SEGEN UND FLUCH DER ÜBERLIEFERUNG IM <strong>KIRCHE</strong>NBAUDie alten „geprägten Formen", die den Kirchenbau noch deutlicherbeherrschen als die übrige Baukunst, finden sich in vielenAbbildungen dieses Heftes in mannigfaltigen Abwandlungen wiederholt.Die griechisch-römische Baukunst kannte keine Türme. Diebyzantinisch-türkischen Bauten, von denen man auf S. 156 einige Aufnahmensieht, wirken — mit ihrem Minarett neben dem Betsaal —wie die Urgroßväter der Kirchen, in denen wir unsere Andachtverrichten sollen. Die Münchener St. Gabrielskirche (vgl. Abb. 5S. 147) zeigt: Turm, Vorhalle und Stücke eines Zentralgebäudesmit Trommel darüber ganz ähnlich wie die Kirche byzantinischenUrsprungs auf S, 156, Abb. 11. In Spalato ist das Zentralgebäuderömischen Ursprungs unter nachträglicher Anreihung eines Turmeszur Kirche umgewandelt worden; und ebenso fremdartig undunvereinbar wurden in Ellingen (S. 153, Abb. 2) von BestelmeyerTurm- und Zentralbau hintereinander gestellt. Ein Zentralgebäude,deäsen Schwergewicht nicht durch einen daneben gestellten Turmnachträglich wieder aus dem Zentrum herausgerissen wurde, zeigtdie alte schlesische Holzkirche (im Vordergrund der untenstehendenAbb.). Der Betsaal der Tessenowschüler Schnabel und Roth(S. 168—169) stellt sich von außen ebenfalls als Zentralgebäude dar.Ob die Steigerung des Turmhelms glückt — die hochgerücktenDachfenster erinnern fast an die barocken Wucherungen der gotischenTeynkirche in Prag (vgl. W. M. B. 1926, S. 494, Abb. 3) -das wird hoffentlich bald die Ausführung des Baues zeigen.Latteyers Preisentwurf für die St. Josephskirche (S. 157unten), zeigt, daß bei achsialer Ansicht des Zentralbaues dieHintereinanderreihung von zwei widersprechenden Akzentenwenig stört.In hohem Maße geglückt ist die schwierige Verschmelzungvon Turm und Langhaus bei den alten schleswig-holsteinischenKirchen (S. 150—151). Die stammige Wucht ihrer Türme istübrigens unübertrefflich. Ähnlich gut wie bei den holsteinschenKirchen glückte die Verbindung von Turm und Bethaus bei KrophollersKirche im Haag (S. 161). Der seitlich hochragende Schornsteinzeigt, daß nicht nur ideelle, sondern auch physische Bedürfnissezum Kampfe gegen die Alleinherrschaft eines Kirchenturmesanregen. Geistreiche Bemühungen um die künstlerischeVereinigung von Turm und Bethaus zeigen auch die Entwürfe vonPuls und Richter (S. 158 und 159).Bei dem Bialystoker Kirchenentwurf auf S. 162 — 163 stehtder Turm wieder als Campanile selbständig neben dem Langhaus.Auf der Haupteingangsseite dieser geplanten Kirche wurdenentschlossene Abweichungen von der Überlieferung versucht.Die verhinderte Ausführung hätte zeigen müssen, ob die Wirkungdes kubistisch-baukastenmäßigineinandergeschobenen verschwindenkann, die dem Fassadenentwurf noch anhaftet. Sehr viel überzeugenderbereits im Entwurf wirkt das schöne Innere dieserpolnischen Kirche (S. 163), wo trotz Festhaltens an dem Gedankender Hallenkirche neuartige Wirkungen, aus Beton und Glas, glücklichversucht werden. In verwandter Richtung wie dieses Kircheninnerewagen sich die kühnen Fassadenentwürfe von Farkaä sehrviel weiter vor (S. 164—165). Ihr grandioses Pathos wirk gelegentlichfilmpathetisch und gemahnt an ihre heute schon so ferneEntstehungszeit: das Jahr 1923.Einige der Hochhausentwürfe von Heinrich Adam (S. 166—167)möchten gotisches Kirchenpathos auch in den Geschäftshausbautragen, ein in Amerika oft gemachter Versuch, dessen Berechtigunggelegentlich des Kölner Hochhaus-Wettbewerbs viel erörtertwurde (vgl, W, M. B. 1926, S. 104 ff.).Sehr viel weniger angenehm als die freischweifenden Gedankenskizzenvon Farkas ist die Kolossal-Ruine der neuen Kirche inBarcelona (S, 162), die sich in viel dreisterer Weise an gotischeVorbilder anlehnt und sie in die fratzenhaftesten Ausschweifungendes estilo monstruoso verzerrt. Neben diesem plumpen Faschingwirken die amerikanische Zionskirche (S. 154—156) und dasInnere des deutschen Betsaals (S, 169) wie vornehme Feierlich-Abb. 30 I St. Annakirche in Rosenberg (Oberschlesien} Schrotholzbaa. Die ältere Kirche (im Hintergrund) Lungbau, die vordere Sechseck mit fünf sternförmig ausstrahlendenKapellen (77. Jahrhundert, die barocken Hauben aus dem 18. Jahrhundert) j Zeichnung von Georg Rasel, Breslau160
keiten. Bei demVergleich zwischendem amerikanischenunddem Ellinger (S.153-156) Kircheninneren,diebeide mit vollendeterSicherheitüberlieferte Vorbilderweiterentwickeln,erweisensich beide alsdurchaus bodenständig;währendaber die EllingerLosung ihren Reizaus freiwilligerBindung an eineArt Bauernstilhernimmt (manbemerke die barockeKnolligkeitder „Säulen" unterden Emporen),bedient sich dieamerikanische Losungdes ortsüblichen„Colonial"-Stils, der unserem„um 1800" entsprichtund dertrotz seiner ortlichenGebundenheitauf WeltgeltungAnspruchmachen kann.Ähnlich ist einwohl erzogenerMensch stolz aufsein Volkstum, indem er wurzelt,und weiß sichtrotzdem in jedemgebildetenLande zu bewegen.Ist es einNachteil, daß dasInnere dieseramerikaniächenZionskircheebenso wiedas desTessenowschenBetsaals (S.169) in keinemgebildeten Landeweißer Rasseschlecht am Platze, niemals unmodern und trotzdem bodenständig wirken kann? Vielleicht ist es Vorteil.Das Schicksal des polnischen Entwurfes (S. 162—163) zeigt, wie die Bindung an die bauliche Überlieferung zuunerträglicher Knechtschaft ausarten kann. Der Entwurf erhielt den ersten Preis in einem Wettbewerbe, dessenPreisgerichte führende Baumeister Polens angehörten. Der erste Preisträger hatte Anspruch auf Ausführung seinesEntwurfs. Die Geistlichkeit aber hielt den Entwurf für unvereinbar mit der Überlieferung des Landes, verwarfihn und läßt statt seiner einen barockisierend-traditionellen Entwurf eines Architekten ausführen, der im Wettbewerbekeinen Preis erhielt. Ganz wie so oft bei uns!Nach der Entscheidung des Preisgerichtes erscheint mir dies Vorgehen unstatthaft. Einwenden läßt sich auch,daß in Frankreich die Beton- und Glaskirche Perrets (vgl. W.M.B. 1925, S. 506) von der Geistlichkeit gutgeheißenwurde. Beachtenswert ist auch, daß in Berlin gerade katholische Kreise sich von dem Bruch mit der bau-Abb. 31 ! Kirche imHaag I Architekt:A. J. KrophollerAus dem Werke: J.P.Mieras und F. R. Yer~bury. HolländischeArdiitektur des 20,Jahrhunderts. VerlagErnst WasmuthA.G.161