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Entlang des „Eisernen Vorhangs“ - Archivgemeinschaft Schwarzenbek

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<strong>Entlang</strong> <strong>des</strong> <strong>„Eisernen</strong> <strong>Vorhangs“</strong>Der Kreis Herzogtum Lauenburg im geteiltenDeutschlandWilliam BoehartEinführungEs gilt, Schlaglichter auf die jüngste Geschichte einer alten Grenze zu werfen. Seitdem Mittelalter bildeten zwischen den Städten Lübeck und Lauenburg/Elbe dieDelvenauniederung, der Ratzeburger See und das Schaalseegebiet die Grenzezwischen den Herzogtümern Lauenburg und Mecklenburg. Die Grenze wardurchlässig, es gab mannigfaltige wirtschaftliche, gesellschaftliche und politischeBeziehungen zwischen den Nachbarn. Man erinnert gerne an die Geschichte derjungen Lauenburger Männer, die 1803 über die Grenze nach Mecklenburg flohen,um dem Kriegsdienst gegen Napoleon zu entgehen. 1 „Stell dir vor, es gibt Krieg,und keiner geht hin“. So etwas hat auch Tradition.Nach 1945 bekam diese Grenze jedoch eine neue Qualität. 2 Sie markiertenicht länger zwei Nachbarterritorien im Deutschen Reich, sondern zeichnete dieTrennlinie zweier deutscher Teilstaaten, ja sogar den Brennpunkt zweierverfeindeter weltpolitischer Machtblöcke. Ost und West, Kommunismus undKapitalismus oder in der Propaganda der USA „Unfreiheit und Freiheit“ trafen sichunnachgiebig und unerbittlich entlang der ca. 80 km langen Grenze zwischenLübeck und Lauenburg. Der „Eiserne Vorhang“, den Winston Churchill 1946 überEuropa fallen sah, trennte Lauenburg und Mecklenburg zwischen 1945 und 1989bzw. 1990. Der ehemalige preußische Kreis Herzogtum Lauenburg sah sich injenem 44-jährigen Abschnitt der Regionalgeschichte als östlicher „Vorposten“ <strong>des</strong>1946/47 gegründeten Lan<strong>des</strong> Schleswig-Holstein bzw. der 1949 gegründetenBun<strong>des</strong>republik Deutschland. Der Kreis befand sich nicht mehr in der MitteEuropas, sondern als Grenzland am Rande <strong>des</strong> Westens. Diese Sonderstellungwirkte sich nachhaltig auf die Region und ihre Bewohner aus.Der nachstehende Aufsatz greift drei Aspekte der Kreisgeschichte zwischen1945 und 1989 auf, um die Folgen der Grenze exemplarisch darstellen zu können.Es geht einmal um die materielle Lage nach 1945, dann um die parteipolitischeEntwicklung in einem Grenzkreis und zuletzt um den Versuch, durch einen1 Carl Bertheau. Die Franzosenzeit in Lauenburg. Eine Denkschrift zur hundertjährigen Feierder Befreiung von der französischen Herrschaft. Ratzeburg 1913. S. 3.2 Grundlegend hierzu: William Boehart/Carsten M. Walczok. „Soviel Anfang war nie“, in:William Boehart/Heinz Bohlmann/Cordula Bornefeld/Christian Lopau. Zwischen Stillstandund Moderne – Der besondere Weg <strong>des</strong> Kreises Herzogtum Lauenburg in die Moderne.<strong>Schwarzenbek</strong> 2001. (= Sonderveröffentlichung <strong>des</strong> Heimatbund und GeschichtsvereinsHerzogtum Lauenburg, Bd. 30). S. 84-103.1


evakuiert. Der Einigungsvertrag zwischen der Bun<strong>des</strong>republik und der DDR vom31. August 1990 schrieb diese „Grenzbereinigung“ fest 5 .Im Laufe der Nachkriegszeit wurde die Grenze zunehmendundurchlässiger, bis sie zum Schluss eher einer Gefängnisbefestigung glich. EineStatistik aus dem Jahre 1976 verdeutlicht dies 6 :Tabelle:ca. 5 km einfacher Stacheldrahtzaunca. 24 km doppelter Stacheldrahtzaun(davon 26 km vermint)ca. 61 km einfacher Metallgitterzaun (3 m hoch)ca. 16 km doppelter Metallgitterzaun (2 m hoch)Selbstschussanlagen – „SM 70“ - Splitterminen auf einer Länge von ca. 33 km (indrei verschiedenen Höhen an den Grenzpfählen im Abstand von ca. 10 bis 12 mbefestigt)ca. 80 km Kontrollstreifen (6 m breit)ca. 42 km Kraftfahrzeugsperrgräbenca. 77 km Kolonnenwegeca. 40 Beobachtungstürmeca. 50 Beton- und Erdbunker, Beobachtungsstände und Fernsehkamerasca. 6 Hundelaufanlagen mit ca. 55 Hunden auf einer Länge von ca. 5 km15 Lichtstraßen auf einer Länge von ca. 16 km sowie 17 stationäre Scheinwerferca. 29 km Hinterlandzäuneca. 30 elektronische, optische und akustische SignalanlagenMit welcher Entschlossenheit die DDR bzw. deren Grenztruppen ihreGrenze „sicherten“, wurde 1976 durch den „Fall Gartenschläger“ unzweideutigdemonstriert. 7 Der aus der DDR freigekaufte und in Hamburg wohnhafte MichaelGartenschläger baute am 30. März 1976 eine Selbstschussanlage „SM 70-Anlage“von der Grenze im Raum Büchen ab und verkaufte sie dem Nachrichtenmagazin„Der Spiegel“. Im April montierte er noch eine zweite solche Anlage ab. Doch als ertrotz eindringlicher Warnungen durch den Bun<strong>des</strong>grenzschutz einen weiterenApparat abbauen wollte, wurde er von den Sicherheitskräften der DDR erwartet. Inder Nacht zum 1. Mai ging er bei Bröthen wieder auf DDR-Gebiet und näherte sichdem Metallgitterzaun. Ohne Warnung eröffneten mehrere DDR-Grenzsoldaten das5 Kurt Jürgensen. „Der Gebietsaustausch zwischen Mecklenburg und Lauenburg auf derGrundlage <strong>des</strong> Barber-Lyaschenko-Abkommens, in: „Die Grenz- und Territorialentwicklungim Raum Lauenburg-Mecklenburg-Lübeck. Hg.v. Kurt Jürgensen. Neumünster 1992. S. 119-143.6 Kreis Herzogtum Lauenburg (Hg.), Materialien zum 100jährigen Bestehen <strong>des</strong> KreisesHerzogtum Lauenburg 1876-1976. Ratzeburg 1978. S 25f.7 Lothar Lienicke und Franz Bludau. To<strong>des</strong>automatik – Die Staatssicherheit und der Tod <strong>des</strong>Michael Gartenschläger. Berlin 2003.3


Feuer. Gartenschläger verblutete im „Niemandsland“ zwischen den verfeindetenGrenztruppen. An dem Punkt, an dem Michael Gartenschläger getötet wurde,machte der Grenzverlauf einen scharfen Knick. Diese Ecke in der Grenze hießfortan „Gartenschlägereck“. Am Totensonntag, dem 21. November 1976, wurde einHolzkreuz aufgestellt, das sich in der Folgezeit zuweilen zum „Wallfahrtsort“ fürlokale politische Kundgebungen entwickelte.Das „Gartenschläger-Kreuz“ bei Bröthen um 1976. Foto: Stadtarchiv GeesthachtDer Fall Gartenschläger war der spektakulärste von zahlreichen größerenund kleineren Zwischenfällen entlang der Grenze, vor allem in den fünfziger,sechziger und siebziger Jahren. Es entstand auf beiden Seiten ein ausgedehnterBewachungs- und Kontrollapparat. Als der BGS-Standort <strong>Schwarzenbek</strong> 1997aufgelöst wurde, übernahm das Stadtarchiv <strong>Schwarzenbek</strong> die Überlieferung derGrenzschutzabteilung Nord 2 – nachdem das Lan<strong>des</strong>archiv Schleswig dies abgelehnthatte. Die inzwischen archivierten Unterlagen geben einen detaillierten Blick in dieArbeit der Grenzschützer nach 1970 und zeigen, wie minutiös die gegenseitigeBeobachtung war. Statt mit Waffen hat man mit Kameras geschossen. Es gibt kaumeinen Stein zwischen Lübeck und Lauenburg/Elbe, der nicht fotografiert wurde.4


Der Kreis als Wirtschaftsregion zwischen 1945 und 1989Das Jahr 1945 bedeutete für den Kreis Herzogtum Lauenburg neben der Befreiungvon der nationalsozialistischen Diktatur und dem Ende <strong>des</strong> Krieges in Europa einenBevölkerungszuwachs in einem bis dahin nie gekannten Umfang. Im Oktober 1945lebten im Kreisgebiet 131.830 Menschen, davon waren 72.510 „Lauenburger“ und59.320 Ausgebombte, Flüchtlinge und Vertriebene. 8 Ständig trafen neueFlüchtlingstrecks aus dem Osten ein. Zur Lenkung <strong>des</strong> Flüchtlingsstroms hatte diebritische Militärregierung im September 1945 beschlossen, in Lütau, Gudow,Schmilau und Krummesse vier Auffanglager einzurichten. Von dort aus sollten dieFlüchtlinge später auf die einzelnen Gemeinden und Städte verteilt werden. Mitjedem weiteren Flüchtling verschlechterte sich die Lage im Kreisgebiet. Wohnraumwurde zur Mangelware, die Nahrungssuche zum Alltagsproblem, Brennstoffe zumLuxus. Ende 1945 stand rund 12.000 Menschen im Kreis kein beheizbarer Raum zurVerfügung. 9Der Flüchtlingsanteil an der Bevölkerung <strong>des</strong> Kreises lag 1950 mit rund 55% sowohl über dem Durchschnitt der übrigen Kreise Schleswig-Holsteins (43 %) alsauch deutlich über dem bun<strong>des</strong>deutschen Durchschnitt (16 %). 10 Der Kreis – wie dasgesamte Land Schleswig-Holstein – diente als Auffangbecken für dieFlüchtlingsströme aus dem Osten. Als erste Region westlich <strong>des</strong> EisernenVorhanges, die zudem durch Agrarwirtschaft geprägt und weitgehend vonKriegseinwirkungen verschont geblieben war, strahlte Schleswig-Holstein eineAnziehungskraft aus. Dies galt besonders für den Kreis Herzogtum Lauenburg mitseiner unmittelbaren Lage an der Zonengrenze. Neben der großen Zahl anFlüchtlingen und Vertriebenen befanden sich im Kreis auch noch die „DisplacedPersons” (DPs). Unmittelbar nach Kriegsende lebten rund 8.000 nichtdeutscheStaatsbürger allein in Geesthacht, in ganz Schleswig-Holstein gab es Ende 1945165.000 DPs. 11 Insgesamt stellte sich die Situation der vom Krieg Entwurzelten inNorddeutschland als schwierig, im Kreis Herzogtum Lauenburg sogar alskatastrophal dar. Während die Zahl der DPs schrittweise abgebaut werden konnte,kam eine neue Bevölkerungsgruppe aus dem Osten nach: Flüchtlinge in denfünfziger Jahren aus der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), der so genannten„Ostzone“, bzw. aus der DDR. Trotz aller Umsiedlungsmaßnahmen – insgesamtwurden zwischen 1949 und 1967 rund 26.935 Personen in andere Bun<strong>des</strong>länder undinnerhalb Schleswig-Holsteins umgesiedelt, weitere wanderten nach Übersee aus –lebten im Oktober 1950 im Kreisgebiet neben den 68.731 Einheimischen noch8 Heinz Bohlmann, Fäuste – Führer – Flüchtlingstrecks. Ein Beitrag zur Geschichte der StädteGeesthacht und Lauenburg/Elbe 1930-1950. <strong>Schwarzenbek</strong> 1990. S. 155.9 Ebd., S. 157.10 Kreis Herzogtum Lauenburg, Anm. 11, S. 39.11 Bohlmann, Anm. 12, S. 151.5


80.290 Flüchtlinge, 987 Evakuierte und 10.258 Nichtdeutsche, also insgesamt160.266 Einwohner. 12Für den Kreis Herzogtum Lauenburg bedeuteten die Flüchtlinge undVertriebenen in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes. Zwar stellten sie enormeAnsprüche an die Infrastruktur, brachten jedoch Fertigkeiten und Aufbauwillen mit,die zum Gelingen der wirtschaftlichen Genesung der Bun<strong>des</strong>republik nach 1949beitrugen.Zusammen mit den anderen Landkreisen rund um Hamburg (Stormarn,Pinneberg und Segeberg) wurde 1958 die Denkschrift „Sonderprobleme imHamburger Randgebiet“ veröffentlicht und eine Arbeitsgemeinschaft zum Zweckeder Zusammenarbeit in allen sich aus dieser Nachbarschaft ergebenden Fragengegründet. 1960 gründeten die Stadt Hamburg und das Land Schleswig-Holsteineinen Förderungsfond, insbesondere um Wirtschaftsinvestitionen zu finanzieren.Auf den insgesamt noch immer sehr strukturschwachen Kreis Herzogtum Lauenburgentfielen zwischen 1960 und 1976:Schulbau7.826.700 DMVerkehr 2.027.235Wasserwirtschaft 8.204.205Erwerb und Erschließung von BauundIndustriegelände 7.677.806Naherholung 2.731.120Krankenhäuser 208.000Verschiedenes 2.611.959Insgesamt 31.287.025 13Rund 70 % dieser Gelder flossen zum Ausbau der Achsenschwerpunkte Geesthachtund <strong>Schwarzenbek</strong>.Die Teilnahme an der Wirtschaftsförderungsgesellschaft Südholstein mbHvon 1968 stellte eine weitere Initiative <strong>des</strong> Kreises dar. In diesem Jahr hatten dieKreise Herzogtum Lauenburg, Stormarn und Segeberg sowie dieWirtschaftsförderungs- und Aufbaugesellschaft Stormarn mbH, die Lan<strong>des</strong>bank undGirozentrale und die Wirtschaftsaufbaukasse Schleswig-Holstein AG zusammen dieWirtschaftsförderungsgesellschaft Südholstein mbH gegründet. 14Als die Arbeitslosenzahlen während der ersten großen Wirtschaftskrise derjungen Bun<strong>des</strong>republik 1967 in den Zonenrandgebieten auf ein Vielfaches <strong>des</strong>Bun<strong>des</strong>durchschnittes kletterten, sah man sich in Bonn und in den Hauptstädten derZonenrandländer (Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hessen und Bayern)gezwungen, darauf zu reagieren. Als förderungswürdiges Zonenrandgebiet wurdeein rund 40 Kilometer breiter Streifen von Flensburg bis nach Passau (eine Flächevon 49.000 Quadratkilometer) definiert. Man beschloss für diesen Streifen ein12 Kreis Herzogtum Lauenburg, Anm. 11, S. 419.13 Kreis Herzogtum Lauenburg, Anm. 6, S 134.14 Ebd., S. 165.6


umfangreiches Hilfsprogramm, die so genannte Zonenrandförderung. Eine Reihevon Gesetzen bildete die Grundlage für dieses Förderprogramm: Gemeinschaftsaufgabengesetz zur „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“ vom 6. Oktober 1969 mit den dazugehörendenRahmenplänen; Zonenrandförderungsgesetz vom 5. August 1971; Investitionszulagengesetz in der Fassung vom 24. Februar 1975.Der Paragraph I <strong>des</strong> Gesetzes zur Zonenrandförderung von 1971 stellte den Zweckdieser Verfügung deutlich heraus: „Zum Ausgleich der Auswirkungen der TeilungDeutschlands ist die Leistungskraft <strong>des</strong> Zonenrandgebietes bevorzugt zu stärken.“ 15Der Ausbau der wirtschaftlichen Potenziale der Zonenrandgebiete stand an obersterStelle. Die Instrumentarien dazu waren z. B. Investitionszuschüsse, steuerlicheVergünstigungen und Hilfen bei der Erschließung von Industrieflächen. Dieseüberwiegend ländlichen Regionen sollten nun durch verschiedene Maßnahmenunterstützt werden. Der Ausbau der Verkehrswege in und durch diese Gebiete stellteeine wichtige Maßnahme dar. So sollte der Zugang zu den bun<strong>des</strong>deutschen undeuropäischen Märkten erleichtert werden. Der Bau der Autobahnen im Kreis (A 24und A 25) ist auch unter diesem Aspekt zu bewerten. Durch die Förderung aufkommunaler Ebene und den Bau von Kindergärten, Schulen oder auch Sportanlagensollte der Wohnwert dieser Regionen gesteigert werden und so die Menschen zumBleiben eingeladen bzw. sogar der Zuzug weiterer Arbeitskräfte ermöglicht werden.1986 stellten z. B. Bund und Länder insgesamt 250 Millionen DM allein für dieWirtschaftsförderung bereit. Die Bun<strong>des</strong>regierung stockte das Investitionsvolumenfür den Straßenbau auf 649 Millionen DM auf, weitere 16 Millionen flossen in densozialen Wohnungsbau. Weiterhin wurden kulturelle und soziale Einrichtungen mit173 Millionen DM gefördert.Diese Fördermittel erreichten die Kreise, Städte und Gemeinden höchstunterschiedlich. Städte und Gemeinden in direkter Nähe zur innerdeutschen Grenzebzw. in extremer Zonenrandlage wie z. B. Lauenburg oder Büchen bekamen mehrFördermittel als etwa die Gemeinde Wentorf bei Hamburg mit ihrem großenAbstand zur Grenze. Mölln und Lauenburg erhielten eine Förderung dergewerblichen Investitionen von bis zu 25 % in Form von Zuschüssen. <strong>Schwarzenbek</strong>und Geesthacht dagegen erhielten diese Zuschüsse nur zu 15 %. Eine weitere Hilfewar die schnelle Bereitstellung von Flächen zur Gewerbe- und Industrieansiedlung.Weiterhin unterstützten Bund und Länder die Modernisierung von Unternehmendurch zinsgünstige Kredite: Auf diese Art konnte die Wettbewerbsfähigkeit vonBetrieben gesichert bzw. gesteigert werden und so den benachteiligtenZonenrandgebieten erhalten bleiben. Allein die Stadt <strong>Schwarzenbek</strong> bekam fürunterschiedlichste öffentliche Bauvorhaben (Klärwerk, Sporthalle usw.) über640.000 DM in Form von Bun<strong>des</strong>zuschüssen.15 Carsten M. Walczok. Im Schatten <strong>des</strong> Eisernen Vorhanges. Zur Geschichte derinnerdeutschen Grenze zwischen Lauenburg und Lübeck. Geschichtsheft <strong>des</strong> KrügerschenHauses. Geesthacht 1999. S. 30.7


Mit der Wiedervereinigung im Oktober 1990 waren die Gründe, dieeinstmals zur Einführung der Zonenrandförderung geführt hatten, hinfälliggeworden. Die Programme wurden schrittweise aufgehoben. Für den KreisHerzogtum Lauenburg bedeutete die Wiedervereinigung einen deutlichen Bruch inden öffentlichen Haushalten. Der Kreis fand sich auf sich selbst gestellt.Der Bau und Betrieb von Bun<strong>des</strong>wehr- und Bun<strong>des</strong>grenzschutzeinrichtungenim Kreisgebiet stellte eine Folge der besonderen Grenzlage derRegion dar, aber auch eine Form der Unterstützung. Insgesamt entstanden fünfKasernen – zwei Bun<strong>des</strong>wehrkasernen in Wentorf (Bose-Bergmann und Bismarck-Kasernen), die Sachsenwaldkaserne in Lanken (Bun<strong>des</strong>wehrstandort) sowie dieBun<strong>des</strong>grenzschutzkasernen (BGS) in Ratzeburg und <strong>Schwarzenbek</strong>. .Während die Stadt Ratzeburg traditionell eine Garnisonsstadt war,immerhin existierte die Below-Kaserne in der Mechower Straße schon seit demErsten Weltkrieg, wurde <strong>Schwarzenbek</strong> erst 1971 Garnisonsstadt. Der Bau derKaserne für die Grenzschutzabteilung Nord 2 lässt sich eindeutig auf die Nähe zurinnerdeutschen Grenze zurückführen. 16 Nach dem Wegfall der Grenze wurde 1996der Standort <strong>Schwarzenbek</strong> aufgegeben. Der BGS ließ auf vielfältige Weise Geld inder Region. Die Kaserne bot einigen Zivilarbeitern und Angestellten Arbeitsplätze,Wohnungen wurden mit Hilfe von Bun<strong>des</strong>zuschüssen errichtet.In Ratzeburg, wo der BGS bereits 1955 einzog, stellten sich die Problemeund Vorteile noch deutlicher dar. Denn nach dem Krieg wurde die Below-Kasernenicht nur zur Unterbringung von Flüchtlingen genutzt. Seit dem 1. Mai 1946 warendort auch das Kreiskrankenhaus, die Polizei, die Feuerwehr und einigenGewerbebetriebe untergebracht. Um die Kasernenanlage mit Einheiten <strong>des</strong> BGSbelegen zu können, mussten die damaligen Nutzer umgesiedelt werden. Dafür wurdedas Kreiskrankenhaus für 4,4 Millionen DM mit dem DRK-Krankenhauszusammengelegt. Für die Flüchtlinge (insgesamt 140 Mietparteien), die auf demKasernengelände lebten, musste eine Reihe von Wohnungen errichtet werden. DerBau der Wohnungen wurde vom Bund mit 2 Millionen DM unterstützt: Für diegewerblichen und auch die öffentlichen Nutzer der Kasernenanlage musstenebenfalls Lösungen gefunden werden. Umzugskosten, Darlehen undFreimachungsentschädigungen wurden gezahlt. Allein an Darlehen flossen aus Bonnrund 3,4 Millionen DM nach Ratzeburg. 17 Doch auch für den laufenden Betrieb(Lebensmittel, Bauaufträge usw.) flossen regelmäßig Gelder (ca. 490.000 DM,Stand 1980) in die örtliche Wirtschaft. 18 Weiterhin ist der BGS mit über 600Beschäftigten bis heute der größte Arbeitgeber in der Stadt. Zwar wurde nach demWegfall der Grenze eine Reihe von Kasernen im Kreis geschlossen (Wentorf und16 Uwe Haak. Chronik der Grenzschutzabteilung Nord 2 <strong>Schwarzenbek</strong> 1971-1996.<strong>Schwarzenbek</strong> 1996.17 Christian Lopau. Ratzeburg als Standort <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>grenzschutzes, in: LauenburgischeHeimat. Ratzeburg 1999, Heft 153, S. 107.18 Ebd. S. 111.8


<strong>Schwarzenbek</strong>), doch die bestehende BGS-Unterkunft in Ratzeburg stellt weiterhineinen bedeutenden Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt und auch <strong>des</strong> Kreises dar.Die wirtschaftliche Bedeutung der Bun<strong>des</strong>wehrkasernen in Wentorf undLanken war noch gewaltiger. Am 3. Oktober 1960 zogen die erstenBun<strong>des</strong>wehrsoldaten in die während der NS-Zeit entstandene Wentorfer Anlage ein.1969 wurde ein weiterer Kasernenkomplex in Lanken bei <strong>Schwarzenbek</strong> gebaut. 19Ende 1972 war der Umzug der Panzergrenadierbrigade 16 in den Kreis HerzogtumLauenburg abgeschlossen. Insgesamt waren ca. 4.000 Bun<strong>des</strong>wehrsoldaten in denbeiden Kasernen stationiert. Bei einer Feierstunde im Jahre 1987 auf dem GutWotersen übernahm die Brigade den Beinamen „Herzogtum Lauenburg“ alsZeichen ihrer Zugehörigkeit zur Region. Die Stationierung der Truppen hatteweitreichende wirtschaftliche Folgen. So wurden 400 Zivilarbeiter und -arbeiterinnen im Kreis beschäftigt und über 550 Wohnungen für Soldaten undArbeitnehmer verwaltet. Um die Soldaten in den vier Truppenküchen morgens,mittags und abends zu verpflegen, wurden jährlich eine Million Brötchen, 86Tonnen Brot, 150 Tonnen Fleisch- und Wurstwaren und 286 Tonnen Kartoffeln,Gemüse und Obst beschafft. Allein für Verpflegung gab die Standortverwaltungrund 3,5 Millionen DM im Jahr aus. 20 Nach 1990 wurde die Truppenstärke derBrigade 16 schrittweise abgebaut, die Kasernen aufgegeben. Seit 1994 werden keineBun<strong>des</strong>wehrsoldaten mehr im Kreisgebiet stationiert.Parteipolitische Entwicklungen zwischen 1945 und 1989Der britischen Besatzungsmacht war es ein besonderes Anliegen, lebendigedemokratische Parteien „von der Basis auf“ entstehen zu lassen. Aus diesem Grundeerließ die Militärregierung bereits am 15. September 1945 die Verordnung Nr. 12für das Britische Kontrollgebiet. Sie ermöglichte die Bildung politischer Parteien auflokaler Ebene ermöglichte. Es ging den Briten darum, die Verantwortung für daskommunale Geschehen so schnell wie möglich in die Hände der Deutschen zulegen. Anträge auf Zulassung und die Genehmigung durch die Militärregierung sindzunächst für die SPD und KPD festzustellen, die zügig auf Strukturen und Kontakteaus der Zeit vor 1933 zurückgreifen konnten. Bis zum Ende <strong>des</strong> Jahres 1945entstanden auf Kreisebene und in den größeren Ortschaften Parteiorganisationen derSPD. Während in Geesthacht, Lauenburg und Mölln ältere, einheimische Genossenden Kern der Neugründungen bildeten, beteiligten sich in Orten wie <strong>Schwarzenbek</strong>,Dassendorf und Büchen Zugezogene maßgeblich am Aufbau der Partei.Auch die KPD konnte sich zunächst wieder schnell etablieren, allerdingsmit ihrem traditionellen Schwerpunkt im südlichen Kreisgebiet. In den Jahren nach1945 entwickelte sich die SPD zu einer der beiden wichtigen Volksparteien im Kreis19 William Boehart. Wentorf – Das Heimatbuch. Geschichte und Geschichten einerlauenburgischen Gemeinde vor den Toren Hamburgs. <strong>Schwarzenbek</strong> 2 Aufl. 1997. S. 93ff.20 Ebd. S. 100.9


und Land. Die KPD verschwand dagegen fast völlig. Allein in Geesthacht konntesich eine kommunistische Organisation bis Ende der achtziger Jahre halten.Die bürgerlichen Parteien hatten es zu Beginn schwieriger. Einerseits hattendie in der Weimarer Republik entstandenen und eher als „Honoratiorenparteien“ zucharakterisierende DDP, DVP und DNVP keine bindenden Traditionen entfaltenkönnen. Sie waren außerdem durch ihr Verhalten in der Endphase der WeimarerRepublik weitgehend diskreditiert. Andererseits verlangte die Besatzungsmacht„unbelastete Persönlichkeiten“ (d. h. keine ehemaligen NSDAP-Parteimitglieder) fürdie Gründung der neuen Parteien. Trotz dieser Schwierigkeiten entstanden bis zumFrühjahr 1946 in den Gemeinden und auf Kreisebene Parteiorganisationen der CDUals neue Sammelpartei bürgerlich-konservativer Kräfte. 21Die liberale Tradition Deutschlands wird in der Bun<strong>des</strong>republik durch dieFDP. verkörpert. Ihre Entstehung im Kreisgebiet ist für das Jahr 1947 belegbar, alsaus ihrer Hochburg in Wentorf ein Antrag auf Zulassung bei der Militärregierungeinging. 22 Obgleich keine Unterlagen überliefert worden sind, muss die DeutschePartei (DP) auch um 1948 im Kreisgebiet entstanden sein, da sie sich an denKommunalwahlen 1948 beteiligte. Diese Partei nahm Positionen deutlich rechts vonder CDU ein.Die zügige Entstehung von SPD, CDU und FDP, der drei dieBun<strong>des</strong>republik Deutschland in den folgenden 50 Jahren tragenden Parteien,täuschte in den ersten Jahren nach dem verlorenen Weltkrieg täuschte eine Stabilitätin der Parteienlandschaft <strong>des</strong> Kreises vor, die tatsächlich nicht vorhanden war. DieErgebnisse der Kreistagswahlen in den fünfziger und sechziger Jahren zeigen, dass„die bürgerliche Mitte“ durch FDP und CDU erst spät vertreten wurde. DieserAusgang stand Anfang der fünfziger Jahre keineswegs fest. Entscheidender Faktorwar die politische Orientierung und Integration der Flüchtlinge. Bis 1950 ließ dieMilitärregierung keine parteipolitische Interessenvertretung der Flüchtlinge zu. Siebefürchtete eine politische Radikalisierung, die beispielsweise durch die Forderungnach Rückgewinnung der deutschen Ostgebiete entfacht werden könnte. Im Sommer1950 hob der schleswig-holsteinische Landtag das Verbot auf. Daraufhin entstandeine neue Partei: Der Bund für Heimatvertriebene und Entrechtete (BHE), der beiden Landtagswahlen am 9. Juli 1950 aus dem Stand das zweitbeste Ergebnis – nachder SPD – im Kreisgebiet errang. Für die Landtagswahl hatten die CDU, die FDPund die DP einen Wahlblock gegründet, um die bürgerlich-konservativeWählerschaft an sich zu binden. Der Wahlblock erhielt kreisweit ca. 200 Stimmenweniger als der BHE. CDU, FDP, BHE und Deutsche Partei bildeten nach derLandtagswahl 1950 eine Koalition auf Lan<strong>des</strong>ebene, welche die SPD-Regierungablöste.Der Erfolg <strong>des</strong> Wahlblocks führte zu der Idee, eine neue Sammelpartei fürdie Wählerschaft der Mitte und rechts der Mitte zu gründen. Sie sollte die21 Alfred Flögel. 50 Jahre CDU Kreis Herzogtum Lauenburg. Mölln 1996.22 Kreisarchiv Ratzeburg, KA 7864.10


Wählerschaft der CDU, der FDP und der DP aufnehmen und hieß DeutscheSammlung (DS). Der CDU-Kreisvorsitzende Gustav Drevs ließ sich Ende 1950 zumKreisvorsitzenden der Deutschen Sammlung wählen. Bei der Kreistagswahl imfolgenden Jahr erhielt die DS 16 Sitze (SPD: 13, BHE: 12). Die neue Sammelparteierwies sich jedoch als vorübergehende Erscheinung. Aufgrund der positivenwirtschaftlichen Entwicklungen der fünfziger Jahre konnte die Integration derFlüchtlinge große Fortschritte erzielen. Die Flüchtlinge und Vertriebenenbestimmten ihre Parteibindungen nach 1960 weniger nach Herkunft als nachwirtschaftlicher und sozialer Zugehörigkeit. Bis Anfang der sechziger Jahreverschwanden die Konkurrenzparteien im rechten politischen Spektrum. Die CDUkonnte als „Sammelpartei“ die der Deutschen Sammlung zugedachte Rolleeinnehmen.Die politische Situation im Kreis wurde nach 1945 nicht nur durch dieFlüchtlinge und Vertriebenen bedingt. Auch die geografische Lage im Grenzgebiets<strong>des</strong> <strong>„Eisernen</strong> <strong>Vorhangs“</strong> und damit an der Frontlinie <strong>des</strong> „Kalten Kriegs“ prägtendie politische . Der Anti-Kommunismus entwickelte sich nach 1950 zumGrundkonsens weiter Teile der Bevölkerung. Es gelang der CDU dank ihrerbun<strong>des</strong>weiten Ausstrahlung diese Grundstimmung zu nutzen, um nach 1960 dieWählerschaft <strong>des</strong> BHE, der DP sowie anderer Parteien im konservativen Lager ansich zu binden. Die CDU war eindeutig die bestimmende politische Kraft imKreisgebiet ab Mitte der fünfziger bis Anfang der neunziger Jahre. Die SPD konntein den Wahlkämpfen wiederholt von der CDU mit Erfolg als Partei ohneheimatlichen Bezug stigmatisiert werden. Der Vorwurf <strong>des</strong> „Vaterlandsverräters“haftete der Sozialdemokratie lange an.Die Parteienlandschaft hat seit 1965 eine gescheiterte und eine tatsächlicheÄnderung erfahren. Ende der sechziger Jahre fasste auch im Kreisgebiet dierechtsextremistische Nationaldemokratische Partei Deutschland (NPD) Fuß. Bei derLandtagswahl 1967 konnte sie 5,8 % der Stimmen auf sich ziehen. 1969 stimmtenbei der Bun<strong>des</strong>tagswahl 4,5 % der Lauenburger für die Rechtsextremisten, 1970 beider Kreistagswahl 2,6 %. Mit Ausnahme <strong>des</strong> Wahlergebnisses der Deutschen Volks-Union (DVU) bei der Landtagswahl 1992 (7,9 % kreisweit) haben dierechtsextremen Parteien keine nennenswerten Erfolge verzeichnet. Wie bei denErgebnissen für die NPD Ende der sechziger Jahre führte das gute Abschneiden derDVU 1992 zu keiner dauerhaften Parteiorganisation im Kreis.Anders verlief es im linken Spektrum. Ende der siebziger Jahre entstand aus denBürgerbewegungen eine neue Partei: Die Grünen, die sich seitdem im Kreisgebietetabliert haben. Zentren der neuen Partei sind Geesthacht, <strong>Schwarzenbek</strong> und dasHamburger Randgebiet.Die Ergebnisse der Bun<strong>des</strong>tagswahlen nach 1949 zeigen die bereits in derWeimarer Republik entstandenen Grundstrukturen. Es gibt im Kreisgebiet nach wievor ein deutliches Nord-Süd-Gefälle etwa entlang der Autobahnlinie A-7, wobei umdas Mittelzentrum Geesthacht und die historische Schifferstadt Lauenburg/E. die„Linke" ihre Hochburg hat. In den ländlichen Gebieten und vor allem im Norden <strong>des</strong>Kreises findet die CDU ihre Schwerpunkte. Die FDP schneidet am besten im11


unmittelbaren Hamburger Randgebiet und in <strong>Schwarzenbek</strong> ab. Kennzeichnend fürdas Parteienleben im Kreisgebiet sind auf kommunaler Ebene dieWählergemeinschaften. Nicht nur in den ländlichen Gemeinden, sondern auch inStädten wie Mölln und Ratzeburg haben freie Wählergemeinschaften derzunehmenden „Parteipolitisierung“ <strong>des</strong> öffentlichen Lebens widerstanden.Fragen nach einer besonderen MentalitätsentwicklungNachstehende Einblicke in einzelne Ereignisse in und um die Stadt Lauenburgzwischen 1950 und 1961 sind als Fingerzeige zu verstehen. Es wäre aufgrund <strong>des</strong>gegenwärtigen Forschungsstan<strong>des</strong> vermessen, voreilige Schlüsse über ein derartdiffiziles Thema wie Mentalitätsgeschichte zu ziehen. Die Geschichten legen dieVermutung jedoch nahe, dass die Grenznähe eine besondere Rolle spielt impolitischen Denken der Lauenburger in der Nachkriegszeit. Grundlage für dieAusführungen ist eine zeitgeschichtliche Sammlung, die im StadtarchivLauenburg/Elbe verwahrt wird. Es handelt sich um die so genannte „SammlungSchönau“, die von einem städtischen Bediensteten in den fünfziger und sechzigerJahren angelegt wurde. Es sind über 60 Ordner, die u. a. Themen wie Grenze,Wiedervereinigung, Denkmäler behandeln. Folgende Zitate entstammen dieserSammlung.„Fackel der Freiheit“In der „Nordwestdeutschen Allgemeine“ vom 26. September 1950 befand sich einLeitartikel (vom einem Dr. M.z.O. unterzeichnet) unter dem Titel „Junge Aktion“.Der Verfasser berichtet über den Start einer neuen Initiative, die die „deutscheJugend“ erfassen sollte: „Wieder ist ein ungeheures Opfer, nicht nur von derdeutschen Jugend, erbracht (gemeint ist der Zweite Weltkrieg, d.V.) und wiederstehen die jungen Menschen ratlos vor der Frage: Wozu das alles? Wo sie wirklichstehen, wo ihr politischer und gesellschaftlicher Standpunkt ist, wo sie hingehörenund wo man sie braucht, das werden die wenigsten sagen können. (...) Nichts istschlimmer für einen Staat, als eine Jugend, die abseits von den räumlichen undseelischen Bezirken der Erwachsenen dahinlebt. Nichts ist schlimmer für eineJugend, als ein Staat, der sie allein läßt, der sie sich selbst überläßt“.Der Leitartikler schwor die Begriffe „Freiheit, Gerechtigkeit, Staat,Vaterland und Demokratie“ herbei, die den „bekannten Parolen jenseits der Elbe“(gemeint ist die Sowjetische Besatzungszone, d.V.) entgegengesetzt werdenkonnten. Die neue Jugend habe das Zeichen verstanden, und sich als „Junge Aktion“formiert. Sitz der Jungen Aktion war die niedersächsische Stadt Stade. Die imstädtischen Parlament vertretenen Parteien – CDU, SPD und die Deutsche Partei –erkannten die Junge Aktion – so ein folgender Zeitungsartikel – als12


„antikommunistische Jugendorganisation“ an. Auch der Zentralverband derVertriebenen sagte seine Unterstützung <strong>des</strong> neuen Jugendverban<strong>des</strong> zu.Im Oktober 1950 kam es zu einer ersten Aktion der neuen Gruppe. Die„Niederdeutsche Zeitung“ vom 16. Oktober 1950 berichtete mit der Überschrift:„Fackeln der Freiheit liefen durch das Land“ über einen Stafettenlauf der JungenAktion von Stade bis zur „Zonengrenze“ (bzw. deutsch-deutschen Grenze) beiLauenburg/Elbe: „Die Junge Aktion, die kürzlich in Stade gegründete Gemeinschaftjunger Deutscher, startete am Sonnabend ihre erste Unternehmung, die sich gegendie Scheinwahlen in Ostdeutschland und gegen die Knebelung der Freiheit richtete.Ein Fackellauf von Stade an die Zonengrenze nach Lauenburg, einer Stadt, dieeinmal in der Mitte Deutschlands lag, sollte die Menschen im Westen wachrüttelnund sie zum Nachdenken über die Verhältnisse im Osten veranlassen. Als derStafettenläufer Lauenburg gegen Mitternacht erreichte, kam ihm eine Abordnungder dortigen Jugendgruppe mit ihren Fackeln entgegen. Trotz der späten Stundeertönte Musik über Lautsprecher. Die Fackelläufer und weitere Menschen – darunterdie Bürgermeister der Städte Stade und Lauenburg – zogen zum Hasenberg, auf demein großer Holzstoß vorbereitet war. Lauenburgs Bürgermeister Richard Reuter(SPD, d. V.) zündete den Stoß an. Die Zeitung berichtet weiter: „Die LauenburgerJungen und Mädel waren mit einer großen Fahne mit den Bun<strong>des</strong>farben auf denBerg gekommen. Es war ein eindrucksvolles Bild, die jungen Menschen um dasFeuer versammelt zu sehen, das über die nahe Grenze hin weit ins MecklenburgerLand schien, als Symbol dafür, daß im Westen in diesen schweren Tagen der Brüderund Schwestern im Osten gedacht wird“.Die Stimmung, die im Bericht über die „Fackel der Freiheit“durchschimmert, kann als symptomatisch für weite Teile der bun<strong>des</strong>deutschenGesellschaft zu Beginn der fünfziger Jahre betrachtet werden. Der sich zuspitzendeKalte Krieg und die Frage nach der deutschen Einheit überlagerten die Sehnsuchtder (West-)Deutschen nach einer neuen, „heilen“ Identität nach der verheerendenErfahrung der NS-Diktatur und <strong>des</strong> verlorenen Weltkrieges. Führende Vertreter derbun<strong>des</strong>deutschen Politik auf allen Ebenen sahen diese Identität in der Westbindungder Bun<strong>des</strong>republik und in dem Bekenntnis zur „freiheitlichen, demokratischenGesellschaftsordnung“. Dazu gehörten ein ausgeprägter Anti-Kommunismus und einemotionales Bekenntnis zur deutschen Einheit. Als Grenzstadt war Lauenburg zumBrennpunkt der deutsch-deutschen Geschichte bestimmt.Die Grenzkontrollstelle Lauenburg/HorstDie Stadt Lauenburg erlebte die Spannungen entlang der innerdeutschen Grenze„hautnah“. Die alte Reichsstraße nach Berlin – die heutige B 5 – führte durch dieOberstadt und über die Delvenauniederung bei Horst ins Mecklenburgische hinein.Als die Demarkationslinie zwischen der sowjetischen und der britischen Zoneentlang der historischen Grenze zwischen Mecklenburg und Lauenburg gezogenwurde, machte man die Grenze bei Lauenburg zunächst dicht. Mit Wirkung vom 15.13


Mai 1952 wurde mit Zustimmung der russischen Behörden die historischeVerbindung zwischen Hamburg und Berlin als „Interzonenstraße“ freigegeben.Gleichzeitig schloss man die Kontrollstelle in Lübeck/Herrenburg. Bis dahinbenutzten etwa 90 % aller Fahrzeuge zwischen Berlin und dem Bun<strong>des</strong>gebiet dieÜbergangstelle bei Helmstedt, 6 % führen über Hof und nur etwa 3 % nahm denLübecker Übergang in Anspruch. Die neue Grenzkontrollstelle Lauenburg/Horstsollte zur Vermeidung von Verkehrsengpässen bei Helmstedt beitragen.Die Eröffnung im Mai 1952 zog die überregionalen Medien an. Die„Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“ berichtete: „Drei Wochenschaufirmen waren mitgroßen Apparaten erschienen: Die Fox, Welt im Film und die Neue DeutscheWochenschau. Einstellungen wurden geprobt, Nah- und Fernobjektive gebrauchtund pro Firma gut eine Rolle verkurbelt. Ziele der Filmkameras: Der alteSchlagbaum, die Arbeiter von drüben, die die letzten Pflasterungsarbeitenausführten und die Flickstellen teerten und fertig machten. Auch auf dasNiemandsland und das Schild ‚Durchgang gesperrt’, das nun hoffentlich endgültigseinen Platz verloren hat, waren die Linsen gerichtet.“Die Grenzkontrollstelle in Lauenburg/Horst in den fünfziger Jahren. Foto: StadtarchivLauenburg/Elbe.Für Lauenburg bedeutete die neue Grenzkontrollstelle einen deutlichAufschwung an Durchgangsverkehr, der sich zum Wirtschaftsfaktor entwickelte.Hinzu kamen etwa 60 Mitarbeiter, die in der neuen Anlage Dienst hatten.Bürgermeister Reuter sagte anlässlich der Eröffnung: „Das vibrierendeVerkehrsleben einer Zonengrenzübergangsstelle wird in Zukunft das Bild unsererStadt bestimmen; das Wirtschafts- und Gaststättenwesen wird Belebung erfahren;14


der Pulsschlag der ostdeutschen und westdeutschen Welt wird sich auswirken undallen Gewerbezweigen neuen Auftrieb geben; eine fleißige Bevölkerung und dieverantwortlichen Organe werden alle Chancen richtig erkennen und ausnutzen.“Reuters Worte erwiesen sich als richtig. Bis zum Juni 1960 passierten über 4Millionen Menschen die Grenzstelle Lauenburg/Horst.Zwei Zwischenfälle aus dem Jahre 1953 an der Grenze bei Lauenburgverdeutlichen die Lage der Stadt am <strong>„Eisernen</strong> Vorhang“. Am 13. März 1953wartete die „Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“ mit einer großen Schlagzeile auf derersten Seite auf: „Britenbomber von MGs abgeschossen“. Ein viermotorigerbritischer Bomber wurde am Vortag um 14.33 Uhr von zwei sowjetischenDüsenjägern <strong>des</strong> Typs MIG 15 mit Bordkanonen angegriffen und überwestdeutschem Gebiet im Raum Barförde-Bleckede, also in einem Teil <strong>des</strong>Luftkorridors Hamburg-Berlin abgeschossen. Der Vorfall war von Lauenburg aussichtbar. Der Bomber war in Leckenfield/England zum Übungsflug gestartet. Vonder sieben Mann starken Besatzung konnten drei abspringen, vier sind beim Aufprall<strong>des</strong> Flugzeugs umgekommen. Die Überlebenden sind einige Tage später gestorben.Die Wrackteile wurden nach einigen Wochen von den Russen im Raum Horstfreigegeben. Es ereigneten sich einige Zwischenfälle mehr in den fünfziger Jahrenbei Lauenburg und auf der Elbe. Dieser war der schwerwiegendste. Lauenburgstand, wie die Zeitung berichtete, für einige Stunden „am Pulsschlag <strong>des</strong>Weltgeschehens“. Die Drähte liefen heiß, der Bürgermeister wurde telefonisch „ausBonn verlangt“, wo sich die alliierten Oberkommissare mit dem Zwischenfallbefassten.Der zweite Zwischenfall ist mehr humoriger Art. Die „LauenburgischeLan<strong>des</strong>zeitung“ berichtete: „Einen dicken Strich durch die Rechnung machtengestern gegen 18 Uhr die Volkspolizisten der Grenzkontrollstelle Horst demregierenden Berliner Bürgermeister Prof. Ernst Reuter. ‚In Ihrem Interzonenpaßfehlten Ihre Hausnummer und Ihre Straßenangabe’, deutete der diensthabendeOffizier mit dem Zeigefinger auf Reuters Pass. ‚Ich bedauere, Sie nicht aus der DDRausreisen lassen zu dürfen’, sprach’s und verweigerte dem tüchtigen West-BerlinerVerwaltungschef die Weiterreise auf der Bun<strong>des</strong>straße 5. Reuter wollte in Hamburgan der am heutigen Vormittag begonnenen Städtebund-Tagung teilnehmen, zu derauch der Bun<strong>des</strong>präsident Prof. Heuss erschienen war. (...) Heute (24.9.1953 d.V.)gegen 11 Uhr passierte der Berliner Bürgermeister Prof. Reuter mit seinemMerce<strong>des</strong> in Begleitung seiner Gattin die Interzonengrenze bei Lauenburg. Nacheinem kurzen Aufenthalt setzte er sich selbst an das Steuer und fuhr nach Hamburg.Unserem ihn am Schlagbaum erwartenden Korrespondenten erzählte Reuterbereitwilligst, daß er zum erstenmal diese Bun<strong>des</strong>straße 5 und den Zonenübergangbei Lauenburg benutzt habe.“17. Juni 1953 – Arbeiteraufstand in der DDR im Spiegel der lokalen Presse15


Die „Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“, traditionelles Presseorgan der Schifferstadt,erschien erstmals 1949 nach dem Krieg im Verlag Gebrüder Borchers, Elbstraße149. Sie nannte sich im Untertitel „Geesthachter Zeitung“. Seit der Gründung derBun<strong>des</strong>republik und der Deutschen Demokratischen Republik im Jahre 1949beherrschte die deutsch-deutsche Frage die Leitartikel der Zeitung. Im April 1953besuchte Bun<strong>des</strong>kanzler Konrad Adenauer die USA und unterstrich die„Verbundenheit <strong>des</strong> amerikanischen und deutschen Volkes“. Gleichzeitig berichtetedie Zeitung über eine „Propagandawelle der sowjetischen Pressen“, die die„rassische Verfolgung und Unterdrückung der Arbeiter im Westen“ anprangerte. DieAusgabe vom 11. April brachte einen Artikel über die Zerschlagung einesSowjetspionagerings: 35 Personen wurden verhaftet. Am 8. Juni berichtete das Blattvon Kontakten zwischen dem DRK-Deutschland und dem Roten Kreuz Russland.Die beiden Organisationen hätten Kontakt aufgenommen, „um die Voraussetzungenfür die Rückkehr der noch in der Sowjetunion befindlichen Deutschen zu schaffen“.In der gleichen Ausgabe wurde über die Einrichtung eines „Zonenrandgebietes“ inder Bun<strong>des</strong>republik berichtet, das gesondert gefördert werden soll. Kurz vor dem 17.Juni kam es laut „Lauenburgischer Lan<strong>des</strong>zeitung“ zu einem „Proteststurm imBun<strong>des</strong>tag“, als über die „Deutschlandfrage“ debattiert wurde. Der Bun<strong>des</strong>tagbeschloss – nur die Kommunisten stimmten dagegen – , „die Westmächte darauf zudrängen, daß diese ihr möglichstes zur Wiedervereinigung Deutschlands und zurLösung der damit zusammenhängenden Probleme tun“. Ein Artikel in der gleichenAusgabe wusste darüber zu berichten, dass die Bun<strong>des</strong>regierung gegenüberAngeboten der Sowjetunion „skeptisch“ bleibe.In der Ausgabe vom 17. Juni 1953 führte die „LauenburgischeLan<strong>des</strong>zeitung“ als Schlagzeile: „Demonstration in Ostberlin – Protest gegenErhöhung der Arbeitsnorm“. Die Bun<strong>des</strong>regierung bezeichne – so die Zeitung weiter– die Demonstration als „einen neuen Beweis für die Unhaltbarkeit der Zustände inder Sowjetzone“. Auf der lokalen Seite gab es keinen Bezug auf die Ereignisse inBerlin. In der Ausgabe <strong>des</strong> nächsten Tages nahmen die Demonstrationen einengrößeren Raum ein: „Ausnahmezustand in Ostberlin – Tote und zahlreicheVerwundete/Demonstrationen in der Sowjetzone“. Die lokale Seite enthält einenBericht über einen „Besuch an Lauenburgs Eisernem Vorhang“. Der Reporter hatteeinen Telefonbericht in Stichworten durchgegeben mit den „... wichtigstenBeobachtungen an der Trennungslinie zwischen Ost und West: SchwerbewaffneteVolkspolizei-Kommandos patrouillieren wie seit Jahr und Tag entlang <strong>des</strong>Sperrstreifens und an den verrammelten Schlagbäumen auf östlichem Boden. Alsich einem Volkspolizisten die Frage zurief, ob man nicht bald die Sperrstreifenbeseitigen und die Schlagbäume heben solle, antwortete er mir: ‚Von uns aus lieberheute als morgen!’ An anderen Stellen der Grenze blieben meine hartnäckigenVersuche, über den Grenzgraben hinweg in ein informatorisches Gespräch zukommen, erfolglos. (...) An der Lauenburger Grenzkontrollstelle verläuft derInterzonen-Straßenverkehr Hamburg-Berlin auf der Bun<strong>des</strong>straße 5 nach wie vorreibungslos. Mit einem Tagesdurchschnitt von etwa 140 Kraftfahrzeugen in beidenRichtungen ist der Verkehr normal verblieben.“16


Die Ereignisse in der DDR am 17. Juni 1953 bestätigten die Empfindungender großen Mehrheit der Menschen in Lauenburg über das kommunistische Regimeim Osten <strong>des</strong> Lan<strong>des</strong>. So dicht daran gelegen, gehörte die Teilung zum Alltag derBürger. Der 17. Juni hatte in der Bun<strong>des</strong>regierung zur Folge, dass am 4. August ein„Gesetz über den Tag der ‚deutschen Einheit’“ erlassen wurde. Das Gesetz erklärteden 17. Juni zum nationalen Feiertag: „Am 17. Juni hat sich das deutsche Volk inder sowjetischen Besatzungszone und in Ostberlin gegen die kommunistischeGewaltherrschaft erhoben und unter schweren Opfern seinen Willen zur Freiheitbekundet. Der 17. Juni ist daher zum Symbol der deutschen Einheit in Freiheitgeworden.“„Kreuz <strong>des</strong> Ostens“ und „Tag der Heimat“Lauenburg/Elbe war in den fünfziger Jahren nicht nur Grenzstadt, sondern auch„Flüchtlingsstadt“ – wie ganz Schleswig-Holstein ein „Flüchtlingsland“ war. 1939lebten 1,56 Millionen Menschen in Schleswig-Holstein, 1946 ergab dieVolkszählung 2,6 Millionen Personen. Im Oktober 1945 lebten im Kreisgebiet131.830 Menschen, davon waren 72.510 „Lauenburger“, 59.320 Ausgebombte undFlüchtlingen. In den Jahren danach kamen Vertriebene dazu, so dass 1950 derFlüchtlingsanteil an der Bevölkerung 54 % betrug. Auch in der StadtLauenburg/Elbe verdoppelte sich die Bevölkerung zwischen 1939 und 1946 beinahe– von 6.016 auf 10.613 Personen.Die „Neu-Lauenburger“ befanden sich in einer schwierigen Lage. Siestanden zwischen der Notwendigkeit, sich in die neue Heimat zu integrieren, und derSehnsucht nach der alten, verlorenen Heimat. Nach 1949 bildeten sichVertriebenenverbände sowie eine politische Partei –Bund für Heimatvertriebene undEntrechtete (BHE) – , die die Interessen der Flüchtlinge in der Öffentlichkeitvertraten. Sie entwickelten sich in den fünfziger Jahren zu tatkräftigen undwortgewaltigen Organisationen.1952 entstand in der Stadt Lauenburg ein erstes öffentliches Zeichen derneuen Landsmannschaften – Das „Kreuz <strong>des</strong> Ostens“. Es wurde nachMagistratsbeschluss vom 29. Juli 1952 auf dem Hasenberg aufgestellt undgleichzeitig in dien Obhut der Landsmannschaften gegeben. Am 26. Oktober 1952wurde die Anlage, die auf dem Gelände <strong>des</strong> ehemaligen Denkmals für die ErstenWeltkrieges aufgestellt wurde, eingeweiht. Das Kreuz mahnte – wie die Veranstalterunterstrichen – an die Teilung Deutschlands und war ein Ehrenmal für dieFlüchtlinge, die auf den Trecks ihr Leben ließen. Das „Kreuz <strong>des</strong> Ostens“ wurde zurzentralen Gedenk- und Mahnstätte für Veranstaltungen, die mit der deutschdeutschenFrage zu tun hatten. Die „Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“ berichtete am18. Juni 1960: „Treuebekenntnis weit über die Zonengrenze – Appell an dieGroßmächte: ‚Wir erwarten und verlangen für 17 Millionen Menschen nicht mehrals was anderen Völkern zugebilligt wird: Das Selbstbestimmungsrecht!’“. DieZeitung weiter: „Der Flammenschein eines großen Mahnfeuers, entzündet mit vielen17


hundert Fackeln der Jugend aus Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen,leuchtete am Abend <strong>des</strong> 17. Junis vom Platz am ‚Kreuz <strong>des</strong> Ostens’ weit überLauenburg und über die Zonengrenze ins Mecklenburger Land. Rund 6.000Menschen, darunter über 4.000 Jugendliche, bekundeten durch ihre Teilnahme ander Feierstunde den Willen zur Wiedervereinigung Deutschlands und zurBeseitigung der widernatürlichen Grenze, die das deutsche Land seit nunmehr über15 Jahren in zwei Teile spaltet“. Der Berichterstatter Mührl schloss den Artikel mitden pathetischen Sätzen, die jedoch sicherlich die Stimmung vieler Beteiligtertreffend erfasste: „Noch während der letzten Worte <strong>des</strong> Redners loderte dasMahnfeuer auf, <strong>des</strong>sen hohe Flammen dem Treuebekenntnis leuchtende Kraftverliehen. Und in dem Flammenstoß reckte sich unversehrt eine junge, schlankeBirke in die Höhe – gleichsam zum Zeichen der Hoffnung, daß dem deutschen Land‚hüben und drüben’ doch noch der Frühling eines gemeinsamen freien Daseinsseiner Bewohner gewiß sein wird“. Mit dem Bau der späteren Hasenbergschulewurde das Kreuz mehrfach verlegt, bis sie komplett entfernt wurde. Es gibt einweiteres „Kreuz <strong>des</strong> Ostens“ im Kreisgebiet – in der Nähe <strong>des</strong> Ratzeburger Doms.Der 17. Juni entwickelte sich nach 1953 zum festen Bezugspunkt fürLauenburg. Bereits Anfang August 1953 – noch vor dem Erlass <strong>des</strong> Gesetzes zum17. Juni – hatten die Lauenburger einen „Tag der Heimat“ begangen. Die„Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“: „Der ‚Tag der Heimat’ soll in diesem Jahre mitbesonderem Nachdruck als gemeinsame Veranstaltung der Heimatvertriebenen undder heimischen Bevölkerung durchgeführt werden. Er soll von dem gemeinsamenWunsch aller Deutschen auf friedliche Rückgabe der geraubten Ostgebiete getragenwerden“. In den Jahren darauf gab es Aktionen wie „Weihnachtspakete in dendeutschen Osten“ (1953), „Frauen demonstrieren für die Wiedervereinigung –Friedlicher Marsch zur Zonengrenze“ (1955), „’Unteilbares Deutschland’ an dasDeutsche Volk: Willen der Wiedervereinigung bekunden!“ (1959), „Aktion ‚Machtdas Tor auf’ auch in Lauenburg stark beachtet“ (1959), „“10 Jahre Bund derVertriebenen Lauenburg“ (1960) 23Es fanden in den fünfziger und sechziger Jahren weitere Veranstaltungen inLauenburg/Elbe statt, die die deutsch-deutsche Frage aufgriffen. DieGrenzkontrollstelle besuchten zahlreiche „Prominente“ und ausländischeDelegationen. Im September 1959 besuchten z. B. die „UNESCO-Familie“ dieZonengrenze: „Eine Gruppe mit Gästen ‚aus aller Welt’ hatte unsere Stadt gesternzu Besuch. Es waren ausländische Experten der deutschen Sprache, durchwegPädagogen, die im Hamburger Unesco-Institut an einem Fortbildungslehrgangteilnehmen. Über den Rahmen der Hamburger Veranstaltungen hinaus sollten dieAusländer hier in Lauenburg vor allem die Zonengrenze und ihre Problemekennenlernen“. („Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“).Eine Besonderheit bildete das Chortreffen Ost-West, das am 6. und 7. Juli1957 in Lauenburg/Elbe stattfand. Kreispräsident Drevs und Landrat Wandscheiderverfassten für den Veranstalter, den Kreiskulturverband, ein Grußwort: „Wie der23 Vorhergehende Zitate sind Schlagzeilen in der „Lauenburgischen Lan<strong>des</strong>zeitung“.18


Herzstrom unseres deutschen Vaterlan<strong>des</strong>, die Elbe, unbeeinflußbar durch zeitlicheund menschliche Entscheidungen durch das ganze Deutschland fließt, so möge auchdie gemeinsame Pflege <strong>des</strong> deutschen Lie<strong>des</strong> Sinnbild sein für das herzoffeneBekenntnis aller Deutschen zu einem gemeinsamen, friedlichen Schicksal unseresVolkes“. Mitwirkende bei dem Chorabend im Saale <strong>des</strong> Hotels Stappenbeck warender Chor der IG Eisenbahn Schwerin, das Lauenburger Männerquartett von 1950und der Gemischte Chor „Heimat“ sowie der Lauenburger Frauenchor von 1945 undder Lauenburger Männerchor von 1842. Es fanden weitere deutsch-deutscheBegegnungen im sportlichen und kulturellen Bereich in den fünfziger Jahren statt.Der Rufer – „Macht uns den Strom wieder frei“Neben dem „Kreuz <strong>des</strong> Ostens“ entstand in den fünfziger Jahren ein weiteresObjekt, das zum Sinnbild der deutschen Teilung ausgerufen wurde. Es handelt sichum den Lauenburger Rufer, dem bei seiner Einweihung 1959 die Worte „Macht unsden Strom wieder frei“ in den Mund gelegt wurden.Erste Hinweise auf das Projekt „Lauenburger Rufer“ stammen aus demSommer 1956. Bürgermeister Richard Reuter hatte Kontakt mit dem MöllnerBildhauer Karlheinz Goedtke aufgenommen und ihn gebeten, einen ersten Entwurffür eine Plastik „Rufer über den Strom“ anzufertigen. Goedtke war unter anderemdurch seine Till-Eulenspiegel-Plastik in Mölln (1950 aufgestellt) bekannt geworden.Mit einem vom Künstler angefertigten Tischgipsmodell fing Bürgermeister Reuteran, Verbündete in Lauenburg für seine Idee zu suchen. Der Standort stand vonAnfang an fest – der Dampferanlegeplatz in der Elbstraße. Dieser Platz hatteGeschichte. Von ihm aus ragte die Steinkiste in dier Elbe hinein, eine historischeUferbefestigung. Seit dem Aufkommen <strong>des</strong> regelmäßigen Dampferverkehrszwischen Lauenburg und Hamburg im letzten Viertel <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts warenTausende „Sommerfrischler“ über den Anlegeplatz in die Elbestadt gekommen. DerPlatz hat einen weiteren historischen Bezug: Während <strong>des</strong> fünfstündigenArtillerieangriffs durch britische Truppen auf die Stadt am 29. April 1945 wurdendrei Häuser am Anlegeplatz so schwer getroffen, dass sie nicht wieder aufgebautwurden. So entstand der heutige freie Platz zur Elbe hin an der Elbstraße 108.Reuter gewann den Magistrat sowie den kurz vorher gegründeten„Verschönerungsverein“ unter dem Vorsitz <strong>des</strong> Rektors Völkner für sein Projekt. Inseinem Schreiben unterstrich der Bürgermeister die Bedeutung der Plastik: „UnsereStadt Lauenburg ist stets arm gewesen an historischen Symbolen. Diese zu schaffen,sollte Aufgabe der jetzigen Generation sein. Die ehemaligen kulturellen Güter derKirche wurden vor einem Jahrhundert zerstört durch ausländische Architekten. DieStadt Lauenburg hat nie etwas besessen, das irgendwie beachtenswert gewesenwäre.“ Am 3. Dezember 1956 erging dann ein öffentlicher Spendenaufruf an dieBevölkerung, der innerhalb kurzer Zeit über 1.000 DM einbrachte.19


Es gab jedoch Widerstand in der Stadt. Der Lauenburger Schiffer-Vereinverzeichnete eine Spende unter Vorbehalt. Am 31. Januar 1957 schrieb derVereinsvorsitzende Rudolf Kuhlmann an die Stadt: „Dabei wurde der vorgelegteEntwurf (von Goedtke, d.V.) von allen Anwesenden abgelehnt. Unsere Mitgliedersind der Meinung, daß die Figur <strong>des</strong> Rufers einen echten Typ <strong>des</strong> LauenburgerSchiffers darstellen müsse“. Im Laufe der Diskussion schlug der Verein dentraditionellen Lauenburger Hans Wurst als Modell für die zu schaffende Plastik vor.Der Reinbeker Bildhauer Josef Hübner reichte im Frühjahr 1958 einen Entwurf ein,von dem sich jedoch leider keine Abbildung in der Akte befindet. Der Schiffer-Verein vertrat weiterhin die Ansicht, dass die eingereichten Entwürfe „für einenehrbaren Binnenschiffer viel zu mager“ seien. Außerdem würde der Fremdenverkehrdurch eine so dürre Figur gefährdet, weil der Gast „falsche Schlüsse auf dieKochkunst in der Stadt“ ziehen könnte. In der Akte befindet sich eine einfache,unsignierte Handzeichnung, die vermutlich die Vorstellung <strong>des</strong> Schiffer-Vereinswiedergibt..Die Entscheidung fiel im Sommer 1958. Das von der Stadt gebildeteGremium, das aus vierzehn Mitgliedern unter Vorsitz <strong>des</strong> Bürgermeisters bestand,bekannte sich einhellig zum Entwurf von Karlheinz Goedtke. Auch der Schiffer-Verein gab sein Plazet. Ein Vergleich <strong>des</strong> Gipsmodells von 1956 mit derendgültigen Figur zeigt, dass der Künstler sich vollauf durchgesetzt hat. Es hattenkeine nennenswerten Änderungen in der künstlerischen Form <strong>des</strong> „Rufers“ zwischendem Entwurf 1956 und der Aufstellung 1959 gegeben.Die feierliche Einweihung erfolgte am Sonntag, den 23. März 1959.Persönlichkeiten aus Stadt und dem Kreis sowie der Künstler Karlheinz Goedtkeund über 300 Lauenburgerinnen und Lauenburger kamen, um zusammen mit demSpielmannzug und dem Lauenburger Männerchor die Plastik zu enthüllen.Ansprachen hielten der seit 1957 amtierende Bürgermeister Max Schmidtborn, Alt-Bürgermeister Reuter als Vorsitzender <strong>des</strong> Fremdenverkehrsvereins und KreisratBerthold Ditz, Vorsitzender <strong>des</strong> Kreiskulturausschusses. Reuter brachte den Ruf <strong>des</strong>„Rufers“ auf den einfachen aber eindrucksvollen Satz: „Macht uns den Stromwieder frei!“ Dieser Aufruf fasste die Stimmung in der Bevölkerung über dieBedeutung der Plastik zusammen. „Möge nun der ‚Rufer über den Strom’ den anLauenburg vorbeifahrenden Schiffern einen Gruß von der alten Schifferstadt mit aufdie Fahrt geben, damit sie auch weiterhin dem Schifferstand die Treue halten. DenBrüdern in der Zone aber möge er zurufen, auch die Treue ihrem Vaterland zuwahren und mitzuhelfen, dass die Zonengrenzen zugunsten eines endlich wiedergeeinten Deutschlands bald fallen.“ Reuters „Interpretation“ <strong>des</strong> Kunstwerks wurdedanach zur herrschenden Meinung. Seine Ansprache ist in den offiziellen Chronikender Stadt immer wieder abgedruckt worden. Mit seiner Deutung hat Alt-Bürgermeister Reuter die Stimmung der Menschen in Lauenburg – und darüberhinaus – treffend wiedergegeben. Für Lauenburg stand die deutsch-deutsche Fragein den fünfziger Jahren direkt vor den eigenen Haustür. Auch die überregionalenMedien griffen den „Rufer“ als Aufruf gegen die Teilung Deutschlands auf. Es gab20


Zeitungsberichte – sogar in den USA – über die Plastik sowie Postkarten mit ihrerAbbildung und den Worten Richard Reuters.Ansichtskarte mit dem „Rufer“ um 1962. Foto: Stadtarchiv Lauenburg/ElbeSpätheimkehrerZu den schmerzhaften Folgen <strong>des</strong> Zweiten Weltkrieges zählte für zahlreicheFamilien in Deutschland die Frage der „Spätheimkehrer“, Tausende ehemaligedeutsche Soldaten, die als Kriegsgefangene bzw. Zwangsarbeiter nach dem Ende <strong>des</strong>Krieges in der Sowjetunion behalten wurden. 1949 entstand der bun<strong>des</strong>weite„Verband der Heimkehrer“, der die Interessen der im Osten Internierten wahrnahm.Der Verband umfasste in den fünfziger Jahren an die 500.000 Mitglieder undentwickelte sich zu einer eindrucksvollen politischen Kraft. Am 19. Juni 1950 erließder Bun<strong>des</strong>tag das Heimkehrergesetz, das die Eingliederung der Betroffenenerleichtern sollte. Das Gesetz wurde mehrfach novelliert. In den Städten undGemeinden bildeten sich bald Lokalverbände, die durch öffentliche Aktionen wiedie Anbringung von Gedenktafeln oder die Einweihung von Gedenksteinen an dasSchicksal der Internierten erinnern wollten. Der Verband der Heimkehrer,Ortsverband Lauenburg, übergab z. B. eine Ehrentafel der „Noch-Nicht-Heimgekehrten“ an den Magistrat am 17. August 1952. Die Tafel fand ihren Platzim Eingang <strong>des</strong> Schlosses.Erst 1955 gelang es Konrad Adenauer in zähen Verhandlungen mit dersowjetischen Führung, diese Frage im Sinne der deutschen Interessen zu klären.Kurz darauf kehrten die letzten Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück. EineZeitungsüberschrift aus jener Zeit vermittelt einen Eindruck von dieser Situation:21


„Ein Toter kehrte heim“. Der Kreis Herzogtum Lauenburg empfing kurz vorWeihnachten 1955 Spätheimkehrer in Ratzeburg. Neben offiziellen Ansprachendurch Vertreter <strong>des</strong> Kreises und <strong>des</strong> Deutschen Roten Kreuzes wurden den 14Heimkehrern einen Gutschein „für ein wertvolles CARE-Paket“ sowie je ein „zehnPfund schweres Weihnachtspaket“ überreicht. Diese Geschenke machen die Notlageder Menschen noch um 1955 eindrucksvoll klar.Am 4. Januar 1956 titelte die „Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“: „Wangelauempfing seinen Sohn H. Jarms – Nach 10 Jahren heimgekehrt/Empfang durch dieGemeinde/Name von der Tafel entfernt“. Und weiter: „Gestern abend empfing dieGemeinde Wangelau in einer kleinen Feierstunde den aus russischereGefangenschaft heimgekehrten Heinrich Jarms. Er wurde mit Ehrengeschenken undguten Wünschen überhäuft. Bürgermeister Reuter, Lauenburg, und die Vertreter <strong>des</strong>Lauenburger Heimkehrerverban<strong>des</strong> hatten aus der Stadt die Gedenktafelmitgebracht, auf der noch vier Gefangene und Vermißte verzeichnet waren. HeinrichJarms entfernte seine Namenstafel selbst.“Mauerbau 1961Am 13. August 1961 errichteten DDR-Bautrupps unter der Leitung <strong>des</strong> späterenStaatsratsvorsitzenden Erich Honecker die Berliner Mauer – 45,1 Kilometer lang,quer durch die ehemalige Reichshauptstadt. Mit dem Mauerbau sowie dergleichzeitigen Befestigung und den Ausbau der innerdeutschen Grenze durchStahlgitterzäune, Minenfelder, Selbstschussanlagen, Hundelaufanlagen undSperrgebiete stoppte die DDR die Massenflucht ihrer Bürger: Sie hatte Anfang dersechziger Jahre ähnliche Ausmaße angenommen wie später im Sommer und Herbst1989. Die „Lauenburgische Lan<strong>des</strong>zeitung“ berichtete am 7. August 1961 zumBeispiel: „3.200 Flüchtlinge in 48 Stunden – Höchste Zahl seit 1953/Repressaliengegen Grenzgänger“. Drei Tage später titelte das lokale Blatt: „Vopos pflügen –damit nichts wächst. Der ‚To<strong>des</strong>streifen’ an der Zonengrenze/Als ob Bürgerkriegwäre“.Die Spannungen zwischen den Machtblöcken im Westen und Ostenerreichten einen Höhepunkt mit der Berliner Krise Ende der fünfziger Jahre und demMauerbau 1961. Der steinerne Grenzwall beendete die Phase der sowjetischenNachkriegspolitik, die nach eigenem Bekunden auf eine möglicheWiedervereinigung hinzielte. Der Mauerbau zementierte den Gegensatz zwischenOst und West und machte auch in der Bun<strong>des</strong>republik eine aktiveWiedervereinigungspolitik zunichte.Für die Grenzstadt Lauenburg waren die Ereignisse in Berlin vonunmittelbarer Bedeutung. Der Aufmacher der lokalen Zeitung am 14. August 1961lautete: „Der Weg nach Westberlin ist abgeriegelt. Zehntausende an derZonengrenze/Adenauer und Brandt mahnen zur Ruhe“.Der Konflikt spitzte sich zu. Gleichzeitig mit dem Mauerbau wurde dielange Grenze zwischen der DDR und der Bun<strong>des</strong>republik noch dichter gemacht. Die22


Zeitung vom 16. August brachte „Alarmmeldungen aus Berlin“: „Die Zonengrenzeist offensichtlich seit heute früh für alle Einwohner der Zone gesperrt.Volkspolizisten erklärten Reisenden <strong>des</strong> Interzonenzuges Leipzig–Köln wörtlich:‚Die Demarkationslinie zwischen der DDR und der Bun<strong>des</strong>republik ist ab null Uhrfür alle Einwohner der Sowjetzone gesperrt. (...) Eine Rückfrage beim LauenburgerZonengrenzübergang unmittelbar vor Redaktionsschluß: ‚Bei uns hier noch völlignormaler Ablauf <strong>des</strong> Durchgangsverkehrs. Haben bisher nichts von einerendgültigen Schließung der Zonengrenze für Sowjetzoneneinwohner feststellenkönnen!’“Einige Tage später zogen englische Panzer nach Lauenburg: „Seit wenigenStunden ist die Zonengrenze bei Lauenburg zusätzlich gesichert worden. Zunächstdurch einen Panzerspähwagen, der fast ein wenig kriegerisch bei der westdeutschenZonengrenzstelle aufgefahren ist“. Die Engländer gaben bekannt, daß es um eine„rein vorsorgliche Maßnahme“ handele. Am 24. August heißt es: „Verstärkung amLauenburger Zonengrenzkontrollpunkt. Fünf britische Panzerspähwagen in vollerAusrüstung/’Die Russen werden uns hier nicht angreifen’“!In einem Buch über den Kreis Herzogtum Lauenburg, 1959 verlegt, schriebBürgermeister Max Schmidtborn: „So wird alles überschattet von dem unmittelbarangrenzenden ‚Eisernen Vorhang’ mit dem Straßenübergang nach Berlin, der dieSorgen der südlichsten im Winkel von Zonengrenze und Lan<strong>des</strong>grenze zuNiedersachsen liegenden Stadt Schleswig-Holsteins mit politischem Gewichtversieht. Dies aber bewirkt auch, daß hier in dieser Stadt die deutsche Not sounmittelbar und klar erkannt wird, wie es in ganz Westdeutschland sein sollte“. 24Diese Worte mögen als Zusammenfassung der Geschichte Lauenburgs nach 1945gelten.Die NS-Herrschaft und ihre „Nachgeschichte“Die Geschichte der innerdeutschen Grenze bis 1990 kann als eine Folge der NS-Herrschaft in Deutschland gesehen werden.. Die Jahre nach 1933 sind in derregionalen Geschichtsschreibung keine „vergessenen Jahre“ mehr. In dervergangenen Dekade sind zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, die neueErkenntnisse über die NS-Herrschaft im Kreisgebiet vermitteln. 25 Wir wissen, dass24 Kreis Herzogtum Lauenburg (Hg.). Kreis Herzogtum Lauenburg. Landschaft – Geschichte– Wirtschaft. Oldenburg (Oldb.) 1959, S. 215.25 Vgl. „Nationalsozialismus im Kreis Herzogtum Lauenburg“. Lauenburgische Heimat.Zeitschrift <strong>des</strong> Heimatbund und Geschichtsvereins Herzogtum Lauenburg. Heft 160.Ratzeburg, März 2002. Das 140-seitige Heft enthält neue Forschungsergebnisse zur NS-Geschichte im Kreis.23


die markanten Merkmale der NS-Diktatur – die volksfestartige Erscheinung nachaußen sowie Verfolgung und Repression nach innen – bis in das kleinste Dorf hineinihre Spuren hinterlassen haben. Es gab keine „glückseligen Inseln“ im NS-Staat.Denunziationen sind bis in die Familien hinein aktenkundig. Es gab im KreisgebietEnteignungen jüdischen Grundbesitzes und Deportationen von „rassischMinderwertigen“. Verfolgungen von anders Denkenden fanden in den kleinstenGemeinden statt. Auf fast allen Höfen sowie in den meisten Betrieben warenZwangsarbeiter bzw. -arbeiterinnen beschäftigt. 26Obwohl nur knapp 10 % der deutschen Bevölkerung letztlich Mitglied derNSDAP wurden, infiltrierten die Partei und die Ideologie durch die zahlreichen NS-Organisationen und -Untergliederungen sämtliche Bereiche <strong>des</strong> öffentlichen undauch privaten Lebens. Adolf Hitler skizzierte im Jahre 1938 seine Vision der totalenErfassung <strong>des</strong> Volkes in einer Rede vor Kreisleitern. Mit 10 Jahren holte er dieKinder ins Jungvolk, mit 14 in die Hitlerjugend (HJ), es folgten Partei,Sturmabteilung (SA) oder Schutzstaffel (SS), Wehrmacht und zahlreiche weitereNS-Organisationen. Hitler schloss mit den Worten: „... und sie werden nicht mehrfrei für ihr ganzes Leben“. 27 Derartige in den Menschen verankerte Denk- undWertkoordinaten verschwinden nicht über Nacht. Die NS-Ideologie war kein„Spuk“, der sich am 8. Mai 1945 plötzlich in Luft auflöste. 28 Im Gegenteil: DieAuseinandersetzung mit der NS-Herrschaft blieb als „Vergangenheitsbewältigung“eins der ausgeprägten Merkmale der Nachkriegsgesellschaft – als „Vergangenheit,die nicht vergehen kann“, wie „Der Spiegel“ 2001 in einem Sonderheftkonstatierte. 29Es stellt sich die Frage nach moralisch-politischen Defiziten derNachkriegsgesellschaft, auch im Kreis Herzogtum Lauenburg. Es gab auf derbun<strong>des</strong>deutschen Kultur- und Feuilleton-Bühne einen lebhaften Diskurs darüber. Essei an dieser Stelle auf die These von der „zweiten deutschen Schuld“ hingewiesen,eben der Verdrängung der eigenen Verstrickungen in dien NS-Gräuel 30 . Erkennbarist es nicht, dass diese Diskussion im Kreis Herzogtum widerhallte. Es herrschte impolitischen Gespräch und in den veröffentlichten Medien ein breites Schweigen überdie nationalsozialistische Vergangenheit. Ehemalige Parteigenossen übernahmen26 Janine Ullrich. Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in Geesthacht 1939-1945. Hamburg2001. (= Veröffentlichungen <strong>des</strong> Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte Bd. 11,Schriftenreihe <strong>des</strong> Stadtarchivs Geesthacht, Bd. 12)27 Zitiert nach: Christian Zentner/Friedemann Bedürftig (Hg.). Das große Lexikon <strong>des</strong> DrittenReiches. München 1985, S. 217.28 So charakterisierte der Lauenburger Heimatforscher Wilhelm Hadeler die NS-Herrschaft inder Stadtchronik Lauenburg/Elbe, die zur 700-Jahr-Feier 1960 erschien.29 Spiegel-Special. Die Gegenwart der Vergangenheit. Die Spiegel-Serie über den langenSchatten <strong>des</strong> Dritten Reichs. Nr. 1. 2001.30 Mit dem Begriff der „zweiten deutschen Schuld“ bearbeitete der Publizist Ralph Giordanodie Thesen <strong>des</strong> Ehepaars Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern.Grundlagen kollektiven Verhaltens. (zuerst 1967 erschienen): Ralph Giordano. Die zweiteSchuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Hamburg 1987.24


wieder Schlüsselpositionen in der Wirtschaft, im Bildungswesen und in der Politik.Die Forschung spricht von einer „Renazifizierung“. 3131 William Boehart. „Zwischen Entnazifizierung und Renazifizierung – Zur Nachgeschichteder NS-Zeit im Kreis Herzogtum Lauenburg“, in: Lauenburgische Heimat (Anm. 5). S. 94-110.25

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