Pädagogischer Auftrag – vom Lehrplan der Waldorfschule

oder in Stein arbeitend, gibt der Schüler seinem eigenen Kopf unverwechselbare Schädelform undGesichtsausdruck. Disharmonien oder 'Bruch' in der Gestaltung weisen den Schüler auf Widersprüchein der eigenen Seele hin.Ähnliches wird in der Eurythmie versucht, wo die Aufgabe gestellt ist, für die Grundgebärde einesMusikstückes oder einer Dichtung die entsprechende Form zu entwickeln, sodass in derGeschlossenheit der Darstellung die Eigenart, die innere Qualität des Kunstwerkes sichtbar wird. DerJugendliche soll in einem eurythmischen Abschluss zeigen können, dass es ihm möglich ist, sich bisin die Gestalt und Bewegung als geschlossene Persönlichkeit hineinzustellen.Was in der Mathematik zu leisten ist, und welcher Schritt von der 11. in die 12. Klasse getan werdensoll, zeigt sich, wenn man den Lehrplan betrachtet, eindrücklich: Führte der Weg in der 11. Klasse inder Analytischen Geometrie noch vom anschaulich Geometrischen ins Algebraisch-Rechnerische, soist es nun in der 12. Klasse umgekehrt. In der Analysis soll sich der Schüler aus dem reinZahlenmäßigen einen Erlebniszugang zur Integral- und Differentialrechnung schaffen. Grenzwertevon Folgen sollen als Stellvertreter eines endlosen Prozesses erfasst werden. Durch das Erarbeiten desBegriffes 'Differentialquotient' soll der Schüler jene neue Dimension in der Mathematik begreifen:Der Quotient zweier Differenzenfolgen, die beide gegen Null gehen, ergibt etwas völlig Neues. Dassoll nicht nur angewandt werden, sondern durchschaut, erfahrbar und erlebbar sein. Dem Schülersollen in der Analysis die Gleichungen so durchschaubar gemacht werden, „dass man ein Gefühldafür kriegt, wie in den Gleichungen eigentlich die Dinge drinnenstecken“. 4 Dann erst wird dasSinnenfällige, Graphische als Darstellung des Rechnerischen dazugestellt. Aus der Gleichung dieForm finden, aus der Form die Gleichung erkennen – so wird versucht, im Schüler innere Aktivität zuerzeugen und ein Verständnis für das Qualitative in der Mathematik anzuregen, was letztlich für einechtes Begreifen der Erkenntnisse der zeitgenössischen Physik unumgänglich ist. In demZusammenhang kann auch gezeigt werden, daß Gleichungen desselben Typus im Bereich derangewandten Physik unterschiedlichst eingesetzt werden können: Optik, Elektrizität,Mechanik/Raumfahrt. Qualität und Quantität fallen auseinander.In einer zweiten Epoche kann mit den Schülern, je nachdem was in der 11. Klasse erarbeitet wurde,Projektive Geometrie eventuell aus der Zentralprojektion (Perspektive) her aufgebaut oder SphärischeGeometrie durchgenommen werden. Die Projektive Geometrie würde – so durchgeführt – einenVerständniszusammenhang herstellen für die Anwendung in der Kavalierperspektive und demPerspektivezeichnen in der Architekturepoche, auf der Kunstfahrt. Die Sphärische Geometrie kannmehr zeichnerisch oder mehr rechnerisch durchgeführt werden, stärker in die Astronomie führenoder auf die Erde angewandt bleiben.Eine weitere Möglichkeit für eine zweite Mathematikepoche besteht auch darin, die Wände zwischenden verschiedenen Naturwissenschaften niederzureißen, um Mathematik, Botanik, Astronomie,Embryologie und Geometrie zu einem großen Gesamtbild zusammenzuschließen. Das aber ist starkvom Entwicklungsstand der Klasse abhängig.Ein gänzlich anderer Begriff von 'Toleranz' als im Sozialpraktikum der 11. Klasse beschäftigt denSchüler in der 12. Klasse während des Industriepraktikums: Hier geht es um Toleranzen im'μ-Bereich' im Produktionsprozess eines Industrieunternehmens, wie zB. des Plansee-Werks in Reutte.Der Schüler macht in diesem dreiwöchigen Praktikum an der Arbeit, an den arbeitenden Menschenund damit auch an sich selbst unterschiedlichste Erfahrungen. Sinn dieses Praktikums ist es, dasWirtschaftsleben zunächst einmal 'von der Basis her' kennenzulernen; der Schüler erlebt, was esbedeutet, in Zusammenarbeit mit anderen Menschen einem gemeinschaftlichen Wirtschaftsziel zudienen. Er lernt die Chancen und Probleme unserer modernen arbeitsteiligen Gesellschaft kennen undkann in der Arbeit beobachten, wie Fehlleistungen an einer 'Teil-Stelle' sich für den gesamtenProduktionsprozess – für das Ganze – auswirken. „Der Teil und das Ganze“ 5 (Heisenberg), welchesals Problemstellung im sogenannten 'Welle/Teilchen-Dualismus' die Schüler in Physik beschäftigthat, wird als eine bis ins heutige Wirtschaftsleben wirkende Bewusstseinsentwicklung der Menschheitdeutlich. Natürlich lernt der Jugendliche auch, im Produktionsprozess eine Maschine exakt zubedienen, Materialprüfungen und andere Kontrollen vorzunehmen und: am 'eigenen Leib' erfährt er,wieviel persönliche Kraft es braucht, zwischen die Polaritäten Arbeit – Freizeit noch ein drittes,geistig-schöpferisches Element bewusst hineinzustellen. Somit erfüllt dieses PraktikumBildungsaufgaben im weitesten Sinn.