Kunst als Ausruck politischen Widerstands in Mittelamerika

Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
liebe Freundinnen und Freunde,
In Guatemala erhebt das Volk derzeit seine
Stimme gegen einen Korruptionsskandal,
der sich bis in die Regierung hinein zieht.
Zehntausende gehen dort auf die Straße und
fordern unter dem Motto #RenunciaYa (Rücktritt
jetzt) den Präsidenten Otto Pérez Molina
auf, seinen Hut zu nehmen (Seite 26). Dabei
werden nicht nur Parolen gerufen, sondern
auch Plakate und Körper mit bunten Farben
und kreativen Slogans bemalt.
Bei Protestbewegungen verschwimmt die
Grenze zwischen politischem Engagement
und Kunst. Der italienische Regisseur Luchino
Visconti war sogar der Meinung: „Man kann
kein Mensch, und noch viel weniger ein Künstler
sein, wenn man nicht politisch ist. Kunst
ist Politik“. Das ist besonders augenscheinlich
bei den Aktionen der wohl bekanntesten Performance-Künstlerin
Mittelamerikas, Regina
José Galindo (Seite 10). In einer ihrer Performances
ging sie barfuß durch Guatemala-
Stadt und hinterließ dabei blutige Fußspuren,
um gegen einen Präsidentschaftskandidaten
zu demonstrieren, der sich während des guatemaltekischen
Bürgerkrieges Menschenrechtsverbrechen
schuldig gemacht hatte.
Fast sieht es so aus, als bezöge Galindos
Landsfrau und Hip-Hopperin Rebeca Lane diesen
Vers ihres neuesten Liedes direkt aus dieser
Performance: „Auch wenn sie versuchen,
unser Gedächtnis auszulöschen, die wahre
Geschichte ist mit roter Tinte geschrieben!“,
rappt sie (Seite 13). Beide haben einen Weg
gefunden, ihrer politischen Meinung künstlerisch
Ausdruck zu verliehen und so gegen Ungerechtigkeit
und Korruption zu kämpfen.
Auch das Kollektiv HIJOS nutzt dieses Ventil,
um die Erinnerung aufrecht zu erhalten an
die zahlreichen Bürgerkriegsopfer in Guatemala,
die zwischen 1960 und 1996 teils unter
ominösen Umständen verschwanden und entweder
tot oder gar nicht gefunden wurden und
die die Generäle und OligarchInnen aus dieser
Zeit am liebsten vergessen würden (Seite 15).
HIJOS nutzen dazu die in Mittelamerika weit
verbreiteten Murales. Diese Wandgemälde
transportieren sehr oft auch politischen Inhalt
und sind somit weit über die Dauer einer
Demonstration hinaus als farbenfrohes politisches
Mahnmal in den Straßen zu sehen.
Der Maler Javier Espinal aus Honduras hat
es damit jedoch schwer, denn in seinem Land
haben politische KünsterInnen und andere
Menschen, die sich politisch engagieren, mit
großen Repressionen zu kämpfen (Seite 8).
All diese mutigen Menschen, die sich trotz
aller Unterdrückung ihre Kreativität nicht nehmen
lassen und so vielfältig und bunt für die
Rechte der Bevölkerung auf die Straße gehen,
stellen wir Ihnen hier vor – und bieten Ihnen
gleichzeitig eine einfache Möglichkeit, sich
selbst künstlerisch und politisch zu betätigen:
Im Food Vision Foto Contest (Seite 36) sammeln
wir in Fotos gebannte Erfahrungen und
Ideen, wie man Lebensmittel und ihre Herstellung
nachhaltiger und fairer gestalten kann.
Ein inspiriertes Vergnügen beim Lesen und
Fotografieren wünscht,
Ihr CIR-Team
Das Coverfoto von James Rodríguez: Das Kollektiv HIJOS stellt sich der jährlichen Militärparade in
Guatemala mit einem friedlichen Marsch des Erinnerns und bunten Graffitis entgegen.
2 presente 2/2015