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Oktober

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qarTulimitkommen, aber ich bitte sie mich allein gehen zu lassen undentschuldige mich dafür bei ihr, dann bestelle ich für sie einTaxi. Ich will mit dir allein sein. Zum letzten Mal.Ich sitze noch eine Weile im Café. Es war vier Jahre langunser Café. Ich denke an dich und an sehr viele Dinge, dieich nie wieder finden werde, weil sie alle zusammen mit dirverschwunden sind. Ein kalter Abend in Bremen vor demTheater am Goetheplatz und ein sonniger Abend in Koblenz,dein Name an meinem linken Oberarm – tätowiert durchdeine Küsse und mit deinem Lippenstift im Hotel „Prisma“in Neumünster an einem schönen Mainachmittag und dieSpreefahrt mit dir durch Berlin, der Bodensee im <strong>Oktober</strong>windmit seinen grünlichen Wellen vor unserem Hotel und derkalte Sturmwind in Bremerhaven, der an deinem Mantelzerrte und meine Augen dauernd mit Tränen und Sanderfüllte, als du unbedingt die wütende Nordsee beobachtenwolltest. Ja, diese und viele andere Dinge werden mir immerfehlen, aber am meisten - dein glückliches und schallendesLachen, das an jenem Januarvormittag in Bremerhaven denbitterkalten Sturmwind und das Toben der wütenden Nordseeübertönte…Ich stehe vor deinem Grab. Unglaublich, aber ich empfindekeinen Schmerz. Dazu bin ich nicht mehr fähig. Mir scheint,mein Schmerz sei mit dir gestorben. Er kann mir nichtmehr wehtun. Er hat mir nur in den letzten zwei Jahrenwehgetan. Jetzt ist es nur die kalte Leere, was ich fühlenkann. Mehr nichts. Oder doch - die Friedhofstille. Sie wirdimmer unausstehlicher und irgendwie bedrohlich. Auf einmalscheint es mir, als stählen wir auch jetzt diese wenigenMinuten unseres letzten Zusammenseins und ich sehe michunwillkürlich um. Natürlich ist keine Seele in der Sichtweite.Nur ein Rabenschwarm zieht krähend über den Friedhof. Dannwird es wieder still. Ich neige mich nach vorn, lege fünf weißeNelken auf dein Grab und berühre dann vorsichtig deinenGrabstein. Er ist kalt. Mir fällt plötzlich ein anderer kalter Steinein, der auf meinem Schreibtisch neben deinem Foto liegt. Duhast mir vor Jahren einen kleinen Mauerbrocken geschenkt.Übermorgen, wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich denStein rausschmeißen.* * *Ich weiß nicht genau, wann ich gestorben bin. Ist auch nichtmehr wichtig. Ich habe dir vor deiner ersten Operation stummversprochen, dass ich noch vor meinem Tod mit dir zusammensterben würde. So ist es auch passiert - ich war vor meinemTod schon lange tot. Mein zweiter und endgültiger Tod mussvor einigen Stunden eingetreten sein. Nun liege ich in derLeichenhalle und warte. Worauf? Auf wen? Weiß ich nicht.Ich fühle mich einsam unter den Meinesgleichen. DieseEinsamkeit der Leichenhalle ist größer als die einer Wüste.Eigentlich ist es komisch wenn ich sage, dass ich tot bin -ich sehe immer noch meinen leblosen und steifen Körper aufeinem metallenen Tisch liegen. Der Tisch ist bestimmt eiskalt,aber ich spüre es nicht. Wirklich ein sehr komisches Gefühl- ich weiß nicht, wer oder was ich jetzt bin, ich kann michnicht sehen. Bin ich meine eigene Seele? Ein Gespenst?Egal. Hauptsache, ich kann alles sehen und hören. ZumBeispiel höre ich den heftigen Januarwind draußen toben.Die grauweiß gestrichenen schmutzigen Fensterscheibendrohen jede Sekunde zu zerspringen. Der eiskalte Wind spieltseine brutale Nachtmusik auf den mehreren Instrumentenzugleich und dieses außerirdische Orchester erzeugt solcheTöne, die wahrscheinlich nur in diese Leichenhalle am bestenhineinpassen. Irgendein verrückter Dirigent leitet diesesungewöhnliche Orchester, welches diese angst erweckendeSinfonie in wilden Tönen und bizarren Akkorden spielt. DerRachen der Nacht ist schwarz und erbarmungslos. Er jagtauf die Schwachen, umspült ihre Körper mit Eisflammenund bietet eine zuverlässige Deckung nur den kaltblütigenMördern. Das matte Licht beleuchtet die Halle nur schwach,aber wir - die Toten - brauchen kein Licht mehr. Wir brauchennunmehr nur noch unsere Ruhe. Zwei schwarz-dunkelroteTodesengel bewachen uns und unsere Ruhe. Sie stehenstramm am Eingang, wachsam und streng. Sie tragen aberkeine Waffen. Wozu auch? Ihre eisernen, schwarzen Flügelsind ja viel stärker und gefährlicher als jede Waffe. UnsereKörper liegen auch reglos da und wollen nicht mehr ins Freie.Also, eher eine Ehrenwache, unsere lieben Todesengel!Meine Nachbarn kann ich nicht sehen. Ich bin vor kurzemhierher gebracht worden und bin immer noch angezogenund nicht zugedeckt. Die Nachbarn aber liegen unter denabscheulichen grauweißen Laken und riechen nach Tod undVerwesung trotz (oder dank?) der chemischen Bearbeitung.Die Lakenlandschaft ist natürlich nicht ebenmäßig, sondernstellenweise tief oder hoch. Auch ich stinke nach Tod, aberdie Verwesung muss noch kommen. Wir, alle Toten, müssennoch warten. Worauf? Etwa auf die letzte Berührung desdiensthabenden Arztes? Vielleicht auf das Namenschildoder die Nummer, die wir, Namenlosen, auf die Fußsohlengestempelt bekommen? Oder vielleicht doch auf die ehrlichenoder falschen Tränen der von der Polizei eventuell gefundenenAngehörigen? Ach, was weiß ich! Und überhaupt, was gehenmich diese ehemaligen Bürger unseres herrlichen Bettler-Landes an? Ich weiß ja nicht einmal, ob sie jemals auchwirklich gelebt haben. Vielleicht waren sie bereits von ihrerGeburt an tot, sind tot gewachsen und dann sicherheitshalbernoch einmal gestorben um ein für allemal ins Jenseits zugelangen.Auf einmal wird es still. Der stürmische Januarwind scheintsich ausgetobt zu haben und packt nun seine schrecklichenMusikinstrumente ein um uns später mit einem anderen, nochschauerlicheren Konzert zu bescheren. Jetzt herrschen Tod,Kälte und Stille in unserer provisorischen Ruhestätte. Ichwerfe einen Blick auf mein eingefallenes, unrasiertes Gesicht..Es muss doch endlich mal jemand kommen um wenigstensN5(30) seqtemberi-oqtomberi 201029

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