Um politische Bildung erlebbar zu gestalten, bilden im Sozialkundeunterricht in Gruppen bearbeiteteFälle (zB. ein Verfahren vor den Höchstgerichten, eine Kollektivvertragsverhandlung,Interpretationen von Opern und Dramen, ein aktueller Gesetzesantrag vor dem Nationalrat) undExkursionen die Ausgangspunkte für die Behandlung des Stoffes, d.i. die 'europäische Staats-,Rechts- und Wirtschaftsentwicklung von <strong>der</strong> Französischen Revolution zum Wohlfahrtsstaat desausgehenden 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts'. An <strong>der</strong> Entfaltung <strong>der</strong> Bürger- und Menschenrechte werden dieEntwicklungslinien konkret studiert, mit ihrer Hilfe werden <strong>der</strong> Ost-West- und <strong>der</strong> Nord-Süd-Konfliktanalysiert. So schließt sich auch hier durch die exemplarische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Teilgebietenverschiedenster Richtung das große Bild unserer Menschheitskultur, und Gesamtfragen können ausVerantwortung und Einsicht bearbeitet werden.Die Verantwortung des einzelnen für die Gemeinschaft und die Erfahrung, dass im Bemühen aller umein gemeinsames Ziel mehr entstehen kann, als durch die Summe <strong>der</strong> Einzelfähigkeiten vorstellbarist, wird im sogenannten 'Klassenspiel' deutlich. An Hand eines großen Theaterstückes erfährt sichdie Klasse <strong>–</strong> ein letztes Mal <strong>–</strong> in ihren gemeinsamen Möglichkeiten. Sprache, Gestik, Musik, Gesang(eventuell Eurythmie), Inszenierung, Bühnenbild, Beleuchtung, Programm- und Plakatgestaltung <strong>–</strong>dies alles muss erarbeitet und in einigen Aufführungen <strong>–</strong> oft mit Mehrfachbesetzungen <strong>–</strong> bewältigtwerden.Ebenso wird dies im Puppenspiel, nach <strong>der</strong> 11. Klasse nun ein weiteres Mal, geleistet.Als zweiten Abschluss neben dem Klassenspiel hat je<strong>der</strong> Schüler die Aufgabe, sowohl ein praktischkünstlerischesThema als auch ein theoretisches Thema (fächerübergreifend) als Jahresarbeitauszuführen, mit <strong>der</strong> er sich auch wirklich das gesamte Schuljahr neben dem Unterricht beschäftigt;wobei jedem Schüler ein Lehrer als beraten<strong>der</strong> Betreuer zur Verfügung steht.Diese praktischen Abschlussarbeiten werden in einer Ausstellung bzw. Abendvorführung öffentlichdargeboten. Zur theoretischen Arbeit muss je<strong>der</strong> Schüler ein öffentliches Referat mit anschließen<strong>der</strong>Diskussion halten. Auch diesen Veranstaltungen muss die Klasse eine Form zu geben imstande sein.Die 12. Klasse abschließend, findet im Anschluß an die Architekturepoche eine Kunstreise statt. Mitdieser Kunstgeschichteepoche wird gewissermaßen ein Schlussstein gesetzt; <strong>der</strong> Schlussstein vonzwölf Jahren Kunstunterricht an <strong>der</strong> <strong>Waldorfschule</strong>. Auch hier prägt die Frage nach <strong>der</strong>Bewusstseinsentwicklung <strong>der</strong> Menschheit, abgelesen an <strong>der</strong> Baugeschichte, sowie die Frage nachdem Gesamtkunstwerk den Unterricht. Der Mensch als Kulturschaffen<strong>der</strong>, als Gestalten<strong>der</strong>, als in dieNaturumgebung Eingreifen<strong>der</strong> steht im Mittelpunkt dieser Architekturepoche. Fragen bezüglich <strong>der</strong>Aufgabe <strong>der</strong> Kunst in <strong>der</strong> Gegenwart treten auf, die Verantwortung des Künstlers (des Architekten)für die Natur, für die Menschen wird bewusst.So ist zu hoffen, dass die 12. Klasse, stellvertretend als Teil für das Ganze <strong>–</strong> zwölf JahreWaldorfschulbildung <strong>–</strong>, ihren Teil zum Bildungsziel 'Mensch' beiträgt, das Rudolf Steiner 1920 soformuliert hat:„Der Mensch findet, erkennend die Welt, sich selbst, und erkennend sich selbst, offenbart sich ihm dieWelt.“Bildungskriterien aus menschenkundlicher Begründung für die 12. Klasse:a) Von <strong>der</strong> Sinnesbeobachtung, <strong>vom</strong> Tatbestand ausgehend, Qualitäten erfassen lernen.Beobachtungsmaterial und Intuition vereinen lernen. Vom Gestalteten zum Undifferenziertenvordringen.b) Zusammenhänge schaffen, innere Bezüge herstellen und damit das Wirken geistiger Kräfte in <strong>der</strong>Welt anschaubar machen; synthetisch, Ideen-schaffend vorgehen. Zusammenspiel von Geistigemund Sichtbarem, Form und Stoff erleben.c) Einen Prozess vorwärts und rückwärts durchschreiten; innere Aktivität for<strong>der</strong>n.d) Von kausal-analytischen zu ideologischen Betrachtungen wechseln. Gesetz, Notwendigkeit,Freiheit und Verantwortung zusammenschauen lernen. Mensch und Natur, Mensch undGesellschaft (Teil und Ganzes).e) Sich mit <strong>der</strong> Schicksalsfrage konfrontieren; Menschheitsfragen entstehen lassen.f) Der 12. Klassier in Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem christlichen Menschenbild <strong>–</strong> erlebtesGrenzgängertum; Umdenken üben, statt Umdenken predigen.
Klaus Podirsky, 1989Anmerkungen:1R. Steiner: „Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen“ (1924) GA309; 5. Vortrag2R. Steiner: „Konferenzen mit den Lehrern <strong>der</strong> freien <strong>Waldorfschule</strong> 1919-1924 “, GA300a-c,Konferenz 15.Nov.1920;3ebenda: Konferenz 22.Sept.19204ebenda: Konferenz 30. April 19245W. Heisenberg: „Der Teil und das Ganze <strong>–</strong> Gespräche im Umfeld <strong>der</strong> Atomphysik“; München1996 (2002)