Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band IInhalt der Trilogie 19stößt in der Praxis auf vielerlei strategische Bedenken selbst bei den entschiedenstenVerfechtern revolutionärer Prinzipien : Würde das Volk die nötige Reifeaufbringen <strong>und</strong> seinem „wahren Willen“ Ausdruck verleihen ? Das allgemeineWahlrecht bahnt schließlich der „autoritären Demokratie“ oder „plebiszitärenDik ta tur“ Napo le ons III. den Weg, die Ele men te der Vor - 1848er Mes sia nis -men, des Sozia lis mus wie des Natio na lis mus, auf nimmt <strong>und</strong> in ihnen ent hal -tene Sehnsüchte in die mythische, über den Parteien thronende, die Souveränitätder Nation verkörpernde Führerfigur projiziert.Der Bona par tis mus ver eint so in nuce programmati sche Ele men te, ausdenen die ideologische Polarisation des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ihre Wucht gewinnt.Den Ver bin dun gen <strong>und</strong> Wech sel wir kun gen zwi schen der Visi on der Welt re vo -lution <strong>und</strong> einem von universalistischen Verpflichtungen losgelösten Mythosder Nation ist der dritte Band der Trilogie gewidmet. Hier zeigt sich Talmonvor allem in den bio gra phi schen Betrach tun gen auf dem Höhe punkt sei nerdarstellerischen Kraft ( Glanzstück : das von tiefer Empathie getragene, ihr politischesKonzept jedoch schonungslos entlarvende Porträt Rosa Luxemburgs ).Immer wieder wird der Versuch unternommen, eine von ökonomischen, sozialen<strong>und</strong> sozialpsychologischen Faktoren geprägte Atmosphäre, ein soziales Klimaein zu fan gen, inner halb des sen bestimm te Über zeu gun gen <strong>und</strong> Glau bens -inhalte unter den Menschen Verbreitung erlangen <strong>und</strong> sie zu einschneidendenKurswechseln veranlassen.Der geo gra phi sche Schwer punkt des Ban des ver la gert sich gegen über sei -nen Vorgängern nach Osten, von Frankreich nach Italien, Deutschland, Österreich,Polen <strong>und</strong> Russ land, den Haupt schau plät zen der tota li tä ren Regi me -bildun gen. Einer seits wird deut lich, wie die Aus ei nan der set zung mit derNationenproblematik die Konflikte <strong>und</strong> Verwerfungen innerhalb der Linkenvon Marx <strong>und</strong> Engels über die deutsche Sozialdemokratie des Kaiserreiches<strong>und</strong> den Austromarxismus bis zu den russischen Revolutionären ( von Belinski<strong>und</strong> Herzen, Tschernyschewski <strong>und</strong> Dobroljubow, Bakunin <strong>und</strong> Lawrow bisTkatschow, Netschajew <strong>und</strong> Lenin ) prägt <strong>und</strong> welche geistigen Anknüpfungsmöglichkeitenentstehen, wenn die Nation zum bevorzugten Gehäuse sozialerBefreiung wird. Andererseits versucht Talmon zu zeigen, dass der Rechtstotalitarismusnicht etwa aus dem Legitimismus <strong>und</strong> Neoabsolutismus hervorgeht,sondern aus der Transformation des ( ursprünglich „linken“, bereits auf einemhomogenen Nationverständnis basierenden ) Nationalismus von einer egalitäruniversellenin eine integral - partikulare Doktrin, die sich für imperiale Projekteauf rassistischer Gr<strong>und</strong>lage wie geschaffen erweist. An die Stelle rationalistischerVisionen treten historische Mythen, denen eine ähnliche Funktion alsBeweger der Geschichte zufällt; dies wird ideologiegeschichtlich greifbar vorallem in der geistigen Entwicklung Georges Sorels vom Marxismus zum Nationalsyndikalismus<strong>und</strong> seinem kaum zu überschätzenden Einfluss auf Musso-© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114
Jacob L. Talmon, Die Geschichte der totalitären Demokratie, Band I20 Einleitung des Herausgebersli ni <strong>und</strong> des sen Wer de gang vom links re vo lu tio nä ren Chef re dak teur der sozia -listischen Parteizeitung „Avanti“ zum Gründer <strong>und</strong> Anführer des Faschismus.Hier kommen die Strukturähnlichkeiten der ( prä - )totalitären Bewegungenzum Vorschein : „Beide Typen des Totalitarismus gründeten auf der Annahme,dass es eine einzige, allumfassende <strong>und</strong> ausschließliche Wahrheit in der Politikgibt, <strong>und</strong> letzten Endes erkannten beide Ideologien nur eine Existenzebenean : die poli ti sche. Wenn die Lin ke ihre Dokt rin vom Glau ben an die deter mi -nistische Vorrangstellung des Materiellen, die sich verändernden Produktionsweisen<strong>und</strong> die entsprechenden Formen des Klassenkampfes ableitete, entwickelte die Rech te Schritt für Schritt ihre Ant wort aus der Behaup tung derdeterministischen <strong>und</strong> maßgeblichen Bedeutung der natürlichen Gegebenheitenvon Volk <strong>und</strong> Blut. Jede der beiden Ideologien verband sich mit der Visionvon einer Geschich te, die dazu bestimmt sei, einen erlö sen den Höhe punkt,die Auflösung der sozialen Widersprüche auf dem Weg über einen revolutionärenDurchbruch oder die Wiederherstellung einer ursprünglichen Authentizi tät durch Rei ni gung der völ ki schen Sub stanz von sinn ent stel len den <strong>und</strong>schwächenden Verdünnungsmitteln zu erreichen. Beide Ideologien hatten einemanichäische Sicht der Geschichte. Überzeugt, im Besitz der allumfassenden<strong>und</strong> alles hei len den Wahr heit zu sein, glaub te jede von ihnen, alles ihren Zie -len Förderliche sei richtig <strong>und</strong> gut, <strong>und</strong> alles, was sich ihrem Vormarsch in denWeg stell te, sei böse.“ 33 Ihre Konfrontation musste tödlich sein.Das wich tigs te Bin de glied der Tota li ta ris men, der poli ti sche Mes sia nis mus,ist ohne eine „jüdi sche Dimen si on“ weder ideo lo gie - noch real ge schicht lichange mes sen zu ver ste hen. Sie ist in der Tri lo gie mehr fach Gegen stand weitausholender Betrachtungen. Bereits im zweiten Band nimmt Talmon die insAuge stechende Bedeutung jüdischer Einflüsse auf den Saint - Simonismus (wiespäter den hohen Anteil an Menschen mit jüdischem Hintergr<strong>und</strong> unter sozia -listischen Revolutionären, besonders im östlichen Europa ) zum Anlass historischer<strong>und</strong> sozialpsychologischer Reflexion. Zwei Faktoren erklären in ersterLinie die Bedeutung jüdischer Elemente : Zum einen enthält die jüdische Traditioneine Lesart geschichtlicher Entwicklung, die das Wirken von Zufällen,ein ma li gen Ereig nis sen <strong>und</strong> per so nel len Kons tel la tio nen hin ter die theo lo gi -schen Vorstellungen „von Erwählung, Sünde, Buße <strong>und</strong> Erlösung am Ende derTage“ 34 zurücktreten lässt. Über das Christentum imprägniert dieses messianischeErbe die Kultur des Abendlandes. Es inspiriert „die Vision der WiederkunftChris ti, der apo ka lyp ti schen <strong>und</strong> mil len aris ti schen Bewe gun gen imLaufe der Geschich te“ <strong>und</strong> ruft „ mit eini gem Abstand das Kon zept des unend -li chen Fort schritts, des Sozia lis mus <strong>und</strong> der Revo lu ti on als erret ten de Erlö -33 Tal mon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 3, S. 695.34 Tal mon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 86.© 2013, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, GöttingenISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114
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