Ja zur neuen Linkspartei! - Die Linkspartei - Die Linke
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DISPUT<br />
März 2007<br />
ISSN 0948-2407 | 67 485 | 2,00 Euro<br />
Auf einem guten Weg – <strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />
Profi lsuche – Über programmatische und mentale Schwierigkeiten beim Zusammenschluss<br />
Appetit auf Politik. Politischer Aschermittwoch im Saarland<br />
Iris Töpsch: Helfen, das ist mein Bier. Über Lust und Last im Ehrenamt<br />
Das Ungewisse vorbereiten. Zum Protest gegen den G8-Gipfel<br />
Kubas Zukunft liegt uns am Herzen. Mehr Energie, mehr Bücher, mehr Farbe – Eindrücke von der Insel © Gert Gampe
ZITAT<br />
Manchen<br />
Versammlungseinberufern<br />
gelingts rascher,<br />
hundert<br />
Mitmenschen<br />
als ihre<br />
Gedanken zu<br />
versammeln.<br />
Erwin<br />
Strittmatter,<br />
Selbstermunterungen<br />
INHALT<br />
Auf einem guten Weg 4<br />
<strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>! 6<br />
Aus zwei mach eins – Deins! 7<br />
Profi lsuche 8<br />
Jetzt macht mal hin! 10<br />
Alpenglühen 12<br />
<strong>Linke</strong> Stammtische 13<br />
Appetit auf Politik 14<br />
Chancen, Sorgen und<br />
Verantwortung 18<br />
Ohne Abstufungen.<br />
Zur Behindertenpolitik 21<br />
Sabine Zimmermann:<br />
Ich bin hier wie da dieselbe 22<br />
Pressedienst 26<br />
Iris Töpsch: Helfen,<br />
das ist mein Bier 28<br />
Selbstbestimmung und Würde.<br />
Gastbeitrag Stefan Heinik, ABiD 32<br />
IMPRESSUM DISPUT ist die Mitgliederzeitschrift der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, herausgegeben vom Parteivorstand,<br />
und erscheint einmal monatlich über Neue Zeitungsverwaltung GmbH, Weydingerstraße 14 – 16, 10178 Berlin<br />
REDAKTION Stefan Richter, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin, Telefon: (030) 24 00 95 10,<br />
Fax: (030) 24 00 93 99, E-Mail: disput@linkspartei.de GRAFIK UND LAYOUT Thomas Herbell<br />
DRUCK MediaService GmbH BärenDruck und Werbung, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin<br />
ABOSERVICE Neues Deutschland, Druckerei und Verlag GmbH, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin,<br />
Telefon: (030) 29 78 18 00 ISSN 0948-2407 REDAKTIONSSCHLUSS 10. März 2007<br />
© Stefan Richter<br />
Eine soziale Neuerfi ndung 33<br />
Kuba tauscht die Lampen aus 34<br />
Strenge Eigentümer 37<br />
Sachsens Armutshauptstadt:<br />
Leipzig 38<br />
Selbstbefragung 40<br />
Das Ungewisse vorbereiten.<br />
Protest gegen G8-Gipfel 42<br />
Nachbelichtet 43<br />
Briefe 44<br />
Bücher 46<br />
Märzkolumne 47<br />
Seite achtundvierzig 48<br />
... konzentriertes<br />
Arbeiten, mehr<br />
Ruhe – Mit ihren<br />
Bundesparteitagen<br />
in Dortmund<br />
wollen <strong>Linkspartei</strong><br />
und WASG am<br />
24. und 25. März<br />
endgültig die<br />
Signale für freie<br />
Fahrt Richtung<br />
neue <strong>Linkspartei</strong><br />
stellen. DISPUT<br />
berichtet darüber<br />
ausführlich in Heft<br />
4 – das Parteitagsheft<br />
erscheint am<br />
5. April.<br />
ZAHL DES MONATS<br />
65<br />
<strong>Die</strong> Nutzung des Internets nahm weiter<br />
zu. 65 Prozent aller Personen ab<br />
zehn <strong>Ja</strong>hren nutzten im ersten Quartal<br />
2006 das Internet. 56 Prozent von<br />
ihnen gingen täglich oder fast täglich<br />
online. Groß sind die Unterschiede in<br />
den Altersgruppen: Bei den Zehn- bis<br />
24-Jährigen waren 92 Prozent Internetnutzer,<br />
bei den über 54-Jährigen<br />
nur 30 Prozent.<br />
DISPUT März 2007 02
INGA NITZ<br />
27 <strong>Ja</strong>hre jung und glücklich verheiratet. Diplom-Verwaltungswirtin. Seit fünf<br />
<strong>Ja</strong>hren in Bremen zu Hause, seit <strong>Ja</strong>nuar 2006 Landessprecherin der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
Bei der Bürgerschaftswahl kandidiert sie auf Platz 4. Ihre Schwerpunkte: Sozial-<br />
und Arbeitsmarktpolitik, Bildung und Jugend. Mitglied bei ver.di und NABU.<br />
Was hat Dich in letzter Zeit am meisten überrascht?<br />
Löwenzahn in diesem Februar.<br />
Was ist für Dich links?<br />
Kein Standpunkt, sondern ein Gehpunkt – frei, gerecht, solidarisch – zu einem<br />
»Zeitwohlstand«.<br />
Worin siehst Du Deine größte Schwäche, worin Deine größten Stärken?<br />
Meine Freundlichkeit kann Stärke sein, manchmal auch Schwäche.<br />
Was war Dein erster Berufswunsch?<br />
Kassiererin, damit ich den ganzen Tag Knöpfe drücken kann.<br />
Wie sieht Arbeit aus, die Dich zufrieden macht?<br />
Ich muss mit ihr etwas aufbauen können, und sei es »nur« Vertrauen.<br />
Wenn Du Parteivorsitzende wärst …<br />
… würde ich – nach tiefem Durchatmen – das Ohr an der Basis haben, die Nase<br />
in viele Bücher stecken, den Finger auf die Wunden legen, das Herz links<br />
schlagen hören.<br />
Was regt Dich auf?<br />
Jegliche Art von Krieg.<br />
Wann und wie hast Du unlängst Solidarität gespürt?<br />
Im Dezember 2006 auf dem Berliner Alexanderplatz, als mehrere Menschen<br />
mit großen Schildern für »kostenlose Umarmungen – free hugs« warben. Sie<br />
schlossen sich einer von einem Australier initiierten weltweiten Initiative an,<br />
um gegen die soziale Kälte zu demonstrieren und um etwas mehr menschliche<br />
Nähe in unsere triste Welt zu bringen. Ich war zutiefst beeindruckt, schloss<br />
mich den vielen Menschen an und nutzte die Gelegenheit, auf einfachem Weg<br />
Solidarität auszudrücken.<br />
Wovon träumst Du?<br />
Von meiner ersten Rede in der Bremer Bürgerschaft habe ich schon oft<br />
geträumt. Wenn die erste Linksfraktion in einem westdeutschen Landtag nach<br />
dem 13. Mai 2007 so läuft wie in meinen Träumen, wäre das traumhaft! Redezeit<br />
und Ideen ohne Ende, gallige Zurufe von den Anderen, guter<br />
Zuspruch von den eigenen Leuten.<br />
Möchtest Du (manchmal) anders sein, als Du bist?<br />
Nö. Obwohl: Künstler sind schon zu beneiden, ob ihres Könnens.<br />
Müssen Helden und Vorbilder sein?<br />
Erst mal müssen sie welche werden, durch außergewöhnliche Leistungen.<br />
Wann fühlst Du Dich gut?<br />
24 Stunden gemeinsam mit meinem Mann Christoph, unserem Kater Felix und<br />
den fünf Meerschweinchen Luna, Elvis, Yoko, Fridolin und Ferdinand. Doch das<br />
hat im Moment Seltenheitswert.<br />
Was bringt Dich zum Weinen?<br />
Das Schälen einer Zwiebel.<br />
Wie lautet Dein Lebensmotto?<br />
Jeder Traum, an den ich mich verschwendet, jeder Kampf, wo ich mich nicht<br />
geschont, jeder Sonnenstrahl, der mich geblendet, alles hat am Ende sich<br />
gelohnt. – Ist leider nicht von mir, sondern von Louis Fürnberg.<br />
30 DISPUT März 2007 FRAGEZEICHEN<br />
© privat
Auf einem guten Weg<br />
Vor den Bundesparteitagen der <strong>Linkspartei</strong> und der WASG am 24. und 25. März<br />
in Dortmund Von Bodo Ramelow<br />
Ich wurde von Mitgliedern unserer Partei<br />
oder der Wahlalternative für Arbeit<br />
und soziale Gerechtigkeit manchmal<br />
gefragt, ob ich angesichts der Probleme<br />
bei der Parteineubildung nicht<br />
lieber das Handtuch werfen würde. Ehrlich<br />
gesagt ist mir der Gedanke ab und<br />
an gekommen. Nicht, weil mir die Probleme<br />
zu groß erschienen. Nein, aber<br />
ich fühlte mich das eine oder andere<br />
Mal beim Kampf für eine neue <strong>Linkspartei</strong><br />
etwas allein gelassen. Aus heutiger<br />
Sicht trog dieses Gefühl sicherlich.<br />
Denn ohne die vielen Helfer hinter den<br />
Kulissen, die monatelang in Sitzungen<br />
beraten oder die Gründungsdokumente<br />
vorbereitet haben, wären die bevorstehenden<br />
Parteitage und die Urabstimmung<br />
nicht möglich.<br />
Es gab auch einen anderen Grund,<br />
nicht bei voller Fahrt abzuspringen: die<br />
vielen Mitglieder der <strong>Linkspartei</strong> und<br />
der WASG, die sich engagiert für eine<br />
gemeinsame <strong>Linke</strong> in Deutschland einsetzen.<br />
Während wir auf Bundesebene das<br />
Zusammengehen der beiden Parteien<br />
noch in Sack und Tüten bringen müssen,<br />
haben einige Kreis- und Stadtverbände<br />
dies schon längst vollzogen. Da<br />
wird nicht nur gemeinsam bei Wahlen<br />
kandidiert, sondern auch für die Menschen<br />
vor Ort gestritten und gekämpft.<br />
Und das Schöne daran: <strong>Die</strong> gibt es im<br />
Westen wie im Osten, im Norden wie im<br />
Süden! Am besten kommen wir überall<br />
dort an, wo in der Tat gemeinsam Politik<br />
gemacht wird. Sei es in Hessen,<br />
Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt oder<br />
Thüringen. Das macht mir Mut, die Parteineubildung<br />
sicher ins Ziel zu bringen,<br />
und es tröstet über einige unschöne<br />
Auseinandersetzungen.<br />
Bedenkt man, dass wir vor noch<br />
nicht einmal zwei <strong>Ja</strong>hren gemeinsam<br />
bei der Bundestagswahl angetreten<br />
sind und den Prozess der Bildung einer<br />
<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n in Deutschland in Angriff<br />
genommen haben, stehen wir schneller<br />
vor unserem Ziel als gedacht. Das<br />
Hauptproblem dabei war nicht der Unterschied<br />
zwischen Ost und West, sondern<br />
die Entstehung und Geschichte<br />
beider Parteien. Auf der einen Seite<br />
die PDS, die aus der DDR-Partei SED<br />
hervorging und sich in den letzten <strong>Ja</strong>hren<br />
im Osten als soziale Volkspartei<br />
fest etabliert hat, während sie im Wes-<br />
NEUE LINKE<br />
ten nur schwer einen Fuß in die Tür bekommen<br />
konnte. Auf der anderen Seite<br />
die Wahlalternative für Arbeit und soziale<br />
Gerechtigkeit, die als Protestbewegung<br />
gegen die Agenda 2010 der SPD/<br />
Grünen-Regierung und gegen die Hartz-<br />
Gesetze vor allem im Westen Deutschlands<br />
ihren Anfang nahm.<br />
Beide vereinte keine politische oder<br />
religiöse Weltanschauung, sondern der<br />
Kampf gegen den Sozialabbau und gegen<br />
die Zerstörung der sozialen Sicherungssysteme.<br />
Da liegt der Spannungsbogen,<br />
in dem wir uns in den vergangenen<br />
Monaten bewegt haben. Indem<br />
sich Kommunisten, Sozialisten, Gewerkschafter<br />
und Christen an einen<br />
Tisch setzten, gemeinsam Straßenprotest<br />
organisierten oder vielerorts<br />
Hilfe für Hartz-IV-Empfänger leisteten,<br />
legten sie den Grundstein für eine gesamtdeutsche<br />
linke Partei.<br />
Bei der Bundestagswahl erreichten<br />
wir mit dem gemeinsamen Wahlantritt<br />
von <strong>Linkspartei</strong> und WASG beachtliche<br />
8,7 Prozent. Ich verstehe dies nicht allein<br />
als Erfolg, sondern zugleich als einen<br />
Auftrag der Wählerinnen und Wähler,<br />
gemeinsam linke Politik in diesem<br />
Land zu machen. In der Bundestagsfraktion<br />
haben wir genau die breite Palette<br />
von Menschen, die unserer zukünftigen<br />
Partei Ausdruck verleihen<br />
wird. Das ist nicht immer ohne strittige<br />
Debatte möglich. Wenn wir jedoch<br />
ehrlich zu uns sind, wissen wir, dass<br />
es auch innerhalb der PDS über inhaltliche<br />
Fragen Auseinandersetzungen<br />
gab. Erwähnen will ich an dieser Stelle<br />
nur die Parteitage in Münster und Gera,<br />
die vielen noch in Erinnerung sind.<br />
Aber der politische Streit macht eben<br />
eine demokratische und pluralistische<br />
Partei aus.<br />
Ich denke, in einem solchen Prozess<br />
kann man es sich nicht leisten, im Harry-Potter-Stil<br />
»von dem du weißt schon«<br />
nicht zu reden. Im Gegenteil: Wir müssen<br />
die Probleme benennen, darüber<br />
streiten und einen gemeinsamen<br />
Nenner suchen. Am Schluss muss alles<br />
in einer klaren Positionierung münden.<br />
Das bringt nicht immer Freunde,<br />
und es gibt Menschen in unseren Parteien,<br />
die sich offenbar näher stehen<br />
als einer gemeinsamen <strong>Linke</strong>n. Aber<br />
wir haben nicht das Recht, das Ergebnis<br />
dieses Prozesses durch kleine und<br />
kleinste Haarspaltereien in den Sand<br />
zu setzen. Wenn wir sachlich miteinander<br />
reden, werden wir die Parteineubildung<br />
zum Erfolg führen.<br />
Daran hindert uns auch nicht der<br />
Springer-Konzern oder eine kleine<br />
Gruppe von Mitgliedern, die Revolution<br />
am liebsten mit drei R schreiben würden.<br />
Klar ist es ärgerlich, wenn Landesverbände<br />
der WASG wie Mecklenburg-<br />
Vorpommern oder Berlin konkurrierend<br />
gegen uns antraten. Das hat sicherlich<br />
auch mit der tradierten Kultur des<br />
Misstrauens bei den <strong>Linke</strong>n zu tun. <strong>Die</strong><br />
Wahlergebnisse haben jedoch gezeigt,<br />
dass es keiner Seite Nutzen bringt.<br />
Darüber hinaus sind die öffentlichen<br />
scheinbaren Streitereien vom Betrachter<br />
schwierig einzuordnen. Weil er oft<br />
nicht sehen kann, ob sich ein größeres<br />
oder kleineres Problem offenbart. Seine<br />
Wirkung unter den Wählerinnen und<br />
Wählern verfehlt das allerdings nicht.<br />
<strong>Die</strong> Neubildung einer gemeinsamen<br />
linken Partei sollte für uns ein Beginn<br />
sein, linke und soziale Bewegungen<br />
und Parteien zu bündeln. Wir maßen<br />
uns nicht an, den Alleinvertretungsanspruch<br />
sämtlicher linker Kräfte zu haben.<br />
Wir stehen jedoch als Bündnispartner<br />
<strong>zur</strong> Verfügung. Ich bin froh darüber,<br />
dass viele Bürgerinnen und Bürger<br />
davon ausgehen, dass wir bereits<br />
eine Partei sind. Sicherlich hat dazu die<br />
Ausstrahlung unserer Bundestagsfraktion<br />
DIE LINKE. maßgebend beigetragen.<br />
Interessant ist, dass selbst unsere<br />
Mitgliedschaft sich in Gedanken schon<br />
in der <strong>neuen</strong> Partei sieht. Wenn in Medien<br />
der Name PDS verwendet wird, beschweren<br />
sich bei uns Anrufer: Wir sind<br />
doch jetzt »<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong>« ...<br />
Warum sollten wir also diese Motivation<br />
nicht nutzen und in den nächsten<br />
Monaten die Bildung der <strong>neuen</strong> Partei<br />
vollziehen? Nicht nur die meisten Mitglieder<br />
der <strong>Linkspartei</strong> und WASG warten<br />
darauf, sondern auch Menschen,<br />
die sich gern in einer gemeinsamen linken<br />
deutschen Partei engagieren möchten.<br />
In den öffentlichen Debatten, aber<br />
auch innerhalb unserer Partei geht ein<br />
Aspekt der Parteineubildung fast unter,<br />
obwohl er meines Erachtens ein wichtiger<br />
Bestandteil der <strong>neuen</strong> Partei sein<br />
wird. Was viele <strong>Ja</strong>hre nicht gelungen<br />
ist, wird im Ergebnis der Parteineubildung<br />
vollzogen: <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> wird einen<br />
DISPUT März 2007 04
Jugendverband haben, der die bisherigen<br />
verschiedenen Jugendgruppen<br />
bündelt und jungen Mitgliedern der<br />
Partei die Möglichkeit schafft, sich zu<br />
engagieren. Darauf können vor allem<br />
die Jugendlichen selbst stolz sein. Gerade<br />
eine linke Partei sollte jungen und<br />
aufmüpfi gen Menschen eine politische<br />
Heimat bieten.<br />
In den vergangenen Wochen haben<br />
Kreis- und Stadtverbände, Mitglieder<br />
der <strong>Linkspartei</strong> und der WASG Zuarbeiten<br />
für die Gründungsdokumente eingereicht,<br />
Anträge an die Parteitage formuliert<br />
und sich aktiv an der inhaltlichen<br />
Ausgestaltung der <strong>neuen</strong> Partei<br />
beteiligt. Auch wenn am Ende sich nicht<br />
alles in den Dokumenten wiederfi ndet,<br />
macht es mich dennoch zuversichtlich<br />
für die Parteitage in Dortmund.<br />
Unsere »Programmatischen Eckpunkte«<br />
sind noch kein fertiges Programm,<br />
und sie können es auch nicht<br />
sein. <strong>Die</strong> Partei DIE LINKE muss nach ihrer<br />
Gründung an die Arbeit gehen, sich<br />
ein eigenes Programm zu geben. <strong>Die</strong><br />
Grundlagen schaffen wir gemeinsam.<br />
<strong>Die</strong> Delegierten des Bundesparteitages<br />
haben in Dortmund zwei anstrengende<br />
Tage vor sich, um sich durch die Vielzahl<br />
der Anträge zu arbeiten. Für den<br />
einen oder anderen wird es nicht neu<br />
sein, da wir auch bei bisherigen Parteitagen<br />
dicke Antragshefte hatten. <strong>Die</strong><br />
Besonderheit diesmal ist, dass unsere<br />
Beschlüsse der Bestätigung durch den<br />
Parteitag der WASG bedürfen, und umgekehrt<br />
das Gleiche. Deshalb wird es<br />
auch für die Organisatoren der Parteitage<br />
ein schweres Stück Arbeit. Ich bin<br />
dennoch gewiss, dass wir am Abend<br />
des 25. März gültige Gründungsdokumente<br />
haben.<br />
<strong>Die</strong> im April beginnende Urabstimmung<br />
verlangt von unseren Basisorganisationen<br />
und von den ehrenamtlichen<br />
Mitgliedern in den Stadt- und Kreisvorständen<br />
viel Engagement, schließlich<br />
müssen wir alle erreichen und für die<br />
Teilnahme an der Urabstimmung gewinnen.<br />
Jede Stimme muss uns wichtig<br />
sein. <strong>Die</strong> neue Partei braucht einen<br />
guten Start, der von den Mitgliedern<br />
getragen wird. Ich möchte mich nicht<br />
auf irgendwelche Zahlen festlegen lassen,<br />
bin aber überzeugt, dass die überwiegende<br />
Mehrheit der Mitglieder der<br />
<strong>Linkspartei</strong> und der WASG den Gründungsdokumenten<br />
und der Bildung<br />
der Partei DIE LINKE ihre Zustimmung<br />
geben werden. Wir sind auf einem guten<br />
Weg, und ich bin wirklich froh, dabei<br />
sein zu können.<br />
Bodo Ramelow ist Mitglied des Parteivorstandes<br />
und Beauftragter der <strong>Linkspartei</strong><br />
für die Parteineubildung<br />
50 DISPUT März 2007<br />
AKTION<br />
Bis 67 auf dem Dachstuhl balancieren? Gegen die Rentenpläne der Bundesregierung<br />
protestierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter mit vielfältigen<br />
Aktionen – wie am 26. Februar unweit des Bundestages in Berlin.<br />
Unter dem Motto »Wir steigern des Bruttosozialprodukt« illustrierten Mitglieder<br />
der WASG und der <strong>Linkspartei</strong> in Mannheim am 3. Februar das Bild des Arbeitsalltags<br />
mit 67 <strong>Ja</strong>hren.<br />
© Stefan Richter<br />
© Bernd Merling
<strong>Ja</strong> <strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />
Zur bevorstehenden Urabstimmung in der <strong>Linkspartei</strong>.PDS Von <strong>Die</strong>tmar Bartsch<br />
Auf parallel tagenden Bundesparteitagen<br />
werden <strong>Linkspartei</strong>.PDS und WASG<br />
am 24. und 25. März in Dortmund über<br />
ihren Zusammenschluss beraten. Danach<br />
entscheiden darüber die Mitglieder<br />
per Urabstimmung. Ich bitte alle<br />
Mitglieder der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, sich<br />
zwischen dem 30. März und dem 18.<br />
Mai 2007 an der Urabstimmung zu beteiligen,<br />
und ich werbe dafür, für die<br />
Verschmelzung von WASG und <strong>Linkspartei</strong><br />
<strong>zur</strong> Partei DIE LINKE zu stimmen.<br />
<strong>Die</strong> neue Partei – so steht es im Entwurf<br />
der Satzung – ist in der Geschichte<br />
der deutschen und der internationalen<br />
Arbeiterbewegung verwurzelt und<br />
der Friedensbewegung und dem Antifaschismus<br />
verpfl ichtet. Sie steht den<br />
Gewerkschaften und <strong>neuen</strong> sozialen<br />
Bewegungen nahe und schöpft aus<br />
dem Feminismus und der Ökologiebewegung.<br />
DIE LINKE strebt die Entwicklung<br />
einer solidarischen Gesellschaft<br />
an, sie ist plural und offen für alle, die<br />
gleiche Ziele mit demokratischen Mitteln<br />
erreichen wollen. Ich denke, dieser<br />
Bestimmung des Platzes und der Ziele<br />
der LINKEN können wir überzeugt zustimmen.<br />
Gewiss, mit der Neugründung ist<br />
auch der Abschied von der Partei verbunden,<br />
für die sich viele von uns seit<br />
<strong>Ja</strong>hren engagieren. <strong>Die</strong>ser Abschied ist<br />
auch bei mir mit Wehmut verbunden.<br />
Ich wurde 1991 Bundesschatzmeister<br />
der PDS und habe in den Auseinandersetzungen<br />
mit der Treuhandanstalt und<br />
der sogenannten Unabhängigen Kommission<br />
für das DDR-Parteivermögen<br />
hautnah erlebt, was der Existenzkampf<br />
einer sozialistischen Partei in Deutschland<br />
praktisch bedeutet. Gemeinsam<br />
mit Karl Holluba, Asunta Koch und vielen<br />
anderen kämpfte ich um die materiellen<br />
und fi nanziellen Grundlagen unserer<br />
politischen Arbeit. Wie Lothar Bisky,<br />
Gregor Gysi, Heinz Vietze und andere<br />
habe ich mich bis hin zu einem<br />
Hungerstreik für die PDS eingesetzt.<br />
Wir waren letztlich erfolgreich dank<br />
der aufopferungsvollen Solidarität der<br />
Genossinnen und Genossen unserer<br />
Partei. Viele Mitglieder und Sympathisanten<br />
haben vergleichbare Erlebnisse<br />
und werden sich gerade jetzt mit Stolz<br />
und manchmal auch mit Ärger an Höhen<br />
und Tiefen in der Geschichte unserer<br />
Partei erinnern.<br />
NEUE LINKE<br />
Und doch tun wir gut daran, im Neuen<br />
vor allem die Chancen zu sehen.<br />
Lothar Bisky hat den Weg der »alten«<br />
PDS in eine neue <strong>Linkspartei</strong> als einen<br />
»zweiten Aufbruch« – nach dem der<br />
<strong>Ja</strong>hre 1989/90 – bezeichnet. Wir können<br />
beweisen, dass in Deutschland etwas<br />
gleichberechtigt zusammenwachsen<br />
kann, was in der Geschichte und<br />
in Ost und West unterschiedliche Wurzeln<br />
hat, was verschiedene Milieus darstellt<br />
und anspricht. Es ist der Aufbruch<br />
in eine neue politische Kultur, wenn<br />
hierzulande demokratische Sozialistinnen<br />
und Sozialisten ebenso selbstverständlich<br />
zum politischen Spektrum<br />
gehören wie Sozialdemokraten, Konservative<br />
und Liberale. In vielen Ländern<br />
Europas ist das schon lange so.<br />
Wir brauchen eine einfl ussreiche linke<br />
Partei, weil der neoliberalen Politik<br />
des Abbaus von Demokratie und Sozialstaatlichkeit,<br />
den Befürwortern von<br />
ungehemmtem Wettbewerb und Militarisierung<br />
eine starke Kraft mit modernen<br />
sozial-ökologischen Alternativen<br />
entgegenstehen muss. Ich denke, DIE<br />
LINKE muss eine sozialistische Partei<br />
sein und eine emanzipatorische Politik<br />
betreiben.<br />
Post an alle<br />
Der Parteivorstand hat an den Dortmunder<br />
Parteitag den Antrag gestellt,<br />
<strong>zur</strong> Urabstimmung die Mitglieder zu<br />
fragen: »Stimmst du dem Entwurf des<br />
Verschmelzungsvertrages zwischen<br />
WASG und <strong>Linkspartei</strong>.PDS und damit<br />
der Verschmelzung von WASG und<br />
<strong>Linkspartei</strong>.PDS auf der Grundlage der<br />
beschlossenen Gründungsdokumente<br />
zu? <strong>Ja</strong> / Nein«. <strong>Die</strong>, wie ich leider gestehen<br />
muss, ziemlich verquaste Fragestellung<br />
hat mit Anforderungen zu tun,<br />
die aus dem Parteien- und Vereinsrecht<br />
entstehen, sowie mit Konsequenzen<br />
aus dem Umwandlungsgesetz, nach<br />
dem wir den Zusammenschluss beider<br />
Parteien juristisch vollziehen wollen.<br />
Der Verschmelzungsvertrag ist unter<br />
www.sozialisten.de im Internet veröffentlicht,<br />
und er gehört zu den Delegiertenunterlagen<br />
für den Dortmunder<br />
Parteitag. <strong>Die</strong> politischen Grundlagen<br />
für unseren Zusammenschluss stehen<br />
in jenen Gründungsdokumenten, die<br />
wir in jüngster Zeit in beiden Parteien<br />
diskutiert haben und über die in Dortmund<br />
beraten und entschieden wird:<br />
den Programmatischen Eckpunkten,<br />
der Bundessatzung, der Bundesfi nanzordnung<br />
und der Schiedsordnung.<br />
Zur Urabstimmung werden alle Mitglieder<br />
der Partei von der Bundesgeschäftsstelle<br />
angeschrieben. Sie erhalten<br />
Erläuterungen <strong>zur</strong> Urabstimmung,<br />
den Beschluss des Parteitages und den<br />
Text des Verschmelzungsvertrages. Alle<br />
Mitglieder bekommen zugleich den Urabstimmungsschein<br />
zum Ausfüllen, der<br />
in ein ebenfalls beigefügtes Kuvert ohne<br />
Absender gesteckt wird. <strong>Die</strong>ses wiederum<br />
kommt verschlossen in einen<br />
bereits adressierten Briefumschlag, der<br />
den Aufdruck »Gebühr bezahlt Empfänger«<br />
trägt. Auf diese Weise ist einerseits<br />
eine anonyme Stimmabgabe gesichert,<br />
und andererseits kann festgehalten<br />
werden, wer bereits seine Stimme<br />
abgegeben hat. <strong>Die</strong> Urabstimmungsbriefe<br />
können entweder auf dem Postweg<br />
für den Absender gebührenfrei an<br />
die aufgedruckten Adressen geschickt<br />
oder aber bei den Geschäftsstellen der<br />
<strong>Linkspartei</strong> abgegeben werden. Letzteres<br />
hilft uns, Kosten zu sparen.<br />
<strong>Die</strong> Auszählung der Urabstimmung<br />
soll am 19. Mai 2007 in der Bundesgeschäftsstelle<br />
erfolgen und von der<br />
Wahlkommission des Parteitages<br />
durchgeführt werden. Vorgesehen ist,<br />
dass die vom Parteitag gewählte Mandatsprüfungskommission<br />
während<br />
der Urabstimmung als Klärungs- und<br />
Schlichtungsstelle fungiert.<br />
Im Berliner Karl-Liebknecht-Haus<br />
arbeitet ab dem 30. März eine Service-Stelle<br />
<strong>zur</strong> Urabstimmung. <strong>Die</strong>se<br />
ist werktags von 9 bis 20 Uhr telefonisch<br />
erreichbar unter 030 – 24 00 95<br />
42 oder unter Fax 030 – 24 00 94 80<br />
bzw. E-Mail parteivorstand@linkspartei.de.<br />
<strong>Die</strong> Urabstimmung endet am 18.<br />
Mai 2007 um 18 Uhr.<br />
Ich hoffe sehr, dass sich möglichst<br />
alle Mitglieder unserer Partei an der<br />
Urabstimmung beteiligen, da kann es<br />
ruhig einen »sozialistischen Wettbewerb«<br />
der Landes- und Kreisverbände<br />
geben! Und natürlich ermuntere ich alle<br />
Genossinnen und Genossen: Sagt <strong>Ja</strong><br />
<strong>zur</strong> <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong>!<br />
Dr. <strong>Die</strong>tmar Bartsch ist<br />
Bundesgeschäftsführer<br />
DISPUT März 2007 06
Aus zwei mach eins – Deins!<br />
Mitgliederkampagne zum Gründungskongress Von Claudia Gohde<br />
Franz will eintreten, weil jetzt die <strong>Linke</strong><br />
endlich geeint wird.<br />
Svenja will eintreten, weil sie im linken<br />
Hochschulverband die Unterstützung<br />
von Fraktionen in sechs Landtagen,<br />
im Bundestag und im Europaparlament<br />
hat.<br />
Urs will eintreten, weil er die Demütigungen<br />
als Hartz-IV-Empfänger einfach<br />
nicht mehr ertragen will und seinen<br />
Protest zusammen mit anderen<br />
laut heraus schreien will.<br />
Sabine will eintreten, weil sie die<br />
Mindestlohnkampagne klasse fi ndet.<br />
Jochen will eintreten, weil die <strong>Linke</strong><br />
als einzige Partei konsequent für die<br />
Gemeinschaftsschule streitet.<br />
Christine will eintreten, weil sie die<br />
Powerfrauen Petra, Katja, Dagmar und<br />
Kerstin toll fi ndet.<br />
Wilfried will eintreten, weil die <strong>Linke</strong><br />
die einzige sozialistische Partei ist.<br />
Und Edith ist schon lange drin, weil<br />
die <strong>Linke</strong> auf allen Ebenen als antifaschistische<br />
Partei gegen Nazis, Rechtsextremismus<br />
und Fremdenfeindlichkeit<br />
aktiv ist.<br />
Es gibt bestimmt so viele Eintrittsgründe,<br />
wie es Mitglieder gibt. Und darum<br />
gibt es auch sicher einige Tausend<br />
Eintrittsgründe für diejenigen, die noch<br />
nicht drin sind, aber gewinnbar wären.<br />
Für die meisten von ihnen gilt, dass<br />
sie noch nie gefragt wurden. Manchmal<br />
braucht man nur einen Anlass. Das<br />
kann im <strong>Ja</strong>hr 2007 der Gründungskongress<br />
der Partei DIE LINKE sein.<br />
Während wir als Mitglieder möglicherweise<br />
schon etwas geschlaucht<br />
von den Antragsschlachten, der Urabstimmung<br />
und den furchtbar vielen<br />
Verhandlungen über Paritäten, Daten-<br />
70 DISPUT März 2007<br />
abgleichen und Tagesordnungsproblemen<br />
sind, gucken sehr viele <strong>Linke</strong> von<br />
außen mit Interesse und Spannung auf<br />
unseren Parteibildungsprozess:<br />
■ ■ In welcher anderen Partei wird die<br />
Forderung nach mehr direkter Demokratie<br />
durch die Praxis in der eigenen<br />
Partei – Urabstimmung über die Gründungsdokumente<br />
– so nachdrücklich<br />
untermauert?<br />
■ ■ Welche Partei ist so mit den sozialen<br />
Bewegungen in Ost wie West verbunden?<br />
■ ■ Welche andere Partei ist so oft totgesagt<br />
worden und erlebt nach der erfolgreichen<br />
Bundestagswahl 2005 und<br />
in ihrem 18. Lebensjahr nach der Wende<br />
eine solche Stärkung?<br />
■ ■ Welche Partei hat so eloquente<br />
Fraktionsvorsitzende?<br />
■ ■ Wo in der <strong>Linke</strong>n gibt es sonst<br />
ein Stück Aufbruch, der auch den Politikverdrossenen<br />
Mut macht, die<br />
Schwachen stärkt und aufzeigt, dass<br />
es wirklich auch anders geht?<br />
Es gibt viele, die so auf unsere Parteibildung<br />
gucken und die wir nicht unbedingt<br />
mit Erzählungen über gerade<br />
erlebte Endlosdebatten oder skandalöse<br />
Einzelmeinungen von Lieschen<br />
Müller aus Kleinsiehstemichnicht langweilen<br />
sollten. Dass der politische Alltag<br />
auch Durststrecken hat, weiß jede<br />
und jeder. Aber wir wissen ebenfalls,<br />
was uns darüber hinweg trägt: Gemeinschaft<br />
und Solidarität, die Wut auf<br />
Krieg, Unterdrückung und Ungerechtigkeit,<br />
das Glück, ein paar wirkliche Verbesserungen<br />
erreicht zu haben, oder<br />
die Vision eines demokratischen Sozialismus.<br />
Das lohnt sich mit anderen<br />
zu teilen.<br />
Einige haben für sich den 16. Juni zum<br />
symbolischen Datum für den Aufbruch<br />
einer geeinten <strong>Linke</strong>n erklärt und angekündigt,<br />
zu diesem Termin der <strong>neuen</strong><br />
Partei beitreten zu wollen. Warum sollte<br />
dieser Tag nicht auch für uns und viele<br />
andere ein solcher Stichtag sein? »Aus<br />
zwei mach eins – Deins« , formulierte<br />
ein Genosse in der Koordinierungsgruppe<br />
Mitgliederentwicklung. Das ist doch<br />
ein Motto, unter dem unsere neue Partei<br />
nicht nur die Unsere bleibt, sondern<br />
zu einer Partei für die Kollegin, Nachbarin<br />
oder den Freund werden könnte. Außerdem<br />
gibt es noch die lange Reihe der<br />
parteilosen Abgeordneten, die vielleicht<br />
einfach mal angesprochen werden wollen<br />
oder sollten.<br />
Für die ersten 1.000 Mitglieder ab<br />
dem 16. Juni gibt’s übrigens eine Überraschung.<br />
Und die in diesem <strong>Ja</strong>hr erfolgreichsten<br />
Landes- und Kreisverbände<br />
in der Mitgliedergewinnung sollen<br />
ebenfalls ausgezeichnet werden.<br />
Auf unserer Internetseite werden diejenigen<br />
Neumitglieder, die damit einverstanden<br />
sind, mit Bild und Text vorgestellt<br />
werden. Selbstverständlich gibt<br />
es ab dem 16. Juni auch einen <strong>neuen</strong><br />
Flyer und neue Eintrittserklärungen.<br />
Und noch viel mehr…<br />
Für diejenigen, die nicht bis zum 16.<br />
Juni mit dem Eintritt warten wollen, hält<br />
natürlich auch noch die gute alte PDS<br />
(wenngleich mit dem Zusatz <strong>Linkspartei</strong>.)<br />
Eintrittserklärungen bereit und ein<br />
gutes Argument: Wer bis zum 20. April<br />
2007 eintritt, kann an der Urabstimmung<br />
teilnehmen und wird später einmal<br />
den Enkeln sagen können, dass er<br />
oder sie nicht erst eingetreten ist, als<br />
es ab dem 16. Juni Mode wurde.<br />
MITGLIEDER
Profi lsuche<br />
Über programmatische und mentale Schwierigkeiten beim Zusammenschluss<br />
Von Rosemarie Hein<br />
Eine starke linke Politik ist in der Bundesrepublik<br />
nötiger denn je. Seit dem<br />
Frühjahr 2005 haben wir begonnen, an<br />
einer gemeinsamen <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n zu<br />
arbeiten. <strong>Die</strong> Gründungsdokumente<br />
liegen vor, und vielerorts ist man über<br />
das gegenseitige Beschnuppern hinaus<br />
bereits zu einer engen Zusammenarbeit<br />
übergegangen.<br />
Nun soll aber keiner glauben, das<br />
sei einfach. Der Zusammenschluss der<br />
beiden Parteien ist noch lange kein Garant<br />
für eine dauerhafte starke <strong>Linke</strong>.<br />
Es ist schließlich auch nicht der erste<br />
Versuch, zu einer gemeinsamen starken<br />
<strong>Linke</strong>n in Ost und West zu kommen.<br />
<strong>Die</strong> Debatten um das Profi l der <strong>neuen</strong><br />
Partei werden darum auch nach dem<br />
Juni weitergehen müssen.<br />
Eine neue <strong>Linke</strong>, die eine Chance<br />
hat, in gesellschaftliche Gestaltungsprozesse<br />
einzugreifen, muss eine <strong>Linke</strong><br />
sein, wie es sie in Deutschland<br />
noch nicht gab, nicht in Ost und nicht<br />
in West. Sie muss sozial sein, modern,<br />
zukunftsorientiert, internationalistisch,<br />
demokratisch und natürlich friedlich.<br />
Der Vorrat an Gemeinsamkeiten ist<br />
wohl ausreichend, diesen Schritt zu<br />
wagen. Aber gerade in den Debatten<br />
um Programmatik und Statut ist deutlich<br />
geworden, dass die politischen und<br />
kulturellen Unterschiede größer sind,<br />
als manche und mancher von uns vielleicht<br />
ahnt. Das merkt man, wenn man<br />
von der Ebene der politischen Überschriften<br />
zu konkreten Gestaltungsansätzen,<br />
also zu Politik kommt.<br />
Ich will das an einem kleinen Beispiel<br />
deutlich machen. Es geht mir um<br />
die Frage nach dem Verhältnis von sozialer<br />
Gerechtigkeit und individueller<br />
Freiheit. Da ist der oft nicht ganz richtig<br />
zitierte Satz aus dem Kommunistischen<br />
Manifest von einer Gesellschaft, »in der<br />
die freie Entwicklung eines jeden die<br />
Bedingung für die freie Entwicklung aller<br />
ist«. Gelegentlich wird dieser Satz<br />
zitiert mit dem Schluss »geworden ist«.<br />
Und da liegt der kleine aber feine Unterschied:<br />
»Geworden ist« kann eben<br />
heißen, bis dahin ist die freie Entwicklung<br />
eines jeden eben nicht Bedingung<br />
für die freie Entwicklung aller, oder –<br />
und ich verkürze hier – bis dahin können<br />
Freiheitsrechte einzelner eben im<br />
<strong>Die</strong>nste der vermeintlich guten Sache<br />
eingeschränkt werden.<br />
NEUE LINKE<br />
In Debatten hört man an dieser Stelle,<br />
auch jüngst in der Regionalkonferenz<br />
von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt,<br />
natürlich unterschätze<br />
man individuelle Freiheitsrechte nicht,<br />
aber ohne die sozialen Rechte würden<br />
diese auch nichts nützen. Und da ist er<br />
dann schon wieder, der kleine aber feine<br />
Unterschied. Wer nur so herum herangeht,<br />
rangiert die individuellen Freiheitsrechte<br />
hinter den sozialen ein<br />
und eben nicht auf gleicher Höhe. Es<br />
stimmt nämlich auch umgekehrt. Dass<br />
die Nachrangigkeit individueller Freiheitsrechte<br />
die politische <strong>Linke</strong> ins Dilemma<br />
führt, haben wir im Osten schon<br />
erfahren. Wer sich darauf einlässt, landet<br />
unweigerlich bei autoritären Strukturen.<br />
An diese Betrachtungsweise<br />
knüpfen sich die Fragen des Wie des<br />
Kampfes um eine sozial gerechte Gesellschaft<br />
und noch vieles mehr.<br />
Wenn wir nun gemeinsam eine neue<br />
<strong>Linke</strong> wollen, wird es nicht reichen, allein<br />
die Mitgliedschaft der <strong>Linkspartei</strong><br />
auf der einen Seite und der WASG<br />
auf der anderen Seite zusammenzuführen.<br />
Eine neue <strong>Linke</strong> werden wir<br />
nur dann, wenn wir attraktiv für linkes<br />
Denken über die eigene bisherige Mitgliedschaft<br />
hinaus sind. <strong>Linke</strong> finden<br />
sich auch unter Wissenschaftlerinnen<br />
und Wissenschaftlern, bei den<br />
Gewerkschaften und in Sozialverbänden,<br />
die sich bisher von linken Gruppierungen<br />
und Parteistrukturen tunlichst<br />
ferngehalten haben – alles mögliche<br />
Mitstreiterinnen und Mitstreiter.<br />
Für die neue <strong>Linke</strong> ist es wichtig, dass<br />
sie auch für die als Ansprechpartnerin<br />
attraktiv wird. Das wird ein schweres<br />
Stück Arbeit, weil Vorurteile abzubauen<br />
sind, die aus den Zeiten des Kalten<br />
Krieges stammen, die aber auch<br />
aus der Geschichte der <strong>Linke</strong>n selbst<br />
kommen. So stellt sich die Frage, was<br />
bedeutet es denn für die neue <strong>Linke</strong>,<br />
dass nicht wenige Mitglieder der <strong>neuen</strong><br />
Partei ihre politische Vergangenheit<br />
über viele <strong>Ja</strong>hre in der SPD hatten? <strong>Die</strong><br />
Entscheidung für eine Partei ist doch<br />
nicht beliebig. Sie hat mit programmatischen<br />
Ansätzen zu tun und auch mit<br />
konkreter Politik. <strong>Die</strong> SPD war aber und<br />
wird, auch wenn sie sich nun mit einem<br />
<strong>neuen</strong> Parteiprogramm wieder linkeren<br />
Positionen öffnet, eine andere sein als<br />
die sozialistische <strong>Linkspartei</strong>.<br />
Was für eine Partei wird dann die<br />
neue <strong>Linke</strong>? Eine zweite Sozialdemokratie<br />
als Drohpotenzial für die erste<br />
wird nicht gebraucht. Gebraucht wird<br />
eine neue <strong>Linke</strong>, die in der Lage ist,<br />
weitergehende gesellschaftliche Alternativen<br />
zu entwickeln, Alternativen,<br />
die nicht in den Schranken dieser Gesellschaft<br />
verhaftet bleiben. Und gebraucht<br />
wird eine Partei, die das nicht<br />
nur affi rmativ tut, sondern die in gesellschaftliche<br />
Umgestaltungsprozesse in<br />
diesem Sinne eingreift.<br />
Dafür ist es wichtig, voneinander,<br />
von den unterschiedlichen Auffassungen<br />
und Herangehensweisen zu<br />
wissen, um sich respektieren zu können,<br />
um gemeinsam Neues zu entwickeln.<br />
Das baut auf Vorhandenem auf,<br />
bleibt aber dabei nicht stehen. Darum<br />
einige Überlegungen zum Wert westlinker<br />
Erfahrungen für eine emanzipatorische<br />
<strong>Linke</strong> in ganz Deutschland, <strong>zur</strong><br />
Nachwendegeschichte im Osten und<br />
zu den Gründen, warum es nach wie<br />
vor bei vielen <strong>Linke</strong>n vor allem im Westen<br />
Skepsis gegenüber der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
PDS gibt.<br />
<strong>Die</strong> Haltung <strong>zur</strong> DDR bewegt sich bei<br />
<strong>Linke</strong>n aus dem Westen zwischen Akzeptanz<br />
und Bewunderung einerseits<br />
und Kritik am undemokratischen Agieren<br />
der Staats- und Parteioberen der<br />
DDR andererseits. <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
wird von manchen in dieser Kontinuität<br />
gesehen, und ihr wurde und wird in<br />
diesem Zusammenhang zu geringe Geschichtsaufarbeitung<br />
vorgeworfen. Dazu<br />
kommt, dass die Arbeit der PDS in<br />
den <strong>neuen</strong> Bundesländern seit 1990<br />
in unterschiedlichen Verantwortungen<br />
bei vielen Westlinken nur oberflächlich<br />
oder überhaupt nicht bekannt ist.<br />
Sie wird mitunter auch beargwöhnt,<br />
vor allem, wenn es um Regierungsbeteiligungen<br />
geht, hat man doch die Entwicklung<br />
der Grünen im Westen vor Augen.<br />
Ein zweiter Grund liegt in der Geschichte<br />
der linken Bewegung und ihrer<br />
zahlreichen Parteien im Westen<br />
selbst. Viele linke Parteien und Gruppierungen<br />
im Westen, die sich seit dem<br />
Verbot der KPD neu und umbildeten,<br />
haben heftigst miteinander über die<br />
einzig richtige Auffassung von der kapitalistischen<br />
Gesellschaft und von ihrer<br />
Überwindung gestritten und ha-<br />
DISPUT März 2007 08
en bis auf wenige kommunale Mandate<br />
keine Relevanz über parlamentarische<br />
Arbeit entwickeln können. Sie<br />
erreichten aber in konkreten außerparlamentarischen<br />
Aktionen vor Ort regionale<br />
und manchmal auch überregionale<br />
Aufmerksamkeit. Und so kann es<br />
nicht verwundern, dass die parlamentarische<br />
Arbeit oftmals eher gering geschätzt<br />
und der eigentliche Aktionsraum<br />
im außerparlamentarischen Protest<br />
gesehen wird. Sichten und Vorstellungen<br />
über Lösungsmechanismen für<br />
gesellschaftliche Probleme werden logischerweise<br />
stark davon geprägt. <strong>Die</strong><br />
Konsequenz dieser Entwicklung war<br />
aber auch, dass die <strong>Linke</strong> im Westen<br />
in der gesellschaftlichen Debatte über<br />
die eigenen Diskussionszirkel hinaus<br />
in der Regel marginalisiert wurde.<br />
Noch eines kommt zum Verständnis<br />
für die <strong>Linkspartei</strong>.PDS in West und<br />
Ost hinzu. <strong>Die</strong> Mitglieder der PDS im<br />
Osten haben den Zusammenbruch der<br />
DDR auch als tiefen persönlichen Einschnitt<br />
erfahren: Nahezu alle sicher geglaubten<br />
Wertvorstellungen und Überzeugungen<br />
wurden für sie plötzlich<br />
über den Haufen geworfen. Wofür sie<br />
<strong>Ja</strong>hrzehnte gearbeitet hatten, war nicht<br />
mehr wahr. Sie hatten sich neu zu orientieren.<br />
Solche Erfahrungen wurden<br />
von <strong>Linke</strong>n im Westen kaum gemacht.<br />
Für die meisten ging die politische Arbeit<br />
weitgehend ungebrochen weiter.<br />
Für manche um eine Hoffnung ärmer,<br />
für andere jedoch in Bestätigung<br />
ihrer Skepsis, dass der Sozialismus in<br />
der DDR offensichtlich keiner gewesen<br />
sein kann.<br />
Als wir aus der SED kommend 1990<br />
im Osten die PDS gründeten, war auch<br />
noch lange nicht ausgemacht, ob es<br />
gelingen würde, gesellschaftliche Akzeptanz<br />
zu erringen. <strong>Die</strong> Neufi ndung<br />
der PDS im Osten war auch eine der inhaltlichen<br />
Neuorientierung. Da waren<br />
die Auseinandersetzungen mit linkem<br />
Denken in den alten Bundesländern,<br />
das vor allem in den 60er und 70er <strong>Ja</strong>hren<br />
entwickelt worden war, lehr- und<br />
hilfreich. Davon hat die PDS nach ihrer<br />
Gründung gezehrt. Fragen der Umweltpolitik,<br />
des Feminismus, zivilgesellschaftlicher<br />
Strukturen, gewerkschaftlicher<br />
Rechte und Fragen um den<br />
Wert individueller Freiheitsrechte, wie<br />
sie beispielsweise die linke Politik der<br />
68er wesentlich prägten, waren für die<br />
ehemaligen SED-Mitglieder, die sich<br />
auf den Weg der Erneuerung gemacht<br />
hatten, erst einmal ein umfangreiches<br />
Lernfeld. Wir hatten viel nachzuholen<br />
an linker Debatte. Wir hatten staatszentrierte<br />
und autoritäre Denkstrukturen<br />
aufzugeben und uns auf für uns<br />
sehr Neues einzulassen. Zu diesem<br />
90 DISPUT März 2007<br />
Lernprozess kam die gnadenlose Entwertung<br />
von sozialen Errungenschaften<br />
hinzu, die nun zum Teil mühsam oder<br />
verschämt von der herrschenden Politik<br />
wieder entdeckt werden.<br />
<strong>Die</strong> Arbeit im Osten war aber immer<br />
konkret, in allen Ebenen politischen<br />
Agierens. Und schnell wurde klar: Protest<br />
reicht nicht, man muss auch sagen,<br />
wie es anders gehen kann. Verweigern<br />
wird übel genommen, wenn man keine<br />
Alternativen zu bieten hat. Viele von<br />
uns mussten Entscheidungen treffen,<br />
die Folgen hatten, so oder so, vor allem<br />
(aber nicht nur) in der kommunalen Arbeit.<br />
Dabei kann man Fehler machen.<br />
Heraushalten und auf Grundsätze <strong>zur</strong>ückziehen<br />
ging oft nicht, es wäre auch<br />
der größere Fehler gewesen. Sei es<br />
beim Haushalt, bei Vergabepraxis oder<br />
bei freien Trägern. <strong>Die</strong>s war und ist immer<br />
unter dem Gesichtspunkt zu leisten,<br />
wie ein Mehr an sozialer Gerechtigkeit<br />
erreichbar ist. <strong>Die</strong>ses Mehr ist<br />
manchmal verdammt klein und nur die<br />
Entscheidung zwischen zwei un<strong>zur</strong>eichenden<br />
Alternativen.<br />
<strong>Die</strong>se Erfahrungen und die Bereitschaft,<br />
Verantwortung zu übernehmen,<br />
waren es, die der PDS im Osten<br />
jene Anerkennung gebracht haben, die<br />
sich auch in den Wahlergebnissen niederschlug,<br />
selbst dann, wenn man, wie<br />
in Sachsen-Anhalt, als PDS offen angekündigt<br />
hatte, regieren zu wollen, sogar<br />
nach acht <strong>Ja</strong>hren Tolerierung.<br />
Mit diesen unterschiedlichen Herangehensweisen,<br />
den Einsichten aus Ost<br />
und West und auch mit den Vorurteilen<br />
werden wir es in der Zukunft noch eine<br />
ganze Weile zu tun haben. Sich gegenseitig<br />
respektieren heißt, die Erfahrungen<br />
der anderen ernst zu nehmen,<br />
auch die der PDS im Osten nach 1989.<br />
Wir haben voneinander zu lernen und<br />
vor allem gemeinsam. Das sage ich<br />
ausdrücklich in Richtung Ost und in<br />
Richtung West.<br />
<strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> kann zwei Fehlern<br />
unterliegen: Der eine ist die Gefahr,<br />
mangels Alternativen und mangels Mut<br />
<strong>zur</strong> eigenen Veränderung den Weg der<br />
Sozialdemokratie und der Grünen zu<br />
gehen und vor den gesellschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen letztendlich zu<br />
kapitulieren. Der andere ist, aus der<br />
Angst der Vereinnahmung heraus und<br />
wegen der Pfl ege ideologischer Grundsätze<br />
sich aus der praktischen Politik<br />
<strong>zur</strong>ück in die linke Nische der Gesellschaft<br />
zu verziehen. Beides ist möglich,<br />
beides macht eine neue <strong>Linke</strong> überfl<br />
üssig. Ich werbe dafür, beiden Fehlern<br />
nicht zu erliegen.<br />
Dr. Rosemarie Hein ist Mitglied des<br />
Parteivorstandes<br />
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innerhalb von 10 Tagen widerrufen kann.<br />
Zur Fristwahrung genügt die rechtzeitige Absendung des<br />
Widerrufs.<br />
Datum, 2. Unterschrift<br />
Coupon bitte senden an: Parteivorstand der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
PDS, Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin
Jetzt macht mal hin!<br />
Miteinander reden und Erfahrungen austauschen – Gedanken zum<br />
Parteineubildungsprozess Von <strong>Ja</strong>n Korte<br />
Neben den üblichen Auseinandersetzungen<br />
mit dem politischen Gegner vor<br />
Ort spielt bei den meisten Genossinnen<br />
und Genossen der <strong>Linkspartei</strong>.PDS die<br />
Frage der Parteineubildung seit Monaten<br />
eine zentrale Rolle. <strong>Die</strong> häufi gsten<br />
Fragen, die mir gestellt werden, wenn<br />
ich in meinem Wahlkreis unterwegs bin,<br />
lauten: »Wie lange braucht ihr noch?«,<br />
»Wird der demokratisch-sozialistische<br />
Charakter der PDS bleiben?« und »Welche<br />
Rolle wird der Osten in der <strong>neuen</strong><br />
<strong>Linke</strong>n spielen?«. Auf fast allen Veranstaltungen<br />
von Basisorganisationen<br />
und Kreisverbänden wird ein großer<br />
Teil der Zeit für eine Debatte um den<br />
Prozess <strong>zur</strong> Bildung einer <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />
verwendet.<br />
Dabei herrscht völlige Einigkeit, dass<br />
die neue <strong>Linke</strong> kommen muss. Niemand<br />
stellt die Parteineubildung in Frage.<br />
Vielmehr wird der Prozess mit großem<br />
Interesse, Spannung und vielen Hoffnungen<br />
verbunden. Besonders bemerkenswert<br />
fi nde ich die Anteilnahme der<br />
Partei im Osten an der Entwicklung im<br />
Westen. Natürlich freut mich dies persönlich,<br />
da ich, aus dem Westen kommend,<br />
meinen Wahlkreis in Bernburg,<br />
Bitterfeld und dem Saalkreis, also in<br />
den <strong>neuen</strong> Bundesländern, habe.<br />
Das Interesse an der Entwicklung<br />
der <strong>Linke</strong>n im Westen hat Gründe: Nach<br />
vielen Niederlagen im Westen gibt es<br />
nun die reale Chance, auch dort dauerhaft<br />
eine starke linke Partei zu verankern.<br />
Viele Gespräche in Bernburg drehen<br />
sich deshalb beispielsweise um<br />
die Fragen: Was können wir aus 17 <strong>Ja</strong>hren<br />
PDS-Geschichte in Ost und West<br />
lernen? Was müssen wir tun, um im<br />
Westen Fuß zu fassen und unsere starke<br />
Stellung als Volkspartei im Osten zu<br />
halten und auszubauen?<br />
Dabei wird sehr oft über die Mitgliedergewinnung<br />
gesprochen, die für den<br />
Osten und den Westen gleichermaßen<br />
substanziell ist. Ich halte einen verstärkten<br />
und systematischen Ausbau<br />
der Kontakte zwischen Basisorganisationen,<br />
zwischen Landesorganisationen,<br />
zwischen Ost und West für äußerst<br />
wichtig, um voneinander zu lernen –<br />
sowohl politisch als auch kulturell.<br />
Ein Beispiel, das schon ein bisschen<br />
<strong>zur</strong>ückliegt, verdeutlicht dies: Als ich<br />
im <strong>Ja</strong>hr 2005 im Wahlkreis 72 mit dem<br />
Bundestagswahlkampf anfi ng, kamen –<br />
NEUE LINKE<br />
für mich – fremde Bürger/innen an den<br />
Infostand und gaben mir wie selbstverständlich<br />
die Hand <strong>zur</strong> Begrüßung.<br />
Für mich völlig ungewohnt, da dies im<br />
Westen nicht üblich ist. Wenn ich nun<br />
Freunde im Westen besuche, gebe ich<br />
ihnen automatisch <strong>zur</strong> Begrüßung die<br />
Hand, wobei die dann denken: »Was<br />
ist denn mit dem los?«<br />
Besonders oft werde ich in Veranstaltungen<br />
der Partei auf den demokratischen<br />
Sozialismus angesprochen.<br />
Das zeigen auch die vielen Briefe an<br />
den Parteivorstand mit der Aufforderung,<br />
dafür Sorge zu tragen, dass er<br />
klar und deutlich in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />
verankert ist. <strong>Die</strong> Bereitschaft in der<br />
Partei vor Ort, sich dafür stark zu machen,<br />
ist groß und muss Aufgabe für<br />
die Gesamtpartei sein. Gerade hierzu<br />
ist der Kontakt untereinander wichtig:<br />
Wir müssen diejenigen, die aus historischen<br />
oder biographischen Gründen<br />
Probleme mit dem demokratischen Sozialismus<br />
haben, überzeugen, warum<br />
wir diese Frage für immanent wichtig<br />
halten, was sie für uns und unsere Geschichte<br />
bedeutet.<br />
Was waren die Stärken,<br />
was die Schwächen?<br />
In diesem Zusammenhang werde ich<br />
oft auf Fragen der eigenen Geschichte<br />
angesprochen: Wäre es nicht eine interessante<br />
Diskussion, die Geschichte der<br />
<strong>Linke</strong>n in Ost und West zu diskutieren<br />
und zu analysieren? Was waren Unterschiede,<br />
wo waren die Stärken und die<br />
Schwächen? <strong>Die</strong>se Fragen wären wichtig,<br />
um gegenseitiges Verständnis füreinander<br />
zu entwickeln und selbstkritisch<br />
Fehler zu vermeiden.<br />
Schon in der alten PDS gab es diverse<br />
Strömungen und unterschiedliche<br />
politische Biographien. In der<br />
<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n kommen noch viel mehr<br />
Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen,<br />
Erfahrungen, Niederlagen<br />
und Erfolgen zusammen. Besonders<br />
auf diesem Gebiet könnte man herausarbeiten,<br />
was das Neue an der »<strong>neuen</strong><br />
<strong>Linke</strong>n« ist. Viele Genossinnen und Genossen<br />
stellen vor diesem Hintergrund<br />
die Frage, wie wir weitere <strong>Linke</strong> für den<br />
Parteineubildungsprozess gewinnen<br />
können. Denn klar muss sein: <strong>Die</strong> Verschmelzung<br />
von <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />
WASG allein sollte uns zu wenig sein.<br />
Wie kommen wir also an andere »frei<br />
schwebende« <strong>Linke</strong>, an kritische Wissenschaftler/innen,<br />
an junge Leute<br />
und an Querdenker heran, die unseren<br />
Prozess bereichern können. Hierfür, so<br />
wird oft angemerkt, könnte eine umfangreiche<br />
Programmdebatte, die versucht,<br />
viele einzuschließen, sehr hilfreich<br />
sein. <strong>Die</strong>se darf jedoch nicht abgehoben<br />
von den realen Problemen<br />
der Menschen geführt werden. Gerade<br />
auch deshalb muss die neue Partei viel<br />
mehr sichtbar werden, vor Ort, bei den<br />
Menschen. Eine Debatte um die Kampagnenfähigkeit<br />
der <strong>Linke</strong>n wird deshalb<br />
zu recht immer wieder gefordert.<br />
Und alle bisherigen Erfahrungen zeigen,<br />
dass über diesen Weg viele neue<br />
Mitstreiterinnen und Mitstreiter gewonnen<br />
werden können. Insbesondere die<br />
Mindestlohnkampagne wird von den<br />
Genossinnen und Genossen hier angeführt.<br />
Und dies bereichert unsere Debatte<br />
um Programm und Wirkungsweise<br />
der Partei ungemein.<br />
Allerdings, es gibt auch kritische<br />
Stimmen, besonders in Bezug auf die<br />
lange Zeit der Diskussionen und des<br />
Streites. Nicht selten wird kritisiert,<br />
dass der Parteineubildungsprozess viel<br />
zu lange andauert. Das gilt für die Parteimitglieder,<br />
aber auch für die Bürgerinnen<br />
und Bürger, die eigentlich schon<br />
2005 der Meinung waren, dass es die<br />
neue <strong>Linke</strong> schon gibt. »Jetzt macht<br />
mal hin!« ist deshalb eine oft zu hörende<br />
Mahnung. Damit verbunden ist<br />
die Hoffnung, dass mit dem Abschluss<br />
der Parteineubildung im Juni neuer<br />
Schwung für die <strong>Linke</strong> entsteht, der in<br />
den letzten Monaten doch etwas verloren<br />
gegangen ist.<br />
Wenn ich meine Erfahrungen zusammenfassen<br />
soll, so werden mit der<br />
<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n große Hoffnungen verbunden,<br />
die sich aber nicht von allein<br />
erfüllen. <strong>Die</strong> Mitglieder und Aktivisten<br />
in meinem Wahlkreis wissen aus vielen<br />
<strong>Ja</strong>hren PDS-Geschichte, dass <strong>Linke</strong> immer<br />
dicke Bretter bohren müssen. Und<br />
so wird mir oft als Mahnung der Satz<br />
mitgeben: Zuerst entscheidet die Partei,<br />
dann die Fraktion.<br />
<strong>Ja</strong>n Korte, 29 <strong>Ja</strong>hre alt, ist Mitglied des<br />
Parteivorstandes und Bundestagsabgeordneter<br />
DISPUT März 2007 010
Verheizen Sie Ihr Geld nicht:<br />
Ziehen Sie Ihr Haus warm an.<br />
Staatlich geförderte Gebäudesanierung spart Heizkosten, schützt das Klima und schafft Arbeit.<br />
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CO<br />
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Alpenglühen<br />
Von Jens <strong>Ja</strong>nsen<br />
SATIRE<br />
Wenn bei Berchtesgaden die Sonne<br />
hinter den Alpen versinkt, lässt sie die<br />
Berggipfel erglühen. Das Purpurlicht erinnert<br />
an den Mantel der Könige und an<br />
die Spruchweisheit: »Fällt der Purpur –<br />
fällt der König«. Rufmord ist der Auftakt<br />
zum Putsch. <strong>Die</strong> Ära Stoiber geht<br />
zu Ende.<br />
Das erklärt, warum am Aschermittwoch<br />
im bayerischen Passau die Donau<br />
beinahe über die Ufer trat. Nach<br />
dem letzten Faschingsauftritt Edmund<br />
Stoibers als Landesfürst hatten sich<br />
Sturzbäche von Tränen der 5.000 treuesten<br />
CSU-Gefolgsleute aus der Halle<br />
ergossen.<br />
Was war geschehen? Edmund der<br />
Große, der Bayern an die Weltspitze<br />
gehoben hat – im Bierverbrauch, im<br />
PISA-Test, im Bau von Präzisionswaffen,<br />
in der Personalpolitik des Vatikans<br />
und zeitweilig sogar<br />
im Fußball –, dieser<br />
geniale Landesvater<br />
wurde von einer<br />
rothaarigen Hexe<br />
aus den eigenen<br />
Reihen zu Fall gebracht.<br />
Das ist dreifache<br />
Schmach: Weil<br />
die Pauli ein Weib ist.<br />
Weil sie aus Franken<br />
kommt. Und weil sie gerade mal ein<br />
Landratsamt in Führt erklommen hat.<br />
Das ist im Vergleich zu Stoibers Thron<br />
ein Maulwurfshügel!<br />
Aber eben diese Dame zupfte an<br />
Stoibers Purpurmantel mit dem Hinweis,<br />
dass dies kein »Erbstück« sei und<br />
dass er sich einer Abwahl zu stellen habe.<br />
Als abgebrochener Kanzlerkandidat<br />
und Geisterfahrer zwischen Berlin und<br />
München habe er Kredit verloren. Sein<br />
autoritärer Führungsstil schade dem<br />
Land und der Partei!<br />
Man sieht, wie weltfremd dieses<br />
Weibsbild daherkommt! Der Bayer als<br />
solcher hat nämlich mehrere Gene, die<br />
ihm das Treuebekenntnis zum jeweiligen<br />
Landesfürsten ständig vererben!<br />
Das funktioniert wie bei der Gicht –<br />
über Generationen. Ebenso die Sprachstörungen,<br />
die man bei vielen Politikern<br />
dortzulande beobachten kann,<br />
weil sie als Choleriker meist schneller<br />
sprechen, als sie denken können.<br />
So kam ja Stoiber unlängst in einer öffentlichen<br />
Rede durch Kopfrechnen zu<br />
dem Schluss, dass die 40 Minuten lange<br />
Fahrt zum Münchener Flughafen nur<br />
zehn Minuten dauert. Aber solche gestandenen<br />
Mannsbilder wie Strauß<br />
und Stoiber, Seehofer und Beckstein,<br />
die kippt man nicht einfach. <strong>Die</strong> sind<br />
als Gipfelstürmer eingebunden in starke<br />
Seilschaften. Da fi ndet im Golfclub<br />
wie im Landtag ein Fingerhakeln statt,<br />
wo am Ende nur der gewinnt, der dem<br />
anderen von hinten ans Schienbein<br />
drischt. Jetzt war es eine Frau mit Pfennigabsätzen,<br />
was einen ganz gemeinen<br />
Schmerz auslöst!<br />
Doch, was wäre ein König ohne Lakaien?<br />
Stoiber in Passau, das wurde<br />
daher zu einem Staatsbegräbnis erster<br />
Klasse: der triumphale Einmarsch zum<br />
bayerischen Defi liermarsch. Das rhythmische<br />
Klatschen der Tölzer und Starnberger.<br />
<strong>Die</strong> Junge Union in T-Shirts mit<br />
der Aufschrift »Danke für 14 tolle <strong>Ja</strong>hre!<br />
Vergelt’s Gott, Stoiber!« <strong>Die</strong> dreistündige<br />
Ansprache des Ajatollah Alpini.<br />
<strong>Die</strong> kernigen Sätze: Wir beugen uns<br />
vor dem Kreuz, aber nicht vor dem Zeitgeist!<br />
Schluss mit dem Egoismus und<br />
der Selbstprofi lierung! Wir brauchen<br />
die Einheit und Geschlossenheit der<br />
Partei!<br />
Pattex im Rentenalter<br />
Macht wirkt offenbar wie Pattex. Besonders<br />
im Rentenalter. Dann führt<br />
die Führungskrise der führenden Partei<br />
geradeaus <strong>zur</strong> Staatskrise. Da kann<br />
ein Steinchen eine Lawine auslösen,<br />
die alles begräbt. Auch die Erbprinzen.<br />
Schon rief die Halle: »Pauli raus!« und<br />
»Wo ist Seehofer?« Aber der Gesuchte<br />
kam nicht rein, und die Verfl uchte ging<br />
nicht raus. So stand denn der Stoiber-<br />
Eddi allein auf der Bühne, umtost vom<br />
Jubel. Man war bereit, jeden »Problembär«<br />
zu erwürgen, der an dieses Denkmal<br />
monarchistischer Demokratie pinkelt.<br />
Dabei will das keiner. <strong>Die</strong> Parteifreunde<br />
an der Basis wollen nur die<br />
nächste Wahl gewinnen. Sie spüren in<br />
ihren Wahlkreisen, dass das mit Stoiber<br />
eng wird. Da rächt sich der brutale<br />
Sparkurs auf Kosten der Schwächsten.<br />
Büchergeld und Studiengebühren führen<br />
<strong>zur</strong> Ausgrenzung der Arbeiterkinder<br />
in Bayern. <strong>Die</strong> Schmiergelder von Siemens<br />
würden reichen, wenn die Reichen<br />
einsichtig wären. <strong>Die</strong> brauchen<br />
vor allem hochqualifi ziertes Personal.<br />
Aber nur 17 Prozent aller Schulabgänger<br />
in Bayern haben das Abitur. In vielen<br />
Bereichen machen sich Schimmelpilze<br />
breit. Wer das kritisiert, wird mit<br />
Spitzeln umzingelt. So sitzt jeder Gegenkandidat<br />
auf einem Schleudersitz.<br />
Da kann man auch Ludwig II. ausbuddeln<br />
und in die Staatskanzlei setzen.<br />
Der nächste CSU-Parteitag wird lustig,<br />
denn alle haben harte Schädel wie<br />
die Gamsböcke. Wird Zeit, dass die <strong>Linke</strong>n<br />
ihre Keiler durch den Saal treiben<br />
können. Noch besser, wenn sie dann<br />
ein Programm haben, das beweist:<br />
»Mir san mir, nämlich anders als die<br />
Anderen!«<br />
DISPUT März 2007 012
<strong>Linke</strong> Stammtische<br />
Für eine andere Politik auch im Saarpfalzkreis. Erfahrungen eines<br />
jungen Kreisverbandes Von Wolfgang Bourgett<br />
Im Saarland haben 113.000 Wählerinnen<br />
und Wähler bei der Bundestagswahl<br />
2005 die <strong>Linke</strong> gewählt. Dank<br />
der 18,5 Prozent entsenden WASG und<br />
<strong>Linkspartei</strong> jeweils einen Bundestagsabgeordneten<br />
nach Berlin: Hans-Kurt<br />
Hill und Volker Schneider, und Oskar<br />
Lafontaine wurde als Spitzenkandidat<br />
in Nordrhein-Westfalen gewählt. Beide<br />
Landesverbände sind Gliederungen<br />
bundesweit aktiver Parteien. <strong>Die</strong> neue<br />
<strong>Linke</strong> erhielt von den Wählern den Auftrag,<br />
sich gegen die neoliberale Politik<br />
der großen Koalition zu stellen. Im Saarland<br />
will die <strong>Linke</strong> drittstärkste Partei,<br />
hinter der SPD und der CDU, werden.<br />
<strong>Die</strong> Parteiarbeit im Saarpfalzkreis<br />
wurde Ende 2005 mit gerade einmal 40<br />
Mitgliedern aufgenommen. Den Anfang<br />
machten die Ortsverbände St. Ingbert,<br />
Bliestal und Bexbach. Danach wurde<br />
im <strong>Ja</strong>nuar 2006 auf einer Kreismitgliederversammlung<br />
der Kreisvorstand der<br />
<strong>Linke</strong>n im Saarpfalzkreis gegründet. In<br />
den ersten Vorstand wurden jeweils<br />
drei Mitglieder aus den Ortsverbänden<br />
St. Ingbert und Bexbach und ein<br />
Vertreter aus dem Ortsverband Bliestal<br />
gewählt. Nach einem <strong>Ja</strong>hr gehören dem<br />
Kreisverband bereits 78 Mitglieder an.<br />
Derzeit ist man in Kirkel dabei, einen<br />
weiteren Ortsverband zu gründen.<br />
<strong>Die</strong> Ortsverbände treffen sich regelmäßig<br />
zu Stammtischen, wo sie ihre<br />
politischen Vorstellungen diskutieren<br />
und Aktionen miteinander abstimmen.<br />
Für den 3. März wurde ein landesweiter<br />
Aktionstag gegen »Rente mit 67«<br />
vorbereitet.<br />
Der Kreisvorstand tagt monatlich. Er<br />
diskutiert über gesellschafts- und kommunalpolitische<br />
Probleme. Außerdem<br />
werden Aktionen und Veranstaltungen<br />
geplant. Ziel ist es, die Partei auf<br />
Kreisebene zu stärken und gleichzeitig<br />
die politischen Vorstellungen den Wählern<br />
verständlich zu machen.<br />
Erfreulicherweise sehen WASG und<br />
<strong>Linkspartei</strong> auch im Saarpfalzkreis den<br />
Parteibildungsprozess als sehr wichtige<br />
Aufgabe an. Deshalb wurde bereits<br />
Anfang 2006 der Kontakt mit dem<br />
Kreisvorstand der WASG aufgenommen.<br />
Es fanden mehrere gemeinsame<br />
Kreisvorstandssitzungen statt. Zu diesem<br />
Zweck wurde eigens eine gemeinsame<br />
Geschäftsordnung verabschiedet,<br />
die die Zusammenarbeit regelt.<br />
130 DISPUT März 2007<br />
Probleme bei der Organisation des Parteineubildungsprozesses<br />
auf Kreisebene<br />
gibt es daher nicht. Schon jetzt werden<br />
alle Fragen im gegenseitigen Einvernehmen<br />
geregelt.<br />
Im Saarpfalzkreis konnte der Aufbau<br />
von Konkurrenzgliederungen rechtzeitig<br />
vermieden wurden. So ist man derzeit<br />
mit fünf Ortsverbänden der gemeinsamen<br />
<strong>Linke</strong>n politisch vor Ort tätig. Im<br />
gemeinsamen Kreisverband werden<br />
ungefähr 200 Mitglieder betreut. Zum<br />
rerseits in diesen Bereichen anschließend<br />
die Gebühren erhöht werden.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> ist auch dagegen, wenn<br />
ständig Tafelsilber der Kommunen<br />
veräußert wird oder wenn staatliche<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen privatisiert werden,<br />
nur um die kommunalen Haushalte<br />
zu sanieren. Durch ein solches politisches<br />
Verhalten wird den Kommunen<br />
jede Möglichkeit genommen, steuernd<br />
in die kommunale Arbeitsmarktpolitik<br />
einzugreifen.<br />
Mit »Oskar« will die <strong>Linke</strong> drittstärkste Partei im Saarland werden.<br />
gemeinsamen Übergangsvorstand gehören<br />
Wolfgang Bourgett, Michael Boßlet,<br />
Carsten Schuler und Birgit Meydanci<br />
von der <strong>Linkspartei</strong> und Claus Priester,<br />
Patricia Jesberger, Ernst Hemmer<br />
und Helmut Welker von der WASG. Sie<br />
waren auf ihren Kreismitgliederversammlungen<br />
nominiert worden.<br />
Im Hinblick auf die Kommunalwahlen<br />
2009 werden schon jetzt die<br />
Eckpunkte für ein gemeinsames kommunalpolitisches<br />
Programm diskutiert.<br />
So gilt es, Alternativen aufzuzeigen,<br />
wenn den Kommunalpolitikern bei<br />
Haushaltsdefi ziten nichts anderes einfällt,<br />
als durch Steuer- und Gebührenerhöhungen<br />
den Bürgern immer wieder in<br />
die Tasche zu greifen. Es ist nicht mehr<br />
nachvollziehbar, wenn die Bürger einerseits<br />
aufgefordert werden, den Wasserverbrauch<br />
zu senken oder die Müllmenge<br />
zu verringern, und wenn ande-<br />
Konkret betrachten wir es beispielsweise<br />
als Auftrag des Kreisverbandes,<br />
den Bürgern von Blieskastel die Solidarität<br />
der <strong>Linke</strong>n zu zeigen – gegen<br />
den Versuch einer zwielichtigen Bürgermeisterin,<br />
Verletzungen des Datenschutzes<br />
und Steuerhinterziehung zu<br />
verschleiern.<br />
Wir wollen mit den Bürgerinnen und<br />
Bürgern ins Gespräch kommen. Dazu<br />
dienen insbesondere Flugblätter mit<br />
regionalem Bezug, die bei den gemeinsamen<br />
Infoständen verteilt werden. Wir<br />
fordern außerdem mehr Bürgerbeteiligung<br />
und Mitsprache an den kommunalpolitischen<br />
Entscheidungen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> fühlt sich auch im Saarpfalzkreis<br />
dazu aufgerufen, den Sozialstaat<br />
zu verteidigen.<br />
Wolfgang Bourgett ist Vorsitzender des<br />
Kreisverbandes Saarpfalzkreis<br />
IM KREIS<br />
© Stefan Richter
Appetit auf Politik<br />
Ein Politabend kann Spaß machen. Den vielen Gästen und den vielen Organisatoren.<br />
Der Politische Aschermittwoch ’07 im Saarland Von Stefan Richter<br />
REPORTAGE<br />
»Wo bleiben die Heringe?« – Oh, Gott, Heringe<br />
habe ich auf einer Politveranstaltung<br />
noch nie vermisst.<br />
Anders die Frau gegenüber. »Wo haben<br />
Sie denn schon jetzt den Hering her?«, will<br />
sie quer übern Tisch wissen. Sie fragt in einer<br />
Weise, die Biss verrät. Und der Herr, der<br />
antworten darf, ein Kollege vom Saarländischen<br />
Rundfunk, vermag <strong>zur</strong> Privilegie-<br />
DISPUT März 2007 014
ung seiner Person lediglich vorzubringen, er müsse in Kürze<br />
»auf Sendung« und von hier berichten, vom Politischen<br />
Aschermittwoch der <strong>Linke</strong>n.<br />
Fürs Erste ist die Frau besänftigt, und fürs Zweite klärt<br />
sie mich, den Fremden aus der Ferne, nachsichtig darüber<br />
auf, dass Heringsessen nun mal zu jedem echten Aschermittwoch<br />
gehört.<br />
Das möchte ich vorsichtshalber schnell verstehen. Aber<br />
was, bitte schön, gehört zu einem politischen Aschermitt-<br />
15 0 DISPUT März 2007<br />
woch, außer dem Hering? Auch dies verrät die gute Frau sogleich:<br />
gute Leute, gute Redner, gute Getränke, gute Stimmung.<br />
Alle saarländischen Parteien versuchen sich daran. Was<br />
die Wahl ihrer Versuchsorte betrifft, sind sie vielleicht ein<br />
bisschen einfallslos: <strong>Ja</strong>hr für <strong>Ja</strong>hr wählen sie dafür Lokalitäten<br />
vorwiegend im Landkreis Saarlouis. Das nennt sich<br />
dann Tradition.<br />
<strong>Die</strong> Aschermittwochs-Tradition der Saar-<strong>Linke</strong>n ist über-<br />
© Stefan Richter (5)
sichtlich, sie begann mit Lafontaine und Gysi anno Aschermittwoch<br />
’06. In Wallerfangen, Landkreis: Saarlouis.<br />
Es ist halb vier. Der Landesvorsitzende höchstpersönlich<br />
erspart mir nach fünf Bahnfahrten zwei anschließende<br />
Busfahrten, er holt mich in der Kreisstadt ab. Hans-Kurt Hill<br />
ist verschnupft, nicht meinetwegen und nicht mal politisch,<br />
sondern richtig. Am Ort des Aschermittwochsgeschehens<br />
bringt er mich sogleich zu Landesgeschäftsführer Thomas<br />
Lutze, der wiederum die praktische Eingebung verspürt, der<br />
Presseverantwortlichen Birgit Huonker eine weitere Aufgabe<br />
zukommen zu lassen (nämlich mich), was diese (Frau Huonker)<br />
umgehend zum Start einer Informationsoffensive anstachelt:<br />
Das wird heute toll! Für die Medien haben wir extra<br />
Plätze, und wegen des Andrangs ist vor dem Saal noch ein<br />
Festzelt mit Videowand aufgebaut worden. Sehr viele Ehrenamtliche<br />
haben das alles gut vorbereitet.<br />
Birgit spendiert Kaffee und auch sonst Muntermachendes:<br />
»Wir sind die Drittstärksten im Land!« Und die <strong>Linke</strong> wachse<br />
weiter und werde bei der nächsten Landtagswahl »absolut<br />
sicher« zweistellig werden.<br />
So weit sind wir an diesem Mittwoch noch nicht. Schon<br />
gar nicht jetzt, halb fünf. Yvonne Ploetz kommt vorbei, sie<br />
hat sich schön chic gemacht. Nicht für die Pressehanseln,<br />
sondern fürs große Publikum. Im vorigen <strong>Ja</strong>hr versorgte sie<br />
die Gäste mit Getränken und Heringen, diesmal wird sie auf<br />
der Bühne für die Ansage sorgen. Mir sagt sie erst einmal an:<br />
Das wird heute bestimmt toll. <strong>Die</strong> 22-Jährige ist nicht ganz<br />
unaufgeregt, ein paar Stichpunkte hat sie auf eine Speisekarte<br />
(auf die Rückseite) geschrieben. Sicher ist sicher. Das<br />
meinte übrigens ein paar Stunden vorher auf ihre Art auch<br />
die Polizei, als sie die unangeschnallte Yvonne in ihrem Auto<br />
erspähte. 30 Euro kostete die Aktion, kein Spaß für eine Studentin.<br />
Nie stehen die Polizisten dort ... Ach wären sie doch<br />
zum Aschermittwoch nach Wallerfangen gefahren!<br />
Der Festsaal ist groß und lang. Von außen erinnert er an<br />
eine Schulsporthalle und von innen an einen Budenzauber.<br />
Bunte Bahnen aus Krepppapier überspannen den Saal<br />
in seiner gesamten Breite. An den Wänden hängen Plakate,<br />
darunter treffend: »Dem Trübsinn ein Ende«. Am Bühnenende<br />
unübersehbar das Transparent: »DIE LINKE.Saar – Politischer<br />
Aschermittwoch«. Auf den Tischen Blumentöpfe mit<br />
<strong>Linkspartei</strong>-Fähnchen, außerdem Flyer zu Rente mit 67 und<br />
Bierdeckel zum Mindestlohn (oder umgekehrt). Dazu zwei<br />
besonders wichtige Zettel: Eintrittserklärungen für die <strong>Linkspartei</strong>.<br />
Und – Speisekarten: Alkoholfreies für einen Euro, Bier<br />
für anderthalb, Heringsfi let und Kartoffeln für fünf. Gutes Essen,<br />
soziale Preise, damit hatte die <strong>Linke</strong> geworben.<br />
Wer hierher, an den Ortsrand von Wallerfangen, kommt,<br />
hat sich nicht verirrt. Aber wer hierher kommt, muss beileibe<br />
kein eingeschriebenes Mitglied sein (was andererseits<br />
bei dem saarländischen Mitgliedertrend nicht verwunderlich<br />
wäre). Zwei Drittel der Besucher, meint Thomas Stunden<br />
später, seien weder in der <strong>Linkspartei</strong> noch in der WASG.<br />
Thomas muss es wissen, mit seinen geschätzten 3,14 Meter<br />
hat er einen einzigartigen Überblick.<br />
Halb sechs soll, offi ziell, der Einlass beginnen. Das klappt<br />
nicht. Halb sechs ist der Saal bereits <strong>zur</strong> Hälfte gefüllt.<br />
Zu zweit, zu dritt, zu viert strömen die Leute herbei. Kleine<br />
Trupps statt großer Busladungen. »Delegationen« aus den<br />
Kreisen habe man nicht gewollt und nicht nötig – Denn wer<br />
im Vorjahr dabei war, kommt wieder. Und bringt noch ein<br />
paar Leute mit. Am Ende werden es bald an die 800 Frauen<br />
und Männer sein. (Das zählen selbst die Saarbrücker Zeitung<br />
und – fast – BILD. Und weil wir bei Zahlen sind: Für CDU und<br />
SPD vermelden sie je 1.000, für FDP und Grüne gut 200. Also<br />
tatsächlich Rang 3, an diesem Aschermittwochabend!)<br />
Meine Nachbarin <strong>zur</strong> <strong>Linke</strong>n, so um die 50, schiebt für ih-<br />
REPORTAGE<br />
ren Besuch persönliche Gründe vor: Einer der Bundestagsabgeordneten<br />
war ein Schulkamerad. Seinetwegen war sie<br />
schon im Vorjahr dabei, damals herrschte eine prima Stimmung.<br />
Dennoch werde sie nicht in eine Partei eintreten; einer<br />
Linie folgen, das sei nichts für sie. Konkret: Den Einsatz<br />
der Lafontaine-<strong>Linke</strong>n für die Rechte der Kohlekumpel hält<br />
sie für übertrieben. Klar würden die hart arbeiten (wie andere<br />
auch), aber mittlerweile seien die Bergleute die »eigentlichen<br />
Beamten« – Wenn sie nach der Arbeit nach Hause<br />
komme, sitze mancher ihrer einstigen Schulfreunde längst<br />
auf der Bank und hatte einen schönen Tag. Sie selbst, gelernte<br />
Sozialarbeiterin, sucht im Berufsalltag Ausbildungsplätze<br />
für benachteiligte Jugendliche.<br />
Mir gegenüber ergattern Mutter, Vater, Sohnematz die<br />
letzten freien Plätze weit und breit. Mutter, geballte und bestimmte<br />
Fröhlichkeit, sorgt gleich für eine eigene Stimmung.<br />
»<strong>Die</strong> beiden«, sagt sie nach ein paar Minuten allen und meint<br />
ihre beiden neben sich, »die beiden hab ich lieb. <strong>Die</strong> beiden<br />
schmeiß ich nicht weg.« Das hätten die beiden auch nicht<br />
verdient, so ruhig wie sie Muttern das Festsaalfeld überlassen.<br />
<strong>Die</strong> beiden horchen brav zu, den ganzen Abend.<br />
Kurz vor sechs gibt Concordia Wallerfangen, ein Musikverein<br />
mit 30 Frauen und Männern, erstmals Laut. Unterdessen<br />
wieselt, soweit das in der Enge zwischen den Stuhlreihen<br />
überhaupt möglich ist, zum siebten oder achten Mal<br />
eine junge Kellnerin vorbei. Sie ist eigentlich Fachfrau für<br />
Bürokommunikation und gelegentlich, wie heute Abend,<br />
Kellnerin; sie braucht das Geld für »Urlaub und Skiurlaub«.<br />
Concordia schwankt zwischen Märschen und Schlager-<br />
Medley. Meine rechte Nachbarin schwankt in ihrem Kommentar<br />
zwischen Achtung und Ablehnung.<br />
Kurz vor sieben erscheint Lafontaine, der hat’s nicht weit,<br />
er wohnt um die Ecke in einem Ortsteil von Wallerfangen. Oskar<br />
schreitet längs durch den Saal, der Gang ist lang, die<br />
Massen applaudieren, viele stehen auf, auch – zuerst – die<br />
Frau gegenüber und – dann – ihre beiden, der Ehe- und der<br />
Sohnemann.<br />
Oskar geht auf die Bühne. Dort steht das Pult und dort<br />
sitzt Concordia. Oskar schüttelt Hände, anschließend den<br />
Taktstock, und Concordia spielt mit.<br />
Jetzt sind sie alle da. Musikalisch der »Steiger«, politisch<br />
der Lafontaine und akustisch die Stimmung.<br />
<strong>Die</strong> Abrechnung beginnt mit der Außen- und Militärpolitik:<br />
»Unter Bombenteppichen wächst kein Frieden ... Von<br />
deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.« <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong><br />
werde im Bundestag beantragen, dass deutsche Flughäfen<br />
und deutscher Luftraum nicht für einen Angriffskrieg <strong>zur</strong><br />
Verfügung gestellt werden dürfen.<br />
<strong>Die</strong> Frau gegenüber streckt eine Faust nach oben, ruft<br />
»<strong>Ja</strong>« und übersetzt dem Kleinen: »Der redet jetzt übern Frieden.<br />
Das ist wichtig.« <strong>Die</strong> Nette neben mir, die mit den persönlichen<br />
Gründen, schreibt etwas in ihren Block. Hinter<br />
mir raunt einer: »Das ist gut. Das ist sehr gut!« Der privilegierte<br />
Rundfunkmann ist hoffentlich an seinem Arbeitsplatz,<br />
und die fl otte Büro-Kellnerin versucht rastlos und freundlich,<br />
Durstwünsche zu erfüllen. Nur nach Hering, nach Hering verlangt<br />
jetzt wirklich niemand.<br />
<strong>Die</strong> Luft steht, der Qualm drückt, dabei ist das mit dem<br />
Aschermittwoch doch irgendwie anders gemeint. An diesem<br />
Ort und an diesem Abend wird das Nichtrauchergesetz jedenfalls<br />
nicht verhandelt.<br />
Lafontaine hat die Sozialpolitik erreicht. Er greift Statistiken<br />
auf und Regierungssprüche an: Gut, dass wieder mehr<br />
Leute Arbeit fi nden – Aber was für Arbeitsplätze sind das?<br />
Teilzeitjobs, prekäre Arbeit ...? Und überhaupt: Entscheidend<br />
ist, wo der Wohlstand ankommt! »<strong>Ja</strong>«, ruft wieder die<br />
Frau gegenüber und gibt dem etwa Zehnjährigen einen Auf-<br />
DISPUT März 2007 016
trag: »Hör gut zu, das ist was fürs Leben!« Fast alle im Saal,<br />
soweit einzeln wahrnehmbar, klatschen. <strong>Die</strong> Stimmung ist<br />
prächtig. Sozusagen gut. (Via Phoenix ist das nicht annähernd<br />
so zu spüren, live ist eben doch live.)<br />
Als der einstige Ministerpräsident ankündigt: »Wir haben<br />
an der Saar etwas vor. Wir wollen 2009 den Regierungswechsel<br />
herbeiführen, und ich werde wieder für das Amt des saarländischen<br />
Ministerpräsidenten kandidieren«, da erheben<br />
sich viele. Bravo, Pfi ffe, Jubel, die Halle tobt, als hätte er soeben<br />
das entsprechende Wahlergebnis verkündet.<br />
Bis dahin ist noch ein bisschen Zeit. Bis dahin gibt’s für<br />
die <strong>Linke</strong> noch viel zu tun, zum Beispiel weitere Ortsvereine<br />
gründen und zum Laufen bringen.<br />
Yvonne Ploetz leitet den Ortsverein Blieskastel. An die 40<br />
seien sie, auch Mama und Schwester sind dabei. Papa noch<br />
nicht. Mit 14 war sie in der Jungen Union, die machten Politik<br />
und Party. Jetzt macht Yvonne Politik und Party, von links.<br />
Vor zwei <strong>Ja</strong>hren trat sie in die <strong>Linkspartei</strong> ein: »... als ich<br />
merkte, da ist Zukunft drin.« Sie steht, mittlerweile auch als<br />
Landesvorstandsmitglied, vor allem für die Themen Jugend<br />
und Kampf gegen Rechtsextremismus. Ihr coolstes Erfolgserlebnis<br />
war das Konzert »Red Rock« mit Ska und Rock und<br />
fast 500 Leuten in der Festhalle Blieskastel. Was im Sommer<br />
2006 so viel Resonanz hatte, soll im Sommer 2007 wiederholt<br />
werden.<br />
Yvonne studiert in Trier Politik, dazu Kunst und Soziologie.<br />
Auch ansonsten scheint sie sich für die Herausforderungen<br />
des Lebens zu wappnen: Im Judo hat sie den braunen Gürtel,<br />
außerdem lernt sie chinesisch. Vielleicht führt ihr Berufsweg<br />
später in die Politik. Käme da die Landtagswahl nicht<br />
recht? <strong>Die</strong> gängige Floskel beherrscht sie jedenfalls schon:<br />
»Ich lass es auf mich zukommen.«<br />
Inzwischen ist Gregor Gysi eingetroffen; vormittags machte<br />
er im bayrischen Passau auf Aschermittwoch und nun im<br />
saarländischen Wallerfangen. Lafontaine kommt mit seiner<br />
Rede bald zum Ende – Applaus, Applaus –, damit Gysi mit<br />
seiner Rede zum Anfang kommen kann. Phoenix diszipliniert;<br />
die Fraktionschefs teilen sich artig die Redezeit, die<br />
ihnen die 60-Minuten-Sendung zubilligt. Gysi pocht heftig<br />
auf Solidarität und Chancengleichheit: »Ich will nicht, dass<br />
ein Krankenhaus sich rechnet, ich will, dass in einem Krankenhaus<br />
alle gesund werden. – Das sind zwei völlig unterschiedliche<br />
Ansätze.« <strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> habe Alternativen: für einen<br />
gesetzlichen Mindestlohn, für Investitionen in Bildung und<br />
Kultur ...<br />
Auch Gysi jubeln die Festsaalleute begeistert zu. Eine<br />
Stimmung wie im heißen Wahlkampf. Ein Volksfest zum Wiederkommen.<br />
Es ist zwei nach acht, Phönix hat sich verabschiedet, Gysi<br />
macht auch Schluss, womit die Politik rein redenmäßig am<br />
Ende ist. Doch vom Publikum verlässt (fast) niemand den<br />
Saal. Am Lafontaine-Gysi-Tisch versammelt sich eine Wartegemeinschaft:<br />
einige bringen kleine Geschenke mit (nur<br />
für Oskar), etliche reichen Wimpel, Bücher, Flyer für Autogramme<br />
(von beiden) herüber. Und Fotos sind auch noch zu<br />
machen.<br />
Unterdessen erlebt die Vorfreude auf den Hering ihren<br />
Höhepunkt: Der Fischzug erreicht endlich den Saal. Halt,<br />
erst gibt’s die Beilage in Brikettgröße: Riesenpellkartoffeln.<br />
Auf Riesenplatten schleppt meine Servierin sie herbei. Den<br />
Fisch bringen andere. Wie der Landesgeschäftsführer, der<br />
einen Wagen voller Teller durch die schmalen Reihen bugsiert.<br />
Über all dem musiziert unverdrossen Concordia, und<br />
die Leute reden und mampfen und reden miteinander.<br />
Im kleinen Saarland, erläutert mir jemand, kenne jeder jeden.<br />
Das ist möglicherweise übertrieben, denn ich beobachte<br />
mindestens sechs, sieben Saarländerinnen und Saarländer,<br />
170 DISPUT März 2007<br />
die zu Beginn des Abends einander nicht kannten und trotzdem<br />
miteinander bestens ins Gespräch kommen. (Ich fl üchte<br />
ein bisschen in aufmerksame Passivität, was von der Gegenüber-Frau<br />
verständnisvoll mit den Worten quittiert wird:<br />
»Sie sind mehr so ein Zuhörer – ich liebe auch mehr das Zuhören.«<br />
Das sagt sie wirklich, und ich bin ihr dankbar.)<br />
Allein die servierende Bürokraft mimt Empörung, als ich<br />
sie mit Blick auf den Aufdruck »DIE LINKE« auf ihrem Poloshirt<br />
frage, ob man Mitglied sein müsse, um hier und heute<br />
kellnern zu dürfen. »Nein!«, gibt sie <strong>zur</strong>ück, sie habe sich<br />
überreden lassen, und einen Abend lang könne sie das ja<br />
schon mal tragen. Zur Politik, philosophiert sie, sagen die einen<br />
so und die anderen so. Und sie selbst? Manchmal interessiere<br />
sie auch Politik. Wann? Wenn’s um Steuern geht.<br />
Thomas schiebt und schleppt unaufhörlich Teller durch<br />
die Gegend. Yvonne auch, Christa, die Frau eines der Hauptredner,<br />
ebenfalls. Der Mann der Pressefrau, ein Bauingenieur,<br />
hat seinen Helferplatz an der Spüle gefunden. Gut 40<br />
Freunde helfen. Zu vorgerückter Stunde nimmt der Landesvorsitzende<br />
Blumen und Gysi und bedankt sich in der Küche.<br />
Schon am Vortag, einige nahmen extra Urlaub, hatten<br />
sie mit Hand angelegt für ihren Politischen Aschermittwoch.<br />
<strong>Die</strong>s scheint hier das Selbstverständlichste der linken Welt<br />
zu sein.<br />
Ebenso selbstverständlich nimmt mich Manfred mit nach<br />
Saarbrücken. Manfred ist Former. Zunächst verstehe ich Farmer,<br />
Landwirt, das muss an meinen müden Ohren liegen. Er<br />
ist seit vielen <strong>Ja</strong>hren in einer Gießerei (wo es ja bekanntlich<br />
selten Farmer gibt), er ist Betriebsrat und WASG. Lange <strong>Ja</strong>hre<br />
gehörte er der SPD an, damals, als er sie noch mit dem<br />
Eintreten für die kleinen Leute in engste Verbindung bringen<br />
konnte. Geschichte für ihn. <strong>Die</strong> Zukunft sieht er in einer<br />
<strong>neuen</strong> und starken <strong>Linke</strong>n. Es wird Zeit, sagt er mir zwischen<br />
Bous und Völklingen, dass auch formal alles klar wird und<br />
dass sich die <strong>Linke</strong> auf einem höheren Niveau stabilisiert.<br />
Das Saarland, erklärt mir Manfred, sei ziemlich klein:<br />
Wenn du in Saarbrücken aufs Gas trittst, bist du schon in<br />
Rheinland-Pfalz. Das aber wäre nach diesem Abend irgendwie<br />
schade.<br />
Im Sommer folgt die nächste große Politsause: das Sommerfest<br />
der <strong>Linke</strong>n am 14. August. Ohne Hering, wahrscheinlich.<br />
Aufmerksam und begeistert. Der Politische Aschermittwoch<br />
bescherte der <strong>Linke</strong>n ein volles Haus.<br />
© Stefan Richter
Chancen, Sorgen und Verantwortung<br />
Mitglieder des Parteirates zu den Perspektiven der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n.<br />
Eine DISPUT-Umfrage Von David Pfender<br />
Der Parteirat ist laut Statut ein Organ<br />
der Gesamtpartei mit Konsultativ-, Kontroll-<br />
und Initiativfunktion gegen über<br />
dem Parteivorstand. Am Rande der<br />
jüngsten Parteiratssitzung wollte DIS-<br />
PUT von Mitgliedern des Gremiums erfahren,<br />
welche Erfahrungen und Erwartungen<br />
sie mit dem Parteibildungsprozess<br />
verbinden.<br />
1) Welche Erwartungen setzt Du in die<br />
neue <strong>Linkspartei</strong>?<br />
2) Was ist zu tun, damit die neue <strong>Linke</strong><br />
eine starke <strong>Linke</strong> wird?<br />
3) Welche thematischen Schwerpunkte<br />
sollten im ersten <strong>Ja</strong>hr gesetzt werden?<br />
4) Ist die Parteibildung mehr Zweckehe<br />
oder mehr Liebesheirat?<br />
Angelika Mai (53)<br />
Parteiratssprecherin<br />
1) <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong> ist natürlich zuerst<br />
mal eine Chance, für die wir etliches<br />
tun müssen. Das wollen wir als Parteirat<br />
auch. Wenn man sich die vorgeschlagene<br />
Bundessatzung anguckt, ist<br />
ein Organ wie der Parteirat nicht mehr<br />
vorgesehen, was schade ist. Daher wollen<br />
wir jetzt intensiv arbeiten, um den<br />
Prozess der Parteibildung voranzubringen.<br />
Zentrales Thema des Bundesparteitages<br />
im März wird es sein, nach den<br />
Gemeinsamkeiten zu schauen, denn<br />
wir wollen eine Partei für das Volk, für<br />
den Alltag sein. Wir dürfen uns nicht<br />
mehr zu sehr mit uns selbst beschäftigen.<br />
Vielmehr sollten wir darauf gucken,<br />
was die Gesellschaft braucht.<br />
Dafür müssen wir uns, jeder an seinem<br />
Platz, entsprechend einbringen.<br />
2) Selbstverständlich müssen wir<br />
das Ohr an der Masse haben, besonders<br />
bei den Schichten, die uns gewählt<br />
haben und die große Hoffnungen<br />
in uns setzen. Hier sollten wir aktiv werden.<br />
Dazu gehört, dass wir in der Auseinandersetzung<br />
mit den Hartz-IV-Gesetzen<br />
sichtbar werden, dass wir uns<br />
den Problemen der sozialen Sicherung<br />
annehmen, dass wir Alternativen verständlich<br />
rüberbringen und im Dialog<br />
mit den einzelnen Schichten bleiben.<br />
Ich hoffe sehr sowohl auf Schwung<br />
als auch auf Druck durch einen gemein-<br />
NEUE LINKE<br />
samen Jugendverband. Es kann nicht<br />
verkehrt sein, durch eine klare Artikulation<br />
der Jugendinteressen ein Stück<br />
weit geschoben zu werden. <strong>Die</strong>s hilft,<br />
den Blick nach vorn zu schärfen.<br />
3) Natürlich ist das eine Frage des<br />
Zusammenwirkens. Da muss man Wert<br />
auf Dialog und Erfahrungsaustausch legen.<br />
Mitglieder aus Ost und West treffen<br />
aufeinander. Sie sollten das Gespräch<br />
miteinander suchen, sich aufmerksam<br />
zuhören und Vorstellungen<br />
und Sorgen des Anderen aufnehmen,<br />
um so als vereinte linke Kraft stark und<br />
den Erwartungen von außen gerecht<br />
werden zu können. Das ist eine große<br />
Herausforderung.<br />
Vermehrt brauchen wir Gespräche<br />
mit Wissenschaftlern und Kulturschaffenden.<br />
Und natürlich hoffen wir, das<br />
die entscheidenden Männer, die das<br />
Ganze vorangetrieben haben, Oskar<br />
Lafontaine und Gregor Gysi, sich weiterhin<br />
so innovativ, wie wir sie kennen,<br />
einbringen.<br />
4) Es ist größtenteils eine Vernunftehe.<br />
Nach den Bundestagswahlen<br />
sind die Emotionen im Alltag natürlich<br />
etwas <strong>zur</strong>ückgegangen. Man muss<br />
jetzt noch einmal die Chancen verdeutlichen,<br />
um so Freude und Optimismus<br />
zu entwickeln.<br />
Robert <strong>Ja</strong>rowoy (53)<br />
Landesverband Hamburg, seit vier<br />
<strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />
1) Fangen wir mit dem Positiven an. Wir<br />
im Westen haben bekanntlich das Problem,<br />
dass wir dort bisher nicht den<br />
Durchbruch geschafft haben, in Parlamente<br />
zu kommen. Jetzt haben wir<br />
die wohl berechtigte Hoffnung, dass<br />
es anders wird. In Hamburg sind in<br />
einem <strong>Ja</strong>hr Bürgerschafts- und Bezirksversammlungswahlen.<br />
Wir sehen dort<br />
durchaus eine realistische Chance, die<br />
fünf Prozent zu knacken, nachdem wir<br />
bei der letzten Wahl bei zwei Prozent<br />
rumdümpelten und kaum Aussicht auf<br />
Besserung hatten. Wie gesagt, durch<br />
die Fusionsgeschichte mit der WASG<br />
haben sich die Chancen deutlich verbessert.<br />
Ich sehe aber auch eine Reihe von<br />
Gefahren, zum Beispiel: Der sozialistische<br />
Charakter der Partei rückt immer<br />
weiter in den Hintergrund. Aspekte wie<br />
Internationalismus, Ökologie, Antifaschismus<br />
und Kommunalpolitik werden<br />
durch die WASG <strong>zur</strong>ückgedrängt,<br />
so dass der soziale Charakter die fast<br />
einzig verbleibende Position darstellt.<br />
Böse Zungen könnten behaupten, dass<br />
jetzt alles auf eine Bürgerinitiative gegen<br />
Hartz IV hinausläuft, und das ist<br />
etwas, was uns, den alten <strong>Linkspartei</strong>lern,<br />
vom Anspruch her nicht reicht.<br />
2) Wie bereits angedeutet, wenn wir<br />
nicht in allen politischen Bereichen<br />
präsent und aktiv sind, kann das Ganze<br />
sehr schnell wieder in sich zusammenfallen.<br />
Wir müssen den Menschen<br />
Alternativen aufzeigen und somit die<br />
Attraktivität unserer Partei unter Beweis<br />
stellen.<br />
Das darf sich nicht allein an ehemalige<br />
oder Alt-Gewerkschafter richten,<br />
sondern überhaupt an aktive Menschen.<br />
Beispielsweise haben wir in<br />
Hamburg derzeit das Problem mit der<br />
Volksgesetzgebung. <strong>Die</strong> CDU hat mit<br />
ihrer absoluten Mehrheit die Volksentscheide<br />
gestürzt, und jetzt gibt es einen<br />
Volksentscheid für den Volksentscheid.<br />
Das ist eine Sache, die sehr<br />
viele Menschen interessiert und durch<br />
die sie sich mobilisieren lassen. Wenn<br />
man da nichts bietet und wenn man<br />
sagt »Wir machen nur Hartz IV«, wird<br />
das vielen Leuten nicht genügen.<br />
3) Ökologie, Antifaschismus, Kommunalpolitik,<br />
Internationalismus, Integration<br />
von Migranten und Solidarität<br />
mit Befreiungsbewegungen. In Sachen<br />
Frauengleichberechtigung haben<br />
wir bei der WASG das Gefühl, dass die<br />
Quotierung nicht sehr ernst genommen<br />
und langsam abgebaut wird, weil es<br />
dort fast keine Frauen gibt. Da sehe ich<br />
große Probleme, das ist eine Haltung,<br />
die wir bisher nicht hatten. Wir haben<br />
immer versucht, Frauen zu gewinnen<br />
und in Positionen zu bringen, so dass<br />
die Quotierung erfüllt ist.<br />
<strong>Die</strong> jungen Leute sind heutzutage<br />
nicht mehr so politisch aktiv. Wenn man<br />
sie für etwas gewinnen kann – zumindest<br />
sehe ich das in Hamburg –, dann<br />
ist es das Thema Antifaschismus. Kommunalpolitik<br />
wird sehr unterschätzt,<br />
gerade in Bezug auf die Demokratiefrage.<br />
Es gibt viel Kampf gegen die Schließung<br />
von Schwimmbädern, gegen die<br />
Privatisierung öffentlicher Parks und<br />
DISPUT März 2007 018
dergleichen. Aktivitäten dagegen sind<br />
ein wichtiger Ansatzpunkt.<br />
4) Das ist schwer zu sagen. Ich würde<br />
mehr Zweck als Liebe sehen.<br />
Petra Hauthal (46)<br />
Landesverband Thüringen, seit<br />
November vorigen <strong>Ja</strong>hres im Parteirat<br />
1) Mit einer <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong> besteht<br />
die Möglichkeit, eine gemeinsame <strong>Linke</strong><br />
in ganz Deutschland zu installieren.<br />
Dabei gibt es die Gefahr, dass das Gedankengut<br />
der PDS verloren geht. <strong>Die</strong>se<br />
Sorge teilen wir mit unseren Mitgliedern.<br />
2) Man muss mehr an die Öffentlichkeit<br />
gehen und sich mehr mit Bürgerinitiativen<br />
kurzschließen, um Dinge außerparlamentarisch<br />
klären zu können,<br />
denn das meiste passiert auf der Straße<br />
und nicht im Parlament.<br />
Verstärkt müssen wir außerdem an<br />
die Jugend heran.<br />
3) All das, was mit Hartz IV zusammenhängt,<br />
denn die Situation auf dem<br />
Arbeitsmarkt wird nicht besser. Nicht<br />
vergessen werden sollten die kleinen<br />
Unternehmer, denen es nicht besser<br />
geht als normalen Arbeitnehmern, oft<br />
sogar schlechter.<br />
Ewa Tröger (56)<br />
Landesverband Saarland,<br />
seit zwei <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />
1) Zuerst sehe ich natürlich eine große<br />
neue Chance. Es ist gut, dass sich eine<br />
<strong>Linke</strong> in dieser Größe formiert, Das<br />
war in der Vergangenheit nicht der Fall.<br />
Wenn dieser Einigungsprozess klappt,<br />
werden auch weitere linke Vereinigungen<br />
mehr Vertrauen zu uns entwickeln.<br />
Allerdings ist es bei der Breite politischer<br />
Ideen wohl schwierig, einen<br />
Grundkonsens zu fi nden. Ich möchte,<br />
dass der demokratische Sozialismus<br />
Ziel unserer Politik ist. Ich brauche eine<br />
Vision für eine gerechtere Gesellschaft,<br />
und das scheint mir durch die Realpolitik,<br />
die ja notwendig ist, in immer weitere<br />
Ferne zu rücken. Eine Rückbesinnung<br />
auf einstige Ziele sollte stattfi nden,<br />
besonders für die Entwicklung<br />
junger Menschen.<br />
2) Vor allem im Rahmen der Kommunalpolitik<br />
muss man mit den Menschen<br />
arbeiten. Mit den Menschen vor Ort, in<br />
den Kreisen und Städten. Sie müssen<br />
wir aufklären und ihnen neben Alternativen<br />
auch Hilfe <strong>zur</strong> Selbsthilfe anbieten.<br />
Dabei sind mir die Diskussionen<br />
innerhalb des Parteirats eine Interpretations-<br />
und Argumentationshilfe.<br />
190 DISPUT März 2007<br />
3) Viele Schwerpunkte bleiben während<br />
des gesamten Fusionsprozesses<br />
ein bisschen auf der Strecke, was bedauerlich<br />
ist: sei es die Rente mit 67,<br />
die Diskussion um den Mindestlohn<br />
oder landespolitische Probleme. Da<br />
müssen wir viel aktiver werden.<br />
4) Eine Liebesheirat ist es auf alle<br />
Fälle nicht, eher eine Zweck- und Vernunftehe.<br />
Für die gesellschaftliche Weiterentwicklung<br />
ist sie unbedingt notwendig.<br />
Dirk Hoeber (33)<br />
Landesverband Baden-Württemberg,<br />
seit vier <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />
1) Ich sehe es positiv, dass es eine bundesweite<br />
Kraft geben wird, die sowohl<br />
in den alten als auch in den <strong>neuen</strong> Bundesländern<br />
verankert ist. Hoffnung habe<br />
ich, dass sie eine Partei wird, die<br />
den neoliberalen Angriffen standhalten<br />
und eine Gegenöffentlichkeit herstellen<br />
kann.<br />
Sorgen habe ich, wenn ich mir so<br />
manches in den »Programmatischen<br />
Eckpunkten« anschaue, wenn ich sehe,<br />
wie manche realpolitischen Vorstellungen,<br />
gerade in Berlin, in Richtung<br />
zweite Sozialdemokratie gehen.<br />
Dafür haben wir einfach keinen Platz<br />
in unserem Parteiensystem, dann wird<br />
DIE LINKE. genauso baden gehen wie<br />
2002 die PDS.<br />
2) <strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> muss auf jeden<br />
Fall glaubhaft sein. Sie muss das tun,<br />
was sie verspricht, und darf nicht mit<br />
Tricks arbeiten, um dann doch noch um<br />
Parteitagsbeschlüsse herum arbeiten<br />
zu können, wie es beispielsweise beim<br />
■ ■ CD gegen G8<br />
»Lebe den Widerstand« heißt ein<br />
CD-Projekt, mit dem [’solid] den<br />
Protest gegen den G8-Gipfel unterstützen<br />
will. 20.000 CD mit globalisierungskritischen<br />
Liedern<br />
sollen produziert und kostenlos<br />
an junge Menschen in Deutschland<br />
verteilt werden. Zahlreiche<br />
Künstlerinnen und Künstler haben<br />
zugesagt, ohne Gage Musik<br />
<strong>zur</strong> Verfügung zu stellen. <strong>Die</strong> CD<br />
sollen die Kritik an Krieg, Ausbeutung<br />
und Umweltzerstörung unterstützen<br />
helfen.<br />
Für die Produktion wird Geld benötigt.<br />
Spenden bitte auf Konto<br />
130 019 201, Postbank Hamburg,<br />
Bankleitzahl 200 100 20, Kennwort:<br />
G8-CD.<br />
Träger des Projekts ist der gemeinnützige<br />
Verein Gesellschaft für politische<br />
Bildung, der auf Wunsch<br />
Spendenquittungen ausstellt.<br />
Abstimmungsverhalten des Landes<br />
Berlin <strong>zur</strong> EU-Verfassung im Bundesrat<br />
der Fall war. Wenn man so etwas<br />
auf Bundesebene macht, sehe ich das<br />
Ganze in einem Desaster enden.<br />
3) <strong>Die</strong> Schwerpunkte sollten die gleichen<br />
bleiben. Man sollte weiterhin mit<br />
der Mindestlohnkampagne und mit<br />
dem, was Hartz IV anbelangt, arbeiten.<br />
Dort besteht großes Potenzial. Wenn<br />
man tatsächlich aus 1,50-Euro-Jobs sozialversicherungspfl<br />
ichtige Arbeitsplätze<br />
schaffen kann, wäre das ein großer<br />
Fortschritt.<br />
Manfred Millow (58)<br />
Parteiratssprecher, seit vier <strong>Ja</strong>hren<br />
im Parteirat<br />
1) Ich bin sehr optimistisch, dass die<br />
Parteibildung klappt. Vorbehalte und<br />
Zweifel, die es auf beiden Seiten gibt,<br />
sehe ich als abbaubar an. <strong>Die</strong> Überlegungen<br />
zu den Gründungsdokumenten<br />
haben ja verdeutlicht, dass es Möglichkeiten<br />
gibt, sich <strong>zur</strong> Parteibildung<br />
zu einigen. <strong>Die</strong> gemeinsame Fraktion<br />
im Bundestag zeigt, dass es geht. <strong>Die</strong><br />
Wahl der Bundestagsfraktion macht<br />
auch eine gewisse Erwartungshaltung<br />
in der Bevölkerung deutlich. <strong>Die</strong>se Erwartungshaltung<br />
dürfen wir weder als<br />
<strong>Linkspartei</strong> noch als WASG enttäuschen.<br />
2) Es ist notwendig, sich in den strittigen<br />
Punkten, die auch in den Gründungsdokumenten<br />
aufgeführt sind, zu<br />
einigen. <strong>Die</strong>se Fragen muss man ausdiskutieren,<br />
wenn man einheitlich auftreten<br />
will. Es wird zwar immer Unterschiede<br />
geben, doch wenn man eine<br />
starke <strong>Linke</strong> sein will, sollte man zumindest<br />
in ganz wichtigen Bereichen<br />
eine Sprache sprechen.<br />
3) Umstritten ist momentan die Frage<br />
des demokratischen Sozialismus.<br />
Auf demokratischen Sozialismus sollte<br />
man sich einigen, denn das ist ein<br />
Knackpunkt in unserer Partei. Lange<br />
hat man darum gestritten, dass das<br />
überhaupt in den »Programmatischen<br />
Eckpunkten« erscheint. Ich hätte kein<br />
Verständnis dafür, wenn er wegfi ele.<br />
Demokratischer Sozialismus gehört zu<br />
dieser Partei und gehört auch zu einer<br />
<strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n. <strong>Die</strong> SPD hat sich schon<br />
lange davon verabschiedet, selbst<br />
wenn sie ihn zwischendurch wieder<br />
auffl ammen lässt.<br />
Des Weiteren sollte man sich über<br />
die Haltung <strong>zur</strong> Entwicklung des Rechtsextremismus<br />
und zu Militäreinsätzen<br />
einigen. Hier muss es eine einheitliche<br />
Auffassung und Sprache geben.<br />
4) Beinahe hätte ich mit einer Gegenfrage<br />
geantwortet: Wo gibt’s denn
heute noch eine Liebesheirat? – Nein,<br />
die Parteibildung wird von vielen <strong>Linke</strong>n<br />
als eine Notwendigkeit gesehen.<br />
Ich habe in letzter Zeit oft mit jungen<br />
Leuten sehr unterschiedlicher linker<br />
Gruppierungen zu tun. Manchmal sage<br />
ich ihnen, sie wären genauso »beknackt«<br />
wie die Alten, wenn es kein Zusammenkommen<br />
gibt, obwohl alle das<br />
gleiche Ziel verfolgen.<br />
Gerald Grünert (51)<br />
Arbeitsgemeinschaft<br />
Kommunalpolitik,<br />
seit zwölf <strong>Ja</strong>hren im Parteirat<br />
1) Ich sehe eine große Chance, dass linke<br />
alternative Politik in der Bundesrepublik<br />
durch eine starke <strong>Linke</strong> vertreten<br />
werden kann. Probleme liegen in<br />
den unterschiedlichen Sichtweisen, in<br />
den Lebenserwartungen und -erfahrungen<br />
von Ost und West. <strong>Die</strong>se müssen<br />
zueinander fi nden.<br />
Anzeige<br />
NEUE LINKE<br />
In der Kommunalpolitik haben wir<br />
gute Ansätze, denn zunehmend tragen<br />
jetzt auch WASG-Mitglieder kommunalpolitische<br />
Verantwortung. Ich<br />
denke, dass sich anhand der Realpolitik<br />
und der Zukunftsvisionen Politikansätze,<br />
die derzeit noch strittig sind, neu<br />
gestalten lassen.<br />
2) Eine neue <strong>Linke</strong> sollte sich in drei<br />
Punkten stark verankert sehen. Der<br />
erste ist die Friedenspolitik, der zweite<br />
ist die Frage nach der öffentlichen Daseinsvorsorge<br />
und der dritte ist natürlich<br />
Arbeit. Jeder Mensch muss durch<br />
seine Arbeit leben können.<br />
Weiterhin haben wir das Problem der<br />
demografi schen Entwicklung. <strong>Die</strong> Überalterung<br />
der Bevölkerung setzt neue<br />
Maßstäbe in der Frage des öffentlichen<br />
Eigentums, der Frage nach der Zugänglichkeit<br />
der Institutionen für jedermann.<br />
Das sind die Hauptschwerpunkte, die<br />
auch im Parteineubildungsprozess eine<br />
Rolle spielen werden.<br />
3) <strong>Die</strong> Schwerpunkte werden von<br />
der thematischen Strukturierung der<br />
<strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong> abhängig sein. Wir<br />
haben Bundesarbeitsgemeinschaften,<br />
die sich in den Landesverbänden nach<br />
dem <strong>neuen</strong> Statut neu verankern müssen.<br />
Durch diese inhaltliche Arbeit<br />
kann auch die Frage der Programmatik<br />
und der strategischen Zielsetzung bearbeitet<br />
werden. Da gibt es, durch die<br />
unterschiedlichen Erfahrungen, noch<br />
Differenzen zwischen WASG und <strong>Linkspartei</strong>.PDS.<br />
4) Es ist beides. Beide Parteien sind<br />
linke Kräfte. Unser Ziel ist es, über<br />
dieses Bündnis noch mehr an linksorientierte<br />
Bürgerinnen und Bürger<br />
sowie an Bewegungen und Initiativen<br />
wie attac und andere heranzukommen,<br />
um ein Potenzial zu bündeln, damit<br />
die neo liberale Politik beendet und<br />
Deutschland zukunftsfähig ausgerichtet<br />
werden kann.<br />
David Pfender ist Student und war<br />
Praktikant in der Bundesgeschäftsstelle<br />
DISPUT März 2007 020
Ohne Abstufungen<br />
Zur Behindertenpolitik in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n Von Ralf Sondermeyer<br />
Eine Alltagssituation: Eine Rollstuhlfahrerin<br />
und ein Vater mit Kinderwagen<br />
wollen an einer Haltestelle in einen normalen<br />
Linienbus einsteigen. Den Vater<br />
schauen alle anderen Fahrgäste fragend<br />
an, weil ein Mann es doch alleine<br />
schafft, die zwei Stufen den Kinderwagen<br />
reinzuheben, und die Rollifahrerin<br />
muss draußen bleiben, weil man den<br />
Elektrorolli nicht anheben kann. Fazit:<br />
Beide Menschen werden in diesem Moment<br />
gleichermaßen behindert.<br />
<strong>Die</strong>ses kleine Beispiel zeigt, dass<br />
die Behinderung eines Menschen<br />
nichts mit einem körperlichen Gebrechen<br />
zu tun haben muss. Dabei wäre<br />
der Einsatz eines Niederfl urbusses<br />
mit entsprechender Anpassung an<br />
die Bordsteinkante die Lösung dieses<br />
Problems, und alle könnten selbstbestimmt<br />
und ohne Hilfe ihr Leben meistern.<br />
Ein kleines Beispiel für das Prinzip<br />
der Nutzen-für-alle-Politik der <strong>neuen</strong><br />
<strong>Linke</strong>n.<br />
Auch in der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n müssen<br />
wir über das Selbstverständnis einer<br />
modernen Behindertenpolitik nachdenken.<br />
<strong>Die</strong>s soll nicht heißen, das Rad<br />
neu zu erfi nden. Es heißt vielmehr, dass<br />
Bewährtes erhalten und geschützt werden<br />
soll und dass dennoch auch neue<br />
Wege beschritten werden müssen.<br />
<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik bedeutet:<br />
Wir stehen dafür, dass Menschen mit<br />
Behinderungen und chronisch kranke<br />
Menschen in allen Situationen des Lebens<br />
einen echten Nachteilsausgleich<br />
bekommen. Sei es in einer persönlichen<br />
Assistenz im Arbeitsleben oder<br />
im privaten Bereich oder im Abbau von<br />
Barrieren, oder sei es durch einen fi -<br />
nanziellen Ausgleich für den behindertenbedingten<br />
Mehraufwand durch die<br />
Gesellschaft. Wir wollen keine Gleichmacherei.<br />
Wir wollen aber die gleichen<br />
Chancen für alle Menschen!<br />
Es heißt oft, der Staat hat kein Geld.<br />
Müsste es nicht vielmehr richtig heißen:<br />
Wie viel ist der Gesellschaft der<br />
Nachteilsausgleich für Menschen mit<br />
Behinderungen wert?<br />
<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik steht für<br />
den Artikel 1 unseres Grundgesetzes<br />
und lässt keine Abstufungen zu. Es<br />
bleibt dabei: <strong>Die</strong> Würde des Menschen<br />
ist unantastbar. Doch auch in der <strong>neuen</strong><br />
<strong>Linke</strong>n müssen wir dafür kämpfen,<br />
dass Menschen mit Behinderungen<br />
210 DISPUT März 2007<br />
oder chronisch kranke Menschen nicht<br />
ausgegrenzt werden.<br />
Warum werden Veranstaltungen in<br />
Räumen organisiert, die nicht barrierefrei<br />
sind? Warum erfüllen wir selbst<br />
nicht die Ansprüche, die wir als Partei<br />
in den Parlamenten und auf allen Politikfeldern<br />
einfordern?<br />
Es muss eine Fortschreibung sein,<br />
wenn wir uns im Statut der <strong>neuen</strong> Partei<br />
selbst auferlegen, Veranstaltungen<br />
auf Bundesebene oder auf den Landesebenen<br />
(nicht nur in Nordrhein-Westfalen)<br />
barrierefrei zu gestalten. Barrierefrei<br />
heißt aber nicht allein, dass wir einen<br />
Tagungsraum haben, der für Rollifahrer/innen<br />
geeignet ist. Das bedeutet<br />
auch, dass Menschen mit Sinnesbehinderungen<br />
oder Sprachproblemen nicht<br />
an enge Redezeiten gebunden sind.<br />
Es ist manchmal verständlich, dass<br />
gesunde Menschen diese Forderungen<br />
nicht nachvollziehen können oder ökonomische<br />
Gesichtspunkte in den Fordergrund<br />
stellen. Eine einfache Lösung<br />
ist deshalb, die betroffenen Menschen<br />
zu fragen, welchen Nachteilsausgleich<br />
sie für eine selbstbestimmte Teilhabe<br />
in der Partei und der Gesellschaft brauchen.<br />
Daher ist es unerlässlich, dass<br />
wir in allen Landesverbänden und auf<br />
Bundesebene verpflichtend eine behindertenpolitischeArbeitsgemeinschaft<br />
oder zumindest einen Behindertenbeauftragten<br />
fest, also statutenmäßig,<br />
installieren.<br />
Moderne, linke Behindertenpolitik<br />
soll nicht heißen, dass wir hinter jedem<br />
Satz schreiben, dass Menschen mit Behinderungen<br />
oder chronisch Kranke besonders<br />
gefördert werden sollen. Das<br />
ist eine ressortübergreifende Politik,<br />
die dem Nutzen-für-alle-Prinzip folgt.<br />
Wenn es selbstverständlich wird, dass<br />
Menschen nicht mehr behindert werden,<br />
sind wir ein großes Stück weiter.<br />
Nun zeigt uns jedoch die Erfahrung,<br />
dass manche Dinge in Statuten festgeschrieben<br />
werden müssen. Damit<br />
kann sie keiner uminterpretieren! Daher:<br />
Barrierefreiheit bei Veranstaltungen<br />
gehört ins Statut auf Landes- und<br />
auf Bundesebene!<br />
<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik weiß, dass<br />
Menschen nicht danach eingeschätzt<br />
werden dürfen, was sie alles nicht können.<br />
Jeder Mensch hat Talente und Fähigkeiten,<br />
diese müssen gefördert wer-<br />
den. Erworbene Fertigkeiten sind wertvoll<br />
und gesellschaftlich anzuerkennen.<br />
<strong>Linke</strong> Behindertenpolitik ist für<br />
die Integration aller Menschen in die<br />
Gesellschaft. Dabei bedeutet Integration<br />
nicht, die Menschen so zu »formen«,<br />
dass sie in die Gesellschaft passen.<br />
Ralf Sondermeyer ist Mitglied des Landesvorstandes<br />
Nordrhein-Westfalen<br />
■ ■ Neuer Sprecherrat<br />
<strong>Die</strong> AG Selbstbestimmte Behindertenpolitik<br />
der <strong>Linkspartei</strong>-WASG<br />
wählte am 17. Februar in Berlin<br />
ihren <strong>neuen</strong> Sprecherrat. Nach<br />
einem ausführlichen Tätigkeitsbericht<br />
des alten Sprecherrates<br />
wurden die besonderen Verdienste<br />
von Jürgen Muskulus (Sachsen)<br />
und Ursula Teltow (Berlin) für linke<br />
Behindertenpolitik gewürdigt.<br />
Mit Christian Schröder (Berlin)<br />
und Irene Müller (Mecklenburg-<br />
Vorpommern) wurden zwei der<br />
vier Sprecher der AG in ihren Ämtern<br />
bestätigt. Neu gewählt wurden<br />
Christine Lichtwardt (Mecklenburg-Vorpommern)<br />
und Ralf<br />
Sondermeyer (Nordrhein-Westfalen).<br />
Sie werden die Arbeitsgemeinschaft<br />
leiten, politische Akzente<br />
der Behindertenpolitik der <strong>Linkspartei</strong>/WASG<br />
zusammenfassen,<br />
<strong>zur</strong> Diskussion stellen und daraus<br />
resultierende linke Behindertenpolitik<br />
in die Öffentlichkeit tragen<br />
und vertreten. Auf der Sitzung<br />
der AG wurde ein Arbeitsplan verabschiedet.<br />
Eine neue linke Partei ist für<br />
Vertreter/innen der Behindertenpolitik<br />
auch Anlass, neue und moderne<br />
Ansatzpunkte der Behindertenpolitik<br />
zu verankern. Um diese<br />
Arbeit kontinuierlich und effektiv<br />
gestalten zu können, wird sich<br />
die Arbeitsgemeinschaft alle zwei<br />
Monate in Berlin treffen und in der<br />
nächsten Zeit eine neue Struktur<br />
in den Bundesländern aufbauen.<br />
Konkrete Termine der Arbeitsgemeinschaft<br />
können dem Arbeitsplan<br />
entnommen werden. Er<br />
steht unter anderem auf der Internetseite<br />
www.irenemueller.de.<br />
ARBEITSGEMEINSCHAFT
Eine Lobbyistin hat »BILD« sie genannt – und die Bundestagsabgeordnete<br />
Sabine Zimmermann ist inzwischen stolz darauf Von Brigitte Holm<br />
»Ich habe gedacht, das kann doch nicht<br />
wahr sein, dass die mich nicht nehmen,<br />
weil ich eine Frau bin!« Obwohl diese Erfahrung<br />
16 <strong>Ja</strong>hre <strong>zur</strong>ückliegt, merkt man Sabine<br />
Zimmermann die Empörung noch an. Im<br />
Rückblick meint sie, dadurch sei sie <strong>zur</strong> Politik<br />
gekommen.<br />
Damals, 1990, als das große Betriebssterben<br />
im Osten einsetzte, war ihre Familie<br />
aus dem Sächsischen nach Bayern gegangen.<br />
Eine Wohnung und eine Stelle für den Mann waren<br />
schnell gefunden. Auch, weil es in der <strong>neuen</strong> Heimat Verwandtschaft<br />
gab, Westverwandtschaft. Sie war einst hinderlich,<br />
als Sabine nach der Schulzeit Journalistin werden wollte.<br />
Geworden ist sie Baustofftechnologin. Ein Beruf, den sie,<br />
wie sie sagt, gern ausgeübt hat. In einer Ziegelei in Zwickau<br />
arbeitete sie nach dem Studium als rechte Hand des Produktionsdirektors.<br />
Sie hatte unter anderem zu überwachen,<br />
dass die Mischung der Rohstoffe und die Brenntemperaturen<br />
stimmten. <strong>Die</strong> Betriebsteile, die zum Werk gehörten,<br />
waren sehr unterschiedlich ausgestattet: Da gab es noch Anlagen<br />
von 1890, aber auch moderne Technik aus den Siebzigern.<br />
Anstrengend war es für die Produktionsarbeiter hier<br />
wie da. Wenn heute die Rente mit 67 durchgedrückt werden<br />
soll, denkt sie an ihre früheren Kollegen. In Zwickau war sie<br />
die einzige Frau unter Männern. Trotzdem, fi ndet sie, war<br />
das nichts Besonderes. Schließlich waren in der DDR Frauen<br />
Kranführerinnen oder haben eine Lok gefahren.<br />
Deshalb wollte sie erst gar nicht glauben, was ihr bei der<br />
Arbeitsuche in Bayern passierte. Sie hatte sich in verschiedenen<br />
Keramikfi rmen beworben und musste erfahren, dass<br />
Stellen mit ihrer Qualifi kation nur von Männern besetzt sind.<br />
Eine Frau, und dann noch mit zwei Kindern, damals fünf (der<br />
Sohn) und elf (die Tochter)! Am Band, bedeutete man ihr, ließe<br />
sich vielleicht was machen.<br />
Es fand sich doch noch etwas, was mit ihrer Ausbildung<br />
zu tun hatte. Im Landratsamt Neustadt in der Ober pfalz hat<br />
sie mit dem Aufbau eines Recyclingsystems für Bauschutt<br />
begonnen. <strong>Die</strong>se Sache stand damals ganz am Anfang, weshalb<br />
es über eine Arbeitsbeschaffungs-Maßnahme lief. Heutzutage<br />
machen Unternehmen damit richtig Geld.<br />
Sabine indes betrat seinerzeit ein weiteres Neuland. Als<br />
sie zufällig – auf privatem Wege – den DGB-Vorsitzenden von<br />
Weiden kennenlernte, machte sie ihrem Herzen Luft und erzählte<br />
von ihren Erfahrungen bei der Stellensuche. Der gute<br />
Mann erkannte sogleich eine Mitstreiterin in ihr. Er wollte<br />
nämlich seine Gewerkschaftsfunktionäre und Mitglieder<br />
für die Probleme der Ostdeutschen sensibilisieren. Schließlich<br />
ging es um den Aufbau eines gesamtdeutschen Gewerkschaftsbundes.<br />
So hielt Sabine, in der DDR ein »einfaches«<br />
Gewerkschaftsmitglied, ehrenamtlich Seminare ab, die unter<br />
dem Thema »Weg mit der Mauer in den Köpfen« standen.<br />
Viele, erinnert sie sich, kannten die DDR überhaupt nicht.<br />
Ihre Ausführungen müssen Anklang gefunden haben. Jedenfalls<br />
wurde sie ermutigt, sich bei den Wahlen zum DGB-<br />
Vorsitz in Zwickau zu bewerben. Zwickau war der erste Kreis<br />
in Ostdeutschland, wo sich der DGB konstituierte. Für ihre<br />
Bewerbungsrede musste sie eine Treppe hochgehen. »Meine<br />
Beine waren wie Blei. Ich dachte, ich komme gar nicht<br />
hoch.« DGB-Vorsitzende ist sie damals nicht geworden. Ein<br />
Mann aus Nürnberg wurde gewählt. Westerfahrung galt wohl<br />
in diesem Moment mehr als Osterfahrung. Ganz verzichten<br />
mochte man darauf allerdings nicht: Sabine Zimmermann<br />
begann als Volontärin beim DGB. Nach einem dreiviertel <strong>Ja</strong>hr<br />
war sie – nein, nicht Frauensekretärin – Organisationssekretärin<br />
im DGB-Kreisvorstand. Zu den vielen Aufgaben, die<br />
an diesem Amt hingen, gehörten auch »Frauen« und »Senioren«.<br />
Später war sie noch Jugendbildungsreferentin und Jugendsekretärin.<br />
Als 2001 die Wahl zum Vorsitz der Region Vogtland-Zwickau<br />
anstand (es hatte inzwischen eine Reform gegeben), wollte<br />
sie es noch einmal wissen – und wurde gewählt. Acht Mitgliedsgewerkschaften<br />
hat sie unter einen Hut zu bringen, mit<br />
rund 45.000 Mitgliedern. Gemessen an der Zahl der 150.000<br />
versicherungspfl ichtigen Beschäftigten ein normaler Organisationsgrad.<br />
An die 40 Prozent der Mitglieder sind in der<br />
IG Metall. <strong>Die</strong> Region um Zwickau und der DGB haben Glück,<br />
jedenfalls relatives: Im <strong>neuen</strong> VW-Werk in Zwickau arbeiten<br />
fast 7.000 Beschäftigte. Dazu kommen zahlreiche Zulieferbetriebe.<br />
Das bringt Einkommen für die Gegend und Mitglieder<br />
für die Gewerkschaft. Doch das Glück ist, wie gesagt,<br />
relativ: Obwohl deutlich niedriger als noch vor einem <strong>Ja</strong>hr,<br />
lag im Agenturbezirk Zwickau die Arbeitslosenquote im <strong>Ja</strong>nuar<br />
bei 16,7 Prozent. Das sind 38.379 Menschen ohne Arbeit.<br />
Besorgniserregend für Sabine Zimmermann ist die Zunahme<br />
bei den Langzeitarbeitslosen. Sie machen fast die<br />
Hälfte aller Arbeitslosen aus. <strong>Die</strong> DGB-Vorsitzende verlangt<br />
dringend mehr Fördermöglichkeiten für die Betroffenen. Dafür<br />
macht sie sich auch als Vorsitzende des Verwaltungsausschusses<br />
der regionalen Arbeitsagentur stark.<br />
<strong>Ja</strong>, eine DGB-Vorsitzende muss, darf und will auf vielen<br />
Hochzeiten tanzen. Das ist gut so, sagt sie, dass man an<br />
der Gewerkschaft nicht so leicht vorbeikommt. So ist sie in<br />
Gremien der IHK und der Handwerkskammer vertreten. Außerdem<br />
fungiert sie als Sprecherin eines Bündnisses gegen<br />
Rechts. <strong>Die</strong>ses Engagement ist ihr sehr wichtig. Wenn Demonstrationen<br />
gegen Rechts stattfi nden, wird man sie dort<br />
treffen. Erst kürzlich hat sie eine Anzeige erstattet – Während<br />
eines Nazi-Aufmarsches hatte ein Teilnehmer gerufen,<br />
DGB und PDS solle man mit Steinen bewerfen. Demonstrationen<br />
oder eine Anzeige können aber nur die eine Seite der<br />
Auseinandersetzung sein, meint sie. Deshalb spricht sie auf<br />
Veranstaltungen und kümmert sich um Fördermittel für Projekte,<br />
die junge Leute stärken und sie kritisch machen gegenüber<br />
den Parolen der Neonazis.<br />
Genug zu tun in der Region. Trotzdem hat sie <strong>Ja</strong> gesagt,<br />
als die <strong>Linkspartei</strong> im Sommer 2005 fragte, ob sie als Parteilose<br />
für den Bundestag kandidieren wolle. Noch wenige<br />
Monate zuvor war ihre Partei die SPD. Genauer gesagt: Sabine<br />
Zimmermann war noch deren Mitglied. Eingetreten war<br />
»Wenn ich in Berlin am Pult stehe, dann merke ich, die<br />
wollen unsere Argumente und Vorschläge nicht.«<br />
PORTRÄT<br />
DISPUT März 2007 022
230 DISPUT März 2007<br />
Ich bin hier<br />
wie da dieselbe<br />
© Erich Wehnert (3)
sie in den 90ern. »Weil Gewerkschafter halt traditionell der<br />
SPD nahe standen und weil mir die Partei Willy Brandts imponiert<br />
hat. Sie imponiert mir heute noch – aber es gibt sie<br />
nicht mehr. Wir als <strong>Linke</strong> außerhalb der SPD nehmen heute<br />
stärker Einfl uss auf diese Partei als deren linker Flügel. Ich<br />
meine, den gibt es leider auch nicht mehr.«<br />
Sabine war sogar einmal für die SPD im Sächsischen<br />
Landtag, allerdings als »Nachrückerin« nur für vier Monate,<br />
als kurz vor Ende der Wahlperiode der damalige Fraktionsvorsitzende<br />
sein Mandat niederlegt hatte. Der Austritt ist ihr<br />
nicht leicht gefallen. »Eine Partei zu verlassen ist schwer.<br />
Aber ich hatte schon längere Zeit viel zu kritisieren und habe<br />
es auch getan. Dafür musste ich einiges einstecken. Als SPD-<br />
Mitglied sollte ich die Agenda 2010 verkaufen. Das ging einfach<br />
nicht.« Stattdessen hat sie die Hartz-IV-Proteste in der<br />
Region organisiert.<br />
Insofern war die Anfrage der <strong>Linkspartei</strong> eher logisch als<br />
überraschend, jedenfalls aus deren Sicht. Für Sabine kam<br />
das Angebot schon unerwartet. Sie hat lange und intensiv<br />
überlegt, sich mit vielen beraten – mit der Familie, mit<br />
Freunden. Ausschlaggebend war die Meinung ihrer Gewerkschaftskolleginnen<br />
und -kollegen. Als sie aus allen Mitgliedsgewerkschaften<br />
in der Region von ver.di bis Metall Zuspruch<br />
erfuhr, hat sie zugesagt. Drei Tage nach der Bundestagswahl<br />
hat sie diese Ermunterung noch einmal per Abstimmung erfahren<br />
können: Als sie sich erneut <strong>zur</strong> Wahl als DGB-Vorsitzende<br />
stellte, gab es nur wenige Gegenstimmen. Ein richtig<br />
gutes Ergebnis, wie am Sonntag zuvor im Wahlkreis 167<br />
bei der Bundestagswahl: 26,1 Prozent für Sabine Zimmermann;<br />
auf den SPD-Kandidaten entfi elen 25,2 Prozent. Im<br />
Unglücksjahr der PDS, 2002, stand es 18,4 zu 32,1 Prozent.<br />
(Das sind Zahlen aus dem Internet. Sabine selbst würde sich<br />
darüber nicht weiter auslassen wollen und hatte die Angaben<br />
auch nicht <strong>zur</strong> Hand. Und überhaupt: Das Rennen um<br />
das Direktmandat hat der CDU-Kandidat gewonnen.)<br />
Seit Herbst 2005 ist sie also im Bundestag, in der Linksfraktion.<br />
<strong>Die</strong> Frage, wie sie beide Ämter – das Abgeordnetenmandat<br />
samt Wahlkreisarbeit und den DGB-Vorsitz – unter<br />
einen Hut bringt, liegt nahe. <strong>Die</strong> ersten Wochen, räumt<br />
sie ein, habe sie gedacht, das ist nicht zu packen. Aber auch<br />
dank der guten Zusammenarbeit der Kolleginnen und Kollegen<br />
in den verschiedenen Büros habe sie ihren Stil gefunden.<br />
Da sie beim DGB nur noch über neun Stunden pro Woche<br />
einen Vertrag hat, konnte dort eine weitere Stelle eingerichtet<br />
werden. Und schließlich gibt es Telefon, ihr wichtigstes<br />
Arbeitsinstrument. »Von solchen Organisationsfragen<br />
abgesehen: Es ist doch hier wie da dieselbe Politik, die ich<br />
mache. Sie fi ndet nur auf verschiedenen Ebenen statt. Ich<br />
bin überall dieselbe und muss mich nicht verstellen oder<br />
hier eine andere Meinung vertreten als da.« Einmal die Woche,<br />
ist auf Nachfrage zu erfahren, plant sie einen Termin<br />
ganz allein für sich: Sonntagnachmittag für einen Saunabesuch.<br />
Wer einmal in ihren Kalender schaut, kann sich vorstellen,<br />
wie sie häufi g von einer Verabredung <strong>zur</strong> nächsten hetzt.<br />
Selten nimmt sie nur einfach teil an einer Zusammenkunft.<br />
Ganz klar, wo sie auch hinkommt – <strong>Die</strong> Leute wollen wissen,<br />
was die DGB-Vorsitzende von dieser oder jener Sache hält<br />
und was in »Berlin« gerade dazu läuft.<br />
Was haben Bundestag und Fraktion auf der einen Seite<br />
und was der DGB in der Region davon, dass sie in Berlin ist?<br />
Sabine fi ndet, eine Menge und hat gleich einige Themen pa-<br />
PORTRÄT<br />
rat, bei denen sie ihre Erfahrungen in den Bundestag einbringen<br />
konnte. Sie nennt die Probleme der Saisonbeschäftigten.<br />
Für das Baugewerbe hat die Bundesregierung im vorigen<br />
<strong>Ja</strong>hr zwar eine Regelung getroffen, aber es gibt weitere<br />
Branchen, in denen nicht durchgehend gearbeitet wird,<br />
zum Beispiel im Tourismus. Für diese Beschäftigten muss es<br />
ebenfalls eine Lösung geben. Oder als vor einem <strong>Ja</strong>hr herauskam,<br />
dass die Bundesregierung eine Milliarde Euro im Haushaltsloch<br />
verschwinden ließ, weil sie nicht von der Möglichkeit<br />
Gebrauch gemacht hatte, ungenutzte Fördermittel für Arbeitslose<br />
aus dem <strong>Ja</strong>hr 2005 in das <strong>Ja</strong>hr 2006 zu übertragen.<br />
Für Sabine Zimmermann war es ein Skandal, dass die Mittel<br />
nicht im laufenden <strong>Ja</strong>hr genutzt worden waren. (»Das muss<br />
man sich mal vorstellen, fast jeder zweite Euro ist nicht ausgeben<br />
worden!«) Dass das Geld den Arbeitslosen nun gänzlich<br />
entzogen werden sollte, setzte dem Ganzen die Krone<br />
auf. Als sie im Bundestag einen entsprechenden Antrag der<br />
Linksfraktion begründete, war sie um 22 Uhr die letzte Rednerin.<br />
<strong>Die</strong> Abgeordneten der übrigen Fraktionen zogen es vor,<br />
ihre (ablehnenden) Reden zu Protokoll zu geben.<br />
Sabine hatte an diesem 16. Februar 2006 überhaupt das<br />
erste Mal im Plenum gesprochen. Ihre Erfahrungen sind nicht<br />
besser geworden. »Das ist der Unterschied«, sagt sie. »Wenn<br />
ich in Berlin am Pult stehe, dann merke ich, die wollen unsere<br />
Argumente und Vorschläge nicht. Ich spüre förmlich die<br />
Arroganz gegenüber den Problemen, die mir auf Schritt und<br />
Tritt begegnen. Ob zu Hause oder im Wedding, wo ich für die<br />
Sitzungswochen eine kleine Wohnung gemietet habe. Wenn<br />
DISPUT März 2007 024
ich bei einer Kundgebung vor 4.000 Leuten rede, weiß ich,<br />
die da vor mir stehen und zuhören und ich – wir sprechen eine<br />
Sprache.« Und damit meint sie nicht den sächsischen Dialekt,<br />
den sie als gebürtige Pasewalkerin gar nicht pfl egt.<br />
Kurz vor dem Gespräch mit DISPUT hat Sabine auf einer<br />
Kundgebung vor VW-Beschäftigten in Zwickau gesprochen.<br />
Über eintausend von ihnen waren einem Aufruf der IG Metall<br />
gefolgt, um gegen die Rente erst ab 67 zu protestieren. Dafür<br />
hatten sie ihre Schicht eine dreiviertel Stunde eher beendet,<br />
natürlich ohne Lohnausgleich. Es war an einem der wenigen<br />
kalten Tage dieses Winters. Sabine stand bei Frostgraden am<br />
Werktor Süd auf dem Hänger eines Multicars und sprach den<br />
Versammelten aus dem Herzen, als sie unter Hinweis auf die<br />
real sieben Millionen Arbeitslosen sagte: »Wenn die alle einen<br />
Arbeitsplatz hätten, der vernünftig bezahlt wird, dann<br />
hätten wir kein Problem mit den Versicherungssystemen.«<br />
Natürlich, sie ermuntert und ermutigt ihre Leute, ihren<br />
Protest und ihre Forderungen zu artikulieren. Zugleich weiß<br />
sie, wie selten am Ende der große Erfolg steht. Manchmal<br />
auch gar keiner. Wie damals 2003, als die ostdeutschen Metaller<br />
für die 35-Stunden-Woche streikten (die im Westteil<br />
seit Langem tarifl ich gesichert ist). <strong>Die</strong>ser zum Teil wochenlange<br />
Streik war buchstäblich über Nacht von der IG-Metall-<br />
Spitze abgebrochen worden. Ohne auch nur das kleinste Ergebnis.<br />
Sabine sieht noch heute die Gesichter der Männer<br />
und Frauen vor sich, die sich bei dieser Auseinandersetzung<br />
besonders engagiert hatten.<br />
Als Realistin freut sie sich auch über Erfolge im Kleinen.<br />
250 DISPUT März 2007<br />
Zum Beispiel, wenn sie jemandem helfen konnte und nach<br />
Monaten kommt zu Weihnachten eine Karte mit guten Wünschen<br />
und einem nochmaligen Dank.<br />
Halb verärgert, halb belustigt erzählt sie von einer Attacke<br />
der BILD-Zeitung gegen Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter<br />
im Bundestag. Auslöser dafür war der CDU-Abgeordnete<br />
Norbert Röttgen. Er wollte Hauptgeschäftsführer<br />
beim Bundesverband der Deutschen Industrie werden, ohne<br />
sein Bundestagsmandat abzugeben. Das löste eine öffentliche<br />
Debatte über den großen politischen Einfl uss der Wirtschaft<br />
aus. BILD mochte das nicht stehen lassen und wollte<br />
den Lobbyismus seitens der Gewerkschaften geißeln. Sabine<br />
Zimmermann wurde – wie andere auch – als Lobbyistin<br />
vorgeführt. Damals fühlte sie sich angegriffen und glaubte,<br />
sich rechtfertigen zu müssen. Heute ist sie stolz darauf, eine<br />
Lobbyistin zu sein: »eine Lobbyistin für die Beschäftigten,<br />
für die Leute mit Niedriglohn und Minijob, für die Arbeitslosen<br />
und Hartz-IV-Empfänger, für die Familien, in denen die<br />
Kinder in Armut aufwachsen, und für die Rentner.«<br />
Sie erzählt, wie sie nach Weihnachten die »Tafel« in Plauen<br />
besucht hat, wo die Armen kostenlos oder zu kleinen Preisen<br />
Nahrungsmittel erhalten. Auch Saisonartikel wie Schokoladenweihnachtsmänner.<br />
»Wenn ich sehe, wie die Frauen<br />
mit ihren Kindern nach dem Fest die Weihnachtsmänner in<br />
Empfang nehmen, und wenn ich mir vorstelle, wie bescheiden<br />
es bei ihnen zu den Feiertagen zugegangen sein muss«,<br />
berichtet Sabine Zimmermann, »dann läuft es mir kalt den<br />
Rücken runter.«<br />
»Ich spüre förmlich die Arroganz gegenüber<br />
den Problemen, die mir auf Schritt und Tritt begegnen.«<br />
© Erich Wehnert (3)
PRESSEDIENST<br />
■ ■ Vorstandssitzung: Auf seiner Sitzung<br />
am 12. Februar in Berlin befasste<br />
sich der Parteivorstand ausführlich<br />
mit der Auseinandersetzung mit dem<br />
Rechtsextremismus. Lothar Bisky bezeichnete<br />
es als dringliche Aufgabe,<br />
antifaschistisches Denken und Handeln<br />
auf allen Ebenen fest zu verankern.<br />
In der zweistündigen Aussprache<br />
wurden unterschiedliche Positionen<br />
zu einem NPD-Verbot deutlich. Einig<br />
war man sich darin, dass die Haltung<br />
zu einem solchen Verbotsantrag nicht<br />
der Gradmesser für eine antifaschistische<br />
Einstellung sein dürfe.<br />
Einstimmig fasste der Vorstand einen<br />
Beschluss <strong>zur</strong> Schaffung eines öffentlich<br />
geförderten Beschäftigungssektors.<br />
Der Vorstand rief alle Mitglieder<br />
auf, die Aktionen der Gewerkschaften<br />
gegen »Rente mit 67« zu<br />
unterstützen. Auf der Tagesordnung<br />
standen weiterhin europapolitische<br />
Fragen und der Parteibildungsprozess.<br />
Mehr zu den Beschlüssen im Internet<br />
unter: http://www.sozialisten.de/partei/parteivorstand/vorstand2006/beschluesse/index.htm<br />
■ ■ Antifaschisten: Lothar Bisky beglückwünschte<br />
die Vereinigung der Verfolgten<br />
des Naziregimes (VVN-BdA) zu<br />
ihrem 60. <strong>Ja</strong>hrestag am 23. Februar.<br />
<strong>Die</strong> authentischen Stimmen von Antifaschistinnen<br />
und Antifaschisten seien<br />
die Garanten für eine fortwährende<br />
Auseinandersetzung mit dem deutschen<br />
Faschismus, mit dem Völkermord<br />
an Juden ... Der antifaschistische<br />
Widerstand gehöre zum lebendigen Erbe<br />
der demokratischen Gesellschaften.<br />
»In den Mitgliedern der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
PDS habt Ihr zuverlässige Verbündete«,<br />
schrieb Bisky.<br />
■ ■ Familienpolitik: <strong>Die</strong> stellvertretenden<br />
Vorsitzenden der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
PDS Katja Kipping und Katina Schubert<br />
sowie die Mitglieder des WASG-Bundesvorstandes<br />
Ulrike Zerhau und Heidi<br />
Scharf erklärten am 23. Februar: »Das<br />
Recht auf Selbstbestimmung von Frauen<br />
über ihren Körper und ihre Lebensweise<br />
sowie das Recht auf eigenständige<br />
Existenzsicherung gehören zu den<br />
unveräußerlichen Grundrechten, die<br />
die <strong>Linke</strong> aufgerufen ist, zu verteidigen<br />
und auszuweiten. <strong>Die</strong> Äußerungen von<br />
Bischoff Mixa und die Unterstützung<br />
dieser Positionen durch die Saarländer<br />
<strong>Linkspartei</strong>-Politikerin Christa Müller<br />
lehnen wir deshalb entschieden ab.«<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> stehe für die eigenständige<br />
Existenzsicherung jedes Menschen<br />
als Grundlage für ein selbst bestimmtes<br />
Leben.<br />
■ ■ Klima-Handeln: <strong>Die</strong> Unterzeichnung<br />
des Kyoto-Protokolls vor zehn <strong>Ja</strong>hren<br />
sei ein Meilenstein in der internationalen<br />
Klimaschutzpolitik gewesen,<br />
sagte am 2. März der stellvertretende<br />
Parteivorsitzende Wolfgang Methling.<br />
<strong>Die</strong> Bilanz der Ergebnisse falle angesichts<br />
der Dramatik des Klimawandels<br />
allerdings bescheiden aus: »Geht die<br />
Entwicklung so weiter wie bisher, wird<br />
nicht einmal das bescheidene Ziel, fünf<br />
Prozent weniger Treibhausgase als<br />
1990 auszustoßen, erreicht. Und jedem<br />
müsste inzwischen klar sein, dass das<br />
bei weitem nicht ausreiche.«<br />
■ ■ Arbeitslosigkeit: »Über vier Millionen<br />
Arbeitslose bleiben ein gesellschaftlicher<br />
Skandal, auch wenn sich<br />
bei ausbleibendem Frost das Tauwetter<br />
am Arbeitsmarkt fortsetzt«, unterstrich<br />
Bundesgeschäftsführer <strong>Die</strong>tmar Bartsch<br />
am 28. Februar zu den aktuellen Arbeitslosenzahlen.<br />
Gravierende Probleme –<br />
wie die hohe Sockelarbeitslosigkeit vor<br />
allem bei Langzeitarbeitslosen und die<br />
doppelt so hohe Arbeitslosigkeit in den<br />
ostdeutschen Ländern – blieben bestehen.<br />
Mit Verzicht auf die Unternehmenssteuerreform<br />
ließen sich Gelder für mehr<br />
Beschäftigung gewinnen.<br />
■ ■ Mindestlohn: Fünf Euro seien<br />
kein Mindestlohn, sondern ein Minilohn,<br />
kommentierte Parteivize Katja<br />
Kipping am 21. Februar einen Vorschlag<br />
von Bundesarbeitsminister Müntefering<br />
(SPD): »<strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />
die Bundestagsfraktion DIE LINKE. bleiben<br />
dabei: Von Arbeit muss man leben<br />
können. Deshalb fordern wir einen gesetzlichen<br />
Mindestlohn von acht Euro<br />
die Stunde.«<br />
■ ■ Rentenprotest: <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
unterstützt die Proteste gegen<br />
die Rente mit 67, bekräftigte der gewerkschaftspolitische<br />
Sprecher Harald<br />
Werner am 26. Februar: »Das Renten-<br />
eintrittsalter auf 67 heraufzusetzen ist<br />
nicht nur unsozial, sondern auch wirklichkeitsfremd.«<br />
Nichts zeige besser,<br />
wie weit sich die Abgeordneten der<br />
herrschenden Parteien von der sozialen<br />
Realität entfernt haben. Bei der gegenwärtigen<br />
Massenarbeitslosigkeit und<br />
den bestehenden Arbeitsbedingungen<br />
sei eine Erhöhung des Renteneintrittsalters<br />
auf 67 <strong>Ja</strong>hre unterm Strich nichts<br />
weiter als eine Rentenkürzung.<br />
■ ■ Hafterleichterung: Zur Ablehnung<br />
von Hafterleichterungen für den<br />
früheren RAF-Terroristen Christian Klar<br />
durch den Baden-Württembergischen<br />
Justizminister Ulrich Goll meinte der<br />
Fraktionsvorsitzende Gregor Gysi am<br />
1. März: »Hier verletzt der FDP-Minister<br />
Grundzüge der Rechtsstaatlichkeit.<br />
Hafterleichterungen werden nach dem<br />
Grad der Gefährdung der Gesellschaft<br />
durch einen Inhaftierten und nach anderen<br />
Kriterien gewährt, aber niemals<br />
nach der politischen Gesinnung. Dass<br />
Herr Goll und andere Politiker meinen,<br />
dass Hafterleichterungen prokapitalistische<br />
Ansichten und Äußerungen voraussetzen,<br />
ist hanebüchen und grundgesetzwidrig.«<br />
■ ■ Steuer: Um Konzepte für eine alternative<br />
Steuerpolitik und eine gerechtere<br />
und gleichmäßigere Verteilung<br />
gesellschaftlichen Reichtums ging es<br />
bei einer steuerpolitischen Konferenz<br />
der Bundestagsfraktion am 24. Februar<br />
in Berlin. Neben Mitgliedern der<br />
Bundestags- und Landtagsfraktionen<br />
waren Vertreter/innen aus Gewerkschaften,<br />
Wissenschaft und Wirtschaft<br />
eingeladen, darunter der Vorsitzende<br />
der Deutschen Steuer-Gewerkschaft.<br />
■ ■ Freie Heide: Zur Überreichung<br />
des Göttinger Friedenspreises an die<br />
Bürgerinitiative FREIe HEIDe gratulierten<br />
die Fraktionsvorsitzenden Gregor<br />
Gysi und Oskar Lafontaine am 2. März:<br />
Seit 15 <strong>Ja</strong>hren kämpfe die Initiative gegen<br />
das Bombodrom im Nordwesten<br />
Brandenburgs. Sie wehre sich gegen<br />
die Pläne der Bundesregierung, die<br />
Heide als Luft-Boden-Schießplatz zu<br />
nutzen, und sei zu einer der größten<br />
deutschen Bürgerrechtsbewegungen<br />
geworden. DIE LINKE. werde weiter an<br />
ihrer Seite stehen.<br />
DISPUT März 2007 026
■ ■ Familienkonzept: <strong>Die</strong> Bundestagsfraktion<br />
beschloss am 6. März ein<br />
modernes Familienkonzept. Mit ihm, so<br />
Vize-Fraktionschef Klaus Ernst, werden<br />
die Entscheidung für Kinder erleichtert<br />
und die Lebensbedingungen von Familien<br />
konsequent verbessert: »Allen<br />
Frauen und Männern wird die Entscheidungsfreiheit<br />
gegeben, wie sie ihre<br />
Kinder betreuen und aufziehen wollen.<br />
Der gleichberechtigte Zugang von<br />
Frauen und Männern zum Arbeitsmarkt<br />
wird gefördert. Wir wollen Vorfahrt für<br />
die Infrastruktur – der Kinderkrippenausbau<br />
muss so vorangetrieben werden,<br />
dass Eltern einen Rechtsanspruch<br />
auf eine fl ächendeckende öffentliche<br />
Kinderbetreuung in hoher Qualität ab<br />
1. Lebensjahr haben, ohne dafür Beiträge<br />
zahlen zu müssen. Wir wollen den<br />
Ausbau des Elterngeldes nach skandinavischem<br />
Vorbild zu einer Sozialleistung,<br />
die Elternschaft ermöglicht und<br />
Gleichstellung fördert.«<br />
■ ■ Rauchfrei: <strong>Die</strong> Einigung der Gesundheitsminister<br />
von Bund und Ländern<br />
auf ein weitgehendes Rauchverbot<br />
in Gaststätten wertete Martina<br />
Bunge, Vorsitzende des Gesundheitsausschusses<br />
im Bundestag, am 23.<br />
Februar als große Chance. Wichtig, um<br />
schnell zu einem wirksamen Nichtraucherschutz<br />
zu kommen, sei: »<strong>Die</strong> Länder,<br />
die sich jetzt noch Ausnahmeregelungen<br />
vorbehalten, sollten sich bis <strong>zur</strong><br />
abschließenden Entscheidung der Ministerpräsidenten<br />
fragen, ob sie wirklich<br />
aus dem Kompromiss der übrigen<br />
Länder ausscheren wollen. Ausnahmen<br />
vom generellen Rauchverbot, die noch<br />
vorgesehen sind, sollten eng begrenzt<br />
und konkret geregelt werden.«<br />
■ ■ Mikrofon: Der rätselhafte Mikrofonfund<br />
im Bundestagsbüro des <strong>Linkspartei</strong>-Abgeordneten<br />
Wolfgang Neskovic<br />
hat sich laut einem Zeitungsbericht<br />
als Scherz entpuppt. Zwei ehemalige<br />
SPD-Mitarbeiter hätten Bundestagsvizepräsident<br />
Thierse (SPD) gestanden,<br />
2004 in dem Büro aus Jux eine Abhör-<br />
Parodie installiert zu haben. Bis <strong>zur</strong><br />
Bundestagswahl 2005 war der Raum<br />
an die SPD-Fraktion vermietet.<br />
■ ■ Dessauer Erklärung I: <strong>Die</strong> Konferenz<br />
der Fraktionsvorsitzenden verab-<br />
270 DISPUT März 2007<br />
schiedete auf ihrer Tagung am 16. Februar<br />
eine »Dessauer Erklärung«. Sie<br />
würdigt die Arbeit der Berliner Abgeordnetenhausfraktion<br />
und die Resultate<br />
der langjährigen Regierungsbeteiligung<br />
der <strong>Linkspartei</strong>.PDS in Mecklenburg-Vorpommern.<br />
<strong>Die</strong> Erklärung betont,<br />
dass es der <strong>Linkspartei</strong> vor allem<br />
darum gehen müsse, ihr politisches<br />
Engagement auf die zentralen sozialen<br />
Fragen zu konzentrieren.<br />
■ ■ Dessauer Erklärung II: <strong>Die</strong> Erklärung<br />
der Fraktionsvorsitzendenkonferenz<br />
ist auf Widerspruch von Abgeordneten<br />
gestoßen. »Insbesondere teilen<br />
wir nicht die herausgehobene Bedeutung<br />
von Regierungsbeteiligungen<br />
und die Sichtweise auf die rot-rote Koalition<br />
in Berlin als Referenzprojekt linker<br />
Politik. Wir treten in den Landtagen,<br />
im Bundestag und im Europaparlament<br />
entschieden für einen anderen<br />
Kurs ein«, heißt es in der Erklärung. In<br />
der »Dessauer Erklärung« werde das<br />
schlechte Wahlergebnis 2006 völlig<br />
ausgeblendet. Wenn die <strong>Linke</strong> in Regierungsbeteiligung<br />
sich auf diese Weise<br />
immer wieder vermeintlichen Sachzwängen<br />
beuge, verliere sie an Rückhalt<br />
und schwäche gesellschaftlichen<br />
Widerstand.<br />
■ ■ Sozialismus-Unterstützung: In<br />
Berlin trafen sich am 3. und 4. März<br />
mehr als 100 Unterstützer/innen des<br />
Aufrufs »Also träumen wir mit hellwacher<br />
Vernunft: Stell Dir vor, es ist Sozialismus,<br />
und keiner geht weg« (www.forum-ds.de)<br />
zu einem Forum. Das Netzwerk<br />
»Forum demokratischer Sozialismus«<br />
trete dafür ein, erklärte Stefan<br />
Liebich als einer der Initiatoren, dass<br />
der demokratische Sozialismus Grundlage<br />
der Politik der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />
und in der <strong>neuen</strong> Partei mehrheitsfähig<br />
werde. Über die Bildung einer Plattform<br />
wurde kontrovers diskutiert.<br />
■ ■ Bremen-Wahl: <strong>Linkspartei</strong> und<br />
WASG der Hansestadt einigten sich am<br />
3. März auf parallel tagenden Veranstaltungen<br />
auf ein gemeinsames Elf-Punkte-<br />
Wahlprogramm für die Bürgerschaftswahl<br />
am 13. Mai. Zentrale Forderung ist<br />
der Verzicht auf Privatisierungen öffentlicher<br />
Betriebe und Aufgaben. <strong>Die</strong> Privatisierung<br />
der öffentlichen Daseins-<br />
vorsorge zerstöre das soziale Fundament<br />
der Stadt, betonte Klaus-Rainer<br />
Rupp, Landessprecher der <strong>Linkspartei</strong><br />
und deren Spitzenkandidat auf Listenplatz<br />
2.<br />
■ ■ Sachsen-Anhalt-Wahl: Mit ihrem<br />
Landesparteitag am 10. März begann<br />
die <strong>Linkspartei</strong> in Sachsen-Anhalt die<br />
heiße Phase des Wahlkampfes für die<br />
Kommunalwahlen. Am 22. April werden<br />
sich 586 Kandidatinnen und Kandidaten<br />
der <strong>Linkspartei</strong> und 22 der WASG<br />
dem Votum der Wählerinnen und Wähler<br />
stellen. 202 von ihnen sind Frauen,<br />
167 sind parteilos.<br />
■ ■ Mecklenburg-Vorpommern-Koope<br />
ration: Nach einstimmigen Beschlüssen<br />
in beiden Vorständen unterzeichneten<br />
am 3. März die Landesvorstände<br />
von <strong>Linkspartei</strong>.PDS und<br />
WASG eine Vereinbarung <strong>zur</strong> Zusammenarbeit.<br />
Der Gründungsparteitag in<br />
Meck lenburg-Vorpommern wird für den<br />
23./24. Juni 2007 einberufen.<br />
■ ■ Brandenburg-Debatte: <strong>Die</strong> ersten<br />
Regionalkonferenzen im Rahmen<br />
des durch die <strong>Linkspartei</strong> initiierten<br />
Dialogs für ein Brandenburg der Regionen<br />
forderten die Landesregierung<br />
auf, die ländlichen Regionen Brandenburgs<br />
nicht aufzugeben. <strong>Die</strong> Vorsitzende<br />
der Landtagsfraktion Kerstin Kaiser<br />
stellte die Schwerpunkte des Leitbild-<br />
Entwurfes der Landtagsfraktion vor. Er<br />
setze auf Teilhabe und Mitgestaltung<br />
durch die Bürgerinnen und Bürger.<br />
■ ■ Thüringen-Diskussion: Für den<br />
31. März lädt die <strong>Linkspartei</strong> Thüringen<br />
zu einer Landesbasiskonferenz in die<br />
Messehalle nach Erfurt ein. Dort soll jedes<br />
Mitglied die Möglichkeit erhalten,<br />
an den Ergebnissen des Bundesparteitages<br />
teilzuhaben und an der weiteren<br />
Diskussion mitzuwirken.<br />
■ ■ Brandenburg-Bürgermeister:<br />
Der Kandidat der <strong>Linkspartei</strong>.PDS, Fred<br />
Fischer, wurde am 11. Februar zum <strong>neuen</strong><br />
Bürgermeister von Perleberg (Land<br />
Brandenburg) gewählt. Fischer (parteilos)<br />
erhielt bei der Stichwahl 69,4 Prozent<br />
der gültigen Stimmen.<br />
Zusammenstellung: Florian Müller
Du bist gelernte Brauerin und Mälzerin. Wie<br />
kommt eine junge Frau zu einer solchen Berufswahl?<br />
Ich hätte gern Sozialpsychologie studiert.<br />
Aber das Zeugnis war nicht so. Also musste<br />
ich was anderes machen: erst das Abitur,<br />
danach einen Facharbeiter. Und weil meine<br />
Eltern in einer Brauerei beschäftigt waren,<br />
hat sich diese Richtung so ergeben. Mir<br />
hat‘s gefallen, ich bin in der Branche geblieben<br />
und habe später Lebensmitteltechnologie studiert.<br />
Das ist ein Weilchen her. Seit 1. März bist Du berufl ich selbständig<br />
...<br />
(lacht) Für mich ist es noch ein neues Gefühl, das zu sagen.<br />
Ich biete jetzt als »Tagesmutti für Pfl egebedürftige« eine<br />
Rund-um-Betreuung bei Leuten zu Hause an, wenn pfl egende<br />
Angehörige mal eine Entlastung brauchen, in den Urlaub<br />
fahren oder wegen Krankheit ausfallen.<br />
Du hast darin schon Erfahrung?<br />
Ich besuchte einen Lehrgang mit anschließendem Praktikum:<br />
Im Haushalt der Pfl egebedürftigen in Essen habe ich<br />
den gesamten Haushalt, die Terminplanung, die Arztbesuche<br />
gemacht ... Ein 24-Stunden-Job. Auf Grund der demografi<br />
schen Entwicklung und der Pfl egeheimsituation ist das<br />
eine Alternative für später.<br />
Wie gehst an diese Aufgabe heran: als Art Zwischenstation (3)<br />
oder als ernsthafter Neustart?<br />
Wenn ich eine Orientierung gefunden habe, will ich da auch Richter<br />
durch, egal was sich rechts und links noch für Probleme auf-<br />
Stefan<br />
tun. <strong>Die</strong> Arbeit macht Spaß, sie hat unmittelbar mit Men- ©<br />
MITGLIED<br />
DISPUT März 2007 028
schen zu tun. Den ersten bezahlten Auftrag als Selbständige<br />
habe ich ab Mitte März in Frankfurt/Main – die Betreuung<br />
einer demenzkranken Frau. Und wenn ich dort bin, recherchiere<br />
ich, wo ich einen Anschlussauftrag bekomme.<br />
Das ist wie bei Wanderarbeitern ...<br />
Tja, bei den einen fahren die Männer auf Montage und hier<br />
halt die Frau. Reich werden kann man davon nicht. Doch die<br />
Alternative für mich wäre gewesen: noch vier Monate Arbeitslosengeld<br />
und anschließend Hartz IV. Das <strong>Ja</strong>hr, in dem<br />
die Existenzgründerzuschläge laufen, will ich nutzen, um<br />
mich weiterzubilden. Ich kann mir vorstellen, Sterbebegleitung<br />
zu machen oder Krankenhausnachsorge. Das sind sensible<br />
Bereiche.<br />
Welche besondere Fähigkeiten braucht man dort vor allem?<br />
Geduld und dass man ertragen kann, sich beispielsweise –<br />
wie jetzt bei der Demenzkranken – vielleicht viermal am Tage<br />
der Dame vorstellen zu müssen: Ich bin Frau Töpsch, Ihre<br />
neue Pfl egerin ... Man muss ein bisschen Wehleidigkeit hinnehmen<br />
und selber abschalten können.<br />
Wo hast Du das gelernt?<br />
Iris Töpsch, 50, zu Hause in Sangerhausen. Ehrenamtlich im Stadtrat und im Kreistag,<br />
im Kinderschutzbund und in der Hartz-IV-Beratung<br />
Weiß ich nicht. Aber ich kenne das von meiner Mutti – sie<br />
hat sich in ähnlichen Situationen zwei, drei Stunden abgekapselt,<br />
und danach war alles wie weggeblasen. Ich konnte<br />
im Beruf auch schnell abschalten: aus dem Betriebstor raus,<br />
Schalter rum, Angelegenheit erledigt ...<br />
Du hast Emotionen angesprochen – was regt Dich im Alltag<br />
am meisten auf?<br />
Zum Beispiel die bürokratischen Vorgänge bei der Arbeitslosenberatung<br />
– wenn sich keiner bemüht, Spielräume auszuloten<br />
und nach Möglichkeiten der Hilfe zu suchen. Ich hab‘s<br />
neulich wieder erlebt: Nach Ablehnung eines Antrages haben<br />
wir mit unseren Argumenten einen Überprüfungsantrag<br />
gestellt und am nächsten Tag kam die Bewilligung. Aber<br />
erst mal gingen sie auf Dummenfang, nach dem Motto: Vielleicht<br />
lässt sich‘s derjenige ja gefallen ... Solche Sachen regen<br />
mich auf. Oder wenn man eine schon ausdiskutierte Sache<br />
wieder und wieder auf den Punkt bringt und damit die<br />
290 DISPUT März 2007<br />
anderen nervt. Wie bei uns im Stadtrat, wo Fragen, die bereits<br />
entschieden worden sind, immer wieder aufgerufen<br />
werden, nur um einer Person deutlich zu machen, wir wollen<br />
dich nicht.<br />
Meinst Du die eigene Partei?<br />
Nein, Abgeordnete der Bürgerinitiative für Sangerhausen,<br />
die alle Dinge, die schief laufen, dem Oberbürgermeister anlasten<br />
wollen. Der OB ist von uns, <strong>Die</strong>ter Kupfernagel.<br />
Wie hat sich Sangerhausen in den vergangenen anderthalb<br />
<strong>Ja</strong>hrzehnten entwickelt?<br />
<strong>Die</strong> Infrastruktur sehr positiv. In der Innenstadt ist viel saniert<br />
und schön gemacht worden, auch die Achse zum Rosarium,<br />
dem berühmten Rosengarten. In den Wohngebieten<br />
hat sich ebenfalls einiges getan, leider auch eine Menge Abriss.<br />
Das Problem von Sangerhausen ist, dass die Stadt nur<br />
wegen des Bergbaus so groß geworden ist. Viele sind wegen<br />
der Arbeit hierher gezogen, sie haben nicht so die emotionale<br />
Bindung <strong>zur</strong> Stadt.<br />
Es gibt eine sehr hohe Arbeitslosigkeit. Der Bergbau ging<br />
völlig den Bach runter, Mifa, die Fahrradfabrik, war so gut<br />
wie auf Null, und die Maschinenfabrik ist total abgerissen.<br />
Helfen,<br />
das ist<br />
mein Bier<br />
<strong>Die</strong> Firmen kommen und gehen, darauf hat Kommunalpolitik<br />
keinen Einfl uss.<br />
Worauf hat Kommunalpolitik Einfl uss?<br />
Auf die Rahmenbedingungen für die Ansiedlung, indem du<br />
Unternehmen durch Wirtschaftsförderung den Weg ebnest,<br />
indem du durch entsprechende Preisverhandlungen verdeutlichst,<br />
dass man jemanden unbedingt in der Stadt haben<br />
will.<br />
Müssen sich <strong>Linke</strong> über solche Dinge mehr Gedanken machen<br />
als über die Sicherung sozialer Leistungen?<br />
Das ist immer eine konkrete Einzelentscheidung. Kindergärten<br />
brauchen wir nur, wenn auch Familien hier sind, und Familien<br />
sind nur hier, wenn sie Arbeit haben. Deshalb Wirtschaftsförderung<br />
– ja, Kindertagesstätten und dergleichen –<br />
auf jeden Fall! Das ist der Zwiespalt der Frage, wie ich Wirtschaft<br />
fördere. Nehmen wir Mifa. <strong>Die</strong> haben ein Grundstück
<strong>zur</strong> Erweiterung spottbillig gekriegt, weil sie mit ihrem Wegzug<br />
gedroht haben. Wir waren dagegen der Meinung, Mifa<br />
ist ein Aktienunternehmen, die machen Dumpinglöhne, die<br />
machen überhaupt kein Sponsoring in der Stadt, die sollen<br />
einen angemessenen Grundstückspreis zahlen. Wir wägen<br />
also ab. Mit der Meinung zu Mifa waren wir im Stadtrat allein<br />
und wurden abgeschmettert.<br />
Vor drei Tagen hast Du im Finanzausschuss als einzige gegen<br />
den Haushaltsplan 2007 gestimmt. Der muss nun überarbeitet<br />
werden. Warum?<br />
Es war die zweite Lesung. Im Vergleich <strong>zur</strong> ersten Lesung ist<br />
eine ganze Reihe verändert worden, insbesondere was Konsolidierungsansätze<br />
für den Haushalt anbelangt. Zahlen haben<br />
sich ruckartig verändert: so von 600.000 auf 2,5 Millionen.<br />
Auf meine Nachfragen erhielt ich keine konkreten Antworten.<br />
Für uns als Stadträte ist der Haushaltsentwurf gegenwärtig<br />
nicht plausibel. Deswegen konnte ich ihm nicht<br />
zustimmen.<br />
Gab‘s aus dem Rathaus eine Reaktion auf Deine entscheidende<br />
Gegenstimme?<br />
Aus dem Rathaus nicht. Ich habe mich am nächsten Morgen<br />
hingesetzt, die Argumente für meine Entscheidung zusammengefasst<br />
und das an Fraktionsmitglieder und an den<br />
Oberbürgermeister gemailt. <strong>Die</strong> Fraktion wird sich zu einer<br />
Sondersitzung treffen.<br />
Hat der OB reagiert?<br />
Nein. Das erwarte ich auch gar nicht; er bekommt am Tage<br />
bestimmt sehr viele Mails, hat seine normale Arbeit und zig<br />
Termine. Da ist es verständlich, dass er nicht unmittelbar reagiert.<br />
Er wird es <strong>zur</strong> Kenntnis nehmen.<br />
Ich denke, er trägt vieles nicht mit, was wir als Argumente<br />
bringen. Er sagt, ich bin in dem Moment nicht Politiker, sondern<br />
der »Geschäftsführer der Stadt«, er sieht alles mehr aus<br />
wirtschaftlicher Sicht, und wir sehen das natürlich aus politischer<br />
Sicht. Er wird bestimmt zu unserer Sondersitzung<br />
kommen und dort auf den einen oder anderen Punkt reagieren.<br />
Wie bereitet sich Eure Fraktion generell auf Entscheidungen<br />
vor?<br />
Im Normalfall bekommen wir am Wochenende die Unterlagen<br />
für die nächste Ratssitzung. Unsere Fraktion geht montags<br />
kurz durch, in welchem Ausschuss was nachzufragen ist<br />
und wo wir Knackpunkte sehen; wir verteilen Aufträge, wer<br />
zu welchem Thema recherchieren muss. Jeder geht dann in<br />
seine Ausschüsse. Am Tag der Ratssitzung werten wir früh<br />
diese Sitzungen aus und bereiten die Ratssitzung vor.<br />
Im Ausschuss entscheidet jeder Stadtrat für sich. Darin<br />
besteht seine Eigenverantwortung.<br />
Gibt es deswegen anschließend manchmal Ärger?<br />
Nein, wir haben ja keinen Fraktionszwang. Allerdings fi nden<br />
das nicht alle gut, sie sagen, wir müssten ein geschlossenes<br />
Bild abgeben.<br />
Ihr habt nicht allein bei den Finanzen sehr komplizierte Fragen<br />
zu entscheiden. Seid Ihr ausreichend qualifi ziert dafür,<br />
ist das überhaupt möglich?<br />
Es gibt genügend Möglichkeiten, sich fachlich zu qualifi zieren.<br />
Ich bin im Kommunalpolitischen Forum aktiv. Manche<br />
machen das, manche schaffen das aus berufl ichen und familiären<br />
Gründen nicht – es ist nun mal ein Ehrenamt zusätzlich<br />
<strong>zur</strong> normalen Arbeit –, und manche machen es aus Bequemlichkeit<br />
nicht.<br />
MITGLIED<br />
Du sprichst von unserer Fraktion?<br />
<strong>Ja</strong>. Da sagen welche offen, ich setze mich hin und entscheide<br />
aus dem Bauch heraus ohne fundiertes Wissen. Oder sie sagen,<br />
das ist mir alles zu hoch und ich gucke deswegen, wie<br />
der oder der entscheidet.<br />
Ist das letztlich auch eine Folge dessen, dass wir zunächst<br />
einmal froh sind über jeden, der bereit ist, für uns zu kandidieren?<br />
<strong>Ja</strong>. Oft ist es auch so, dass die, die über Fachkenntnisse verfügen,<br />
unangenehme Dinge ansprechen, unbequeme Fragen<br />
stellen und deshalb nicht so Liebfreund sind für die breite<br />
Masse und dann bei Entscheidungen unter Umständen das<br />
Nachsehen haben. Ich denke, das ist keine Spezifi k in Sangerhausen.<br />
Wie ist das Verhältnis zum Oberbürgermeister?<br />
Anfangs freuten wir uns: Wir stellen den Bürgermeister und<br />
kommen an Machtwissen heran. Das ist nicht so eingetreten.<br />
Wir gehen zuwenig auf <strong>Die</strong>ter zu und fragen nach. Wir erwarten<br />
von ihm zuviel und tun selber zuwenig, um an die nötigen<br />
Informationen zu gelangen.<br />
Das ist immer eine Gradwanderung. Auf der einen Seite<br />
sagen wir: Mensch, das ist unser <strong>Die</strong>ter, den können wir<br />
doch nicht hängen lassen, wie jetzt mit dem Haushalt: Er<br />
bringt die Vorlage ein – und die Fraktion stimmt dagegen.<br />
Auf der anderen Seite kriegen wir von ihm zuwenig Hintergrundinformationen:<br />
Passt auf Leute, das und das kommt<br />
als Problem, wir müssten darüber reden.<br />
Das klappt beispielsweise bei der CDU viel besser: <strong>Die</strong><br />
fangen jetzt an, für die Gesamtstadt ein Feuerwehrkonzept<br />
zu erarbeiten – nach Hinweisen des Kämmerers, der Stellvertreter<br />
des OB und CDU-Mitglied ist. Außerdem fangen die mit<br />
einem Kinder- und Jugendkonzept für die Gesamtstadt an.<br />
Das sind Dinge, auf die wir auch hätten kommen können.<br />
Wie steht es um das kommunale Eigentum, um seinen möglichen<br />
Verkauf?<br />
Das gab‘s bisher noch nicht. Aber es wird wohl nicht mehr<br />
lange auf sich warten lassen. Zunehmend ins Gespräch gebracht<br />
wird die Ausgliederung von Leistungen, die von der<br />
Kommune erbracht werden: die Reinigung in Kindereinrichtungen,<br />
der Bauhof oder die Bewirtschaftung des Friedhofs.<br />
Wir sind dagegen, denn sparen kann ein Dritter höchstens<br />
bei den Lohnkosten. Wenn die Stadt immer weiter Leistungen<br />
privatisiert, sind wir als Stadträte mitverantwortlich für<br />
Lohndumping.<br />
Ein Grund für meine Ablehnung des Haushaltsplanes war,<br />
dass auf einmal Kosten für die Fremdbewirtschaftung von<br />
Friedhöfen aufgeführt worden sind. Es gibt aber keinen Ratsbeschluss<br />
<strong>zur</strong> Auftragsvergabe an Dritte. Da wurde mir gesagt,<br />
das Verfahren solle jetzt in Gang gebracht werden ...<br />
Wie erfahren die Bürgerinnen und Bürger davon, dass Ihr andere<br />
Positionen vertretet als CDU usw.?<br />
Im Wesentlichen durch Gespräche. Oder durch die Lokalpresse.<br />
Vor <strong>Ja</strong>hren gaben wir nach den Ratssitzungen ein<br />
kleines Infoblatt heraus. Es war aber sehr mühsam, die Infoblätter<br />
an die Leute zu bringen, auch an unsere eigenen<br />
Leute. Wir setzten damit mal aus – und es gab nicht eine einzige<br />
Nachfrage. Wenn‘s keiner will, können wir‘s lassen.<br />
Wie viel Mitglieder hat die <strong>Linkspartei</strong>?<br />
In der Stadt 60, im Kreis etwa 140. Das ist nicht mehr so dolle.<br />
Bei den guten Wahlergebnissen – wir haben die zweitstärkste<br />
Fraktion in der Stadt – spürst du, dass es viele Sympathisanten<br />
geben muss. Aber die outen sich nicht.<br />
DISPUT März 2007 030
… doch dann sagte ich mir, die<br />
Blöße gibst du dir nicht.<br />
Auf welche Veränderungen dank der <strong>Linkspartei</strong> bist Du besonders<br />
stolz?<br />
Zum Beispiel darauf, dass endlich die Bushaltestelle <strong>zur</strong><br />
Lernbehindertenschule verlegt wurde. Und dass die Gebühren<br />
für den Straßenausbau mit unserer Hilfe gesenkt werden<br />
konnten. Du musst sehen: Wir haben im Rat nicht die Mehrheit,<br />
dort gibt es quasi eine große Koalition aus CDU, Bürgerinitiative<br />
und FDP, und die SPD fi ndet so gut wie nicht statt.<br />
Lange haben wir auch für den ARGE-Beirat gekämpft. Er<br />
begleitet im Kreis die Umsetzung von Hartz IV. Wir stellen<br />
Anfragen, geben Arbeitsempfehlungen, nutzen Kritik der Betroffenen.<br />
Der Beirat hat zwar keine Entscheidungsgewalt,<br />
aber die Informationen sind nützlich, um dem einen oder<br />
anderen helfen zu können.<br />
Als Vorsitzende des Sozialausschusses im Kreistag sitze<br />
ich im ARGE-Beirat. Das passt sehr gut mit anderen Verantwortungen<br />
zusammen, wie mit der Beratung von Hartz-IV-<br />
Empfängern bei der Gewerkschaft. Dort fl ießt wiederum das<br />
Thema Familien und Kinder hinein, und da bin ich bei der Tätigkeit<br />
im Kinderschutzbund. Das hört sich mehr an, als es<br />
ist. Ich wirble nicht 24 Stunden am Tag rum.<br />
Wie viele Stunden wirbelst Du denn rum?<br />
Das ist unterschiedlich. An manchen Tagen bin ich wirklich<br />
von 9 bis 16 oder 17 Uhr unterwegs, und an manchen Tagen<br />
ist überhaupt nichts.<br />
Du bist ehrenamtlich sehr aktiv. Muss das in dem Umfang<br />
sein? Gibt es niemanden, der Dir was abnehmen könnte?<br />
Das hat sich nach und nach aufgebaut. Ich arbeitete einige<br />
<strong>Ja</strong>hre als Mitarbeiterin eines Landtagsabgeordneten und bin<br />
auf diese Weise von vielen Seiten <strong>zur</strong> Mitarbeit angespro-<br />
310 DISPUT März 2007<br />
© Stefan Richter<br />
chen worden. Das hat sich so ergeben. Als die Wahlkreisarbeit<br />
zu Ende ging – der Abgeordnete kandidierte nicht wieder<br />
–, war mir die bis dahin geleistete Arbeit zu schade, das<br />
irgendwie ad acta zu legen. Auch jetzt mit meiner Selbständigkeit<br />
schmeiße ich die Aufgaben nicht Knall und Fall hin,<br />
ich werde sehen, was sich so noch weiterführen lässt, und<br />
wenn es nicht mehr geht, muss ich eben Abstriche machen.<br />
Wärst Du nicht gern selbst berufl ich in die Politik gewechselt,<br />
in den Landtag?<br />
Ich kandidierte 2006. Aber es klappte nicht mit einem aussichtsreichen<br />
Platz auf der Landesliste. Ich landete da ganz<br />
hinten.<br />
Warum?<br />
Weiß ich nicht. Ich trat bei den Kampfkandidaturen ab Platz<br />
12 jedes Mal an, kam jedes Mal in die Stichwahl und verlor<br />
jedes Mal.<br />
Wie gehst Du mit solchen Niederlagen um?<br />
14 Tage lang war ich stinksauer und eigentlich soweit, den<br />
ganzen Krempel hinzuschmeißen. Ich war mächtig enttäuscht<br />
und hatte gegenüber allen, die auf Landesebene<br />
irgendwie mit PDS zu tun hatten, einen Groll – auch wenn<br />
ich’s mir nicht anmerken ließ. Im Hinterkopf blieb die Frage:<br />
Warum soll ich mich noch engagieren, wenn ihr mich nicht<br />
wollt? Doch dann sagte ich mir, die Blöße gibst du dir nicht.<br />
Wir wollten ja alle keine vom Landesvorstand vorgegebene<br />
Liste, und wenn man sich <strong>zur</strong> Wahl stellt, muss man auch damit<br />
rechnen, nicht den erhofften Platz zu kriegen.<br />
Was motiviert Dich in den Ehrenämtern?<br />
Das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, für andere – und für<br />
mich selber. Es baut ja auch auf, wenn ich spüre, ich kann<br />
jemandem helfen. Das motiviert weiterzumachen.<br />
Zum Beispiel bei der Unterstützung von Hartz-IV-Empfängern.<br />
Sie sitzen auf den Ämtern manchmal wie ein kleines<br />
unglückliches Häufl ein, werden überfahren von Leuten, die<br />
sich tagtäglich damit beschäftigen. Da ist es unter Umständen<br />
schon eine erste Hilfe, mit dabei zu sitzen und zuzuhören<br />
und ihnen hinterher zu erklären, wie es weitergehen<br />
kann.<br />
Am 22. April wird in Sachsen-Anhalt wegen der Kommunalreform<br />
gewählt. Du trittst erneut für den Kreistag an.<br />
<strong>Ja</strong>, im Umland von Sangerhausen. Das bedeutet: Infostände,<br />
Veranstaltungen und Gemeindetouren mit Steckaktion in<br />
Roßla, Berga, Kelbra ... Vor den Einkaufszentren versuchen,<br />
mit den Leuten aus den Dörfern ins Gespräch zu kommen.<br />
Macht Dir das Spaß?<br />
Das kommt auf die Tagesform an. Manchmal habe ich überhaupt<br />
keine Hemmungen, die Leute anzusprechen – es<br />
kommt ja keiner von sich aus, viele laufen extra zu einem anderen<br />
Eingang, um nicht am Stand vorbei zu müssen. Dann<br />
gehe ich übern Parkplatz und versuche es am Auto. Doch es<br />
gibt auch Tage, wo ich denke: Oh Gott, einpacken und weg!<br />
Das ist unterschiedlich. Insgesamt macht‘s schon Spaß.<br />
<strong>Die</strong> Frage kann ich der gelernten Brauerin nicht ersparen:<br />
Trinkst Du gern selbst mal ein Bier?<br />
Aber super. Sehr gern sogar. Entweder ein richtiges Bockbier<br />
oder ein normales Export, ein leichteres Bier, das, was man<br />
früher als Frauenbier bezeichnet hat. Und an heißen Sommertagen<br />
gibt‘s nichts Besseres als ein kühles Hefeweizen.<br />
Gespräch: Stefan Richter
Für Selbstbestimmung und Würde<br />
Gastbeitrag von Dr. Stefan Heinik, Vorstandsmitglied des Allgemeinen<br />
Behindertenverbandes in Deutschland e. V.<br />
Der Allgemeine Behindertenverband in<br />
Deutschland e. V. (ABiD) ist ein Zusammenschluss<br />
behinderter Menschen,<br />
ihrer Angehörigen und Freunde, unabhängig<br />
von der Art der Behinderung.<br />
Er ist parteipolitisch, religiös, ethnisch<br />
und weltanschaulich unabhängig.<br />
Zweck ist die Förderung der Selbstbestimmung<br />
und Hilfe für Menschen mit<br />
Behinderungen sowie die öffentliche<br />
und politische Vertretung für diese Bürger.<br />
Hilfe <strong>zur</strong> Selbsthilfe erfolgt unabhängig<br />
von einer Verbandszugehörigkeit.<br />
Unsere Mitgliedsverbände<br />
sind juristisch<br />
selbständig und souverän<br />
in ihrer Verbandsarbeit.<br />
Im April 1990 trafen<br />
wir uns – Vertre-<br />
terinnen und Vertre-<br />
ter von Selbsthilfegruppen<br />
und Behindertenverbänden<br />
– in Berlin, um den ABiD e. V., damals<br />
noch als Behindertenverband der DDR,<br />
zu gründen. Eine Organisation von behinderten<br />
Menschen, die unabhängig<br />
von parteipolitischen Interessen und<br />
Weltanschauungen Einfl uss auf die Behindertenpolitik<br />
aller Ebenen nehmen,<br />
um Benachteiligungen von behinderten<br />
Menschen, ihren Familien, Angehörigen<br />
und Freunden abzuwenden!<br />
Dabei unterstützt der ABiD alle Selbsthilfegruppen,<br />
Organisationen und Parteien,<br />
die die realen Lebensinteressen<br />
von Menschen mit Behinderungen, ihren<br />
Angehörigen und Freunden vertreten<br />
beziehungsweise sich für solche<br />
gesetzlichen Regelungen einsetzen,<br />
die geeignet sind, die Integration und<br />
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen<br />
in und durch die Gesellschaft<br />
zu fördern.<br />
Das ist für unseren Verband der einzig<br />
akzeptable Weg, Chancengleichheit<br />
und reale Teilhabe von Menschen mit<br />
Behinderungen auf allen Ebenen des<br />
gesellschaftlichen Lebens zu fördern<br />
und auch durchzusetzen.<br />
Im ABiD haben sich sechs Landesverbände<br />
mit circa 90 Kreis- und<br />
Stadtorganisationen zusammengeschlossen.<br />
Wichtig war und ist dabei,<br />
das behinderte Bürgerinnen und<br />
Bürger, ihre Angehörigen, Helfer und<br />
Freunde sich in den Orts-, Kreis- und<br />
© privat<br />
BEHINDERTENPOLITIK<br />
Landesverbänden zusammengetan haben,<br />
um die eigenen Interessen zu artikulieren<br />
und wirksam selbst zu vertreten.<br />
Sie tauschen sich zu sozialen Problemen<br />
und Befi ndlichkeiten aus und<br />
suchen nach eigenen Lösungen für die<br />
anstehenden Fragen und Probleme. So<br />
setzen sich die Mitglieder des ABiD in<br />
Mobilitäts- und Fahrdiensten, integrativen<br />
Kindertagesstätten, Frühfördereinrichtungen,<br />
Begegnungszentren sowie<br />
in parlamentarischen Gremien von<br />
der Gemeinde bis<br />
zum Bundestag<br />
für die Interessen<br />
von behinderten<br />
Menschen ein.<br />
Der ABiD beteiligte<br />
und beteiligt<br />
sich aktiv<br />
an den sozialpolitischenDiskussionen,insbesondere<br />
zum Sozialgesetzbuch IX, zum<br />
Schwerbehindertengesetz, zu den Baugesetzen<br />
und Landesbauordnungen,<br />
zum Bundesgleichstellungsgesetz und<br />
aktuell unter anderem an der Diskussion<br />
<strong>zur</strong> Gesundheitsreform. Wir fordern<br />
dort, wo wir durch behindernde<br />
Bedingungen – beispielsweise mangelnde<br />
Barrierefreiheit, mangelnde soziale<br />
Unterstützung des Staates <strong>zur</strong> Beschäftigung<br />
Schwerbehinderter im ersten<br />
Arbeitsmarkt – bei unserer Teilhabe<br />
am Leben der Gesellschaft benachteiligt<br />
werden, entsprechende Veränderungen<br />
und deutlich mehr Förderung.<br />
Wir fordern die Modernisierung der<br />
Nachteilsausgleiche zum Beispiel bei<br />
Steuern und bei der Kraftfahrzeughilfe.<br />
Zur Herstellung von Chancengleichheit<br />
brauchen wir differenzierte, konkrete<br />
und ausfi nanzierte gesetzliche Vorgaben<br />
und Aktionsprogramme vor allem<br />
<strong>zur</strong> Beschäftigung schwerbehinderter<br />
Menschen im ersten Arbeitsmarkt und<br />
zu mehr Barrierefreiheit auf allen Ebenen.<br />
Hier muss vom Staat in Zukunft<br />
deutlich mehr materielle Unterstützung<br />
erfolgen.<br />
Der ABiD unterbreitete zu diesem<br />
Zweck ein Nachteilsausgleichgesetz<br />
(NAGAS), für das wir uns mehr Aufmerksamkeit<br />
als bisher wünschen.<br />
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die<br />
Zusammenarbeit mit anderen Organisationen.<br />
So ist der ABiD Gründungs-<br />
mitglied des seit Dezember 1999 existierenden<br />
Behindertenbeirates (DBR).<br />
Der DBR vertritt etwa sechs Millionen<br />
behinderte Menschen in Deutschland<br />
und repräsentiert rund 80 Organisationen.<br />
<strong>Die</strong> demokratische Willensbildung<br />
auf dieser Ebene führt zu<br />
einem genaueren und differenzierteren<br />
Selbstverständnis der eigenen Interessen<br />
gegenüber der Gesellschaft. <strong>Die</strong><br />
Wege der Umsetzung werden konkreter,<br />
klarer und effektiver.<br />
Wir sind Mitglied im Deutschen Paritätischen<br />
Wohlfahrtsverband e. V., in<br />
der »Nationalen Koordinierungsstelle<br />
Tourismus für Alle« e. V. und im Deutschen<br />
Verein für öffentliche und private<br />
Fürsorge, Very Special Arts.<br />
Allgemeiner Behindertenverband<br />
in Deutschland e. V.<br />
■ ■ Bundesverband<br />
Georgenstraße 35, 10117 Berlin<br />
Telefon/Fax (030) 27 59 34 30<br />
abid.bv@t-online.de<br />
www.abid-ev.de<br />
■ ■ Landesverbände<br />
Berlin<br />
Jägerstraße 63 d, 10117 Berlin<br />
Telefon (030) 20 43 847<br />
bbvev.b@berlin.de<br />
Brandenburg<br />
Hegelallee 8, 14467 Potsdam<br />
Telefon (0331) 280 38 10<br />
abb-lv.org@t-online.de<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
Am Blumenborn 23<br />
17033 Neubrandenburg<br />
Telefon/Fax (0395) 369 86 55<br />
ABiM-V@t-online.de<br />
Sachsen<br />
Scheffelstr. 3, 09496 Marienberg<br />
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über: Landesverband für<br />
Menschen mit Behinderungen<br />
in Thüringen e. V.<br />
Dr. Karl Schran<br />
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DISPUT März 2007 032
Eine soziale Neuerfi ndung<br />
Über Seniorengenossenschaften als ein nachhaltiges Lebensmodell und über<br />
Beispiele in <strong>Ja</strong>pan Von Norbert Schneider<br />
Es ist sehr ungewiss, wie die immer<br />
mehr älteren Menschen – bei gleichzeitig<br />
abnehmender Zahl jüngerer<br />
Menschen – gute Lebensbedingungen<br />
im Alter haben können. Der weiter um<br />
sich greifende Egoismus, das Zerbrechen<br />
von sozialen Beziehungen in den<br />
Kommunen und die Anonymisierung<br />
des Gemeinwesens durch die Vergeldlichung<br />
der menschlichen Beziehungen<br />
stellen unsere Gesellschaft vor neue<br />
Herausforderungen.<br />
Vor noch nicht allzu langer Zeit gab<br />
es die Großfamilie, in der solidarisch<br />
generationsübergreifend gelebt wurde.<br />
<strong>Die</strong>ses System existiert praktisch nicht<br />
mehr, die Vereinzelung schreitet voran,<br />
der Individualismus bestimmt den Zeitgeist,<br />
ist aber ein Rückschritt für die Gesellschaft.<br />
Dabei haben solidarische Systeme<br />
im Sozialen schon immer besser funktioniert<br />
als Systeme, die auf Wettbewerb<br />
beruhen. Wie könnte ein System aussehen,<br />
das heute dem Zeitgeist standzuhalten<br />
vermag, das neue soziale Beziehungen<br />
in der Kommune generationsübergreifend<br />
wiederherstellen<br />
kann und damit das soziale Gemeinwesen<br />
praktisch neu erfi ndet?<br />
Seniorengenossenschaften praktizieren<br />
eine ursprüngliche soziale Form<br />
der gegenseitigen Unterstützung, die<br />
zudem die Forderung nach einer aktiven<br />
Bürgergesellschaft mit mehr<br />
Selbstbestimmung und Selbstorganisation<br />
umsetzt. <strong>Die</strong> Basis dafür bilden<br />
langfristige Reziprozität, soziales Vertrauen<br />
und zwischenmenschliche, gabeorientierte<br />
Kooperation innerhalb<br />
des Gemeinwesens.<br />
Man stelle sich vor: In einer Stadt<br />
wie Erfurt wären mehr als 7.000 Einwohner<br />
Mitglied in einer Seniorengenossenschaft.<br />
Sie nutzen ihre Fähigkeiten<br />
für Nachbarschaftshilfe, Jugend-<br />
und Altenarbeit und für die Stadtentwicklung.<br />
Man stelle sich weiterhin<br />
vor: Sie alle würden für ihre Arbeit in<br />
der Seniorengenossenschaft den gleichen<br />
Lohn erhalten; jede Arbeitsstunde<br />
wird mit zwei Punkten verrechnet.<br />
Eine Utopie? Für Erfurt schon. Nicht<br />
jedoch für das hessische <strong>Die</strong>tzenbach<br />
mit 33.000 Einwohnern. Dort haben<br />
sich ca. 1.500 Bewohner in der Seniorenhilfe<br />
<strong>Die</strong>tzenbach (SHD) zusammengeschlossen.<br />
Jung und Alt bringen ihre<br />
330 DISPUT März 2007<br />
Ideen und Fähigkeiten ein, um die Alten<br />
vom Abstellgleis zu führen und den<br />
Jugendlichen den Start ins Leben zu erleichtern.<br />
<strong>Die</strong> Seniorenhilfe übernimmt Einkaufsdienste<br />
und kleinere Reparaturen<br />
sowie Begleitdienste zum Arzt oder zu<br />
Behörden. Der SHD veranstaltet Vorträge<br />
und Spielenachmittage und bietet in<br />
Grundschulklassen Lesehilfen an. Und<br />
weil die <strong>Die</strong>tzenbacher mit der Zeit gehen,<br />
eröffneten sie im <strong>Ja</strong>nuar 2000 ein<br />
Internet-Café.<br />
1994 wurde die Seniorengenossenschaft<br />
gegründet. Sie kommt heute ohne<br />
ständige Zuschüsse aus. Es gab lediglich<br />
eine bescheidene Anschubfinanzierung<br />
durch den Kreis Offenbach<br />
und eine geringe Starthilfe von<br />
der Stadt.<br />
Der rasche Erfolg beruhte auf einem<br />
einfachen Prinzip: <strong>Die</strong> Mitglieder stellen<br />
ihre Fähigkeiten der Gemeinschaft<br />
<strong>zur</strong> Verfügung und erhalten dafür Zeitgutschriften,<br />
die auf einem Konto verbucht<br />
werden. <strong>Die</strong>se Zeitgutschriften,<br />
hier Punkte genannt, können gegen<br />
andere Leistungen eingetauscht werden<br />
oder in späteren <strong>Ja</strong>hren, bei eigener<br />
Pfl egebedürftigkeit, wie eine Zusatzrente<br />
abgerufen werden.<br />
Rund 200 Aktive gibt es in der SHD.<br />
Ein Dutzend von ihnen organisiert beispielsweise<br />
den Bürodienst. In den<br />
vergangenen drei <strong>Ja</strong>hren wurden rund<br />
40.000 Punkte notiert – als Äquivalent<br />
für 20.000 Arbeitsstunden. <strong>Die</strong> SHD hat<br />
auch eine Lösung für die Mitglieder gefunden,<br />
die sich durch Krankheit oder<br />
wegen hohen Alters keine Punkteguthaben<br />
erarbeiten konnten: Wollen sie<br />
Hilfe in Anspruch nehmen, zahlen sie<br />
eine geringe Verwaltungsgebühr.<br />
<strong>Die</strong> Seniorenhilfe ist kein Verein bzw.<br />
Genossenschaft im üblichen Sinne. Sie<br />
hat sich in <strong>Die</strong>tzenbach zu einem zuverlässigen<br />
Partner für die Stadt, die Wohlfahrtsverbände<br />
und Kirchen, für die<br />
Wirtschaftsverbände, Schulen und für<br />
den Ausländerbeirat entwickelt.<br />
<strong>Die</strong> Pfl ege- und sozialen Hilfsdienste<br />
empfi nden die SHD nicht als Konkurrenz,<br />
sondern als Ergänzung. Denn die<br />
Einführung der Pfl egeversicherung hat<br />
die Hilfsdienste in ihren Leistungen eingeschränkt:<br />
Für eine umfassende soziale<br />
Betreuung der alten Menschen, ja<br />
oft auch nur für ein Gespräch, wie sie<br />
die Seniorenhilfe leistet, ist selten Zeit.<br />
Seniorengenossenschaften könnten<br />
auch in Thüringen zu einem wichtigen<br />
Pfeiler der sozialen Stadtentwicklung<br />
werden.<br />
Am weitesten verbreitet sind solche<br />
Systeme derzeit in Fernost. In <strong>Ja</strong>pan vergrößert<br />
sich der Anteil alter Menschen<br />
an der Bevölkerung rasant. Als Reaktion<br />
darauf haben die <strong>Ja</strong>paner eine Art<br />
Pfl egewährung eingeführt. <strong>Die</strong> Pfl egewährung<br />
heißt »Hureai Kippu« (»Pfl ege-<br />
Beziehungs-Ticket«). Bei diesem System<br />
werden die Stunden, die ein Freiwilliger<br />
bei der Pfl ege oder Unterstützung<br />
alter oder behinderter Menschen<br />
verbringt, auf einem Sparkonto geführt.<br />
Der einzige Unterschied besteht darin,<br />
dass die Rechnungseinheit nicht Yen<br />
sind, sondern Stunden. Mit dem Guthaben<br />
des Zeitkontos kann man die<br />
normale Krankenversicherung ergänzen.<br />
Im Folgenden kurz einige Merkmale<br />
des dortigen Systems:<br />
■ ■ Verschiedene Aufgaben werden<br />
verschieden bewertet. So wird für Arbeiten<br />
im Haushalt und fürs Einkaufen<br />
weniger angerechnet als beispielsweise<br />
für Körperpfl ege.<br />
■ ■ Das Guthaben in der Pfl egewährung<br />
können Freiwillige für sich selbst<br />
oder für jemanden innerhalb und außerhalb<br />
der Familie verwenden.<br />
■ ■ Besonders erfreulich: Auch die alten<br />
Menschen bevorzugen diese Form<br />
der Pfl ege, da die Qualität der Leistungen<br />
höher ist als bei den in Yen bezahlten<br />
Pfl egerinnen und Pfl egern.<br />
■ ■ <strong>Die</strong> <strong>Ja</strong>paner berichten zudem über<br />
einen deutlichen Anstieg der freiwilligen<br />
Leistungen, und das auch bei Helfern,<br />
die gar keine eigenen Zeitkonten<br />
eröffnen wollen. Der Grund könnte sein,<br />
dass durch dieses System alle Freiwilligen<br />
das Gefühl haben, ihre Leistungen<br />
würden mehr anerkannt.<br />
Ungefähr 350 Pfl egedienste arbeiten<br />
nach dem Prinzip der Zeitkonten.<br />
Insgesamt betrachtet erweist sich die<br />
japanische Pfl egewährung kostengünstiger<br />
und persönlicher als das im Westen<br />
übliche System.<br />
Norbert Schneider ist ehrenamtlich<br />
Stadtrat in Saalfeld und arbeitet im<br />
Arbeitskreis Lokale Ökonomie<br />
bei der Thüringer Rosa-Luxemburg-<br />
Stiftung mit<br />
SOZIAL
Kuba tauscht die Lampen aus<br />
Mehr Energie, mehr Bücher, mehr Farbe<br />
Von Gert Gampe<br />
Mehr Energie. Es gibt sie. Mit der »revolución<br />
enérgetica« wurden 2005 tiefgreifende<br />
Veränderungen im gesamten<br />
Stromnetz der Insel eingeleitet. Landesweite<br />
Stromausfälle und die folgenschwere<br />
Abschaltung Dutzender<br />
Fabriken gehören der Vergangenheit<br />
an. Es wurde investiert in die Modernisierung<br />
der überalterten Elektrizitätswerke,<br />
und mehr als 250 importierte<br />
<strong>Die</strong>selaggregate, angeschlossen<br />
an das nationale Netz, garantieren fast<br />
fünfzig Prozent des täglichen Strombedarfs.<br />
Zusätzlich bereitgestellt wurden<br />
Notfallgeneratoren mit einer Leistung<br />
von mehr als 300 Megawatt für Krankenhäuser,<br />
Polikliniken, Feuerwachen,<br />
Bäckereien, Sendeanstalten und ausgewählte<br />
Betriebe.<br />
»Schaltet die Lampen aus, stellt den<br />
Ventilator ab, lasst den Fernseher nicht<br />
eingeschaltet«, appellierte Fidel Castro<br />
in seiner berühmten Rede am 17. November<br />
2005 in der Universität Havanna<br />
an die Bevölkerung. Hunderttausende<br />
Glühlampen wurden ausgewechselt<br />
(Hat nicht gerade ein deutscher Minister<br />
über »Glühbirnen« einen Brief geschrieben?),<br />
man trennte sich von energiefressenden<br />
amerikanischen Kühlschränken<br />
aus den 50ern, eine Million<br />
Fernseher (mit einer Leistung von 50<br />
Watt) wurden auf der Insel preiswert<br />
verkauft. Der Strompreis bis 100 Kilowattstunden<br />
blieb unverändert. Darü-<br />
BESUCH<br />
ber wurden die Preise bis zu 1.400 Prozent<br />
erhöht, was die Bevölkerung zum<br />
Wechsel auf neue Geräte und zu einem<br />
höheren Verbraucherbewusstsein führen<br />
soll. Noch gehen 15 Prozent der produzierten<br />
Energie im Verteilungssystem<br />
wegen Überlastungen von Transforma-<br />
Tüfteln und lesen – Alltag auf Kuba.<br />
<strong>Die</strong> 16. Internationale Buchmesse im<br />
Februar hatte 800.000 Besucher.<br />
Viel Farbe brachten die »Wandmaler« in<br />
den Arbeiterbezirk Havanna-Lawton.<br />
DISPUT März 2007 034
35 0 DISPUT März 2007<br />
toren und wegen ungeeigneter Kabelstärken<br />
verloren; schleierhaft ist mir<br />
die »Funktionstüchtigkeit« der Stromzähler<br />
an den Häusern. Sparen bleibt<br />
das Schlüsselwort der Energie-Revolution.<br />
Erfolgreich bekämpft wurde auch eine<br />
Art von Tankstellenmafi a. <strong>Die</strong> Kontrollen<br />
über die knapp 800 Tankstellen<br />
im Land wurden verstärkt. Gleichzeitig<br />
setzt die kubanische Regierung auf erneuerbare<br />
Energien wie Biogas, Windkraft<br />
und Solarenergie.<br />
Das ist die Entwicklung, aber die<br />
Wirklichkeit zeigt noch Mängel. Es ist<br />
klar, dass eine Aufhebung des Wirtschaftsboykotts<br />
viele sinnvolle Kooperationen<br />
ermöglichen und die Lage<br />
schneller verändern würde. Aber die<br />
Kubaner sind Erfi nder und Bastler, wie<br />
der mobile Fuhrpark amerikanischer<br />
Straßenkreuzer in Havanna täglich geruchsintensiv<br />
unter Beweis stellt.<br />
Zur Eröffnung des Festivals des Neuen<br />
Lateinamerikanischen Films lief ein<br />
Dokumentarfi lm (la cuchufl eta) über
die Elektrifizierungsbemühungen in<br />
einem vergessenen Dorf in der Sierra<br />
Maestra. <strong>Die</strong> Energie-Revolution ist<br />
im Tal davor stehen geblieben, doch<br />
die Dorfbewohner, meist jüngere Familien,<br />
wollen fernsehen und Radio hören.<br />
Und so stauen sie Wasser an, leiten es<br />
auf kleine selbstgebaute Wasserräder<br />
in Verbindung mit Lichtmaschinen und<br />
führen den Strom in ihre Hütten, das<br />
Fernsehbild fl ackert, der Ton schwankt.<br />
Sie sind zufrieden und lachen in die Kamera.<br />
Das hauptstädtische Premierenpublikum<br />
ist begeistert und lacht besonders,<br />
als ein Dorfbewohner erklärt,<br />
hoffentlich werde ihre »Privatinitiative«<br />
nicht verboten.<br />
Auf der 16. Internationalen Buchmesse<br />
in Havanna (vom 8. bis 18. Februar<br />
2007) ging nur einmal ganz kurz<br />
das Licht aus. Ein schwerer Sturm fegte<br />
über die alte Festung La Cabana, den<br />
Messeort; Elektroleitungen rissen, und<br />
Bücherstände kippten um. Das konnte<br />
jedoch das größte Kulturereignis Kubas<br />
nicht stören. Mehr als 800.000 Menschen,<br />
meist Jugendliche und junge Familien,<br />
kamen, um sich für einen Gesamtumsatz<br />
von ca. acht Millionen Pesos<br />
mit Büchern zu versorgen, Konzerte<br />
zu erleben und soviel Kulinarisches zu<br />
konsumieren, wie nie zuvor. Sagte jedenfalls<br />
Kulturminister Abel Prieto.<br />
Im Schnitt kosteten die Bücher fünf<br />
Peso (25 Pesos entsprechen einem<br />
Euro). Der Renner, für den sich die<br />
Kuba ner schon mal stundenlang anstellten<br />
und 20 Pesos hinlegten, war<br />
das biographische Interview »100<br />
Stunden mit Fidel« (Cien Horas con Fidel)<br />
als Serie auf Zeitungspapier oder<br />
gebunden. <strong>Die</strong> ausgedehnte Unterhaltung<br />
mit dem hispo französischen Intellektuellen<br />
Ignacio Ramonet (Le Monde<br />
Diplomatique) gilt als Zeugnis eines Lebens<br />
und einer Epoche. Bei der Vorstellung<br />
der dritten überarbeiteten Ausgabe<br />
sagte Ramonet: »<strong>Die</strong>ses Buch ist<br />
unerlässlich für die <strong>neuen</strong> Generationen.<br />
Es ist auch eine Waffe im ideologischen<br />
Terrain, und es bricht die Belagerung<br />
auf, die das Imperium um Fidel<br />
und Cuba gelegt hat.«<br />
Das Buch ist spannend, kritisch, offen<br />
und hat wohl schon einen deutschen<br />
Verleger gefunden. Fidel Castro<br />
spricht alle Themen an. Zum Beispiel<br />
sagt Castro <strong>zur</strong> Situation der schwarzen<br />
Bevölkerung in Kuba, zu Formen<br />
der Diskriminierung: »<strong>Die</strong> Revolution<br />
hat es nicht geschafft, jenseits der für<br />
alle Staatsbürger unabhängig von Ursprung<br />
oder Ethnie erreichten Rechte<br />
und Garantien, den gleichen Erfolg<br />
im Kampf um die Ausrottung der Unterschiede<br />
im sozialen und ökonomischen<br />
Status der schwarzen Bevöl-<br />
BESUCH<br />
kerung zu erreichen … Wenn du in die<br />
Gefängnisse gehst, entdeckst du viele,<br />
die aus den ausgegrenzten Vierteln<br />
kommen, die Kinder von jenen, deren<br />
Familien in den vergessenen Vierteln<br />
leben … Du erschrickst, wenn du analysierst,<br />
wie viele Jugendliche zwischen<br />
20 und 30 <strong>Ja</strong>hren – und wir sind immer<br />
noch am untersuchen – in den Gefängnissen<br />
sind …«<br />
Zurück <strong>zur</strong> Buchmesse. Argentinien<br />
war diesmal das Gastland mit einer bemerkenswerten<br />
Buchpräsentation, mit<br />
Musikern, Kunst- und Fotoausstellungen.<br />
Das Berliner Büro Buchmesse Havanna<br />
war mit 55 deutschen Verlagen<br />
vertreten und konnte vom Veranstalter<br />
einen »Ehrenpreis als bester ausländischer<br />
Aussteller« entgegennehmen.<br />
Mit dem offi ziellen Boykott der Bundesregierung<br />
2004 war dieses solidarische<br />
Projekt notwendig geworden und auch<br />
über die <strong>Ja</strong>hre erfolgreich. Ärgerlich für<br />
die Kalten Krieger im Auswärtigen Amt.<br />
Sie haben nun ihre Strategie geändert<br />
und in diesem <strong>Ja</strong>hr mit Bundesmitteln<br />
einen Auftritt der Frankfurter Buchmesse<br />
fi nanziert und so ein Comeback eingeleitet.<br />
<strong>Die</strong> Solidarität mit Kuba ist aber keine<br />
Spekulationsware, und so werden<br />
Cuba Sí und Partner diese Herausforderung<br />
gelassen annehmen. <strong>Die</strong> Internationale<br />
Buchmesse versteht sich gerade<br />
als kulturelle Brücke zwischen Lateinamerika,<br />
der Karibik und Europa.<br />
Freundschaftliche Begegnungen unterschiedlicher<br />
Kulturen, respektvoller<br />
Umgang und der Austausch von Ideen<br />
stehen im Vordergrund. Gegen neoliberale<br />
Konfrontationspolitik und gegen<br />
jede »weiche Variante«, die dem kubanischen<br />
Volk schadet, werden Cuba Sí<br />
und Partner Widerstand leisten.<br />
Bekannt ist die gute Zusammenarbeit<br />
von Venezuela und Kuba auf wirtschaftlichem<br />
und sozialem Gebiet. Erst<br />
kürzlich wurden 16 Kooperationsverträge<br />
in Caracas in den Bereichen Landwirtschaft,<br />
Stahl und Telekommunikation<br />
im Gesamtwert von fast zwei Milliarden<br />
Dollar unterzeichnet. Innerhalb<br />
von 18 Monaten soll ein 1.550 Kilometer<br />
langes Unterwasser-Glasfaserkabel<br />
die Unabhängigkeit auf diesem Gebiet<br />
vom Wirtschaftsembargo der USA ermöglichen.<br />
Das erste große kulturelle Projekt,<br />
der Kulturfonds der »Bolivarischen Alternative<br />
für Amerika« (ALBA), wurde<br />
auf der Buchmesse von Farruco Sesto<br />
und Abel Prieto, den Kulturministern<br />
beider Länder, präsentiert. Auch hier<br />
geht es um Alternativen <strong>zur</strong> neoliberalen<br />
Freihandelspolitik der USA, um<br />
eigene Vertriebswege und politische<br />
Emanzipation. Eine erste Buchedition<br />
wurde vorgelegt.<br />
Ganz im Sinne von dem erfolgreichen<br />
Projekt des »Fernsehsenders<br />
des Südens«, Telesur. <strong>Die</strong>ser Sender ist<br />
eine Alternative zu den großen privaten<br />
Medienkonzernen und wird getragen<br />
von Venezuela, Argentinien, Uruguay,<br />
Bolivien sowie Kuba. »<strong>Die</strong> fünf Regierungen<br />
setzen auf einen anderen Ansatz<br />
der Kommunikation. Sie betrachten<br />
dabei ihre Bevölkerung als Protagonisten<br />
der Fernsehlandschaft, die<br />
durch Macht der Öffentlichkeit und Demokratie<br />
direkt Einfl uss auf einen anderen<br />
Typ von Fernsehen nehmen können«,<br />
sagt Pascual Serrano, einer der<br />
Macher des Senders. Mit viel Energie<br />
sollte dieses interessante Modell innerhalb<br />
der europäischen <strong>Linke</strong>n debattiert<br />
werden, um auch für Europa alternative<br />
Kommunikationsmodelle zu<br />
entwickeln.<br />
Energie und viel Farbe haben die<br />
»Wandmaler« von Havanna-Lawton gebraucht.<br />
In diesem Arbeiter-Stadtbezirk,<br />
den die Touristenführer nicht ausweisen,<br />
haben sich seit 2001 Künstler<br />
und Bewohner in das Projekt Muraleando<br />
begeben, um das Wohnumfeld zu<br />
verschönern und Kultur im Kiez, von<br />
HipHop bis <strong>zur</strong> Bildhauerei, zu verankern.<br />
Nicht jeder Hauseigentümer wollte<br />
sich der Freiheit der Kunst ausliefern,<br />
aber heute werden viele Gebäude<br />
durch »Wandbilder« auch internationaler<br />
junger Künstler geschmückt, die hier<br />
ehrenamtlich gearbeitet haben. Ein<br />
Haus wurde von Victor Hernández und<br />
von deutschen und französischen Graffi<br />
ti-Aktivisten verschönert. Muraleando<br />
arbeitet ohne fi nanzielle Unterstützung<br />
durch staatliche Stellen, ist auf Spenden<br />
angewiesen und sucht die internationale<br />
Zusammenarbeit. Aktuell gestalten<br />
sie eine Website, die Cuba Sí<br />
auf seiner Seite verlinken würde.<br />
Ich fahre mit dem Taxi wieder in die<br />
touristische Altstadt. Gerne schalten<br />
die Taxifahrer ihre Uhren ab und verdienen<br />
an einem Abend soviel wie andere<br />
Berufsgruppen in einem Monat. Dann<br />
denke ich an die Debatte über die »drei<br />
Schutzmechanismen«, die die Revolution<br />
retten können (siehe: Kuba – nach<br />
Fidel, von Castro, Roque, <strong>Die</strong>terich, erschienen<br />
im Kai Homilius Verlag), über<br />
Ethik und Konsum oder die verheerende<br />
Wirkung von zwei Währungen in<br />
einem Land.<br />
Beim Rückflug fällt mir eine Zahl<br />
in der Granma Internacional ins Auge:<br />
5,3 Prozent – die niedrigste Säuglingssterblichkeit<br />
in der Geschichte des<br />
Landes. In Amerika weist nur Kanada<br />
einen besseren Wert auf. Ich schlafe<br />
ein und träume ...<br />
DISPUT März 2007 036
Strenge Eigentümer<br />
Noch einmal zu einer »alltäglichen« Problematik: Privatisierung oder Erhaltung und<br />
Nutzung von kommunalem Eigentum? Von Hans-Georg Trost<br />
<strong>Die</strong> Eigentumsfrage ist seit über einem<br />
<strong>Ja</strong>hrhundert für die <strong>Linke</strong> eine – wenn<br />
nicht die entscheidende – politische<br />
Frage, um die gesellschaftliche Entwicklung<br />
zu beeinfl ussen bzw. zu gestalten.<br />
Sie spielt auch seit Entstehen<br />
der PDS stets eine zentrale Rolle.<br />
<strong>Die</strong> programmatischen Debatten<br />
brachten neue Einsichten, Beiträge <strong>zur</strong><br />
Eigentumstheorie, die zum großen Teil<br />
in dem derzeit geltenden Programm<br />
bzw. dem Entwurf der »Programmatischen<br />
Eckpunkte« für die Parteineubildung<br />
enthalten sind. Hier soll auf einige<br />
für die praktische politische Arbeit<br />
wichtige Gedanken und Schlussfolgerungen<br />
verwiesen werden.<br />
Heute ist nicht mehr »nur« vom Eigentum<br />
an Produktionsmitteln die Rede.<br />
Eigentum wird vor allem als eine<br />
Frage der realen Verfügung über wirtschaftliche<br />
Machtressourcen angesehen.<br />
<strong>Die</strong> für die Praxis nicht zu unterschätzende<br />
Frage nach der Rechtsform<br />
wird weiter betont. Bedeutender ist<br />
aber die Hervorhebung der wirtschaftlichen<br />
Macht- und Herrschaftsverhältnisse<br />
als eigentlicher Inhalt des Eigentums,<br />
was den Marx‘schen Gedanken<br />
vom Eigentum als einer Beziehung<br />
zwischen Menschen (und nicht zu Dingen!)<br />
als Kern der Produktionsverhältnisse<br />
entspricht und ihn nachdrücklich<br />
unterstreicht.<br />
Wenn nicht mehr »nur« vom Eigentum<br />
an den Produktionsmitteln die Rede<br />
ist, so ist der Gegenstand, das Objekt<br />
des Eigentums ausgeweitet: zum<br />
Beispiel um entscheidende Lebens-<br />
und Existenzbedingungen der Menschen<br />
wie Wohnungen, Krankenhäuser,<br />
Schulen, soziale Einrichtungen,<br />
Verkehrsbetriebe, Versorgungseinrichtungen,<br />
Stadtwerke und Ähnliches. Sie<br />
beeinfl ussen enorm die Lebensweise<br />
der Menschen und befi nden sich derzeit<br />
zu einem großen Teil noch in kommunalem<br />
Eigentum.<br />
Auch außerhalb der Kommunen<br />
hat der Eigentumsbegriff neue Gegenstände<br />
über den klassischen Begriff<br />
der Produktionsmittel hinaus erfasst:<br />
Wenn Karl Marx im »Kapital« Maschinerie<br />
und große Industrie als Produktivkrafttyp<br />
des damaligen Manchesterkapitalismus<br />
beschrieb, so beruht der<br />
heutige Kapitalismus auf Kommunikations-<br />
und Informationstechnologien.<br />
370 DISPUT März 2007<br />
Nicht mehr allein Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände<br />
im klassischen (alten)<br />
Sinne, sondern auch Wissen, Information,<br />
Patente, Lizenzen, Geschäftskonzepte<br />
und andere Projekte werden<br />
Gegenstände/Objekte von Eigentum.<br />
In der Programmatik der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
wird betont, dass die verschiedenen<br />
Eigentumsformen nach dem<br />
Prinzip gleichberechtigt in dem Maße<br />
gefördert werden sollten, wie sie die<br />
Lebensgrundlagen der Menschen sichern/ermöglichen.<br />
Innerhalb dieses<br />
Rahmens der Gleichberechtigung wird<br />
aber das öffentliche Eigentum grundsätzlich<br />
favorisiert. Das erfordert in der<br />
Praxis die Bewahrung, Verteidigung<br />
und die Mehrung des öffentlichen Eigentums,<br />
zu dem das kommunale Eigentum<br />
gehört. Verteidigung schließt<br />
grundsätzlich seinen Schutz gegen Verkauf<br />
in private Hand, Abriss oder sonstige<br />
Formen seiner Negation/Vernichtung<br />
ein. Bei der nicht zu unterschätzenden<br />
Bedeutung von kurzfristigen<br />
Sanierungen kommunaler Haushalte<br />
muss aber stets berücksichtigt werden,<br />
dass Privatisierung ein einmaliger Prozess<br />
mit einem einmaligen Effekt ist,<br />
dass aber dabei für eine lange währende<br />
Zukunft wirtschaftliche Macht permanent<br />
aus der Hand gegeben wird.<br />
Ein langer, strittiger Weg<br />
In der Programmatik der <strong>Linkspartei</strong>.<br />
PDS und in vielen praktischen Politikansätzen<br />
wird immer wieder die dem<br />
Grundgesetz entsprechende Sozialpfl<br />
ichtigkeit jeglichen Eigentums eingefordert.<br />
Sie schrittweise zu realisieren,<br />
ist beispielsweise Anliegen der Steuerund<br />
Abgabenkonzepte der <strong>Linke</strong>n (Vorschläge<br />
zu Vermögensteuer, Unternehmenssteuer,<br />
Besteuerung von Börseneinkommen<br />
...), den Forderungen nach<br />
echter Wirtschaftsdemokratie ... All das<br />
kann, wenn tatsächlich realisiert, die<br />
heutige Profi tdominanz des Eigentums<br />
zunächst einschränken und sie allmählich<br />
– das ist ein langer und strittiger<br />
Weg – in eine Sozialdominanz umwandeln.<br />
Das ist zugleich Umsetzung von<br />
Elementen des »strategischen Dreiecks«,<br />
womit auch Keime, Elemente<br />
des demokratischen Sozialismus in der<br />
heutigen kapitalistischen Gesellschaft<br />
entstehen können.<br />
Der von uns oft zitierte Artikel 14 aus<br />
dem Grundgesetz, wonach Eigentum<br />
verpflichtet und sein Gebrauch dem<br />
Wohle der Allgemeinheit dienen soll,<br />
muss auch auf das kommunale Eigentum<br />
bezogen werden.<br />
Das Erheben und das Durchsetzen<br />
allgemeiner Forderungen nach der Erhaltung<br />
kommunalen Eigentums und<br />
seinem Schutz vor seiner Privatisierung<br />
durch neoliberale Politik sind richtig<br />
und notwendig – stellen jedoch nur eine<br />
Seite der Medaille dar: Wichtiger ist<br />
dann doch, dass Unternehmen in kommunalem<br />
Eigentum mit höchster Effektivität<br />
dazu beitragen müssen, durch<br />
hohe Leistungen Bedürfnisse der Bürger<br />
in den Kommunen effektiv zu befriedigen.<br />
Eine hohe Effektivität/Produktivität<br />
ist Voraussetzung dafür und für ihre<br />
erweiterte Reproduktion von innen<br />
heraus – wie sollte es auf Dauer denn<br />
sonst wachsen? Auch darum sind hohe<br />
Steigerungsraten der Arbeitsproduktivität<br />
erforderlich, die zu Einsparungen<br />
an Arbeitszeit führen; dessen darf man<br />
sich dann nicht »schämen«, sondern<br />
die verschiedenen Konsequenzen (zum<br />
Beispiel Einsparung von Arbeitsplätzen<br />
und mit ihnen verbundene Verringerung<br />
von Lohnkosten ...) sozial und<br />
vernünftig auswägen. Zugleich gebietet<br />
das, dass unsere Vertreter in der Legislative,<br />
die Gemeinde- und Stadträte<br />
(zum Beispiel in ihrer Funktion als<br />
Aufsichtsräte) sich wirklich als strenge<br />
Eigentümer verhalten und die Exekutive<br />
(Verwaltung und Geschäftsführer<br />
dieser Unternehmen) <strong>zur</strong> Durchsetzung<br />
einer hohen Produktivität wirksam<br />
veranlassen. Vor allem das gehört<br />
<strong>zur</strong> Machtausübung (Mitregieren!) unserer<br />
gewählten Abgeordneten – ist<br />
letztlich Wahrnehmung ihrer Eigentümerfunktion.<br />
Prof. Dr. Hans-Georg Trost ist aktiv in der<br />
AG Politische Bildung beim Regionalverband<br />
Oberlausitz der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
Aus der Fülle der Literatur sei wenigstens<br />
der Beitrag von <strong>Die</strong>ter Klein: Ȇber einen<br />
alternativen Umgang mit der ungeheuren<br />
Präsenz des totgesagten Eigentums« in<br />
Brie/Chrapa/Klein »Sozialismus als<br />
Tagesaufgabe« (Rosa-Luxemburg-<br />
Stiftung, Heft 38, Berlin 2003) genannt.<br />
KOMMUNAL
Sachsens Armutshauptstadt: Leipzig<br />
Das produzierende Gewerbe entscheidet über Sozialranking zwischen den<br />
drei Metropolen des Freistaates Von <strong>Die</strong>tmar Pellmann<br />
Auf einer Pressekonferenz am 5. März<br />
stellte der sozialpolitische Sprecher<br />
der Linksfraktion im Sächsischen Landtag,<br />
Dr. <strong>Die</strong>tmar Pellmann, seine Sozialvergleichsstudie<br />
zu den sächsischen<br />
Großstädten Chemnitz, Dresden und<br />
Leipzig vor.<br />
Das Ergebnis: <strong>Die</strong> Armutsquote ist<br />
stetig gewachsen und hat seit Hartz IV<br />
einen regelrechten Schub erhalten. Beträchtliche<br />
Unterschiede weist ein Sozialranking<br />
aus. Herangezogen wurden<br />
37 Positionen, die die soziale Lage unmittelbar<br />
oder mittelbar beeinfl ussen.<br />
Nach einer einfachen Punkteskala ist<br />
die Situation in Dresden mit 52 Punkten<br />
am günstigsten, gefolgt von Chemnitz<br />
mit 77 Punkten, während Leipzig einen<br />
Wert von 96 erreicht. Leipzig ist danach<br />
die Stadt mit der kompliziertesten<br />
sozialen Situation und kann »mit Fug<br />
und Recht als die sächsische Armutshauptstadt«<br />
bezeichnet werden.<br />
Würden allein die für Armut besonders<br />
entscheidenden Bereiche, wie Arbeitslosigkeit,<br />
Sozialhilfe oder Einkommen,<br />
berücksichtigt, wäre der Abstand<br />
zwischen Dresden und Leipzig noch<br />
größer. Betrug die Arbeitslosenquote<br />
im <strong>Ja</strong>hresdurchschnitt 2005 in Dresden<br />
16,4 Prozent, waren es in Chemnitz<br />
19,4 und in Leipzig 23,0 Prozent.<br />
Im August 2006 waren in Leipzig mehr<br />
als 86.000 Personen auf Arbeitslosengeld<br />
II oder Sozialgeld angewiesen; in<br />
Chemnitz waren es 34.298 und in Dresden<br />
60.769.<br />
DISPUT dokumentiert<br />
die Zusammenfassung der<br />
Pellmann-Studie:<br />
Erstens: <strong>Die</strong> zwischen den drei Städten<br />
ermittelte Reihenfolge kommt nicht<br />
überraschend, dürfte sich auch kaum<br />
ändern, wenn in den Vergleich weitere<br />
Bereiche einbezogen würden. Es verwundert<br />
auch nicht, dass Chemnitz<br />
vor Leipzig liegt, weil diese Stadt wesentlich<br />
früher auf die eigenen Stärken<br />
gesetzt und sich mehr als andere aus<br />
sich selbst heraus entwickelt hat. Es<br />
war auch klar, dass Dresden vor Leipzig<br />
liegen würde. Inzwischen bestätigen<br />
das auch andere Untersuchungen<br />
von anerkannten Wirtschaftsinstituten.<br />
Überraschen könnte lediglich der<br />
beträchtliche Abstand zwischen den<br />
SOZIAL<br />
beiden größten Städten des Freistaates.<br />
Im Alltagsbewusstsein vieler Menschen<br />
ergibt sich jedoch oft eine andere<br />
Wahrnehmung. So erlebt man immer<br />
wieder, dass Leipzig wesentlich positiver<br />
bewertet wird, als es sich eigentlich<br />
darstellt. <strong>Die</strong> Umkehrung trifft man<br />
oft in Dresden an. Und Chemnitz sieht<br />
sich meist weit hinter den anderen beiden<br />
Großstädten.<br />
Zweitens: <strong>Die</strong> drei sächsischen Ballungszentren<br />
haben ihr Profi l über die<br />
<strong>Ja</strong>hrhunderte unterschiedlich ausgeprägt.<br />
Während sich Dresden zu einem<br />
Zentrum der Repräsentation als Landeshauptstadt<br />
entwickelte, wurde<br />
Leipzig in bewusster Konkurrenz dazu<br />
zu einer eher weltoffenen und reichen<br />
Bürgerstadt. Chemnitz trat lange<br />
Zeit dahinter <strong>zur</strong>ück und blieb eher<br />
das »Schmuddelkind« aus der Optik<br />
der beiden Großen. <strong>Die</strong>s hat auch die<br />
Bürgerschaft der drei Metropolen beeinflusst<br />
und geprägt. Während der<br />
Zeit der DDR prägten sich dieser Unterschiede<br />
nicht weiter aus, verringerten<br />
sich sogar beträchtlich. Alle drei waren<br />
nun lediglich noch Hauptstädte eines<br />
Bezirkes, wiesen allerdings jeweils ein<br />
beträchtliches Wirtschaftspotenzial auf<br />
und hatten so im Wesentlichen gleiche<br />
Ausgangsbedingungen am Ende der<br />
achtziger <strong>Ja</strong>hre des vergangenen <strong>Ja</strong>hrhunderts.<br />
Drittens: Nach dem gesellschaftlichen<br />
Umbruch 1989/1990 gab es Bestrebungen,<br />
die zu DDR-Zeiten weitgehend verschüttete<br />
ursprüngliche Rolle wieder<br />
einzunehmen. Das gelang in Dresden,<br />
das erneut Landeshauptstadt wurde,<br />
am ehesten, wurde auch massiv unterstützt<br />
durch die unter Kurt Biedenkopf<br />
gebildete CDU-Regierung. So siedelte<br />
sich in Dresden nicht nur eine<br />
große Zahl von Staatsbediensteten an;<br />
die wichtigsten Stätten der Hochkultur<br />
wurden nunmehr durch den Freistaat<br />
gefördert, und die Technische Universität<br />
wurde <strong>zur</strong> zweiten sächsischen<br />
Volluniversität ausgebaut.<br />
Darüber hinaus erhielt Dresden den<br />
Großteil staatlicher Fördergelder, um<br />
sich als Standort moderner Technologie<br />
zu entwickeln.<br />
In Leipzig dagegen wurde ein anderer<br />
Weg beschritten. Bewusst vernach-<br />
lässigt wurden die vorhandenen Industriestandorte<br />
in der Annahme, die vor<br />
dem Zweiten Weltkrieg vorhandene<br />
deutschlandweite Bedeutung als Messe-,<br />
<strong>Die</strong>nstleistungs-, Buch- und Finanzmetropole<br />
wieder erlangen zu können.<br />
Das war mit gewaltigem Mitteleinsatz<br />
für Großprojekte der Infrastruktur verbunden,<br />
die so kaum in Bereiche produktiver<br />
Wertschöpfung fl ossen. Das<br />
führte zum Verlust von Arbeitsplätzen<br />
im produzierenden Gewerbe, der<br />
durch den <strong>Die</strong>nstleistungssektor auch<br />
nicht annähernd kompensiert werden<br />
konnte.<br />
<strong>Die</strong> seit Anfang des laufenden <strong>Ja</strong>hrzehntes<br />
einsetzenden industriellen<br />
Neuansiedlungen, vor allem in der Automobilbranche,<br />
konnten diesen Substanzverlust<br />
in keiner Weise ausgleichen,<br />
zumal gewaltige Millionensummen aus<br />
dem Stadthaushalt aufgewendet wurden,<br />
um diese Neuansiedlungen unter<br />
Dach und Fach zu bekommen.<br />
Chemnitz, das von staatlichen Fördermitteln<br />
am wenigsten profitierte,<br />
besann sich auf die eigenen Stärken,<br />
kämpfte viel mehr als Leipzig um den<br />
Erhalt industrieller Kerne, die später<br />
die Ausgangsbasis für das Wachstum<br />
des produktiven Sektors bildeten. Bewusst<br />
wurde lange <strong>Ja</strong>hre eine gewisse<br />
Vernachlässigung der städtischen Infrastruktur<br />
in Kauf genommen.<br />
Viertens: Entscheidendes Kriterium<br />
für die soziale Situation einer Stadt ist<br />
die wirtschaftliche Stärke und die davon<br />
abgeleitete Lage auf dem Arbeitsmarkt.<br />
Sowohl beim Anteil sozialversicherungspflichtig<br />
Beschäftigter als<br />
auch bei der Arbeitslosenquote hat<br />
Dresden die mit Abstand günstigsten<br />
Werte, vor Chemnitz und weit vor Leipzig.<br />
<strong>Die</strong>ser Trend hat sich seit Inkrafttreten<br />
von Hartz IV noch verstärkt, weil<br />
Leipzig die mit Abstand höchste Zahl<br />
von ehemaligen Beziehern von Arbeitslosen-<br />
oder Sozialhilfe hatte. Auch bei<br />
der Inanspruchnahme von Wohngeld<br />
sowie Grundsicherung im Alter und bei<br />
Erwerbsminderung weist Leipzig die<br />
höchste Rate auf.<br />
Fünftens: <strong>Die</strong> Betrachtung der Einkommensverhältnisse<br />
der Privathaushalte<br />
weist aus, dass der Anteil derer mit besonders<br />
niedrigem Einkommen in Leip-<br />
DISPUT März 2007 038
Klaus Stuttmann<br />
zig am höchsten ist, während Dresden<br />
und Chemnitz fast gleichauf liegen.<br />
Daran lässt sich auch am ehesten die<br />
Zahl der Personen ableiten, die als arm<br />
gelten. <strong>Die</strong> Armutsrate ist in Leipzig<br />
mit Abstand am höchsten und dürfte,<br />
je nach Defi nition, zwischen 20 und 25<br />
Prozent der Gesamtbevölkerung liegen.<br />
Deshalb ist es durchaus berechtigt, von<br />
Leipzig als der sächsischen Armutshauptstadt<br />
zu sprechen. Dresden liegt<br />
schließlich beim Anteil der Besserverdienenden<br />
weit vor Chemnitz und Leipzig.<br />
Mittelfristig dürfte sich an der Differenziertheit<br />
der Einkommensverhältnisse<br />
zwischen den drei Städten kaum<br />
etwas ändern. Es steht sogar eher zu<br />
erwarten, dass Leipzig im Vergleich zu<br />
Dresden noch weiter <strong>zur</strong>ückfällt, weil<br />
durch die hier seit vielen <strong>Ja</strong>hren höhere<br />
Langzeitarbeitslosigkeit eher Altersarmut<br />
als Massenerscheinung auftreten<br />
wird.<br />
Sechstens: <strong>Die</strong> Möglichkeiten der Armutsbekämpfung<br />
durch den Einsatz fi -<br />
nanzieller Mittel der Kommunen sind<br />
in Leipzig weit geringer als in Chem-<br />
390 DISPUT März 2007<br />
nitz oder Dresden. In erster Linie liegt<br />
das am höheren Schuldenstand der<br />
Messestadt und am wesentlich niedrigeren<br />
Steueraufkommen gegenüber<br />
Chemnitz und noch mehr gegenüber<br />
Dresden. Leipzig befindet sich<br />
hier mehr und mehr in einem Teufelskreis.<br />
<strong>Die</strong> Stadt verfügt nicht nur über<br />
den geringsten fi nanziellen Spielraum,<br />
sondern muss überdies noch wesentlich<br />
höhere Sozialausgaben schultern.<br />
Deshalb ist schon lange ein Soziallastenausgleich<br />
im Rahmen des Freistaates<br />
Sachsen zu Gunsten von Leipzig geboten,<br />
zumal eine Kommune faktisch<br />
kaum Einfl uss auf Sozialausgaben hat,<br />
weil es sich hierbei um gesetzlich fi -<br />
xierte Rechtsansprüche der Hilfebedürftigen<br />
handelt.<br />
Siebentens: Für die Frage, ob die Einwohnerzahl<br />
einer Stadt wächst oder <strong>zur</strong>ückgeht,<br />
ist nicht nur die objektive soziale<br />
Situation verantwortlich. Weitere<br />
Faktoren wie Jugend- oder Altersquote<br />
sowie kulturelle Angebote oder Betreuungsmöglichkeiten<br />
in Kindertagesstätten<br />
sind ebenso wichtig. Nachdem<br />
GEDANKENSTRICH<br />
die Einwohnerzahl nach 1989 in allen<br />
drei Großstädten, wenn auch in unterschiedlichem<br />
Ausmaß, <strong>zur</strong>ückging,<br />
steigt sie seit einigen <strong>Ja</strong>hren in Dresden<br />
und Leipzig wieder an. In Chemnitz hat<br />
sich der Rückgang zwar verlangsamt,<br />
ist aber noch nicht gestoppt. War der<br />
Abstand zwischen Leipzig und Dresden<br />
am Anfang der neunziger <strong>Ja</strong>hre noch<br />
beträchtlich, dürfte die Landeshauptstadt<br />
vielleicht noch im laufenden <strong>Ja</strong>hr<br />
die Messestadt als größte sächsische<br />
Metropole ablösen. In erster Linie liegt<br />
das an der höheren Geburtenzahl, an<br />
einer geringeren Sterberate und nicht<br />
zuletzt auch an größeren Wanderungsgewinnen.<br />
Wahrscheinlich hätte Dresden<br />
Leipzig schon überholt, wenn es in<br />
der Messestadt nicht ein besseres Betreuungsangebot<br />
für Kinder geben würde.<br />
Ob Leipzig diesen Vorsprung allerdings<br />
halten kann, bleibt angesichts<br />
der wesentlich angespannteren Haushaltslage<br />
fraglich.<br />
www.sozialisten.de
Selbstbefragung<br />
Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf wird eine Mitgliederbefragung organisiert.<br />
Über Absichten, Ansichten und Aussichten Von Rainer Ferchland<br />
Ausgangspunkt war die enttäuschende<br />
Wahlbilanz: In unserem Bezirk Marzahn-Hellersdorf<br />
musste die <strong>Linkspartei</strong><br />
am 17. September 2006 den Verlust<br />
der absoluten Mehrheit in der Bezirksverordnetenversammlung<br />
und – wie<br />
in Berlin insgesamt – fast eine Halbierung<br />
der Zahl der Zweitstimmen für<br />
das Abgeordnetenhaus (im Vergleich<br />
zu 2001) verkraften. Dabei kamen wir<br />
noch einmal (?) mit einem blauen Auge<br />
davon. <strong>Die</strong> <strong>Linkspartei</strong> blieb im Bezirk<br />
die stärkste Partei, und mit Bürgermeisterin<br />
Dagmar Pohle wurde erneut<br />
ein <strong>Linkspartei</strong>-Mitglied an die Spitze<br />
des Bezirks gewählt. Ähnlich war es<br />
in Lichtenberg. Beide Bezirke haben<br />
in diesem Sinne ihren Ruf als die Berliner<br />
Hochburgen der <strong>Linkspartei</strong> behauptet.<br />
Aber werden wir diese Position auch<br />
künftig verteidigen können? <strong>Die</strong> Wählerinnen<br />
und Wähler haben uns eine<br />
deutliche Warnung ausgesprochen.<br />
Doch worauf bezieht sich diese Warnung?<br />
Wodurch kann die <strong>Linkspartei</strong><br />
Wählervertrauen <strong>zur</strong>ückgewinnen?<br />
Schnelle Erklärungen und Schlussfolgerungen<br />
waren rasch <strong>zur</strong> Hand – erwiesen<br />
sich indes zumeist als spekulativ<br />
und wenig fundiert. <strong>Die</strong> Wahlergebnisse<br />
müssen gründlich analysiert<br />
werden. Darüber hinaus kommt es darauf<br />
an, möglichst alle Genossinnen<br />
und Genossen zu einem kritischen<br />
und selbstkritischen Nachdenken über<br />
die Perspektiven unseres Bezirksverbandes<br />
zu animieren, die Ergebnisse<br />
dieser Denkarbeit zusammenzuführen<br />
und gemeinsam zu erörtern – um dann<br />
notwendige Entscheidungen treffen zu<br />
können.<br />
Eine schriftliche Befragung aller<br />
Mitglieder unserer Bezirksorganisation<br />
schien uns dazu der geeignete Weg<br />
zu sein. Das Projekt sollte »mit den eigenen<br />
Leuten« bewerkstelligt werden.<br />
Nicht nur wegen der Kosten, sondern<br />
vor allem auch, weil wir so ein größeres<br />
Vertrauen der Mitglieder und eine<br />
höhere Bereitschaft, sich in einer Befragung<br />
zu offenbaren, erwarten konnten.<br />
An qualifi zierten und in der wissenschaftlichen<br />
Arbeit erfahrenen Genossinnen<br />
und Genossen für eine solche<br />
Aufgabe fehlt es bei uns nicht. Schnell<br />
und in engem Kontakt mit dem Bezirksvorstand<br />
konstituierte sich eine »Pro-<br />
ANALYSE<br />
jektgruppe Analyse«. Das Hauptvorhaben<br />
Mitgliederbefragung wird – jeweils<br />
in der Regie der Projektgruppe – fl ankiert<br />
durch eine Wahlanalyse und durch<br />
Expertengespräche. Zusätzliche Impulse<br />
erwarten wir aus einer Studie zu Tendenzen<br />
und Perspektiven der sozialdemografischen<br />
und sozialräumlichen<br />
Entwicklung des Bezirks, die hoffentlich<br />
von der Rosa-Luxemburg-Stiftung<br />
unterstützt und Ende des <strong>Ja</strong>hres vorliegen<br />
wird.<br />
<strong>Die</strong> Wahlanalyse ist seit längerem<br />
fertiggestellt: eine den Basisorganisationen<br />
zugängliche stadtteil- und wahlbezirkskonkrete<br />
Bewertung sowie »straßengenaue«<br />
Aufbereitung der Wahlergebnisse.<br />
In Ergänzung der Befragung<br />
sollen die »Expertengespräche« mit<br />
politisch Verantwortlichen des Bezirks<br />
(nicht allein der <strong>Linkspartei</strong>) konzipiert<br />
und realisiert werden.<br />
Ende Februar wurde die Befragung<br />
der mehr als 1.100 Parteimitglieder<br />
gestartet. Um die Anonymität der Befragten<br />
zu sichern, erfolgt der Rücklauf<br />
ausschließlich auf dem Postweg.<br />
Eine Testbefragung mit etwa 40 Befragten<br />
verlief ermutigend und vermittelte<br />
wichtige Hinweise <strong>zur</strong> Verbesserung<br />
der Fragestellungen. Ca. 85 Prozent<br />
der Fragebogen wurden ausgefüllt<br />
<strong>zur</strong>ückgesandt.<br />
In der jetzigen Phase der Befragung<br />
lässt sich natürlich noch nichts über<br />
den Erfolg und die Ergebnisse sagen.<br />
Hier geht es darum, einige Grundsätze<br />
unseres Herangehens darzustellen und<br />
so vielleicht Anregungen und kritisches<br />
Hinterfragen auszulösen.<br />
Das Gesamtprojekt mit den genannten<br />
Bestandteilen steht unter einer<br />
zentralen Frage: Marzahn-Hellersdorf<br />
– auch künftig ein »roter« Bezirk?<br />
Wie kann sich die Bezirksorganisation<br />
der <strong>Linkspartei</strong> für diese Aufgabe besser<br />
rüsten?<br />
Das Ganze muss schließlich zu Empfehlungen<br />
und Schlussfolgerungen führen,<br />
die auf<br />
■ ■ höhere praktische Wirksamkeit<br />
der Partei als linke Kraft im gesellschaftlichen<br />
Leben des Bezirks,<br />
■ ■ stärkere politische Resonanz der<br />
<strong>Linkspartei</strong> und<br />
■ ■ die Verbesserung der dazu nötigen<br />
innerparteilichen Voraussetzungen<br />
zielen.<br />
Allerdings übersteigt die Erarbeitung<br />
und vor allem die Entscheidung dieser<br />
Schlussfolgerungen die Möglichkeiten<br />
und auch die Kompetenzen der Projektgruppe.<br />
Ihre Aufgabe bestand bzw. besteht<br />
darin, die Mitgliederbefragung,<br />
die Wahlanalyse und die Expertengespräche<br />
gut vorzubereiten, durchzuführen<br />
und auszuwerten. Dabei ist natürlich<br />
die aktive Mitwirkung vieler Genossinnen<br />
und Genossen – beispielsweise<br />
beim Erfassen der Daten von<br />
Hunderten Fragebogen – unerlässlich.<br />
Bestandteil der Auswertung sind die Interpretation<br />
und Wertung der Befunde<br />
und das Aufzeigen von Handlungsbedarf.<br />
Spätestens hier setzt erneut die Verantwortung<br />
der Gesamtmitgliedschaft<br />
und der gewählten Gremien des Bezirksverbands<br />
ein. Es gilt, die Ergebnisse<br />
der Befragung in einer offenen<br />
und kritischen Atmosphäre und in<br />
einem organisierten Prozess gemeinsam<br />
zu diskutieren. Kontroversen müssen<br />
dabei verantwortungsvoll ausgetragen<br />
werden. Denn wenn auch zum Beispiel<br />
durch die Befragung Positionen<br />
von Mehrheiten und Minderheiten<br />
deutlich werden – ist damit schon klar,<br />
welche Auffassung die bessere/richtigere<br />
ist? Und wie gehen wir mit einem<br />
Patt um, also mit dem möglichen Ergebnis,<br />
dass die Meinung unserer Mitgliedschaft<br />
in einer oder mehreren Fragen<br />
gespalten ist?<br />
Unser Analyseprojekt ist zugleich<br />
Ausdruck und Bewährungsprobe der<br />
innerparteilichen Demokratie: <strong>Die</strong> Befragung<br />
zeigt, wie wichtig die Meinung<br />
jedes Parteimitglieds ist. <strong>Die</strong> aktive<br />
Mitwirkung der Mitglieder an der Meinungsbildung,<br />
der breite Diskurs über<br />
Ergebnisse und Folgerungen in Basisorganisationen,Bildungsveranstaltungen,<br />
im Vorstand und in Hauptversammlungen,<br />
der schließlich und endlich<br />
zu Beschlüssen und praktischen<br />
Veränderungen führen muss, ist praktizierte<br />
Demokratie.<br />
In diesem Zusammenhang folgen einige<br />
Bemerkungen – aus meiner Sicht<br />
– zum Verhältnis von Bezirksvorstand<br />
und Projektgruppe sowie <strong>zur</strong> spezifi<br />
schen Verantwortung beider Gremien<br />
am Beispiel der Befragung. Ausschlaggebender<br />
Initiator des Projekts ist zweifellos<br />
der Bezirksvorstand. Er erteil-<br />
DISPUT März 2007 040
te den Auftrag, eine Befragung durchzuführen,<br />
er unterstützt das Vorhaben<br />
in personeller, organisatorischer, technischer<br />
und fi nanzieller Hinsicht (so<br />
sind die Portokosten erheblich), organisiert,<br />
moderiert und leitet die innerparteilichen<br />
Debatten über die Ergebnisse,<br />
Wertungen und Schlussfolgerungen<br />
der Befragung. Der Vorstand<br />
positioniert sich (spätestens) am Ende<br />
dieses Prozesses schließlich selbst<br />
durch Beschlüsse bzw. durch die Vorbereitung<br />
von Beschlussvorlagen für<br />
die Hauptversammlung des Bezirksverbandes.<br />
Ein Mitglied der Projektgruppe<br />
gehört auch dem Vorstand an.<br />
Mit dem Auftrag an die Projektgruppe<br />
erbringt der Vorstand einen großen<br />
Vertrauensvorschuss. Denn die Projektgruppe<br />
muss die Untersuchung weitgehend<br />
autonom konzipieren, gestalten<br />
und auswerten. Unabhängigkeit und<br />
Objektivität sind berechtigte und unerlässliche<br />
Anforderungen an die Arbeit<br />
der Analysegruppe. Der Vorstand<br />
ist also nicht für die inhaltliche Gestaltung,<br />
den methodischen Aufbau, die<br />
Qualität der Aufbereitung der Befragung<br />
und den sachlichen Gehalt der<br />
Befunde verantwortlich. Er verzichtet<br />
deshalb auf inhaltliche Eingriffe in den<br />
Analyse- und Aufbereitungsprozess,<br />
auch weil jeder Eindruck eines »Gefälligkeitsgutachtens«<br />
strikt vermieden<br />
werden muss. Zum anderen bewahrt<br />
sich der Vorstand so die Möglichkeit<br />
für den unvoreingenommenen und kritischen<br />
Umgang mit den Ergebnissen<br />
der Befragung.<br />
Autonomie der Projektgruppe bedeutet<br />
keineswegs eine autokratische<br />
Arbeitsweise. Im Gegenteil! In die Vorbereitung<br />
der Befragung waren viele<br />
Genossinnen und Genossen einbezogen.<br />
Entwürfe des Fragebogens wurden<br />
Mitgliedern des Bezirksvorstands,<br />
Abgeordneten und anderen Verantwortlichen<br />
mit der Bitte übermittelt,<br />
410 DISPUT März 2007<br />
Vorschläge und Hinweise <strong>zur</strong> Verbesserung<br />
einzubringen – allerdings mit<br />
magerer Resonanz. In einzelnen Basisorganisationen<br />
stellten Projektgruppenmitglieder<br />
den Fragebogen <strong>zur</strong> Diskussion.<br />
<strong>Die</strong> Testbefragung erfasste<br />
auch die Meinung der Befragten zum<br />
Inhalt und <strong>zur</strong> Gestaltung des Fragebogens<br />
sowie Vorschläge für ergänzende<br />
Fragestellungen. Wertvolle Hinweise<br />
verdanken wir Konsultationen mit verschiedenen<br />
Sozialwissenschaftlern.<br />
Wie aber steht es um die Unabhängigkeit<br />
und Objektivität der Projektgruppe?<br />
Immerhin besteht sie ausnahmslos<br />
aus erfahrenen, in vielen Funktionen<br />
erprobten und der <strong>Linkspartei</strong> eng verbundenen<br />
Parteimitgliedern. Wichtig<br />
ist, dass wir uns dieses Problems bewusst<br />
sind und den Arbeitsprozess kollektiv,<br />
kritisch und in strenger Selbstevaluation<br />
organisieren. Insbesondere<br />
bei prekären Befunden ist die Situation<br />
wohl ein bisschen vergleichbar mit<br />
der des Arztes, der Familienangehörige<br />
untersucht: Mitgefühl bei der Diagnose<br />
krankhafter Symptome, ohne sie<br />
zu ignorieren; Mitleiden bei schmerzhafter,<br />
aber notwendiger Therapie, ohne<br />
sie zu unterlassen.<br />
<strong>Die</strong> Projektgruppe versteht sich als<br />
Arbeitsgremium, in der jedes Mitglied<br />
»seinen« aktiven Beitrag leistet – nicht<br />
nur in den Debatten, sondern auch bei<br />
der konkreten inhaltlichen Arbeit. Für<br />
die Auswertung der Befragung wird eine<br />
Arbeitsteilung vereinbart, wonach<br />
jeweils zwei Projektgruppenmitglieder<br />
bestimmte Themen gemeinsam bearbeiten.<br />
<strong>Die</strong> auszuarbeitenden Dokumente<br />
sollen den gemeinsamen Standpunkt<br />
der Projektgruppe zum Ausdruck<br />
bringen. Falls wir zu keiner gemeinsamen<br />
Auffassung gelangen, werden<br />
Mehrheiten- und Minderheiten-Aussagen<br />
gesondert ausgewiesen, sofern<br />
nicht auf die Darstellung des betreffenden<br />
Sachgebiets verzichtet wird.<br />
Spätestens im Mai 2007 wird die<br />
Projektgruppe einen Auswertungsbericht<br />
vorlegen, der dann Gegenstand<br />
kritischer Diskussionen im Bezirksverband<br />
sein sollte.<br />
<strong>Die</strong> folgenden übergreifenden Fragen<br />
und Schwerpunkte des Gesamtprojekts<br />
werden von keinem der Teilprojekte<br />
– also weder von der Wahlanalyse,<br />
der Befragung, den Expertengesprächen<br />
noch von der Sozialstudie<br />
– für sich genommen befriedigend zu<br />
beantworten sein. Wir hoffen aber,<br />
dass wir als Gesamtbilanz dieser Vorhaben<br />
und der damit ausgelösten Diskurse<br />
im Bezirksverband den Antworten<br />
ein gutes Stück näher kommen und<br />
klüger sein werden »als wie zuvor«.<br />
■ ■ Wie nutzt die <strong>Linkspartei</strong> ihren<br />
großen politischen Einfl uss, um im Bezirk<br />
reale Verbesserungen der Lebensqualität<br />
im Sinne höherer sozialer Gerechtigkeit<br />
bzw. geringerer sozialer Ungerechtigkeit<br />
durchzusetzen? Welche<br />
Chancen existieren dafür überhaupt?<br />
■ ■ Was sind die Ursachen für die<br />
Stimmenverluste? Welche Voraussetzungen<br />
sind nötig für bessere Wahlergebnisse?<br />
■ ■ Wie ist das Meinungsbild <strong>zur</strong><br />
<strong>Linkspartei</strong> im Bezirk? Welche Bevölkerungsgruppen<br />
erweisen sich ihr gegenüber<br />
als besonders reserviert bzw.<br />
besonders verbunden und warum?<br />
■ ■ Welche Entwicklungstendenzen<br />
zeigt das Aktivitätsprofil der Mitglieder?<br />
■ ■ Wie ist die sozial-demografi sche<br />
Struktur des Bezirksverbandes? Welche<br />
Schlussfolgerungen ergeben sich<br />
daraus a) für die innerparteiliche Organisations-<br />
und Kommunikationsstruktur,<br />
b) für die Öffentlichkeitsarbeit und<br />
c) für die Mitgliedergewinnung?<br />
■ ■ Braucht die <strong>Linkspartei</strong> in Marzahn-Hellersdorf<br />
eine sozial und räumlich<br />
differenzierte Öffentlichkeitsarbeit?<br />
Welchen Anforderungen sollte<br />
sie genügen?<br />
■ ■ Wie wird sich die sozial-demografi<br />
sche und sozialräumliche Situation<br />
im Bezirk voraussichtlich verändern?<br />
Welche Anforderungen ergeben sich<br />
daraus für eine sozial gerechte und solidarische<br />
Kommunalpolitik?<br />
■ ■ Wie positionieren sich die Mitglieder<br />
des Bezirksverbands <strong>zur</strong> politischen<br />
und sozialen Orientierung und<br />
Wirksamkeit der <strong>Linkspartei</strong>.PDS auf<br />
Bundes-, Landes- und Bezirksebene?<br />
Am Ende des Prozesses jedenfalls<br />
wird die Projektgruppe ihre Arbeit mit<br />
einem Resümee abschließen, indem<br />
sie zu diesen Fragen Stellung bezieht.<br />
Dr. Rainer Ferchland leitet die neunköpfi<br />
ge ehrenamtliche Projektgruppe
Das Ungewisse vorbereiten<br />
Mecklenburg-Vorpommerns <strong>Linkspartei</strong>.PDS bereitet sich auf den G8-Gipfel vor und<br />
muss ohne sichere Erkenntnisse arbeiten Von Steffen Bockhahn<br />
Vom 6. bis 8. Juni 2007 wird der G8-<br />
Gipfel in Heiligendamm stattfinden.<br />
<strong>Die</strong> »Weiße Stadt am Meer« liegt etwa<br />
25 Kilometer von Rostock entfernt und<br />
wird gegenwärtig von einem 12 Millionen<br />
Euro teuren Zaun umschlossen.<br />
<strong>Die</strong> großen Acht scheinen Angst vor der<br />
Öffentlichkeit zu haben, was dem Unternehmer<br />
aus Bargeshagen, der den<br />
Zaun baut, durchaus freuen kann. Er<br />
hat den Auftrag gegen harte internationale<br />
Konkurrenz bekommen. Für die regionalen<br />
Medien ein Grund, den Mann<br />
immer wieder zu porträtieren. Er gilt als<br />
Vorzeigetyp eines mecklenburgischen<br />
Unternehmers, der sich auf dem Weltmarkt<br />
durchsetzen konnte. Dass er<br />
wohl deutlich unter Tarif zahlt und Subunternehmen<br />
einbindet, die noch deutlicher<br />
unter Tarif zahlen, das schreibt irgendwie<br />
keiner.<br />
Auch nicht, dass der Name der verantwortlichen<br />
Polizeisondereinheit<br />
bloß mit einem speziellen Humor oder<br />
mit Ignoranz als glücklich gewählt betrachtet<br />
werden kann. »Kavala« nennt<br />
sich die Einheit. Kleiner Exkurs in die<br />
Geschichte: <strong>Die</strong> christliche Stadt in<br />
Griechenland wurde Anfang des 15.<br />
<strong>Ja</strong>hrhunderts von den Türken eingenommen<br />
und völlig zerstört. <strong>Die</strong> Christen<br />
errichteten sie wieder, sie befestigt<br />
Kavala massiv (bauten also so etwas<br />
wie einen Zaun, der bei der Polizei offi<br />
ziell nur »technische Sperre« genannt<br />
wird). <strong>Die</strong> islamischen Ottomanen versuchten,<br />
die Stadt abermals einzunehmen.<br />
Aber die 12.000 Mann starke Kavallerie<br />
der Angreifer konnte von den<br />
tapferen Kriegern der christlichen Stadt<br />
in die Flucht geschlagen werden.<br />
Wer ist im Juni böser Aggressor und<br />
wer guter Verteidiger? Ist das die Einstellung<br />
der Bundesregierung und der<br />
Sicherheitsbehörden gegenüber Menschen,<br />
die ihr demokratisches Recht<br />
auf freie Meinung und auf Versammlungsfreiheit<br />
wahrnehmen wollen?<br />
<strong>Die</strong> Kanzlerin meinte zum Ende des<br />
Gipfels in St. Petersburg im vorigen <strong>Ja</strong>hr<br />
sinngemäß, sie könne sich keinen Gipfel<br />
ohne Protest vorstellen, und das sei<br />
ja auch demokratisch. Wollte sie damit<br />
nur Putin ärgern, der alles, was nach<br />
Protest aussah, brutal unterbinden ließ,<br />
oder war es ihre Überzeugung?<br />
Wie auch immer – klar ist, ab 2. Juni<br />
wird in Rostock und Umgebung protes-<br />
ALTERNATIV<br />
tiert. Gegen den G8-Gipfel, gegen die<br />
neoliberale Globalisierung, gegen Militarismus.<br />
Mehr als 100.000 Menschen<br />
werden erwartet.<br />
Vielen Mecklenburgern scheint das<br />
Angst zu machen. Sie können sich keinen<br />
eigenen Zaun leisten. Man hört immer<br />
wieder: »<strong>Die</strong>se Chaoten sollen zu<br />
Hause bleiben. <strong>Die</strong> wollen doch nur Unruhe<br />
stiften und hier alles in Schutt und<br />
Asche legen!«<br />
Auf einer Mitgliederversammlung<br />
empörte sich ein Genosse darüber,<br />
dass eine der Demonstrationsrouten<br />
durch die Südstadt führen soll. Dann<br />
könne er sich ja gleich eine neue Wohnung<br />
suchen. Er wisse schon, wie das<br />
hinterher aussieht. Und wer bezahlt eigentlich<br />
die Beseitigung des ganzen<br />
Mülls? <strong>Die</strong> Frage ist schon erstaunlich.<br />
Denn kurz zuvor hatte er vom Referenten<br />
gehört, dass der Gipfel mehr als<br />
200 Millionen Euro kosten wird. Für drei<br />
Tage. Das entspricht in etwa der Verschuldung<br />
von Rostock. Darüber hatte<br />
sich der Genosse nicht erregt. Danach,<br />
woher das Geld für den Gipfel kommt,<br />
hatte er nicht gefragt. Und auch nicht<br />
darüber geklagt, dass solche Summen<br />
für acht Staatschefs <strong>zur</strong> Verfügung stehen,<br />
für das protestierende Volk aber<br />
kein Cent an die »betroffenen« Kommunen<br />
überwiesen wird. Mit Ausnahme<br />
der Gelder, die für die Sicherheit<br />
nötig sind, also für die Sicherheit der<br />
ängstlichen Staatschefs.<br />
Mit diesen Sorgen und mit der Frage,<br />
wo die tausenden Menschen nächtigen<br />
sollen, haben es die Kommunalvertreter<br />
der <strong>Linkspartei</strong> in diesen Wochen<br />
zu tun. Zum einen sagt die Polizei<br />
nicht, wie weit sie ihr Sperrgebiet<br />
um Heiligendamm ziehen will, zum anderen<br />
wollen Landrat und Oberbürgermeister<br />
noch nicht einsehen, dass es<br />
auch aus Sicherheitsgründen sinnvoll<br />
wäre, diese Fragen einvernehmlich mit<br />
den Organisatoren des Protests zu klären.<br />
Viele Gespräche werden in diesen<br />
Tagen geführt. Doch die Bretter, die zu<br />
bohren sind, kann man nicht als dünn<br />
bezeichnen.<br />
Und dann sind da noch die Alternativen,<br />
die man anbieten möchte. <strong>Die</strong><br />
<strong>Linke</strong> ist nicht nur »dagegen«. <strong>Die</strong> linke<br />
Welt ist gerecht und fair. Aber auch<br />
das muss gesagt werden, und zuerst<br />
den eigenen Mitgliedern. Aus diesem<br />
Grund sind derzeit einige Genossen<br />
wie Wanderprediger im Land unterwegs<br />
und berichten über die Entstehung<br />
der G8. Sie erklären, warum dieser<br />
Club illegitim und warum die UNO<br />
die reformbedürftige, aber einzig sinnvolle<br />
Alternative ist. Und sie predigen<br />
immer wieder, dass man es nicht zulassen<br />
darf, dass der Protest auf die Gewaltfrage<br />
reduziert wird.<br />
Wer sich die beteiligten Organisationen<br />
anschaut, kommt selbst darauf.<br />
Neben der <strong>Linke</strong>n rufen Gewerkschaften,<br />
Kirchenvertreter und jede<br />
Menge durchaus auch konservativer<br />
nichtstaatlicher Organisationen zu Protesten<br />
auf.<br />
Kommt in den Nordosten!<br />
Es wird verschiedenste Formen der<br />
Auseinandersetzung mit den G8 geben,<br />
an erster Stelle die Demonstration am<br />
2. Juni. Hunderte Busse müssen in die<br />
Stadt kommen mit Zehntausenden, die<br />
auf die Straße gehen und sich für eine<br />
gerechte und friedliche Welt stark machen.<br />
So können sie für einen grandiosen<br />
Start der Aktionswoche sorgen.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Linke</strong> in Mecklenburg-Vorpommern<br />
mobilisiert seit Wochen dafür und hofft,<br />
dass viele Landesverbände mit großer<br />
Beteiligung <strong>zur</strong> Unterstützung in den<br />
Nordosten kommen werden.<br />
Ein Schwerpunkt werden darüber<br />
hinaus die Veranstaltungen des Alternativgipfels<br />
sein. Dort werden sich Landesarbeitsgemeinschaften<br />
einbringen<br />
und gemeinsam mit Partnern konkrete<br />
Alternativen zum gegenwärtigen System<br />
aufzeigen.<br />
Klar ist: Es bleibt noch eine Menge<br />
Arbeit, damit Mitgliedschaft und Bevölkerung<br />
ihre Angst verlieren und es eine<br />
mächtige Demonstration gegen die<br />
selbst ernannte Weltregierung werden<br />
kann. Klar ist aber auch: <strong>Die</strong> Mecklenburger<br />
Genossinnen und Genossen<br />
sind stur genug, um dafür mit aller Kraft<br />
zu arbeiten. Von den Ergebnissen überzeugen<br />
können sich dann alle ab 2. Juni<br />
in Rostock und Umgebung. Wie die<br />
aussehen werden, ist aber noch ungewiss.<br />
Steffen Bockhahn ist stellvertretender<br />
Landesvorsitzender der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
Mecklenburg-Vorpommern<br />
DISPUT März 2007 042
NACHBELICHTET<br />
Von Arthur Paul ■ ■ Fremde können<br />
nicht ahnen, was hier zu sehen ist. Vielleicht<br />
eine Imbissbude <strong>zur</strong> Baustellenversorgung,<br />
irgendwo in Deutschland?<br />
Ist es aber nicht! Im Hintergrund sieht<br />
man die Reste vom Palast der Republik<br />
in Berlin. Der befi ndet sich im »Rückbau«<br />
– wie ein Großteil von Ostdeutschland.<br />
Abriss wäre deutlicher, aber zu<br />
deutlich. Da war Asbest zum Brandschutz<br />
eingebaut, wie es in jenen <strong>Ja</strong>hren<br />
international üblich war. Das war zu<br />
beheben. Aber beheben hieße bewahren,<br />
und das durfte nicht sein! Ein »Palast<br />
des Volkes« in einer Gesellschaft,<br />
wo die Paläste den Mächtigen gehören,<br />
den Banken, Versicherungen, Leuteschindern,<br />
Steuerschwindlern und ih-<br />
430 DISPUT März 2007<br />
ren Handlangern in den Amtsstuben?<br />
Das geht nicht!<br />
Es gab eine Zeit, da spiegelte sich<br />
die Sonne in der Glasfassade des Palastes,<br />
da strahlte der weiße Marmor,<br />
da summte es in dem Haus wie in<br />
einem Bienenkorb. Da gab es drinnen<br />
13 Restaurants, Espressos und Bars<br />
mit 1.494 Plätzen und 322 Terrassenplätze<br />
vor der Tür. Da lud das große Café<br />
mit 294 Plätzen ein. Da gab es die<br />
Milchbar, die Mokkabar, die Spreeklause,<br />
die Bierstube, die Weinstube,<br />
die Diskothek, acht Bowlingbahnen,<br />
den großen Saal mit 5.000 Plätzen, 12<br />
Kassen für den Kartenverkauf, ein Postamt,<br />
Souvenirläden und Speisekarten,<br />
wo einem beim Anblick der damaligen<br />
Preise heutzutage die Augen tränen<br />
würden. Ganz klar: Das Ding musste<br />
weg! Und weil manche das immer noch<br />
nicht glauben wollen, wurde die Baustelle<br />
<strong>zur</strong> Schaustelle.<br />
<strong>Die</strong> Imbissbude reicht Thüringer<br />
Bratwürste rum. <strong>Die</strong> kommen vermutlich<br />
aus Bayern. Kann sein, da ist eine<br />
Prise Gammelfl eisch drin, aber wie soll<br />
man denn sonst mit den Preisen konkurrieren,<br />
die jedem an dieser Stelle<br />
einfallen?<br />
Nein, meine Herren Stadtplaner, die<br />
Sie nun vom Kaiserschloss träumen, so<br />
löblich ihre Rettung der Karl-Marx-Allee<br />
im Namen des Denkmalschutzes ist, so<br />
schändlich ist Ihre Tilgung des Volkspalastes!<br />
© Erich Wehnert
BRIEFE<br />
zustimmend<br />
Es wird immer dringlicher, dass der<br />
Handlungsspielraum der Kommunen<br />
in Ost wie West unseres Landes umfassender<br />
wird. <strong>Die</strong> kommunale Selbstverwaltung<br />
muss auf die Gewährleistung<br />
politischer, wirtschaftlicher, sozialer,<br />
juristischer und fi nanzieller Freiheiten<br />
ausgerichtet sein. So werden Kommunen<br />
wieder in die Lage versetzt, die<br />
Teilhabe ihrer Einwohnerinnen und Einwohner<br />
am gesellschaftlichen Leben<br />
besser als derzeit zu gewährleisten.<br />
<strong>Die</strong> Mitglieder der AG Kommunalpolitik<br />
und parlamentarische Arbeit diskutierten<br />
diese Probleme am 3. Februar<br />
– kurz vor Antragsschluss zu den<br />
Gründungsdokumenten. Positiv bewertet<br />
wurde, dass Empfehlungen von Mitgliedern<br />
unserer AG zu Ergänzungen<br />
bzw. Präzisierungen im Verlaufe der<br />
Diskussion zu den anfänglich vorgelegten<br />
»Programmatischen Eckpunkten«<br />
Beachtung gefunden haben. <strong>Die</strong><br />
Kommunalpolitischen Leitlinien, die<br />
auf dem Dresdener Parteitag der <strong>Linkspartei</strong>.PDS<br />
beschlossen wurden, haben<br />
diesbezüglich Themenfelder benannt.<br />
<strong>Die</strong> neue <strong>Linkspartei</strong> hat damit<br />
viel Diskussionsstoff auf kommunaler<br />
und Länderebene für die nächste Zeit.<br />
Schwerpunkt wird sicher sein, wie<br />
effektiv das kommunale Eigentum <strong>zur</strong><br />
Sicherung der Daseinsvorsorge einzusetzen<br />
ist und wie uns die Verbindung<br />
von parlamentarischer und direkter Demokratie<br />
besser als bisher gelingt. Da<br />
bieten sich die Vorbereitungen auf die<br />
kommunalen Haushalte durch Bürgerhaushalte<br />
ebenso an wie die dringliche<br />
Mobilisierung der übergroßen Mehrheit<br />
der Bevölkerung im Kampf gegen<br />
das Wiedererstarken faschistischen<br />
Ungeistes.<br />
In den Gründungsdokumenten erfahren<br />
Mandatsträger/innen auch der<br />
kommunalen Ebene eine hohe Wertschätzung.<br />
Das verpfl ichtet aber auch<br />
dazu, Entscheidungen der kommunalen<br />
Vertretungskörperschaft transparent<br />
mit Mitgliedern der Partei und<br />
Vertretern der außerparlamentarischen<br />
Kräfte zu beraten und gegebenenfalls<br />
den Widerstand gegen Fehlentscheidungen<br />
mit zu entwickeln. <strong>Die</strong> AG-Mitglieder<br />
teilen die Auffassung der Einreicher<br />
der »Programmatischen Eckpunk-<br />
te«, dass es immer wichtiger wird, sehr<br />
öffentlich, verständlich und unmittelbar<br />
vor Ort unsere Reformvorstellungen<br />
für die gesellschaftliche Umgestaltung<br />
zu erläutern.<br />
Dazu benötigen die Kommunalpolitiker/innen<br />
neben der festen Verankerung<br />
in ihren heimatlichen Parteistrukturen<br />
auch die Chance zu Erfahrungsaustauschen<br />
und Bildungsangeboten.<br />
So hat die AG beschlossen, sich mit<br />
einem Änderungsantrag <strong>zur</strong> Satzung<br />
der <strong>neuen</strong> Partei an die 2. Tagung des<br />
10. Parteitages der <strong>Linkspartei</strong>.PDS zu<br />
wenden, um die Verankerung der Mandatsträgerinnen<br />
und Mandatsträger als<br />
Mitglieder des bundesweiten Zusammenschlusses<br />
AG Kommunalpolitik zu<br />
ermöglichen.<br />
<strong>Die</strong> AG-Mitglieder werden sich in die<br />
Debatte auf dem Weg zu einer Partei<br />
DIE LINKE weiter einbringen. Entscheidungen<br />
in (nicht nur) ostdeutschen<br />
Kommunen zum Verkauf von kommunalem<br />
Eigentum, vornehmlich von<br />
Wohnungen, <strong>zur</strong> Beteiligung an Unternehmen<br />
gemeinsam mit privaten Dritten,<br />
Diskussionen <strong>zur</strong> Beschreibung<br />
der Aufgaben, die heute die öffentliche<br />
Daseinsvorsorge ausmachen und was<br />
wir unter Bürgerkommune und Bürgerhaushalt<br />
verstehen – das sind nur einige<br />
der gemeinsam in der Partei auch<br />
mit KommunalpolitikerInnen zu diskutierenden<br />
Fragen.<br />
<strong>Die</strong> beiden Delegierten aus der AG<br />
Kommunalpolitik wurden gebeten, den<br />
»Programmatischen Eckpunkten« die<br />
Zustimmung zu geben.<br />
Regina Frömert, (eine) Sprecherin<br />
der AG Kommunalpolitik<br />
und parlamentarische Arbeit<br />
stolz<br />
Aus eigenem Erleben möchte ich daran<br />
erinnern: <strong>Die</strong> Vergangenheit lehrt uns,<br />
dass nur eine starke <strong>Linke</strong> Kontrolleur<br />
einer volksfeindlichen und kapitalismusfördernden<br />
Politik sein kann und<br />
dass sie im Kampf gegen die kapitalistische<br />
Ausbeutung die Ziele eines demokratischen<br />
Sozialismus entgegenstellen<br />
muss. Dafür ist es unbedingt<br />
notwendig, dass im gemeinsamen Programm<br />
die Zielsetzung eines demokratischen<br />
Sozialismus verankert wird. Als<br />
Sozialisten haben wir das Ziel einer sozialistischen<br />
Gesellschaft vor Augen.<br />
Mit ist bewusst, dass bei einem<br />
Zusammenschluss gegenseitig Argumente<br />
ausgewogen und abgestimmt<br />
werden. Als Mitglied des Aktions-Ausschusses<br />
seitens der SPD erinnere ich<br />
mich, wurde 1946 paritätisch verfahren,<br />
obwohl bei uns die Ehe aus 240:7<br />
Mitgliedern zu Ungunsten der KPD bestand.<br />
Ich erinnere mich noch an den 1.<br />
Parteitag der SPD in Freital, wo der Genosse<br />
Otto Buchwitz an die dringende<br />
Notwendigkeit für eine geeinte deutsche<br />
Arbeiterpartei appellierte. Mit<br />
großem Stolz erfüllte mich die Teilnahme<br />
am Vereinigungsparteitag in Dresden-Bühlau,<br />
als wir als Sachsen als Erste<br />
die Spaltung von SPD und KPD überwanden<br />
und die SED ins Leben riefen.<br />
Ich appelliere an Euch, Euch zum Zusammenschluss<br />
mit der WASG zu bekennen<br />
und in der <strong>neuen</strong> Partei für den<br />
demokratischen Sozialismus auch in<br />
Deutschland zu kämpfen.<br />
Abschließend möchte ich darauf verweisen,<br />
dass ich in meinem Buch »2:1,<br />
ich Max Hermann – ich musste mich<br />
einbringen« Erinnerungen aufgeschrieben<br />
habe. Das Buch (ISB 3-938390-20-<br />
6) ist zum Preis von 9,90 Euro zu erwerben.<br />
Der Erlös fi ndet als Solidaritätsbeitrag<br />
für die Aktionen »Milch für Kubas<br />
Kinder« und »Freundschaft ist die Melodie<br />
der Herzen« Verwendung.<br />
Hermann Thomas (86), Wilsdruff<br />
enttäuschend<br />
Disput – Streitgespräch, Diskussion.<br />
Unter einer Zeitschrift mit diesem Titel<br />
stellte ich mir aus meiner Perspektive<br />
als parteiloser, aber durchaus parteilicher,<br />
sozialistischer Demokrat ein<br />
gewinnbringendes Organ der Debatte<br />
demokratisch-sozialistischer Politik<br />
in der BRD vor. <strong>Die</strong>se Erwartungen<br />
wurden schnell enttäuscht. Nach einer<br />
Zeit des vergeblichen Hoffens auf Besserung<br />
habe ich mich jetzt dazu durchgerungen,<br />
mein Abonnement zu kündigen.<br />
Ich kann beim besten Willen nicht<br />
verstehen, warum Sie so wichtige Debatten<br />
wie die um die Regierungsbeteiligung<br />
in Mecklenburg-Vorpommern und<br />
Berlin scheinbar nicht offensiv in der<br />
DISPUT März 2007 044
Zeitschrift führen wollen. Strategische<br />
Streitfragen aus der Bundestagsfraktion,<br />
wie die Diskussion um UN-Einsätze,<br />
kommen gleichfalls kaum vor.<br />
<strong>Ja</strong>n Schaffrath, Rostock<br />
erinnernd<br />
Das Erinnern und Rückbesinnen auf<br />
Hans-Jochen Vogel, aber auch das Fragen<br />
nach gegenwartsbezogenem Glauben<br />
und Handeln in der kapitalistisch<br />
geprägten Gesellschaft standen im<br />
Mittelpunkt eines Symposiums Anfang<br />
des <strong>Ja</strong>hres in einem Chemnitzer evangelischen<br />
Kirchengemeindezentrum.<br />
Eingeladen hatten die Arbeitsgemeinschaft<br />
Offene Kirche, die Familie Vogel<br />
und der Rothaus e. V. Unterstützt wurde<br />
die Veranstaltung mit etwa 150 Teilnehmerinnen<br />
und Teilnehmern von der<br />
Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, von<br />
Mitgliedern der Linksfraktion im sächsischen<br />
Landtag und des Landesvorstandes<br />
der <strong>Linkspartei</strong>.PDS.<br />
Das Symposium führte Weggefährtinnen<br />
und Weggefährten zusammen,<br />
mit denen Vogel vor 1989/90 und danach<br />
gemeinsam »nachgedacht und<br />
gearbeitet« hatte, wie es in der Einladung<br />
hieß. Politisches Handeln – daran<br />
hielt sich der am 25. Dezember<br />
2005 Verstorbene – darf sich nicht in<br />
Kritik erschöpfen. <strong>Die</strong> Zukunft des und<br />
der Menschen braucht positive, konstruktive<br />
Entwürfe. »Jeden Menschen<br />
ernst nehmen als gleichwertigen Mitmenschen«,<br />
war Hans-Jochen Vogels<br />
Vorstellung vom Sozialismus und zugleich<br />
Forderung an ihn.<br />
Auf das Leben und Wirken des Theologen,<br />
Christen und Sozialisten, des<br />
langjährigen Studentenpfarrers in Karl-<br />
Marx-Stadt bzw. Chemnitz verwies Dr.<br />
Klaus Bartl von der <strong>Linkspartei</strong>-Landtagsfraktion.<br />
Vogels Denken und Tun<br />
bleibe in seiner Stadt, in der Region lebendig.<br />
Es habe eine Symbolik, dass<br />
unter den Anwesenden »Menschen<br />
gänzlich unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher<br />
Lebenslagen, Christen<br />
und Sozialisten, auch Christen, die sich<br />
als Sozialisten verstehen, und Sozialisten<br />
mit religiösem Lebenshintergrund<br />
zusammenfi nden, um zu debattieren,<br />
zu streiten, miteinander zu reden.«<br />
1979 gehörte Vogel zu den Mitbe-<br />
45 0 DISPUT März 2007<br />
gründern einer Gruppe der Christlichen<br />
Friedenskonferenz.<br />
Mit dem Auslegen der Bibel und befreiungstheologischen<br />
Überlegungen<br />
verband er seine Position zum Erhalten<br />
und Sichern des Friedens. Vogel<br />
vereinte Kritik am staatssozialistischen<br />
System mit linksdemokratischem Denken<br />
und Handeln. Nach der Wende beschäftigten<br />
ihn in starkem Maße neue<br />
Themen, so die soziale Lage vieler<br />
Menschen, Arbeitslosigkeit, Deindustrialisierung,<br />
Rechtsextremismus, Globalisierung.<br />
Hermann Gerathewohl, Leipzig<br />
protestierend<br />
Zugegeben: Der Wettergott stand nicht<br />
auf Seiten der Linksdemokraten. Dafür<br />
aber die Wülfrather. Bei der Aktion<br />
der Demokratischen <strong>Linke</strong>n Wülfrath<br />
(DLW) und der Wülfrather <strong>Linkspartei</strong><br />
gegen die »Rente mit 67« am 24. Februar<br />
am Heumarkt gab es große Zustimmung.<br />
<strong>Die</strong> DLW hatte sich mit der Aktion<br />
der bundesweiten Kampagne der<br />
Gewerkschaften und Sozialverbände<br />
gegen die Rentenpläne der Bundesregierung<br />
angeschlossen. Bei der Aktion<br />
(siehe Foto) waren auch vier Ratsvertreter<br />
der DLW dabei: Jürgen Hackenberg<br />
als »lahmer Schlosser«, Angelike Sto-<br />
ckinger-Sürth als »schusselige Krankenschwester«,<br />
Klaus H. <strong>Ja</strong>nn als »halbblinder<br />
Briefträger« (mit dem Lied »Ich<br />
bin das Kläuschen von der Post …«)<br />
und Herbert Romund als »Abgesandter<br />
des Beerdigungsinstituts ›Deckel<br />
drauf‹«. <strong>Die</strong> Wülfrather machten reichlich<br />
Gebrauch von den angebotenen Informationen<br />
und auch von den verteilten<br />
Renten-Beruhigungspillen. Über<br />
allem prangte ein großes Transparent:<br />
»Arbeitslos mit 50. Aber Rente mit 67?<br />
Verarschen können wir uns selber!«<br />
Klaus H. <strong>Ja</strong>nn, Wülfrath<br />
auftrumpfend<br />
Betr.: Disput Nr. 2/2007, Fröhlich,<br />
streitsam …<br />
Ich bin nicht begeistert von dem Beschluss<br />
des Frauenplenums in Hannover<br />
(27./28 <strong>Ja</strong>nuar): »Christa Müller<br />
spricht nicht für uns!« Es ging darum,<br />
dass sich Müller in der Sendung »Menschen<br />
bei Maischberger« für ein Erziehungsgeld<br />
ausgesprochen hatte.<br />
Es ist ein Unding, gegenüber einer<br />
Einzelmeinung als Gruppe aufzutrumpfen.<br />
Einfach das fortzuführen, was<br />
schon immer Methode der sogenannten<br />
<strong>Linke</strong>n gewesen ist, zeugt nicht gerade<br />
von einem unabhängigen Geist.<br />
Birgit Ergezinger, Göttingen<br />
© Hans Sürth
BÜCHER<br />
<strong>Die</strong> Bilder entstehen<br />
im Kopf<br />
Kleine Welten in großen Geschichten<br />
als spannender Fernsehersatz. Gehört<br />
von Ingrid Feix<br />
In unserer Bilder dominierten Welt<br />
ist es eigentlich nicht so selbstverständlich,<br />
dass sich gerade Hörbücher<br />
zunehmender Beliebtheit erfreuen.<br />
Doch es lohnt sich.<br />
Rechtzeitig zum 80. Geburtstag des<br />
Kolumbianers Gabriel García Márquez<br />
brachte der Audio Verlag das Hörbuch<br />
»Chronik eines angekündigten Todes«,<br />
gelesen von Hanns Zischler, heraus.<br />
Den Literatur-Nobelpreis hatte García<br />
Márquez 1982 für seine Romane<br />
und Erzählungen erhalten, wobei sein<br />
Roman »Hundert <strong>Ja</strong>hre Einsamkeit«<br />
der berühmteste sein dürfte. 1981 erschien<br />
»<strong>Die</strong> Chronik eines unangekündigten<br />
Todes«, und auch diese Ge-<br />
Gabriel García Márquez<br />
Hanns Zischler<br />
Chronik eines<br />
angekündigten Todes<br />
3 CD, 185 min.<br />
SWR, Der Audio Verlag<br />
22,99 Euro<br />
schichte ist angetan, den ganzen Kosmos<br />
der Welt von García Márquez aus<br />
Liebe, Ehre, Leidenschaft kennenzulernen:<br />
Ein Mann schickt in der Hochzeitsnacht<br />
die Braut <strong>zur</strong>ück zu ihren Eltern,<br />
denn sie ist nicht mehr unberührt. Das<br />
ist eine Frage der Ehre. <strong>Die</strong> Brüder der<br />
schönen Angela Vicario machen sich<br />
auf, die Ehre ihrer Schwester zu retten,<br />
sich an dem vermeintlichen Täter zu rächen.<br />
Ein ungewöhnlicher Kriminalfall,<br />
bei dem die Rollen von Anfang an klar<br />
verteilt zu sein scheinen.<br />
Minutiös wird die Geschichte erzählt.<br />
Was sich so einfach und zunächst wenig<br />
spannend anhört, entwickelt sich<br />
in der Beschreibung von García Márquez<br />
zu einem aufregenden Drama, in<br />
dessen Verlauf man sehr viel über zwischenmenschliche<br />
Beziehungen, über<br />
verhängnisvolle Traditionen und über<br />
den Ursprung von Gewalt erfährt. Und<br />
am Schluss steht die Frage, die sonst<br />
am Anfang steht: Wer hat hier Schuld?<br />
Michael Ende<br />
Rufus Beck u. v. a.<br />
Momo<br />
3 CD, 192 min.<br />
WDR und<br />
Der Audio Verlag<br />
14,95 Euro<br />
Hanns Zischler, der als Schauspieler<br />
bekannt ist, darüber hinaus aber auch<br />
als Dramaturg, Übersetzer, Lektor und<br />
Essayist arbeitet, erweist sich einmal<br />
mehr als hervorragender Vorleser, dem<br />
man noch länger zuhören möchte.<br />
Mysteriös ist die Geschichte von<br />
dem Kind, das plötzlich da ist<br />
und behauptet, 200 <strong>Ja</strong>hre alt<br />
zu sein, nicht zu wissen, wer und wo<br />
Vater und Mutter sind, und sich selbst<br />
den Namen »Momo« gegeben hat. <strong>Die</strong>se<br />
fantastische Erzählung von Michael<br />
Ende ist nicht nur ein Kinderbuch-<br />
Klassiker, sie reicht doch weit über eine<br />
Art Walt-Disney-Moral hinaus und<br />
ist somit für ein alterloses Publikum<br />
geeignet. <strong>Die</strong> Gabe des Kindes, zuhören<br />
zu können, erweist sich als Glücksfall.<br />
Doch graue Geschäftemacher bevölkern<br />
die Stadt und stehlen den Menschen<br />
die Zeit. <strong>Die</strong> Welt sieht plötzlich<br />
anders aus. Momo beobachtet mit der<br />
Schildkröte Kassiopeia die Veränderungen<br />
und macht sich auf, die Welt zu<br />
retten, den <strong>Die</strong>bstahl zu beenden …<br />
Auch diese Geschichte hat Krimiqualitäten<br />
und vermittelt eine Ahnung<br />
davon, was nicht so ganz richtig läuft<br />
in unserer schnelllebigen Zeit. Obwohl<br />
der Schauspieler Rufus Beck ein bisschen<br />
als Aushängeschild für diese Hörbuchvariante<br />
dient – spätestens seit<br />
seiner Vorlesekunst bei den Harry-Potter-Büchern<br />
begeistert er immer wieder<br />
seine Zuhörer –, ist er hier nur einer<br />
von zwölf Sprechern, die dieses<br />
hörenswerte Stück umsetzten. Den<br />
Hauptpart dabei bringen die Erzählerin<br />
(Karin Anselm) und natürlich Momo<br />
(Julia Lechner).<br />
Königsblau<br />
Mord nach jeder Fasson<br />
CD, 62 min.<br />
Deutschlandradio<br />
Kultur und be.bra phon<br />
14,90 Euro<br />
Über manchen der Sätze kann man<br />
sich noch danach lange unterhalten,<br />
zum Beispiel wenn Kassiopeia sagt:<br />
Je langsamer man sich bewegt, desto<br />
schneller kommt man voran.<br />
Um »echte« Krimis handelt es<br />
sich bei den Hörspielen »Königsblau«<br />
und »Schwefelgelb«.<br />
<strong>Die</strong> Preußenkrimis von Tom Wolf boten<br />
hier die Grundlage. <strong>Die</strong>se Krimis<br />
sind etwas Besonderes, denn sie verweben<br />
reale historische Vorgänge und<br />
Personen mit fi ktiven. Es geht stets um<br />
Vorgänge am Hofe des Preußenkönigs<br />
Friedrich II., der – und das ist die Fiktion<br />
– einen Zweiten Hofküchenmeister<br />
Honoré Langustier hatte, der in seinem<br />
Auftrag nicht nur köstliche Speisen bereitete,<br />
sondern auch merkwürdige Kriminalfälle<br />
löste.<br />
In »Königsblau« gibt der Tod eines<br />
königlichen Flügeladjudanten im <strong>Ja</strong>hr<br />
1740 einige Rätsel auf, und in »Schwefelgelb«<br />
geht es um den Mord an einem<br />
Schwefelgelb<br />
Mörderische Kälte<br />
CD, 56 min.<br />
Deutschlandradio<br />
Kultur und be.bra phon<br />
14,90 Euro<br />
Münzunternehmer, der 1757 zu Beginn<br />
des Siebenjährigen Krieges die preußische<br />
Staatskasse füllen sollte. Langustier,<br />
den der König auch als belesenen<br />
Schöngeist schätzt, geht gezielt<br />
an die Aufklärung der Fälle.<br />
Deutschlandradio Kultur, ein Sender,<br />
der seine Hörer noch mit aufwändigen<br />
Hörspielen verwöhnt, hat die Bücher<br />
bearbeitet und mit hochkarätigen<br />
Schauspielern umgesetzt. Als Friedrich<br />
II. ist der auch als »Tatort«-Kommissar<br />
bekannte Boris Aljinovic zu hören,<br />
als Erzähler Jürgen Holz, als Langustier<br />
Martin Engler und als königlicher Leibarzt<br />
Tilo Prückner. Sie agieren in beiden<br />
Hörspielen.<br />
Mit den Hörspielen kann man sich<br />
gut in das höfi sche Leben im 18. <strong>Ja</strong>hrhundert<br />
hineinversetzen und gleichzeitig<br />
einen Krimi verfolgen.<br />
Wie sich zeigt, sind vor allem spannende<br />
Geschichten geeignet, auch als<br />
Hörbuch zu erscheinen.<br />
DISPUT März 2007 046<br />
© Repros (4)
<strong>Die</strong> neue <strong>Linke</strong> und<br />
Oskar Lafontaine<br />
Von André Brie<br />
Ich habe mehrere Monate überlegt, ob<br />
ich diese Gedanken veröffentlichen<br />
soll. <strong>Die</strong> Bildung der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />
ist nahe herangerückt. Das ist für die<br />
<strong>Linke</strong> in Deutschland eine einzigartige<br />
Chance. Für die Mitglieder der PDS, die<br />
nach 1989 eine demokratisch-sozialistische<br />
Partei gegen den schärfsten äußeren<br />
Druck, gegen eigenen Pessimismus<br />
und mit einer seltenen Lernfähigkeit<br />
und Wandlungsbereitschaft entwickelt<br />
und zumindest in Ostdeutschland<br />
aus der gesellschaftlichen Ächtung und<br />
Isolierung befreit haben, ist das eine tiefe<br />
Zäsur. Vor allem aber wird es eine völlig<br />
neue Möglichkeit werden müssen,<br />
soziale, demokratische und friedliche<br />
Politik mit und für Millionen Menschen<br />
in der Bundesrepublik Deutschland zu<br />
machen. Das ist der Maßstab, dem ich<br />
alles andere unterordne.<br />
<strong>Die</strong> Neubildung<br />
der <strong>Linkspartei</strong> ist<br />
dafür unerlässlich,<br />
auch wenn viele von<br />
uns, auch ich selbst,<br />
dabei viel Vertrautes<br />
aufgeben werden.<br />
Mit dem organisatorischen<br />
Prozess und<br />
dem Gründungsparteitag<br />
wird eine entscheidende<br />
Voraussetzung geschaffen<br />
werden. Das darf nicht gefährdet werden.<br />
Aber es gibt eine Reihe anderer, ebenfalls<br />
entscheidender Voraussetzungen,<br />
die damit noch längst nicht garantiert<br />
sind und um die gegenwärtig zu wenig<br />
gerungen wird: programmatische Klarheit<br />
ist keine sekundäre Frage; ebenso<br />
nicht die politische Strategie in einem<br />
Land, in dem alle anderen Parteien (mit<br />
wichtigen Nuancen) neoliberale Politik<br />
betreiben, aber eine Bevölkerungs- und<br />
Wählerinnen- und Wählermehrheit offensichtlich<br />
soziale Alternativen unterstützt;<br />
die politische Kultur der <strong>neuen</strong><br />
Partei schon gar nicht. Um hier nur bei<br />
der letzten Problematik zu bleiben: <strong>Die</strong><br />
PDS hat sich aus der SED auf manchmal<br />
fast anarchische Weise gebildet. Sie hat<br />
nicht nur ein demokratisch-sozialistisches<br />
Profi l ihrer Politik entwickelt, sondern<br />
auch eine zutiefst demokratische<br />
Diskussions- und Entscheidungskultur.<br />
In der PDS war es undenkbar, dass Parteitage<br />
– wie in der CDU oder der SPD<br />
– Programme und Wahlprogramme in<br />
Minuten und faktisch ohne Gegenstimmen<br />
durchwinken. Andersdenkende haben<br />
eben andere Überzeugungen, andere<br />
Erfahrungen, andere Maßstäbe,<br />
und nicht niedere Motive, wie sie beispielsweise<br />
den Befürwortern der Berliner<br />
Regierungskoalition vorgeworfen<br />
werden. Über die politischen Anschauungen<br />
kann, soll, muss gern gestritten<br />
werden. Aber auf der Grundlage von<br />
Achtung, der Nachdenklichkeit, des Zuhörens<br />
und nicht des Vorurteils oder gar<br />
der persönlichen Denunziation.<br />
Es scheint festzustehen, dass Oskar<br />
Lafontaine und Lothar Bisky die beiden<br />
Vorsitzenden der <strong>neuen</strong> <strong>Linkspartei</strong><br />
werden sollen. Bisky ist ein Mann<br />
des Ausgleichs und hat die PDS in den<br />
neunziger <strong>Ja</strong>hren mit Geschick, intellektueller<br />
Ausstrahlung und Erfolg, er<br />
hat sie nach der Wahlniederlage 2002<br />
und scharfen innerparteilichen Auseinandersetzungen<br />
aus einer selbstzerstörerischen<br />
Krise geführt. Oskar Lafontaine<br />
ist umstrittener. Dass meine<br />
Frau zu jenen gehört, die, aus der Partei<br />
auszuschließen, er mehrfach gefordert<br />
hat, gehört zu meinen Problemen.<br />
Ich bin dennoch überzeugt, dass er Vorsitzender<br />
der <strong>neuen</strong> Partei werden sollte.<br />
Erstens, weil ich sein politisches Leben<br />
schätze. Zweitens, weil er wie kein<br />
anderer in der PDS und der WASG linke,<br />
hochkompetente Positionen <strong>zur</strong> Kritik<br />
und zu den Alternativen der Weltfi nanzpolitik<br />
oder der aktuellen Wirtschafts-<br />
und Sozialpolitik vertritt. Drittens, weil<br />
ich glaube, hoffe, dass er mit sich streiten<br />
lassen wird über seine Haltung <strong>zur</strong><br />
deutschen Asylgesetzgebung oder auch<br />
über die Notwendigkeit, den manchmal<br />
turbulenten Demokratismus der PDS<br />
nicht nur als Problem rascher Entscheidungen,<br />
sondern vor allem als Chance<br />
für die Nachhaltigkeit einer modernen<br />
<strong>Linke</strong>n und als wichtigen Beitrag zu einer<br />
nachdenklicheren politischen Kultur<br />
in der ganzen Gesellschaft zu sehen.<br />
Viertens, und das wird später auch<br />
ein großes Problem der <strong>neuen</strong> <strong>Linke</strong>n<br />
werden, wenn sie damit genauso umgeht<br />
wie die frühere PDS: Ohne Gregor<br />
Gysi, Lothar Bisky und Oskar Lafontaine<br />
wird die neue <strong>Linke</strong> nicht die acht Prozent<br />
von 2005 erreichen und nicht die<br />
möglichen zehn oder mehr 2009. Macht<br />
Euch keine Illusionen! Wir können noch<br />
so überzeugt sein von unseren Papieren,<br />
Beschlüssen, Forderungen oder<br />
von der Qualität vieler unserer anderen<br />
Politikerinnen und Politiker – Menschen<br />
brauchen bei einer Wahl weit mehr. Ohne<br />
Oskar Lafontaine wird die neue Partei<br />
in Westdeutschland nicht von mehr<br />
als zwei Prozent der Menschen gewählt<br />
werden.<br />
Kardinal Retz, einer der Führer der<br />
vorrevolutionären französischen Fronde,<br />
spitzte es in seinen Memoiren zu:<br />
»Ich brauchte nur einen Namen, um das<br />
mit Leben zu begaben, was ohne Namen<br />
nur ein Hirngespinst blieb.« Lafontaine<br />
bringt mehr mit als den Namen,<br />
Kompetenz, ein Herz, das links schlägt,<br />
und Konsequenz. Und wir bringen alle<br />
gemeinsam ja auch viel mit.<br />
© Stefan Richter<br />
470 DISPUT März 2007 MÄRZKOLUMNE
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