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FernUni Perspektive Nr. 53 | Herbst 2015

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<strong>FernUni</strong> <strong>Perspektive</strong> Seite 11<br />

Suizidbeihilfe<br />

Staatliche<br />

Regelungswut<br />

Deutsch-französisches Forschungsprojekt<br />

Der kaufmännische Blick von außen<br />

Fortsetzung von Seite 10<br />

Die Selbsttötungshandlung ist demnach<br />

häufig gar nicht so frei, wie<br />

es scheint, sondern beispielsweise<br />

durch Krankheiten beeinflusst. „Es<br />

wäre besser, Depressionen und andere<br />

Krankheiten zu behandeln, als<br />

sie zusammen mit dem Menschen<br />

auszulöschen.“<br />

Gesetzlich geregeltes Ableben<br />

Für die aktuelle gesellschaftliche Entwicklung<br />

spricht Hoffmann von einer<br />

„Thanato-Politik“: dem Versuch<br />

der Politik, auch das Sterben der<br />

Menschen zu einer gesellschaftlichen<br />

Funktion zu machen. Der Staat<br />

maßt sich demnach immer mehr<br />

Kompetenzen über das Leben (und<br />

Sterben) seiner Bürgerinnen und<br />

Bürger an: Alles muss in geregelten<br />

Bahnen verlaufen, von der Zeugung<br />

bis zur Bahre. Demgegenüber gelte:<br />

Auch im Blick auf die Lebenden ist<br />

die „staatliche Regelungswut nicht<br />

wünschenswert“.<br />

Ins Bild dieser Politik passt das Gesetzgebungsverfahren.<br />

Hoffmann<br />

kritisiert, dass die Gesetzgebung<br />

keine inhaltliche Norm vorgibt, sondern<br />

dass sie die Norm an die gesellschaftliche<br />

Entwicklung anpasst.<br />

Im Hinblick auf die Frage, ob Ärzte<br />

beim Sterben assistieren können sollen,<br />

stellt er fest: „Dafür muss man<br />

Selbstmord bejahen.“<br />

Beistand statt Sterbehilfe<br />

Hoffmann fragt daher, wie man helfen<br />

kann, die gesellschaftliche Norm<br />

„Du sollst nicht töten“ zu erfüllen.<br />

Eine zentrale Antwort: Die Hospize<br />

in Deutschland sind vorbildlich,<br />

sie müssen weiter gestärkt werden.<br />

Dafür muss die Norm jedoch lauten:<br />

„Nicht sterben helfen! Wird jedoch<br />

die Unterstützung beim Selbstmord<br />

zur Norm, wird der Boden für Hospize<br />

dünner.“<br />

Knaup fordert, ähnlich wie Hoffmann:<br />

„Man muss an der Hand<br />

eines anderen Menschen sterben.<br />

Nicht durch die Hand eines anderen!<br />

Das ist würdevolles Sterben!<br />

Und Sterbehilfe wird so zum Sterbebeistand.“<br />

Noch besser als in den<br />

auch von ihm gelobten Hospizen sei<br />

der Sterbebeistand durch die und in<br />

der Familie. Große Angst verursache<br />

jedoch das Alleinsein. Die Palliativmedizin<br />

will nicht das Leben<br />

(und Sterben) verlängern, sondern<br />

behandelt Schmerzen und andere<br />

Beschwerden.<br />

„Das Töten ist ein unsittlicher Akt!“<br />

Daraus ergibt sich auch für Knaup,<br />

dass Töten keine ärztliche Aufgabe<br />

sein kann – wie im Eid des Hippokrates<br />

festgelegt: „Wer das ändern<br />

will, hat eine Bringschuld!“ Da<br />

www.fernuni-hagen.de/per<strong>53</strong>-11<br />

„Wie krank ist das deutsche Gesundheitssystem?“,<br />

fragen sich<br />

Fachleute, Politik und Öffentlichkeit<br />

seit vielen Jahren: Die Kosten<br />

steigen, allen Reform- und Sparbemühungen<br />

zum Trotz, tendenziell<br />

immer weiter. Zurzeit steht die<br />

trotz wachsender Arztdichte zunehmende<br />

ärztliche Unterversorgung<br />

verschiedener Regionen im Blickpunkt.<br />

Auch in dem der Politikwissenschaftlerin<br />

Dr. Renate Reiter an<br />

der <strong>FernUni</strong>versität in Hagen. Sie<br />

ist eine Leiterin des Forschungsprojekts<br />

„Sicherstellung der Krankenversorgung<br />

in benachteiligten Räumen.<br />

Strategien der Versorgungssteuerung<br />

im internationalen Vergleich<br />

– die Beispiele Deutschland,<br />

Frankreich, England und Schweden“<br />

(RegMedProv).<br />

Zusammen mit Prof. Dr. Dr. Thomas<br />

Gerlinger (Universität Bielefeld) und<br />

Prof. Dr. Patrick Hassenteufel (Université<br />

de Versailles Saint-Quentinen-Yvelines)<br />

untersucht die Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin am Lehrgebiet<br />

III: Politikfeldanalyse und<br />

Umweltpolitik (Prof. Dr. Annette<br />

Elisabeth Töller) die gesundheitspolitischen<br />

Strategien, mit denen die<br />

vier Länder seit dem Jahr 2000 das<br />

Problem der ärztlichen Unterversorgung<br />

auf regionaler Ebene angehen.<br />

Dafür analysieren sie auch,<br />

warum sich die Regulierung der ambulanten<br />

Versorgung in den vier<br />

Gesundheitssystemen so entwickelt<br />

hat, welche Probleme jeweils genau<br />

im Vordergrund stehen und was die<br />

Länder voneinander lernen können.<br />

Gefördert wird das auf drei Jahre<br />

angelegte Forschungsvorhaben<br />

von der Deutschen Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG), die dabei mit<br />

der Agence Nationale de Recherche<br />

(ANR) kooperiert, die den französischen<br />

Projektteil unterstützt. Den<br />

Rahmen bietet das DFG-ANR-För-<br />

derprogramm für die Geistes- und<br />

Sozialwissenschaften.<br />

Öffentliche Kernaufgabe<br />

Ausgangsbasis des Forschungsvorhabens<br />

ist der Grundsatz, wonach<br />

die bedarfsgerechte Versorgung der<br />

Bevölkerung mit ambulanten medizinischen<br />

Leistungen in entwickelten<br />

Wohlfahrtsstaaten eine Kernaufgabe<br />

öffentlicher Daseinsvorsorge<br />

ist. Dabei wird allerdings nicht<br />

nur in Deutschland das Problem der<br />

regionalen Unterversorgung immer<br />

drängender. Die Bewältigung dieser<br />

Versorgungsaufgabe in den verschiedenen<br />

Ländern und die Ausgestaltung<br />

des Systems der ambulanten<br />

medizinischen Versorgung und<br />

die (Gesundheits-)Politik zur Regulierung<br />

derselben sind jedoch sehr<br />

unterschiedlich. So geht es auch darum,<br />

gesundheitspolitische „Best-<br />

Practice“-Beispiele zu finden, von<br />

denen die anderen Länder profitieren<br />

können.<br />

Politikziele und Instrumente<br />

Das deutsch-französische Team will<br />

Antworten auf drei Fragen finden:<br />

1. Welche Ziele und Instrumente<br />

kennzeichnen die gesundheitspolitischen<br />

Reaktionen auf das<br />

Problem der regionalen Unterversorgung<br />

mit ambulanten medizinischen<br />

Leistungen im Untersuchungszeitraum?<br />

2. Welche Faktoren erklären die jeweilige<br />

Zielformulierung und Instrumentenwahl?<br />

3. Inwiefern geht mit der Politikformulierung<br />

ein Wandel in den<br />

Regulierungs- und Versorgungsstrukturen<br />

der jeweiligen Gesundheitssysteme<br />

einher?<br />

Um die Krankenversorgung<br />

in benachteiligten<br />

Räumen geht es<br />

in dem Projekt.<br />

Copyright:<br />

DAK-Gesundheit<br />

Die Unterversorgungsprobleme haben<br />

verschiedene Ursachen. So sind<br />

die Strukturen der Gesundheitssysteme<br />

in den vier ausgewählten<br />

Ländern unterschiedlich: „Schweden<br />

etwa ist ein sehr großflächiges<br />

Land, besonders die nördlichen Regionen<br />

sind dünn besiedelt. Sie<br />

waren im Hinblick auf die medizinische<br />

Versorgung immer schon<br />

recht ausgedünnt. Hier ist das Problem<br />

also wohl geografisch bedingt“,<br />

erläutert Dr. Renate Reiter<br />

ein Beispiel. Eine Rolle spielt aber<br />

auch, ob und wie sich die Ärtinnen<br />

und Ärzte und die Krankenkassen<br />

– wie in Deutschland – selbst<br />

verwalten: „Die Städte und Kreise<br />

haben da kaum Einflussmöglichkeiten.“<br />

Wenn die Kassenärztliche<br />

Vereinigung kein Versorgungsproblem<br />

in einer Region sieht, sind<br />

den Gebietskörperschaften also die<br />

Hände gebunden. Jedoch hat der<br />

Gesetzgeber u.a. den Kommunen<br />

mit dem „GKV-Versorgungsstrukturgesetz“<br />

2011 und dem gerade<br />

verabschiedeten „Versorgungsstärkungsgesetz“<br />

die Möglichkeit gegeben,<br />

eigene Einrichtungen zu eröffnen<br />

(Stand: 07/<strong>2015</strong>).<br />

Möglichkeiten der Beteiligten<br />

Zweites Ziel des deutsch-französischen<br />

Forscherteams ist es, die Politiken<br />

der vier Länder und die Diskurse,<br />

die zur Anwendung verschiedener<br />

Instrumente führen, zu untersuchen.<br />

„Wie es zu bestimmten<br />

Politiken kam und kommt, ist ja der<br />

Kern der Politikfeldanalyse in unserem<br />

Hagener Lehrgebiet“, erläutert<br />

Renate Reiter.<br />

Auf der Grundlage theoretisch abgeleiteter<br />

Arbeitshypothesen werden<br />

die kausalen Wirkungszusammenhänge<br />

zwischen den nationalen<br />

Gesundheitssystemen und den<br />

politischen Strategieauswahlen<br />

überprüft. Wie nehmen die Beteiligten<br />

die Probleme bzw. deren Bedeutung<br />

wahr? Wie groß ist ihre jeweilige<br />

Macht und wie ist das jeweilige<br />

Gesundheitssystems institutionell<br />

organisiert?<br />

In Frankreich und England sind die<br />

Gesundheitssysteme zentral organisiert,<br />

in Deutschland und Schweden<br />

dezentral. In Deutschland und<br />

Frankreich spielen die Ärzteverbände<br />

und Krankenkassen die zentralen<br />

Rollen im Gesundheitssystem,<br />

während in England und Schweden<br />

das Gesundheitssystem staatlich organisiert<br />

ist. Wichtig sind auch die<br />

Haltungen der politischen Parteien<br />

sowie die Rolle der Ärzte und<br />

die Beeinflussung der öffentlichen<br />

Diskussionen. Nicht zu vergessen<br />

ist, welche Probleme gesehen werden:<br />

Während in Deutschland von<br />

einem „Ärztemangel“ die Rede ist,<br />

sieht die Politik in Frankreich eher<br />

zu viele Fachärzte – hier entspricht<br />

die Ausbildung also nicht den Vorstellungen.<br />

Der Wandel von<br />

Gesundheitssystemen<br />

Bei der dritten Fragestellung geht<br />

es darum, inwieweit ein Wandel<br />

in den Regulierungs- und Versorgungsstrukturen<br />

der Gesundheitssysteme<br />

erreicht wurde: Bilden sich<br />

mit der Zielformulierung und der<br />

Instrumentenwahl bei der regionalen<br />

Steuerung ambulanter Versorgungskapazitäten<br />

in den Gesundheitssystemen<br />

neue regulative<br />

und institutionelle Strukturen heraus<br />

(Hybridisierung)? Oder bleibt<br />

die Problemlösung im gewachsenen<br />

regulativ-institutionellen Rahmen<br />

(Pfadabhängigkeit)? Da<br />

Dr. Renate Reiter

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