Download [/ 5013,23 kB] - Volkstheater Rostock
Download [/ 5013,23 kB] - Volkstheater Rostock
Download [/ 5013,23 kB] - Volkstheater Rostock
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:57 Uhr Seite 1<br />
ZUHAUSE<br />
Schauspiel nach Kristof Magnusson<br />
URAUFFÜHRUNG
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:58 Uhr Seite 2<br />
2<br />
WER WEISS, WO ER HERKOMMT, WEISS, WER ER IST.<br />
WER WEISS, WER ER IST, WEISS, WO ER HINWILL.<br />
Kristof Magnusson: Zuhause, 2007
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:58 Uhr Seite 3<br />
URAUFFÜHRUNG<br />
ZUHAUSE<br />
Schauspiel nach dem Roman von Kristof Magnusson<br />
für die Bühne bearbeitet von Ronny Jakubaschk<br />
LÁRUS Benjamin Bieber<br />
MATILDA Caroline Erdmann<br />
DAGUR/FREYR/KAPITÄN Hannes Florstedt<br />
KJARTAN/RAPHAEL/U.A. Ulrich K. Müller<br />
SIGURRÓS/BERGLIND/U.A. Eva Geiler<br />
INSZENIERUNG Ronny Jakubaschk<br />
AUSSTATTUNG Matthias Koch<br />
VIDEO Carlo Siegfried<br />
DRAMATURGIE Marc Steinbach<br />
REGIEASSISTENZ Susanne Menning<br />
SOUFFLAGE Monika Boysen<br />
INSPIZIENZ Konstanze Wussow/Magdalena Botewa<br />
REGIEPRAKTIKUM Eszter Dunkl<br />
Musik von Radiohead, Múm, Sigur Rós und Mogwai<br />
Technischer Leiter: Peter Martins · Ausstattungsassistent: Ingo Böhling · Kommissarischer Werkstattleiter: Dirk Butzmann ·<br />
Bühnen inspektor: Holger Fleischer · Bühnentechnik: Ingo Templin · Leiterin der Kostümabteilung: Jenny-Ellen Fischer ·<br />
Assistentin der Kostümabteilungsleiterin: Jana Maaser · Kostüm anfertigung: Kornelia Junge, Martina Steckert · Chef maskenbildnerin:<br />
Beatrice Rauch · Maske: Judith Müller · Leiter der Beleuchtung: Andreas Lichtenstein · Beleuchtung: Uwe Dittrich ·<br />
Leiter der Tonabteilung: Michael Martin · Ton: Paul Cornelius · Kommissarische Leiterin der Requisite: Katja Schönberg ·<br />
Requisite: Jarste Hinrichsen<br />
Herstellung der Dekorationen und Kostüme in den Werkstätten des <strong>Volkstheater</strong>s <strong>Rostock</strong><br />
Das Fotografieren sowie Film- und Tonaufnahmen während der Vorstellung sind nicht gestattet.<br />
Photographing, video recording and sound recording during the performance is prohibited.<br />
PREMIERE: 30. April 2010, 20.00 Uhr · THEATER IM STADTHAFEN<br />
Aufführungsrechte: Verlag der Autoren, Frankfurt am Main<br />
Aufführungsdauer: ca. 2 Stunden und 40 Minuten · Eine Pause<br />
3
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:58 Uhr Seite 4<br />
4<br />
DAS STÜCK<br />
Wie in jedem Jahr kehrt Lárus heim auf die Insel seiner Kindheit, um dort mit alten Freunden<br />
Weihnachten zu feiern. – Warum nur ist diesmal alles anders? Ihn selbst hat Milan verlassen, seine<br />
Freundin Matilda hat sich von Svend getrennt, und bei der Videoausleihe erfährt der Exilant, er<br />
sei im Einwohnerverzeichnis als tot eingetragen. Da begegnet er Dagur, einem Bekannten von<br />
früher, Sproß einer der mächtigsten Familien Islands, die mit ihrem Mýrar-Konzern das ganze<br />
Land kontrolliert.<br />
Lárus’ Zuhause versinkt im Chaos: Vor ihm geht ein Haus in Flammen auf, der französische DJ<br />
aus dem kaffí gógó tritt ihm die Tür ein, in einem Landrover rast er auf eine Fastfoodfiliale zu, auf<br />
Dagurs Beerdigung landet er selbst im offenen Grab. Dennoch erscheint Lárus in der Konzernzentrale<br />
zur Buchpremiere von ›Wir Menschen von Mýrar‹, in dem Dagurs Vater die Familiengeschichte<br />
über 1.000 Jahre zurück bis auf den legendären Volkshelden Egill Skallagrímsson datiert.<br />
Dort erlebt er, wie das erste Exemplar ausgerechnet dem Leiter des Einwohnermeldeamts verehrt<br />
wird. Lárus, der ewige Verdränger, ist endlich gezwungen, sich der eigenen Vergangenheit, wie der<br />
Geschichte seiner Heimat zu stellen. Dabei entdeckt er immer Unheimlicheres über sein Land,<br />
über seine Familie und über sich selbst. Doch der Weg nach Hause, zurück in die eigene Erinnerung<br />
genauso wie ins kollektive Gedächtnis erweist sich als schmerzhaft und verlustreich. Und<br />
bald weiß Lárus genug, dass er wirklich um sein Leben fürchten muss. Wer würde ihn denn auch<br />
vermissen? Offiziell ist er ja längst tot.<br />
Was Romanautor Kristof Magnusson mit dem aktuellen Porträt einer unbehausten Generation eröffnet,<br />
das treibt er in einen rasch eskalierenden Familienthriller vom Verdrängen und Erinnern,<br />
um schließlich Wahrheit und Macht des isländischen Nationalmythos in Frage zu stellen. Der<br />
Deutsch-Isländer, der gegenwärtig an einer Neuübersetzung der isländischen Grettis Saga arbeitet,<br />
hat 2005 nach mehreren erfolgreichen Stücken (›Enge im Haus und im Sarg‹, 2000; ›Der totale<br />
Kick‹, 2001; ›Männerhort‹, 2002) einen höchst dramatischen Roman vorgelegt, den er selbst<br />
bereits für eine 53-minütige Hörspielfassung (WDR 2007) szenisch bearbeitete. In der neuen Bühnenfassung<br />
des Berliner Regisseurs Ronny Jakubaschk, der im Herbst am Theater Basel auch Magnussons<br />
zweiten Roman ›Das war ich nicht‹ (2010) in Szene setzen wird, erlebt die Geschichte<br />
nun am <strong>Volkstheater</strong> <strong>Rostock</strong> ihre Uraufführung.
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:58 Uhr Seite 5<br />
Hannes Florstedt, Benjamin Bieber<br />
5
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:59 Uhr Seite 6<br />
6<br />
WIE LEBT EINER, DER SEINEN ROMAN ›ZUHAUSE‹ NENNT?<br />
LEBEN. Kristof Magnusson, der in Hamburg aufwuchs, aber wegen seines isländischen Vaters<br />
viel Zeit auf der Insel verbrachte, wohnt mit dem Schriftsteller Tobias Hülswitt zusammen.<br />
Mit den Nachbarn im Haus haben die beiden ein kleines Dorf gebildet, elektronisch gesehen:<br />
eine Etage, Internet ohne Schnur, eine Flatrate. Freunde in der Stadt sind auch noch wichtig,<br />
damit das Zuhause seinen Namen verdient, sagt Kristof. Manchmal sitzen die beiden Schreiber<br />
in ihren Zimmern und schicken sich Mails. Und weil man in einer WG ständig kommunizieren<br />
muss, sich ankündigen und gegenseitig warnen, vor einem selbst und vor anderen, hat<br />
Kristof eines Nachts noch schnell »Bin, ähm, nicht allein …« auf einen Zettel in der Küche gekritzelt.<br />
»Niemand sollte alleine wandern gehen«, hatte Hülswitt darunter geantwortet.<br />
ALLEIN. Nach seiner Zeit bei den Eltern in Hamburg, in der er das Abitur machte und eine Ausbildung<br />
zum Kirchenmusiker, wollte Kristof endlich alleine wohnen. Er machte seinen Zivildienst<br />
in New York, und seine erste eigene Bude war ein Zimmer am Times Square. Tisch, Stuhl, Schrank,<br />
Kochplatte, Klo auf der Etage. Er hat sich nie gefürchtet, vor dem Alleinsein, im Gegenteil, er<br />
fand es wild und romantisch. »Ich dachte, ich bin Paul Auster.« Und noch während er das dachte,<br />
veränderte er sich. Alleine, sagt Kristof, findet man sich nicht mehr damit ab, dass man immer<br />
alles suchen muss. Tagsüber ging Kristof in die jüdische Obdachlosenunterkunft zu denen, die<br />
die Stadt nur duldete, und wärmte ihnen koscheres Fertigessen auf. Er besuchte mit den Unbehausten<br />
die Ämter und versuchte, auch ihnen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen. Er hat gelernt,<br />
woran man die erkennt, die keines haben. Es sind vor allem die Gesten, mit denen sie das<br />
behandeln, was sie dabeihaben. Mit unverhältnismäßiger Sorgfalt gehen sie mit dem um, was<br />
doch nur nach räudigen Tüten aussieht. Bewusst gruppieren sie ihre Habseligkeiten um sich<br />
herum. Alles muss seinen Platz haben. »Sie projizieren das Zuhause an einen öffentlichen Ort.«<br />
HEIMAT. »Zuhause ist immer positiv besetzt«, sagt Kristof. Anders als zum Beispiel Heimat. Zuhause<br />
gibt es mehrere in einem Leben, Heimat nur einmal. Damit eine Heimat eine Heimat ist, müssten<br />
dort mehrere verschiedene Lebensphasen stattgefunden haben. Zuhause ist weniger als Heimat und<br />
mehr als eine Wohnung. Kristof war von Anfang an klar, dass sein erster Roman ›Zuhause‹ heißen
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:59 Uhr Seite 7<br />
Ulrich K. Müller, Benjamin Bieber<br />
7
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:59 Uhr Seite 8<br />
8<br />
sollte. Und er spielt in Island, wo Kristof viel Zeit verbracht hat. »In Island ist das Zuhause eine Extremsituation«,<br />
sagt er, denn weil die Tage so dunkel werden und die Temperaturen schnell fallen,<br />
verbrächten die Isländer viel Zeit in ihren Häusern. Häuser sind dort hell erleuchtet und wichtig und<br />
oft fast so groß, wie das Grundstück, auf dem sie stehen. »Aber paradoxerweise führte das Schreiben<br />
eines Romans mit dem Namen ›Zuhause‹ dazu, dass sich mein eigenes Zuhause auflöst.«<br />
SCHREIBEN. Kristof Magnusson studierte sein Handwerk am Literaturinstitut in Leipzig. Kristof<br />
dachte, das Schreiben würde ihm leichter fallen in einer sanierten Wohnung mit Blick und Fußbodenheizung,<br />
und es war von dort aus, dass Kristof Magnusson die Krähenflugbewegung von<br />
ganz Leipzig beobachten konnte, während er sich übte. Das hatte so viel Erfolg, dass er jetzt eigentlich<br />
gar nicht mehr zu Hause ist, sondern viel auf Lesereise. Gleichzeitig hat er ein Aufenthaltsstipendium<br />
in der Schweiz für ein Jahr, was dazu führt, dass er immer hin- und herreist<br />
zwischen Langenthal und Berlin und die Klamotten immer gerade am falschen Ort sind.<br />
Zuhause ist tatsächlich ein Konstrukt, denn es gibt keinen zwingenden Grund, an einem Ort zu<br />
sein. Kein Arbeitgeber, der einem neue Städte aufzwingt, sagt Kristof, also sei es gut, einen Grund<br />
zu finden, aus dem heraus man sich bewegen kann. »Sonst kommt man nie aus der studentischenlinken<br />
WG-Schriftstellerei heraus.« Und deshalb genießt er es, zur Literaturproduktion<br />
in abgeschiedene Dörfer verschickt zu werden, wo<br />
andere Menschen in engeren Beziehungen leben.<br />
»Ich habe so wenige und so leichte, zusammenklappbare Möbel, dass<br />
ich innerhalb von drei Stunden verschwinden kann«, sagt Kristof. Ohne<br />
Spuren zu hinterlassen. Er würde nicht lange brauchen, um die Mozartbüste<br />
einzupacken, das Metronom, das Schlafsofa und den Ledersessel.<br />
Zu Hause stehen nur die Dinge, die jemand aus dem ganzen Wust<br />
der Welt für wichtig hält.<br />
Deike Diening, 2005<br />
IN ISLAND IST DAS ZUHAUSE EINE EXTREMSITUATION<br />
Kristof Magnusson, 2005
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 10:59 Uhr Seite 9<br />
Benjamin Bieber<br />
9
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:00 Uhr Seite 10<br />
10<br />
EGILLS SAGA<br />
Die Saga besingt Herkunft, Schicksal und Nachfolge des Egill Skallagrímsson (910 – ca. 990<br />
n.Chr.), eines mächtigen isländischen Goden (Clanchef) und bedeutendem Skalden (Lieddichter)<br />
aus der ersten Siedlergeneration der Insel. Seine Existenz wird sogar vom historischen<br />
Landnahmebuch, dem frühesten Einwohnerverzeichnis der jungen Nation beglaubigt.<br />
Dieser Legende nach entstammt er einer Dynastie norwegischer Kleinfürsten. Infolge eines<br />
Konflikts mit dem König sah sich seine Familie allerdings gezwungen, nach dem kurz zuvor<br />
entdeckten Island auszuwandern. Bei der Landnahme soll sich sein Vater Skallagrímur dort<br />
niedergelassen haben, wo der Sarg seines Großvaters ans Ufer trieb: in Borg am Borgarfjord<br />
nahe Borganes in der westisländischen Region von Mýrar.<br />
Vier große Auslandsreisen führen den frühen Isländer in diplomatischen wie militärischen Missionen<br />
immer wieder zurück in den Machtbereich der alten Widersacher, nach Norwegen wie<br />
nach England. Daheim auf der Insel greift er im Allthing, der isländischen Gesetzes- und Gerichtsversammlung<br />
freier Bauern, häufig in die Geschicke seiner Heimat ein. Auch seine Nachkommen<br />
prägen Jahrhunderte hindurch die Geschichte Islands, und jeder Isländer kann sich<br />
heute als Erbe Egills begreifen.<br />
Die Dichtung kennzeichnet ihren Helden nicht nur mit allen Merkmalen des damaligen Berserker-Kults<br />
als unbesiegbar groß, stark und wild: So soll er bereits mit sieben Jahren aus Wut<br />
einen überlegenen Gegner im Ballspiel erschlagen haben; und um sich am Vater zu rächen, der<br />
ihn selbst fast erschlagen hätte, dafür aber die Magd tötete, die ihn in Schutz nahm, soll er<br />
den vom Vater geschätzten Gutsverwalter ermordet haben.<br />
Ungewöhnlicherweise beschreibt das Lied seine Titelfigur auch als auffallend häßlich, kälteempfindlich<br />
und kopfschmerzgeplagt. Diese Symptome sowie eine Exhumierung Anfang des<br />
13. Jahrhunderts, die überdimensionierte Knochen sowie einen verwachsenen, auch mit einer<br />
Axt nicht zu spaltenden Schädel zutage förderten, legen für Egill die Diagnose eines Paget-
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:00 Uhr Seite 11<br />
Benjamin Bieber, Eva Geiler<br />
11
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:00 Uhr Seite 12<br />
12<br />
Syndroms nahe, einer erblichen Krankheit mit übermäßigem Knochenwachstum und den erwähnten<br />
Folgeerscheinungen.<br />
Zugleich muss das historische Vorbild des Sagenhelds mit besonderer Intelligenz und Sensibilität<br />
begabt gewesen sein, als Politiker ebenso wie als Poet. Erst dreijährig soll er sein erstes<br />
Gedicht verfasst haben. Später schlägt ein von ihm komponierter Fluch den König Norwegens<br />
in die Flucht, und als Egill darauf in England diesem Eiríkur Blutaxt in die Hände fällt, rettet<br />
der todgeweihte Skalde seinen Hals mit einem Preislied auf seinen Todfeind. Auch für die<br />
erwiesene Treue seines besten Freundes und Gefährten dieser Kämpfe stimmt Egill eine Hymne<br />
an, muss jedoch vor Ende seines Lebens noch den Verlust zweier Söhne ebenso wie die eigene<br />
Todessehnsucht überwinden, in einem sehr persönlichen Klagelied.<br />
Als Verfasser dieser autobiographischen Gedichte sowie der meisten von weiteren 60 Strophen,<br />
die ihm das Epos in den Mund legt, dürfte Egill selbst wohl als erster Urheber der Saga anzusehen<br />
sein. Einer der letzten Autoren des Werks mag sein Nachkomme Snorri Sturlusson (1179-<br />
1241) sein, ebenfalls ein bedeutender isländischer Dichter und Diplomat, der gleichfalls in<br />
Mýrar lebte, zeitweise sogar am Stammsitz der Familie auf dem Hof Borg. Zu seinen Lebzeiten<br />
wurden die Gebeine des Vorfahren umgebettet und die mündliche Überlieferung von seinem<br />
Ahnen schriftlich niedergelegt zur ›Egills Saga‹. Anders aber als sein Ahne, der etwa<br />
80-jährig eines natürlichen Todes starb, wurde Snorri ein Opfer jener Erbfehde mit dem norwegischen<br />
Königshaus, die einst die Landnahme auf der unwirtlichen Insel überhaupt erst<br />
ausgelöst und längst ganz Island ergriffen hatte.<br />
NUR WAS NICHT AUFHÖRT,<br />
W E H Z U T H U N,<br />
BLEIBT IM GEDÄCHTNISS.<br />
Friedrich Nietzsche, 1887
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:01 Uhr Seite 13<br />
Caroline Erdmann, Benjamin Bieber<br />
13
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:01 Uhr Seite 14<br />
14<br />
DER SÖHNE VERLUST (SONATORREK)<br />
Schwer ist’s mir / die Zunge zu rühren / oder emporzuheben / des Liedes Waagarm; / […] //<br />
Denn mein Geschlecht / steht am Ende, / gleich sturmzerschlagnen / Ahornen im Wald. / Nicht<br />
heiter ist, / wer vom Hause hinab / eines toten Gesippen / Glieder trägt. / […] // Eine bittere<br />
Lücke / brach die Woge mir / in meines Vaters / Verwandtenzaun. / Leer seh ich und offen /<br />
statt meines Sohns / die Bresche stehen, / die die See mir schlug. // Hart hat Ran / mich gepackt,<br />
/ bin ganz beraubt / lieber Freunde; / meiner Sippe Band / zerriss das Meer, / den festen Strang<br />
/ von mir selbst. // Weißt du, wenn das Unrecht / mit dem Schwert ich rächte – / der Bierbereiter<br />
hätte / seine Zeit erfüllt; / könnte ich kämpfen, / zöge ich zum Streite / wider Wellentreibers<br />
Bruder, / wider Ägirs Macht. // Nicht aber, glaub ich, / habe ich Kraft / zum Streiten<br />
wider / den Töter des Sohns, / vor Augen wird stehen / allem Volk / des alten Mannes / Hilflosigkeit.<br />
// Viel hat das Meer / mir geraubt, / bitter zu nennen / ist der Verwandten Tod, / nachdem<br />
verschwand / auf der Freuden Pfad, / des Lebens beraubt, / meiner Familie Schild. // Ich<br />
weiß es selbst, / in meinem Sohn / lag der Stoff nicht / zu einem üblen Mann, / wenn dieser<br />
Schildbaum / hätte wachsen dürfen, / bis mit seinen Händen / Heer-Gaut ihn nähme. // Zuhöchst<br />
er stets schätzte, / was der Vater sprach, / wenn alles Volk auch / anderes sagte. / Und<br />
standhaft hielt er / im Steingeröll mich, / er stützte meine Kraft / am stärksten mir. // […] //<br />
Schwer find ich einen / unter allem Volk / von Elks Galgen, / dem trauen ich kann; / abgrundschlecht<br />
/ ist der Verwandtenstürzer, / der des Bruders Leichnam / für Ringe verkauft. // […]<br />
// Dies auch sagt man, / keiner bekomme / Ersatz für den Sohn, / wenn er selbst ihn nicht<br />
zeugt, / einen Nachkommen, / der anderen gilt / als Mann, geboren / an Bruders statt. // Nicht<br />
lieb ist mir, / der Menschen Umgang / wenn auch jeder / Frieden hält. / […] // ich weiß von<br />
ihm, / dass er entging / übler Rede / vor Fehlern sich hütend. // […] / Kunst gab mir / der<br />
kampfgewohnte / Feind des Wolfes, / ohne Fehl, / und solchen Geist, / daß offne Feinde / ich mir<br />
schuf / aus Ränkeschmieden. // Schwer ist’s zu tragen: / Die Schwester Narfis / und des Feindes<br />
von Tveggi / auf der Landspitze steht; / doch werde froh ich, / guten Sinnes / und ungetrübt<br />
/ Hel erwarten.<br />
Egill Skalagrimsson, 2. Hälfte, 10. Jh.n.Chr.
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:01 Uhr Seite 15<br />
LIEBESKUMMER<br />
SCHMERZ<br />
ZORN REUE<br />
VORBEI<br />
es ist keine schande schwach zu sein, es ist keine schande verletzt zu sein, es ist keine schande verlassen zu sein, es<br />
ist keine schande traurig zu sein, es ist keine schande wütend zu sein, es ist keine schande verwirrt zu sein, es ist<br />
keine schande kompliziert zu sein, es ist keine schande romantisch zu sein, es ist keine schande unproduktiv zu sein,<br />
es ist keine schande reich zu sein, es ist keine schande großzügig zu sein, es ist keine schande nett zu sein<br />
Schreiben Sie uns. Wir verwahren Ihre Erinnerungen für Sie, sicher und diskret.<br />
Gesellschaft der Liebeskranken, Graue Gasse 12, CH-8022 Zürich.<br />
LIEBESKUMMER’<br />
SCHMERZ’<br />
ZORN’ REUE’<br />
VORBEI’<br />
nach Kristof Magnusson: Zuhause, 2007<br />
TEXTQUELLEN: Romanzitate nach: Kristof Magnusson. Zuhause. München 2007; Deike Diening. Wie lebt einer, der seinen Roman ›Zuhause‹<br />
nennt? gekürzt aus: Tagesspiegel. Berlin 9.10.2005; Friedrich Nietzsche zitiert nach: derselbe. Zur Genealogie der Moral. 2. Abhandlung<br />
Nr.3. in: derselbe. Kritische Gesamtausgabe. herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Abteilung VI. Band 2.<br />
Seite 311. Berlin 1968; Egill Skallagrimsson. Der Söhne Verlust (Sonatorrek). gekürzt aus: Die Saga von Egil. übersetzt von Kurt Schier.<br />
Düsseldorf/Köln 1978 · BILDQUELLEN: Covermotiv von Matthias Koch (Photographie/Gestaltung); Busnetzplan der nat.is; Probenphotos<br />
von Dorit Gätjen und Matthias Koch (Hauptprobe 1, 26.04.2010); Autorenporträt auf Island von Martin Hossbass.<br />
Herausgeber: <strong>Volkstheater</strong> <strong>Rostock</strong> GmbH · 115. Spielzeit 2009/2010 · Intendant Peter Leonard · Kaufmännischer<br />
Geschäftsführer: Kay-Uwe Nissen · Redaktion und Texte: Marc Steinbach · Gestaltung: René Bakemeier ·<br />
Druck: Stadtdruckerei Weidner GmbH<br />
15
1912_PH-Zuhause.qxd:PH-Thater.qxd 28.04.2010 11:01 Uhr Seite 16