13.07.2015 Aufrufe

Irrungen, Wirrungen - Schule-Studium.de

Irrungen, Wirrungen - Schule-Studium.de

Irrungen, Wirrungen - Schule-Studium.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

2.7 InterpretationsansätzeWelt soll ‚poetisiert‘ wer<strong>de</strong>n. Fontane selbst hat <strong>de</strong>n Ausdruck„Verklärung“ benutzt. 21 Er meinte damit insbeson<strong>de</strong>re, dass diekrasse Hässlichkeit im Roman nicht auftreten dürfe. In <strong>Irrungen</strong>,<strong>Wirrungen</strong> hat er nicht einmal <strong>de</strong>n geistig und körperlichbehin<strong>de</strong>rten Sohn Hans Dörr beschrieben, ihn aber immerhinvorgestellt (S. 18). Auch über Lenes harte Arbeit erfahren wirkaum etwas, wie auch die Arbeiter im „Walzwerk“ nur währen<strong>de</strong>iner Arbeitspause beobachtet wer<strong>de</strong>n (S. 78).Fontane ist nicht für <strong>de</strong>n ‚I<strong>de</strong>alismus‘ <strong>de</strong>r Goethe-Zeit, <strong>de</strong>rdie Welt beschreibt, wie sie sein sollte. Er ist auch nicht für<strong>de</strong>n ‚Naturalismus‘, <strong>de</strong>r damals gera<strong>de</strong> entstand und <strong>de</strong>rdas drastisch Hässliche in <strong>de</strong>r Welt wie<strong>de</strong>rgibt. FontanesRealismus orientiert sich an <strong>de</strong>r unmittelbar sichtbarenErfahrungswelt und zugleich an poetischen Zielen wie Intensität,Klarheit und Ganzheitlichkeit. Der Realist schafftaus <strong>de</strong>r wahren Welt eine neue wahre Welt, ohne dass einBruch entsteht. Dieser Fontane‘sche Realismus wird auch‚poetischer Realismus‘ genannt.Ist Fontanes Realismus etwas Altmodisches? Manche sagen ja,weil Fontane auf poetische Weise in die Wirklichkeit etwashineinmontiert, was doch nicht genau <strong>de</strong>r Wirklichkeit entspricht.Demnach wäre Fontanes ‚poetischer Realismus‘ dochfern <strong>de</strong>r realistischen Sicht, ein Irrtum sozusagen. Doch heutestellt sich die Naturwissenschaft die grundsätzliche Frage: Istdie Wirklichkeit überhaupt fassbar, konstruieren wir Menschenbeim Wahrnehmen von Wirklichkeit nicht immer etwashinein? Je<strong>de</strong> Erkenntnis ist konstruiert – genau dies behaupteteine mo<strong>de</strong>rne Richtung in <strong>de</strong>r Philosophie, die von<strong>de</strong>r Physik beeinflusst ist, <strong>de</strong>r sogenannte Konstruktivismus.21 ebd., S. 2372. Textanalyse und -interpretation79


2.7 InterpretationsansätzeSein Hauptvertreter Ernst von Glasersfeld beruft sich dabeiauch auf Kant.Fontanes poetischer Realismus steht <strong>de</strong>m Konstruktivismusnahe und ist also mo<strong>de</strong>rn.2.7.2 <strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> – ein ZeitromanDieser Roman stellt dar, wie zwei Menschen, die sich lieben,auf Grund ihrer Herkunft ihr Leben nicht zusammen verbringenkönnen und auf ihr gemeinsames Glück verzichten müssen.Dabei beschreibt Fontane seine Zeit, die Lebensformen<strong>de</strong>s Deutschen Kaiserreiches. Alle Personen <strong>de</strong>s Romanshaben ihren Platz in <strong>de</strong>r Gesellschaft (siehe 2.4), von <strong>de</strong>mA<strong>de</strong>ligen Botho von Rienäcker und seinen Angehörigen undFreun<strong>de</strong>n über die kleinbürgerlichen Kreise um LeneNimptsch und Frau Dörr bis zu <strong>de</strong>n Arbeitern eines Walzwerkes(Kap. 14) und <strong>de</strong>m Kutscher einer Droschke (Kap. 21).Der Roman kritisiert diese Gesellschaft,<strong>de</strong>n Umstand vor allem, dassDer Roman kritisiert die Gesellschaftdie Menschen dieser Gesellschaft instreng abgegrenzte Schichten und Klassen eingeteilt sind.Lene, die nicht Bothos Frau wird, ist „eigentlich eine kleineDemokratin“ (S. 26), aber das <strong>de</strong>mokratische Denken hat nochkeine Macht. Mit <strong>de</strong>m Blick auf Lenes und Bothos Trennunglässt sich sagen: Fontane beschreibt die Hilflosigkeit und dieOhnmacht <strong>de</strong>s Einzelnen gegenüber <strong>de</strong>n Normen <strong>de</strong>r Gesellschaft,und in <strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> spielt sich eine „Tragödie“ 22ab. Es ist eine Zeit – die so genannten Grün<strong>de</strong>rjahre –, in <strong>de</strong>rdas Geld eine beson<strong>de</strong>re Rolle spielt. Fontane macht <strong>de</strong>n Hangzum Geld in allen Gesellschaftsschichten sichtbar (siehe 2.6.4,1. Kasten).22 Killy, Abschied, S. 201802. Textanalyse und -interpretation


2.7 InterpretationsansätzeBei alle<strong>de</strong>m beobachtet Fontane genauund gibt uns mit <strong>de</strong>n Örtlichkeiten im treues Bild <strong>de</strong>s damaligen BerlinRoman ein treues Bild <strong>de</strong>s damaligen Berlin und mancherReiseziele <strong>de</strong>r Berliner (siehe 2.3.3).Fontane geht noch weiter. Er stellt dar, dass diese Zeit undihre politischen Strukturen bereits im Wan<strong>de</strong>l begriffen sind(siehe 2.6.4, 2. Kasten). Der A<strong>de</strong>l ist schon in einer gefähr<strong>de</strong>tenLage: Botho ist verschul<strong>de</strong>t; sein Onkel Kurt, <strong>de</strong>r Konservativevom Land, schimpft über das Berlin mit seinem starkenBürgertum und über das Schwin<strong>de</strong>n alter Sitten, und handwerklichgebil<strong>de</strong>te Leute wie Gi<strong>de</strong>on zeigen sich <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>lgewachsen. Diese Gefährdung, vielleicht sogar: diese Untergangsstimmung,in <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r A<strong>de</strong>l lebt, macht Fontane auchdurch die nichta<strong>de</strong>lige Lene sichtbar. Lene steht in einem sehrpositiven Licht; sie ist die intelligenteste, seelisch stärkste undim Leben erfahrenste Person <strong>de</strong>s Romans, sie ist <strong>de</strong>m A<strong>de</strong>ligenBotho überlegen.2.7.3 <strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> – ein psychologischer RomanMit <strong>de</strong>r Gestalt <strong>de</strong>r Lene bewegt sich dieses Werk noch in einean<strong>de</strong>re Richtung und entfernt sich vom Zeitroman. Lene, diein einer Gartenatmosphäre lebt, hat auch etwas Märchenhaftes– zuerst für Botho und dann auch für uns Leser (siehe2.6.2, Schluss). Damit gerät <strong>de</strong>r Roman in Distanz zum Alltagund zu seiner Epoche. Eine gewisse Distanzierung verfolgtFontane auch dadurch, dass er die Handlungszeit um einigeJahre zurückverlegt, heißt es doch im ersten Satz: „(...) befandsich in <strong>de</strong>r Mitte <strong>de</strong>r siebziger Jahre noch (...).“ (S. 5)Fontane geht es also nicht nur um seineZeit. Er schil<strong>de</strong>rt die Menschen inihrer Menschlichkeit. Seinen FigurenEr schil<strong>de</strong>rt die Menschen inihrer Menschlichkeit2. Textanalyse und -interpretation81


2.7 Interpretationsansätzehat er komplizierte Charaktere beigegeben. Dies gilt für Lene,die zum Sticheln neigt (S. 53), und es gilt auch für Frau Dörrund ihre fragwürdige Robustheit, für Gi<strong>de</strong>on, <strong>de</strong>r als Sektenführeraltmodisch wirkt und doch mo<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>nkt, und sogarfür Käthe, die nicht nur „herumdalbert“, son<strong>de</strong>rn sich auchvon Armstrong und seiner Verspottung <strong>de</strong>s Militärs faszinierenlässt. Viele <strong>de</strong>r Wortspiele und Motivwie<strong>de</strong>rholungen diesesRomans (siehe 2.6.3 und 2.6.4) drücken die vielschichtigePsyche <strong>de</strong>r Personen aus.Es ist die Liebe zwischen Botho und Lene, die die Normen <strong>de</strong>rGesellschaft vorübergehend außer Kraft setzt. Alles Wesentliche,das Lene tut, beruht auf ihren bewussten und illusionslosenEntscheidungen („freier Entschluss“, S. 81). Fontane <strong>de</strong>monstrierthier die Stärke <strong>de</strong>r Psyche, genauer gesagt: <strong>de</strong>rweiblichen Psyche.Zu dieser psychologischen Seite <strong>de</strong>s Romans gehören aucheinige grundsätzliche Aussagen über die menschliche Seele,die wir von <strong>de</strong>n Personen hören. Zum Beispiel sagt BothosKamerad Serge <strong>de</strong>n tiefsinnigen Satz: „Alle Genüsse sindschließlich Einbildung und wer die beste Phantasie hat, hat<strong>de</strong>n größten Genuss.“ (S. 39) Botho stellt fest, dass „das Herkommenunser Tun bestimmt“ (S. 78), und von Lene hörenwir einen Gedanken, <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rne Psychologe ErichFromm gesagt haben könnte: „Die Liebe (...) macht auch hellund fernsichtig.“ (S. 27) Ein typischer Vorgang <strong>de</strong>s Seelenlebensist Lenes Erschrecken – so, als müsse sie ein schlechtesGewissen haben –, als sie auf <strong>de</strong>r Landpartie ein fleißig arbeiten<strong>de</strong>sMädchen bemerkt (S. 64). Psychologisch exakt arbeitetFontane auch, wenn er Lene nach ihrem Zusammenbruchdadurch neue Kraft verleiht, dass er sie die Wohnung wechselnlässt (17. Kap.).822. Textanalyse und -interpretation


2.7 InterpretationsansätzeEntsprechend richtet sich die Kritik dieses Romans nicht nurgegen aktuelle politische Zustän<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch gegen dieMenschen selbst. Fontane zeigt uns, wie harte Männer dieFrauen quälen und Eltern ihre Kin<strong>de</strong>r einengen (2.6.4, 1. Kasten).Diese Kritik Fontanes ist aktuell geblieben.Auch Botho wird auf versteckte Weise kritisiert, <strong>de</strong>nn er hätteja Lene heiraten können, so wie „Adalbert von Lichterloh“ diebürgerliche Hil<strong>de</strong>gard Holtze heiratet (S. 121). Dazu hätte ersich von seiner Familie und ihrem Geld-Denken lösen müssen,was freilich eine zu schwere Aufgabe für ihn ist.2.7.4 <strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> – ein EntwicklungsromanBotho zieht nicht nur die Kritik <strong>de</strong>s Erzählers auf sich, er kannauch als die interessanteste Person <strong>de</strong>s Romans angesehenwer<strong>de</strong>n. Denn während alle an<strong>de</strong>ren Figuren ihr eigenes Denkennicht zur Debatte stellen, macht Botho in seinem Denkeneine Entwicklung durch. Botho geht Entscheidungen aus <strong>de</strong>mWeg: Er muss sich sogar von Lene sagen lassen, was geschehenwird („wegfliegen wirst du“, S. 27). Er ist von seiner Mutterund seinem Onkel völlig abhängig. Botho ist also schwachund konfliktscheu – doch diese Schwächezu erkennen und dann konse-Schwäche zu erkennen und dannkonsequent zu sein, das istquent zu sein, das ist Bothos Leistung.Bothos LeistungFontane beschreibt hier einen schwierigenEntwicklungsprozess. Der Titel <strong>Irrungen</strong>, <strong>Wirrungen</strong> istin erster Linie auf Botho und seine Entwicklung zu beziehen.Er selbst spricht diesen Titel einmal aus (S. 119).Anfangs, wenn wir Botho zum ersten Mal in seiner Wohnungerleben, erscheint ihm die Welt als „eine <strong>de</strong>r besten Welten“(S. 31). Später sieht er beim Anblick von Arbeitern ein, dass2. Textanalyse und -interpretation83


2.7 Interpretationsansätzedas Einhalten <strong>de</strong>r „Ordnung“ für ihn das Richtige ist (S. 78).Schließlich hat er sich so weit entwickelt, dass er seinem Kamera<strong>de</strong>nRexin schlüssig erklären kann, dass es auch für ihngut ist, die Regeln <strong>de</strong>r Gesellschaft einzuhalten (S. 125 f.).Natürlich kann man Botho ta<strong>de</strong>ln, aber es ist bewun<strong>de</strong>rnswertan ihm, dass er seinen eigenen Charakter erkennt und sichgeistig die Position erarbeitet, die für ihn passt.Fontane hat in <strong>de</strong>m Bild von Botho und seiner Entwicklungviele Feinheiten untergebracht. In <strong>de</strong>r ersten Hälfte <strong>de</strong>s Romansfehlen Botho oft die Worte, um Probleme zu erörtern.Am Schluss dieser ersten Hälfte, in <strong>de</strong>m letzten Augenblick<strong>de</strong>s Abschieds, ist er stumm (S. 82). In <strong>de</strong>r zweiten Hälfte <strong>de</strong>sRomans entwickelt er seine Fähigkeit, zu re<strong>de</strong>n und zu argumentieren(20. und vor allem 23. Kapitel), und Fontane gibtihm sogar das letzte Wort im Roman.Der Roman macht <strong>de</strong>utlich, dass Bothos Denkweise eben fürBotho, nicht aber für an<strong>de</strong>re zutrifft. Denn in <strong>de</strong>m GesprächspartnerRexin beschreibt Fontane „einen ‚neuen‘ Botho vonRienäcker“ 23 , <strong>de</strong>r in seinem Denken weiter ist. Botho selbstbemerkt die Fragwürdigkeit seiner Vorstellungen. „Je<strong>de</strong>rStand hat seine Ehre“, sagt er zu Frau Nimptsch (S. 18), undvor allem erkennt er, dass Gi<strong>de</strong>on, dieser mo<strong>de</strong>rne bürgerlicheHandwerker, ihm gewachsen ist. Dies zeigt das 20. Kapitelund <strong>de</strong>r Schlusssatz <strong>de</strong>s Romans.Eine Bemerkung noch: Fontane mochte solche Kategorien wie‚Zeitroman‘, ‚psychologischer Roman‘ und ‚Entwicklungsroman‘nicht. Er verstand sein realistischesKreieren immer als etwas Ganz-realistisches Kreieren als etwasGanzheitlichesheitliches. In <strong>de</strong>r Person Bothos führtFontane diese Ganzheitlichkeit <strong>de</strong>utlich vor, und zwar in <strong>de</strong>rlangen Fahrt Bothos zum Grab von Frau Nimptsch (21. Kap.).23 Hettche, S. 153842. Textanalyse und -interpretation


2.7 InterpretationsansätzeDiese Fahrt zwischen kuriosen Bu<strong>de</strong>n, Portalen und Werbesprüchen,mit einem Berliner Kutscher, <strong>de</strong>r aus Schlesienstammt, mit Hilfe eines hungrigen Pfer<strong>de</strong>s und an einerMusikdarbietung und an einer Unfallstelle vorbei – das isteine Welt in einer Buntheit, die von <strong>de</strong>r ringsum herrschen<strong>de</strong>nOrdnung nichts wissen will. Wir Leser von heute fühlenuns wie beim Zappen vorm Fernseher. Gewiss, Botho ist passiv,doch diese reichhaltige Welt zu beobachten tut ihm wohl.Der Gedanke steht im Raum: Bothos Entwicklung wird weitergehen.2. Textanalyse und -interpretation85

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!