<br />

Notwendigkeit für eine geeinte deutsche<br />

Arbeiterpartei appellierte. Mit<br />

großem Stolz erfüllte mich die Teilnahme<br />

am Vereinigungsparteitag in Dresden-Bühlau,<br />

als wir als Sachsen als Erste<br />

die Spaltung von SPD und KPD überwanden<br />

und die SED ins Leben riefen.<br />

Ich appelliere an Euch, Euch zum Zusammenschluss<br />

mit der WASG zu bekennen<br />

und in der <strong>neuen</strong> Partei für den<br />

demokratischen Sozialismus auch in<br />

Deutschland zu kämpfen.<br />

Abschließend möchte ich darauf verweisen,<br />

dass ich in meinem Buch »2:1,<br />

ich Max Hermann – ich musste mich<br />

einbringen« Erinnerungen aufgeschrieben<br />

habe. Das Buch (ISB 3-938390-20-<br />

6) ist zum Preis von 9,90 Euro zu erwerben.<br />

Der Erlös fi ndet als Solidaritätsbeitrag<br />

für die Aktionen »Milch für Kubas<br />

Kinder« und »Freundschaft ist die Melodie<br />

der Herzen« Verwendung.<br />

Hermann Thomas (86), Wilsdruff<br />

enttäuschend<br />

Disput – Streitgespräch, Diskussion.<br />

Unter einer Zeitschrift mit diesem Titel<br />

stellte ich mir aus meiner Perspektive<br />

als parteiloser, aber durchaus parteilicher,<br />

sozialistischer Demokrat ein<br />

gewinnbringendes Organ der Debatte<br />

demokratisch-sozialistischer Politik<br />

in der BRD vor. <strong>Die</strong>se Erwartungen<br />

wurden schnell enttäuscht. Nach einer<br />

Zeit des vergeblichen Hoffens auf Besserung<br />

habe ich mich jetzt dazu durchgerungen,<br />

mein Abonnement zu kündigen.<br />

Ich kann beim besten Willen nicht<br />

verstehen, warum Sie so wichtige Debatten<br />

wie die um die Regierungsbeteiligung<br />

in Mecklenburg-Vorpommern und<br />

Berlin scheinbar nicht offensiv in der<br />

DISPUT März 2007 044


Zeitschrift führen wollen. Strategische<br />

Streitfragen aus der Bundestagsfraktion,<br />

wie die Diskussion um UN-Einsätze,<br />

kommen gleichfalls kaum vor.<br />

<strong>Ja</strong>n Schaffrath, Rostock<br />

erinnernd<br />

Das Erinnern und Rückbesinnen auf<br />

Hans-Jochen Vogel, aber auch das Fragen<br />

nach gegenwartsbezogenem Glauben<br />

und Handeln in der kapitalistisch<br />

geprägten Gesellschaft standen im<br />

Mittelpunkt eines Symposiums Anfang<br />

des <strong>Ja</strong>hres in einem Chemnitzer evangelischen<br />

Kirchengemeindezentrum.<br />

Eingeladen hatten die Arbeitsgemeinschaft<br />

Offene Kirche, die Familie Vogel<br />

und der Rothaus e. V. Unterstützt wurde<br />

die Veranstaltung mit etwa 150 Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmern von der<br />

Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, von<br />

Mitgliedern der Linksfraktion im sächsischen<br />

Landtag und des Landesvorstandes<br />

der <strong>Linkspartei</strong>.PDS.<br />

Das Symposium führte Weggefährtinnen<br />

und Weggefährten zusammen,<br />

mit denen Vogel vor 1989/90 und danach<br />

gemeinsam »nachgedacht und<br />

gearbeitet« hatte, wie es in der Einladung<br />

hieß. Politisches Handeln – daran<br />

hielt sich der am 25. Dezember<br />

2005 Verstorbene – darf sich nicht in<br />

Kritik erschöpfen. <strong>Die</strong> Zukunft des und<br />

der Menschen braucht positive, konstruktive<br />

Entwürfe. »Jeden Menschen<br />

ernst nehmen als gleichwertigen Mitmenschen«,<br />

war Hans-Jochen Vogels<br />

Vorstellung vom Sozialismus und zugleich<br />

Forderung an ihn.<br />

Auf das Leben und Wirken des Theologen,<br />

Christen und Sozialisten, des<br />

langjährigen Studentenpfarrers in Karl-<br />

Marx-Stadt bzw. Chemnitz verwies Dr.<br />

Klaus Bartl von der <strong>Linkspartei</strong>-Landtagsfraktion.<br />

Vogels Denken und Tun<br />

bleibe in seiner Stadt, in der Region lebendig.<br />

Es habe eine Symbolik, dass<br />

unter den Anwesenden »Menschen<br />

gänzlich unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher<br />

Lebenslagen, Christen<br />

und Sozialisten, auch Christen, die sich<br />

als Sozialisten verstehen, und Sozialisten<br />

mit religiösem Lebenshintergrund<br />

zusammenfi nden, um zu debattieren,<br />

zu streiten, miteinander zu reden.«<br />

1979 gehörte Vogel zu den Mitbe-<br />

45 0 DISPUT März 2007<br />

gründern einer Gruppe der Christlichen<br />

Friedenskonferenz.<br />

Mit dem Auslegen der Bibel und befreiungstheologischen<br />

Überlegungen<br />

verband er seine Position zum Erhalten<br />

und Sichern des Friedens. Vogel<br />

vereinte Kritik am staatssozialistischen<br />

System mit linksdemokratischem Denken<br />

und Handeln. Nach der Wende beschäftigten<br />

ihn in starkem Maße neue<br />

Themen, so die soziale Lage vieler<br />

Menschen, Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung,<br />

Rechtsextremismus, Globalisierung.<br />

Hermann Gerathewohl, Leipzig<br />

protestierend<br />

Zugegeben: Der Wettergott stand nicht<br />

auf Seiten der Linksdemokraten. Dafür<br />

aber die Wülfrather. Bei der Aktion<br />

der Demokratischen <strong>Linke</strong>n Wülfrath<br />

(DLW) und der Wülfrather <strong>Linkspartei</strong><br />

gegen die »Rente mit 67« am 24. Februar<br />

am Heumarkt gab es große Zustimmung.<br />

<strong>Die</strong> DLW hatte sich mit der Aktion<br />

der bundesweiten Kampagne der<br />

Gewerkschaften und Sozialverbände<br />

gegen die Rentenpläne der Bundesregierung<br />

angeschlossen. Bei der Aktion<br />

(siehe Foto) waren auch vier Ratsvertreter<br />

der DLW dabei: Jürgen Hackenberg<br />

als »lahmer Schlosser«, Angelike Sto-<br />

ckinger-Sürth als »schusselige Krankenschwester«,<br />

Klaus H. <strong>Ja</strong>nn als »halbblinder<br />

Briefträger« (mit dem Lied »Ich<br />

bin das Kläuschen von der Post …«)<br />

und Herbert Romund als »Abgesandter<br />

des Beerdigungsinstituts ›Deckel<br />

drauf‹«. <strong>Die</strong> Wülfrather machten reichlich<br />

Gebrauch von den angebotenen Informationen<br />

und auch von den verteilten<br />

Renten-Beruhigungspillen. Über<br />

allem prangte ein großes Transparent:<br />

»Arbeitslos mit 50. Aber Rente mit 67?<br />

Verarschen können wir uns selber!«<br />

Klaus H. <strong>Ja</strong>nn, Wülfrath<br />

auftrumpfend<br />

Betr.: Disput Nr. 2/2007, Fröhlich,<br />

streitsam …<br />

Ich bin nicht begeistert von dem Beschluss<br />

des Frauenplenums in Hannover<br />

(27./28 <strong>Ja</strong>nuar): »Christa Müller<br />

spricht nicht für uns!« Es ging darum,<br />

dass sich Müller in der Sendung »Menschen<br />

bei Maischberger« für ein Erziehungsgeld<br />

ausgesprochen hatte.<br />

Es ist ein Unding, gegenüber einer<br />

Einzelmeinung als Gruppe aufzutrumpfen.<br />

Einfach das fortzuführen, was<br />

schon immer Methode der sogenannten<br />

<strong>Linke</strong>n gewesen ist, zeugt nicht gerade<br />

von einem unabhängigen Geist.<br />

Birgit Ergezinger, Göttingen<br />

© Hans Sürth


BÜCHER<br />

<strong>Die</strong> Bilder entstehen<br />

im Kopf<br />

Kleine Welten in großen Geschichten<br />

als spannender Fernsehersatz. Gehört<br />

von Ingrid Feix<br />

In unserer Bilder dominierten Welt<br />

ist es eigentlich nicht so selbstverständlich,<br />

dass sich gerade Hörbücher<br />

zunehmender Beliebtheit erfreuen.<br />

Doch es lohnt sich.<br />

Rechtzeitig zum 80. Geburtstag des<br />

Kolumbianers Gabriel García Márquez<br />

brachte der Audio Verlag das Hörbuch<br />

»Chronik eines angekündigten Todes«,<br />

gelesen von Hanns Zischler, heraus.<br />

Den Literatur-Nobelpreis hatte García<br />

Márquez 1982 für seine Romane<br />

und Erzählungen erhalten, wobei sein<br />

Roman »Hundert <strong>Ja</strong>hre Einsamkeit«<br />

der berühmteste sein dürfte. 1981 erschien<br />

»<strong>Die</strong> Chronik eines unangekündigten<br />

Todes«, und auch diese Ge-<br />

Gabriel García Márquez<br />

Hanns Zischler<br />

Chronik eines<br />

angekündigten Todes<br />

3 CD, 185 min.<br />

SWR, Der Audio Verlag<br />

22,99 Euro<br />

schichte ist angetan, den ganzen Kosmos<br />

der Welt von García Márquez aus<br />

Liebe, Ehre, Leidenschaft kennenzulernen:<br />

Ein Mann schickt in der Hochzeitsnacht<br />

die Braut <strong>zur</strong>ück zu ihren Eltern,<br />

denn sie ist nicht mehr unberührt. Das<br />

ist eine Frage der Ehre. <strong>Die</strong> Brüder der<br />

schönen Angela Vicario machen sich<br />

auf, die Ehre ihrer Schwester zu retten,<br />

sich an dem vermeintlichen Täter zu rächen.<br />

Ein ungewöhnlicher Kriminalfall,<br />

bei dem die Rollen von Anfang an klar<br />

verteilt zu sein scheinen.<br />

Minutiös wird die Geschichte erzählt.<br />

Was sich so einfach und zunächst wenig<br />

spannend anhört, entwickelt sich<br />

in der Beschreibung von García Márquez<br />

zu einem aufregenden Drama, in<br />

dessen Verlauf man sehr viel über zwischenmenschliche<br />

Beziehungen, über<br />

verhängnisvolle Traditionen und über<br />

den Ursprung von Gewalt erfährt. Und<br />

am Schluss steht die Frage, die sonst<br />

am Anfang steht: Wer hat hier Schuld?<br />

Michael Ende<br />

Rufus Beck u. v. a.<br />

Momo<br />

3 CD, 192 min.<br />

WDR und<br />

Der Audio Verlag<br />

14,95 Euro<br />

Hanns Zischler, der als Schauspieler<br />

bekannt ist, darüber hinaus aber auch<br />

als Dramaturg, Übersetzer, Lektor und<br />

Essayist arbeitet, erweist sich einmal<br />

mehr als hervorragender Vorleser, dem<br />

man noch länger zuhören möchte.<br />

Mysteriös ist die Geschichte von<br />

dem Kind, das plötzlich da ist<br />

und behauptet, 200 <strong>Ja</strong>hre alt<br />

zu sein, nicht zu wissen, wer und wo<br />

Vater und Mutter sind, und sich selbst<br />

den Namen »Momo« gegeben hat. <strong>Die</strong>se<br />

fantastische Erzählung von Michael<br />

Ende ist nicht nur ein Kinderbuch-<br />

Klassiker, sie reicht doch weit über eine<br />

Art Walt-Disney-Moral hinaus und<br />

ist somit für ein alterloses Publikum<br />

geeignet. <strong>Die</strong> Gabe des Kindes, zuhören<br />

zu können, erweist sich als Glücksfall.<br />

Doch graue Geschäftemacher bevölkern<br />

die Stadt und stehlen den Menschen<br />

die Zeit. <strong>Die</strong> Welt sieht plötzlich<br />

anders aus. Momo beobachtet mit der<br />

Schildkröte Kassiopeia die Veränderungen<br />

und macht sich auf, die Welt zu<br />

retten, den <strong>Die</strong>bstahl zu beenden …<br />

Auch diese Geschichte hat Krimiqualitäten<br />

und vermittelt eine Ahnung<br />

davon, was nicht so ganz richtig läuft<br />

in unserer schnelllebigen Zeit. Obwohl<br />

der Schauspieler Rufus Beck ein bisschen<br />

als Aushängeschild für diese Hörbuchvariante<br />

dient – spätestens seit<br />

seiner Vorlesekunst bei den Harry-Potter-Büchern<br />

begeistert er immer wieder<br />

seine Zuhörer –, ist er hier nur einer<br />

von zwölf Sprechern, die dieses<br />

hörenswerte Stück umsetzten. Den<br />

Hauptpart dabei bringen die Erzählerin<br />

(Karin Anselm) und natürlich Momo<br />

(Julia Lechner).<br />

Königsblau<br />

Mord nach jeder Fasson<br />

CD, 62 min.<br />

Deutschlandradio<br />

Kultur und be.bra phon<br />

14,90 Euro<br />

Über manchen der Sätze kann man<br />

sich noch danach lange unterhalten,<br />

zum Beispiel wenn Kassiopeia sagt:<br />

Je langsamer man sich bewegt, desto<br />

schneller kommt man voran.<br />

Um »echte« Krimis handelt es<br />

sich bei den Hörspielen »Königsblau«<br />

und »Schwefelgelb«.<br />

<strong>Die</strong> Preußenkrimis von Tom Wolf boten<br />

hier die Grundlage. <strong>Die</strong>se Krimis<br />

sind etwas Besonderes, denn sie verweben<br />

reale historische Vorgänge und<br />

Personen mit fi ktiven. Es geht stets um<br />

Vorgänge am Hofe des Preußenkönigs<br />

Friedrich II., der – und das ist die Fiktion<br />

– einen Zweiten Hofküchenmeister<br />

Honoré Langustier hatte, der in seinem<br />

Auftrag nicht nur köstliche Speisen bereitete,<br />

sondern auch merkwürdige Kriminalfälle<br />

löste.<br />

In »Königsblau« gibt der Tod eines<br />

königlichen Flügeladjudanten im <strong>Ja</strong>hr<br />

1740 einige Rätsel auf, und in »Schwefelgelb«<br />

geht es um den Mord an einem<br />

Schwefelgelb<br />

Mörderische Kälte<br />

CD, 56 min.<br />

Deutschlandradio<br />

Kultur und be.bra phon<br />

14,90 Euro<br />

Münzunternehmer, der 1757 zu Beginn<br />

des Siebenjährigen Krieges die preußische<br />

Staatskasse füllen sollte. Langustier,<br />

den der König auch als belesenen<br />

Schöngeist schätzt, geht gezielt<br />

an die Aufklärung der Fälle.<br />

Deutschlandradio Kultur, ein Sender,<br />

der seine Hörer noch mit aufwändigen<br />

Hörspielen verwöhnt, hat die Bücher<br />

bearbeitet und mit hochkarätigen<br />

Schauspielern umgesetzt. Als Friedrich<br />

II. ist der auch als »Tatort«-Kommissar<br />

bekannte Boris Aljinovic zu hören,<br />

als Erzähler Jürgen Holz, als Langustier<br />

Martin Engler und als königlicher Leibarzt<br />

Tilo Prückner. Sie agieren in beiden<br />

Hörspielen.<br />

Mit den Hörspielen kann man sich<br />

gut in das höfi sche Leben im 18. <strong>Ja</strong>hrhundert<br />

hineinversetzen und gleichzeitig<br />

einen Krimi verfolgen.<br />

Wie sich zeigt, sind vor allem spannende<br />

Geschichten geeignet, auch als<br />

Hörbuch zu erscheinen.<br />

DISPUT März 2007 046<br />

© Repros (4)


<strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> und<br />

Oskar Lafontaine<br />

Von André Brie<br />

Ich habe mehrere Monate überlegt, ob<br />

ich diese Gedanken veröffentlichen<br />

soll. <strong>Die</strong> Bildung der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />

ist nahe herangerückt. Das ist für die<br />

<strong>Linke</strong> in Deutschland eine einzigartige<br />

Chance. Für die Mitglieder der PDS, die<br />

nach 1989 eine demokratisch-sozialistische<br />

Partei gegen den schärfsten äußeren<br />

Druck, gegen eigenen Pessimismus<br />

und mit einer seltenen Lernfähigkeit<br />

und Wandlungsbereitschaft entwickelt<br />

und zumindest in Ostdeutschland<br />

aus der gesellschaftlichen Ächtung und<br />

Isolierung befreit haben, ist das eine tiefe<br />

Zäsur. Vor allem aber wird es eine völlig<br />

neue Möglichkeit werden müssen,<br />

soziale, demokratische und friedliche<br />

Politik mit und für Millionen Menschen<br />

in der Bundesrepublik Deutschland zu<br />

machen. Das ist der Maßstab, dem ich<br />

alles andere unterordne.<br />

<strong>Die</strong> Neubildung<br />

der <strong>Linkspartei</strong> ist<br />

dafür unerlässlich,<br />

auch wenn viele von<br />

uns, auch ich selbst,<br />

dabei viel Vertrautes<br />

aufgeben werden.<br />

Mit dem organisatorischen<br />

Prozess und<br />

dem Gründungsparteitag<br />

wird eine entscheidende<br />

Voraussetzung geschaffen<br />

werden. Das darf nicht gefährdet werden.<br />

Aber es gibt eine Reihe anderer, ebenfalls<br />

entscheidender Voraussetzungen,<br />

die damit noch längst nicht garantiert<br />

sind und um die gegenwärtig zu wenig<br />

gerungen wird: programmatische Klarheit<br />

ist keine sekundäre Frage; ebenso<br />

nicht die politische Strategie in einem<br />

Land, in dem alle anderen Parteien (mit<br />

wichtigen Nuancen) neoliberale Politik<br />

betreiben, aber eine Bevölkerungs- und<br />

Wählerinnen- und Wählermehrheit offensichtlich<br />

soziale Alternativen unterstützt;<br />

die politische Kultur der <strong>neuen</strong><br />

Partei schon gar nicht. Um hier nur bei<br />

der letzten Problematik zu bleiben: <strong>Die</strong><br />

PDS hat sich aus der SED auf manchmal<br />

fast anarchische Weise gebildet. Sie hat<br />

nicht nur ein demokratisch-sozialistisches<br />

Profi l ihrer Politik entwickelt, sondern<br />

auch eine zutiefst demokratische<br />

Diskussions- und Entscheidungskultur.<br />

In der PDS war es undenkbar, dass Parteitage<br />

– wie in der CDU oder der SPD<br />

– Programme und Wahlprogramme in<br />

Minuten und faktisch ohne Gegenstimmen<br />

durchwinken. Andersdenkende haben<br />

eben andere Überzeugungen, andere<br />

Erfahrungen, andere Maßstäbe,<br />

und nicht niedere Motive, wie sie beispielsweise<br />

den Befürwortern der Berliner<br />

Regierungskoalition vorgeworfen<br />

werden. Über die politischen Anschauungen<br />

kann, soll, muss gern gestritten<br />

werden. Aber auf der Grundlage von<br />

Achtung, der Nachdenklichkeit, des Zuhörens<br />

und nicht des Vorurteils oder gar<br />

der persönlichen Denunziation.<br />

Es scheint festzustehen, dass Oskar<br />

Lafontaine und Lothar Bisky die beiden<br />

Vorsitzenden der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />

werden sollen. Bisky ist ein Mann<br />

des Ausgleichs und hat die PDS in den<br />

neunziger <strong>Ja</strong>hren mit Geschick, intellektueller<br />

Ausstrahlung und Erfolg, er<br />

hat sie nach der Wahlniederlage 2002<br />

und scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen<br />

aus einer selbstzerstörerischen<br />

Krise geführt. Oskar Lafontaine<br />

ist umstrittener. Dass meine<br />

Frau zu jenen gehört, die, aus der Partei<br />

auszuschließen, er mehrfach gefordert<br />

hat, gehört zu meinen Problemen.<br />

Ich bin dennoch überzeugt, dass er Vorsitzender<br />

der <strong>neuen</strong> Partei werden sollte.<br />

Erstens, weil ich sein politisches Leben<br />

schätze. Zweitens, weil er wie kein<br />

anderer in der PDS und der WASG linke,<br />

hochkompetente Positionen <strong>zur</strong> Kritik<br />

und zu den Alternativen der Weltfi nanzpolitik<br />

oder der aktuellen Wirtschafts-<br />

und Sozialpolitik vertritt. Drittens, weil<br />

ich glaube, hoffe, dass er mit sich streiten<br />

lassen wird über seine Haltung <strong>zur</strong><br />

deutschen Asylgesetzgebung oder auch<br />

über die Notwendigkeit, den manchmal<br />

turbulenten Demokratismus der PDS<br />

nicht nur als Problem rascher Entscheidungen,<br />

sondern vor allem als Chance<br />

für die Nachhaltigkeit einer modernen<br />

<strong>Linke</strong>n und als wichtigen Beitrag zu einer<br />

nachdenklicheren politischen Kultur<br />

in der ganzen Gesellschaft zu sehen.<br />

Viertens, und das wird später auch<br />

ein großes Problem der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />

werden, wenn sie damit genauso umgeht<br />

wie die frühere PDS: Ohne Gregor<br />

Gysi, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine<br />

wird die neue <strong>Linke</strong> nicht die acht Prozent<br />

von 2005 erreichen und nicht die<br />

möglichen zehn oder mehr 2009. Macht<br />

Euch keine Illusionen! Wir können noch<br />

so überzeugt sein von unseren Papieren,<br />

Beschlüssen, Forderungen oder<br />

von der Qualität vieler unserer anderen<br />

Politikerinnen und Politiker – Menschen<br />

brauchen bei einer Wahl weit mehr. Ohne<br />

Oskar Lafontaine wird die neue Partei<br />

in Westdeutschland nicht von mehr<br />

als zwei Prozent der Menschen gewählt<br />

werden.<br />

Kardinal Retz, einer der Führer der<br />

vorrevolutionären französischen Fronde,<br />

spitzte es in seinen Memoiren zu:<br />

»Ich brauchte nur einen Namen, um das<br />

mit Leben zu begaben, was ohne Namen<br />

nur ein Hirngespinst blieb.« Lafontaine<br />

bringt mehr mit als den Namen,<br />

Kompetenz, ein Herz, das links schlägt,<br />

und Konsequenz. Und wir bringen alle<br />

gemeinsam ja auch viel mit.<br />

© Stefan Richter<br />

470 DISPUT März 2007 MÄRZKOLUMNE


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