Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band IInhalt der Trilogie 15rischen Ideen. Unter Anhängern des Verfassungsstaates hatte sich darüber inder Mit te des 19. Jahr hun derts ein brei ter Kon sens gebil det – geprägt von denleidvollen Erfahrungen, die im Zuge der tektonischen Verwerfungen seit 1789gemacht wor den waren. Die „Demo kra tie“, ver stan den im Sin ne von Bür ger -gleichheit <strong>und</strong> „Volkssouveränität“, konnte sich mit freiheitssichernden Ideen<strong>und</strong> Insti tu tio nen ver bin den, aber auch frei heits zer stö ren de Wir kung ent fal -ten. Diese Einsicht bildete den Ausgangspunkt der Untersuchung, die Talmonwenige Jahre nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs begann.Anders als Eric Voegelin, der die geistesgeschichtlichen Wurzeln des Totalitarismusmit der „Gnosis“ verbindet <strong>und</strong> sie bis zum ägyptischen Pharao Echnaton <strong>und</strong> des sen geschei ter ten Ver such der Etab lie rung einer mono the is ti -schen Staats re li gi on zurück ver folgt, sieht Tal mon die Anfän ge tota li tä renDen kens im enge ren Sin ne mit den radi kal - auf klä re ri schen Strö mun gen abdem 18. Jahr hun dert ver knüpft. 22 Zwar bestreitet er keineswegs die Existenzvon Vorläufern des politischen Messianismus – etwa unter den chiliastischenStrömungen des Mittelalters <strong>und</strong> der frühen Neuzeit, wie sie Norman Cohn im„Ringen um das Tausendjährige Reich“ beschrieb; 23 zudem ist er weit ent ferntdavon, den Einfluss älterer Utopien von Platon bis Campanella auf die radikalenAufklärer des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts zu leugnen. Einen zentralen Unterschiedzwi schen den mes sia ni schen Bewe gun gen frü he rer Jahr hun der te <strong>und</strong> demmodernen Messianismus sieht er jedoch in folgendem Punkt : Während jeneletztlich davon ausgingen, die Endabrechnung werde nicht auf Erden, sondernim Him mel erfol gen, waren die se davon über zeugt, die fina le Lösung im Dies -seits erreichen zu können, was deren besondere Ungeduld <strong>und</strong> Unerbittlichkeiterklä re. 24Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelte sich „gleichzeitig mit dem liberalen Typ derDemokratie <strong>und</strong> aus denselben Prämissen“ eine Strömung, die man als „totalitärenTyp der Demokratie“ bezeichnen konnte. Und die ersten Höhepunktedes Ost - West - Kon flikts, die Tal mon wäh rend der Arbeit an sei nem Werkerlebt, erscheinen ihm als unmittelbare Folge des Zusammenpralls „zwischen22 Vgl. Hans Otto Seits chek, Escha to lo gi sche Deu tun gen : Von dung, Tal mon. In : HansMai er ( Hg.), Tota li ta ris mus <strong>und</strong> Poli ti sche Reli gio nen. Kon zep te des Dik ta tur ver -gleichs, Band III : Deutungsgeschichte <strong>und</strong> Theorie, Paderborn 2003, S. 179–192; Seitschek, Poli ti scher Mes sia nis mus, S. 54–69; David Oha na, J. L. Tal mon, Gers homScholem and the Pri ce of Mes sia nism. In : History of European Ideas, 34 (2008) 2,S. 169–188.23 Vgl. Norman Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismusim Mittelalter <strong>und</strong> sein Fortleben in den Modernen Totalitären Bewegungen,Bern 1961.24 Vgl. Tal mon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 40–44; ders., Abdan -kung des Messianismus, S. 202.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114
Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band I16 Einleitung des Herausgebersempirischer <strong>und</strong> liberaler Demokratie einerseits <strong>und</strong> totalitärer messianischerDemokratie andererseits“. 25 Beide „Schulen demokratischen Denkens“ unterscheidensich keineswegs darin, dass die eine „den Wert der Freiheit“ anerkenne,die ande re hin ge gen nicht. Der Gegen satz resul tie re viel mehr aus dia me -tral entgegengesetzten Politikverständnissen. Während die liberale Schule ( imweitesten Sinne ) Politik als eine „Sache des Experimentierens“ <strong>und</strong> politischeSysteme als „pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft <strong>und</strong>Freiwilligkeit“ ansehe, beruhe die „Lehre der totalitären Demokratie [...] aufder Annahme einer alleinigen <strong>und</strong> ausschließlichen Wahrheit in der Politik“.Sie hul di ge einem „poli ti schen Mes sia nis mus“, pos tu lie re also „ eine voraus -bestimmte harmonische <strong>und</strong> vollkommene Ordnung der Dinge“, rechne alles„menschliche Denken <strong>und</strong> Handeln“ der Sphäre des Politischen zu <strong>und</strong> machedie se zum Gegen stand einer „ in sich geschlos se nen“, auf die Beherr schungaller Lebensgebiete ausgehenden Philosophie. Auch in ihren Endzielen differierten bei de Schu len. Wäh rend die libe ra le Schu le Fort schritt in einemsuchen den, tas ten den Pro zess von „ trial and error“ errei chen wol le, sei dasTelos der tota li tä ren scharf umris sen <strong>und</strong> wer de als „Ange le gen heit größ terDringlichkeit behandelt, als Aufforderung zu sofortigem Handeln“. Das „Paradoxder totalitären Demokratie“ bestehe darin, dass sie sich an einem „Modellder Gesell schafts ord nung“ aus rich te, das „ alle ande ren Mög lich kei ten ver -neint“. 26Im ersten Band behandelt Talmon zunächst die Ursprünge der „totalitärenDemokratie“ im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert. Im Zentrum stehen die Gesellschaftslehrenvon Hel vé ti us, Hol bach, Morel ly <strong>und</strong> Mably, die dem Anci en Régime mit sei -nen starren Hierarchien <strong>und</strong> der tiefen Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich das Bildeiner vernunftgemäßen Natürlichen Ordnung entgegenstellen, in der sich dieguten Anla gen der Men schen unge hin dert ent fal ten, die Kon flikt po ten tia leauflösen, Wohlstand, Sittlichkeit <strong>und</strong> Glück konvergieren. Rousseau fügt diesenEntwürfen das Konzept des „Allgemeinen Willens“ hinzu, der sich segensreichentfaltet, sobald die Individuen ihre Partikularinteressen <strong>und</strong> damit dieUrsache für Zwietracht zugunsten des gemeinsamen Besten zurückstellen. InVerbindung mit einer „zum Extrem geführten Volkssouveränität“ 27 im Sin nepermanenter Mobilisierung, allumfassender Politisierung <strong>und</strong> einmütiger Entscheidungin Volksversammlungen nähren diese Konzepte totalitäre Visionen,wie sie die Jakobiner in der Französischen Revolution zeitweilig umzusetzensuchten. Talmon beschreibt die Entwicklung der Französischen Revolution alsein wech sel haf tes Rin gen zwi schen den prag ma ti sche ren Anhän gern eines25 Tal mon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 35.26 Ebd., S. 36–38.27 Ebd., S. 99.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114
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