Inhaltsverzeichis
Die Stadt im 21. Jahrhundert – Klassenkampffeld im Wandel
1. Vorwort 5
2. Ökonomische Ausgangssituation: Revolution der Produktivkräfte 6
a) Deindustrialisierung, Tertiarisierung, Globalisierung 6
b) Kapitalakkumulation durch Urbanisierung 8
c) Klassenlage 10
3. Politische Rahmenbedingungen 15
a) Standortpolitik 15
b) Kommerzialisierung von Raum 15
c) Stadtentwicklung der Stadt Zürich 16
4. Klassenkampf von oben 21
a) Disziplinierung von öffentlichem Raum 21
b) Sicherheitswahn 21
c) Verdrängung 22
d) Annäherung an die Videoüberwachung in der Schweiz 24
5. Handlungstheorie – Klassenkampfanalyse 33
a) Für eine revolutionäre Klassenposition 33
b) Widerspruchserfahrungen 34
c) Das urbane Kampffeld – Revolutionäre Gegenmacht 35
Revolutionärer Aufbau Zürich im April 2014
Postfach 8663, 8036 Zürich
Email: info@aufbau.org / Internet: www.aufbau.org
Aufbau Vertrieb: Zürich An- und Verkauf proletarischer und kommunistischer Literatur Kanonengasse 35
(im Hinterhaus, Eisentreppe) jeden Samstag von 12 bis 17 Uhr geöffnet
Zur Illustration dieser Broschüre:
Die Illustration der vorliegenden Broschüre folgt der Idee, dass die Stadt in ihrer historischen Wandelbarkeit
nicht nur Verdrängung, Kämpfe und Erinnerungen produziert, sondern ebenso eine vielschichtige Ästhetik
mitkonstituiert. Das heisst, sie produziert auch Zeichen, die mehr als nur der reinen Informationsvermittlung
dienen. So beispielsweise bei der Verdrängung, die durch ihren Leerstand, ihre grauen Betonflächen und
Neubauten ebenso einen ästhetischen Eigenwert kreiert. Die Stadt ist jedoch nicht nur Ort der Verdrängung,
sie ist ebenso Ort des Widerstandes und des Kampfes und dies eben nicht nur historisch, sondern auch aufgrund
ihrer Funktion in der gegenwärtigen Gesellschaft. Auch hier entsteht eine ganz eigene Bilder produzierende
Ästhetik. Der Widerstand hinterlässt Spuren an den Wänden und der Kampf solche auf den Strassen.
Doch die Stadt ist mehr, sie ist auch Ort der sozialen Experimente, wo verschiedene Lebensformen ausprobiert,
mit Architektur experimentiert und Freiräume geschaffen werden. Was entsteht, wenn man zumindest den
Versuch wagt, die Stadt nach anderen Interessen umzuformen, ist eine Ästhetik der Utopie, wo das Denkbare
möglich wird. Die Stadt ist zuletzt auch Erinnerung, in ihr sammeln sich Erfahrungen vergangener Kämpfe,
Widerstände und historischen Epochen. Eine solche, die wie eine Auswahl von Bildern mit Denkmälern für
den Zweiten Weltkrieg aus dem ehemaligen Jugoslawien zeigt, sich auch über die Mauern ihrer selbst manifestieren
kann.
2 3
Ästhetik der Verdrängung
1. Vorwort
Paris 2005, London 2011, Istanbul 2013. In verschiedenen
Städten weltweit kommt und kam es in
den letzten zehn Jahren immer wieder zu Aufständen,
Revolten, militanten Protesten. Die Stadt im 21.
Jahrhundert ist zu dem Ballungszentrum der sozialen
und ökonomischen Widersprüche geworden
und damit auch zu einem Ort der Klassenkämpfe.
Denn durch die kapitalistische Urbanisierung verändern
sich die sozialdemographischen Strukturen der
Städte: Teure Neubauten als Investitionsobjekte fürs
Kapital und eine zahlungskräftige Bewohnerklientel
verdrängen mehr und mehr proletarische MieterInnen
und Familien in die Peripherie.
In dieser Broschüre versuchen wir aufzuzeigen,
wie sich die ökonomische Situation durch Deindustrialisierungs-
und Tertiarisierungsprozesse verändert
hat und wie sich diese Veränderungen auf den
urbanen Raum auswirken. Danach wird auf die politischen
Rahmenbedingungen der Aufwertungs- und
Verdrängungsprozesse (insbesondere an Beispielen
aus Quartieren der Stadt Zürich) sowie die Seite der
Repression mit ihren Möglichkeiten der Überwachung
und ihren Sicherheitswahn eingegangen.
Schliesslich geht es darum, auch in reaktionären
Zeiten eine Kontinuität in den revolutionären Prozess
hineinzubringen und eine Handlungstheorie zur
Verfügung zu haben, welche den neuen Bedingungen
entspricht und eine Klassenposition sichtbar macht.
Die Frage nach dem revolutionären Subjekt kann nur
mit einer Klassenkampfanalyse beantwortet werden.
Also nicht nur mit einer blossen Strukturanalyse
sondern einer Miteinbeziehung der real stattfindenden
Kämpfe, welche nun mehr und mehr im öffentlichen
Raum stattfinden. Denn im Kampf um den
öffentlichen Raum, dem Kampf um die Strasse, geht
es schliesslich um den Kampf zum Aufbau revolutionärer
Gegenmacht.
4 5
2. Ökonomische Ausgangssituation: Revolution der Produktivkräft
a) Deindustrialisierung, Tertiarisierung, Globalisierung
Materielle Produktion und das menschliche
Arbeitsvermögen sind immer noch die Basis der
Ökonomie. Es ist die bürgerliche Ideologie, die versucht,
die reale Bedeutung der Arbeit und damit
die Ausbeutung zu negieren. Mit der Betonung der
„Wissensgesellschaft“ oder der „Informationsgesellschaft“,
quasi einer virtuellen Wirtschaft, ist immer
die Intention verknüpft, auch die Klassen und Klassenwidersprüche
zum „Verschwinden“ zu bringen.
Zwar haben sich insbesondere in den Metropolen
die Formen der Widerspruchslinien verändert und
damit die Wahrnehmung der Ausbeutung unklarer
werden lassen, die Klassenfrage hat aber nichts von
ihrer Bedeutung verloren.
Was wir antreffen ist allerdings eine ungemein differenzierte
und daher schwierig zu durchdringende
Klassensituation. Die „Synchronität“ zwischen Arbeit,
Ausbeutung, revolutionärem Subjekt, Klassenkampf,
der entsprechenden Theoriebildung und dem
Aufstandskonzept hat sich definitiv verschoben. In
der marxistischen Revolutionstheorie wurde bezüglich
dem Kampf der ArbeiterInnenbewegung zwischen
den Akteuren bzw. dem revolutionären Subjekt
(ArbeiterInnenklasse), dem gesellschaftlichen Hauptwiderspruch
(Ausbeutung), der Handlungsmacht
(ArbeiterInnen als Produzenten des gesellschaftlichen
Reichtums) und der Zielsetzung (Klassenlose
Gesellschaft) von einer hohen Einheit ausgegangen.
Die aktuelle Situation ist mit dieser Zeit einer starken,
revolutionären ArbeiterInnenbewegung nicht
mehr zu vergleichen. Die Zunahme der sozialen Heterogenität
widerspiegelt sich in einer Vielfalt der
Kämpfe, Bewegungen und Revolten. Klassenlagen,
Zielsetzungen und politische Reichweite sind analytisch
für den revolutionären Prozess oft sehr schwierig
zu ermitteln. Die historische Funktion der revolutionären
ArbeiterInnenbewegung in den Metropolen
als „Totengräber des Kapitalismus“ muss neu durchdacht
werden. Der emanzipatorische Anspruch der
ArbeiterInnenbewegung als die entscheidende revolutionäre
Kraft ist teilweise erodiert. Zur Diskussion
stehen die Ursachen dieser Entwicklung: Welche geschichtliche
Rolle kommt dem Proletariat aktuell zu?
Welche theoretischen und strategischen Konsequenzen
ergeben sich daraus? Welche neuen Ansätze von
Klassenbewusstsein sind vorhanden, um eine sozialistische
alternative Gesellschaft zu erkämpfen? Wir
müssen uns vom falschen Verständnis der „naturgesetzlichen“
Entwicklung der ArbeiterInnenklasse zu
einer kämpfenden Klasse verabschieden. Der quasi
determinierte „revolutionäre Gegenprozess“ zum
objektiv bedingten Gesamtprozess des Kapitalismus
existiert definitiv nicht. In den letzten Jahrzehnten
haben sich fundamentale Veränderungen in der kapitalistischen
Produktionsweise und damit neue Differenzierungsprozesse
in der Klassenzusammensetzung
ergeben. Der „Industriekapitalismus“ ist nicht
verschwunden, sondern reproduziert sich in modifizierten
Formen durch den Widerspruch zwischen
den kapitalistischen Zentren und der Peripherie in
globalem Massstab. „Globalisierung“ ist jedoch kein
neues Phänomen, sondern in der Tendenz von Anfang
an charakteristisch für den Kapitalismus. Durch
die Entwicklung neuer Technologien haben sich in
der Umsetzung der internationalen Arbeitsteilung
die Geschwindigkeit und der Grad der Vernetzung
radikal verändert. Durch die mikroelektronischen,
biogenetischen und nanotechnologischen Entwicklungen
der Produktivkräfte befinden wir uns in einer
gesellschaftlichen Umbruchsituation, die durch eine
ausserordentliche Revolution der Produktivkräfte
geprägt ist. In der Auseinandersetzung über die kapitalistischen
Produktionsverhältnisse existiert eine
verkürzte „Produktivkraftideologie“, die von unbegrenzten
technologischen Möglichkeiten ausgeht,
quasi einem „naturgesetzlichen“ Technikdeterminismus.
Diesen unveränderlichen Konstanten „könne
allenfalls mit Umschulungen und Sozialplänen
begegnet werden, fundamental angreifen liessen sie
sich allerdings nicht“. Damit verbunden ist ein historischer
Fatalismus, der nur den Herrschenden dienen
kann. Als ob in der Technologie das objektiv treibend
und letztlich entscheidende Prinzip der Entwicklung
der Produktivkräfte liegen würde.
Alle gesellschaftlichen Bereiche werden von Menschen
mit bestimmten Klasseninteressen gemacht.
Auch Technik muss als sozialer Prozess verstanden
werden, der sich dialektisch vollzieht. Technische
Entwicklungen bestimmen die kapitalistischen Möglichkeiten
nur insofern, als es wiederum letztlich kapitalistische
Erfordernisse sind, die bestimmte technische
Entwicklungen nach sich ziehen.
In der aktuellen Produktivkräfteentwicklung
nimmt die Computertechnologie die zentrale Stellung
ein. Sie ist für die kapitalistische Reproduktion
überlebenswichtig, weil die zunehmende Komplexität
der Arbeitsteilung ein grosses Koordinationsbedürfnis
erzeugt, das nur noch digitalisiert zu leisten
ist. Die Industrieproduktion wird nicht ersetzt, sondern
verlagert, und die neuen Technologien dienen
ihr funktional zu. Eine historische Dimension bekommt
diese digitale Technologie vielleicht dadurch,
dass Wissen eines Tages nur noch in elektronischer
Form vorhanden sein wird und daher von den Herrschenden
zentral kontrolliert werden kann.
Bezüglich Klassenstruktur, ihrer Zusammensetzung
und auf das Klassenbewusstsein hat dieser
Vergesellschaftungsprozess fundamentale Verschiebungen
zur Folge: Differenzierungen und Segmentierungen
im Proletariat, einschliesslich immer krasser
werdender Lohnunterschiede, Abnahme der Bedeutung
des kapitalistischen Grossbetriebs in den Metropolen,
eine Verschärfung der Diskriminierung der
Frauen, eine neue Qualität unsicherer Arbeitsverhältnisse
bzw. der Proletarisierung, eine veränderte
Rolle der Intellektuellen usw. Auch der Zusammenhang
der nationalen Klassensituation und der Internationalisierung
der kapitalistischen Ökonomie wird
durch einen Konkurrenzkampf um die schlechtesten
Arbeits- und Sozialverhältnisse geprägt.
Diese Situation bewirkte tiefgreifende Veränderungen
der Klassenzusammensetzung in der
Schweiz. Die Automatisierung der Produktion und
die Auslagerung der Fabrikation in Billiglohnländer
haben zur Folge, dass der Industriesektor, der in den
60er Jahren noch fast die Hälfte der Lohnabhängigen
beschäftigte, zunehmend an Bedeutung verliert.
Heute arbeiten über 70% im Dienstleistungsbereich.
Im Industriesektor sind es noch etwa 25%. Ausdruck
dieser Entwicklung ist eine Industrieproduktion, die
insgesamt trotz Abbau der Arbeitskräfte gesteigert
werden konnte. Diese ökonomische Entwicklung
der letzten Jahrzehnte ist städtebaulich im Kreis 5
in Zürich und in Zürich-Oerlikon sehr ausgeprägt
sichtbar! Die Formen der politischen Sozialisierung,
bzw. die Möglichkeiten der Manipulierung, haben
sich entsprechend dieser ökonomisch-sozialen Lage
stark verändert. Der Widerspruch zwischen der Realität
der Klassengesellschaft und dem Bewusstsein
über diese Realität hat sich enorm vertieft. Die gesellschaftlichen
Probleme und politischen Verwerfungen
werden kaum noch als Klassengegensätze
wahrgenommen. Die Struktur von Herrschaft bleibt
im Dunkeln. Daraus folgt allerdings keinesfalls, dass
es keine Klassen und keine Klassenkonflikte mehr
gibt, sondern die Klassenkämpfe finden nicht den
politischen Ausdruck, welcher in Zeiten einer engen
Verbindung von kämpfender ArbeiterInnenbewegung
und Sozialismus vorherrschend war. Eine Klassenanalyse
ist keine blosse Strukturanalyse, sondern
insbesondere eine Analyse der Voraussetzungen und
Bedingungen der politischen Klassenbildung. Ihr revolutionäres
Potential schöpft sie aus der Erkenntnis
über konkretes gesellschaftliches Handeln der kollektiven
Subjekte. Eben Klassenkampfanalyse. Sie
beantwortet die Frage, wie der Prozess zwischen der
objektiven ökonomisch begründeten Klassenanalyse
und der kollektiv handelnden potentiell revolutionären
Subjekte verläuft. Nicht die marxistische Theorie,
nach dem Motto „Abschied vom Proletariat“,
ist gescheitert, sondern die Klassenbildung bzw. die
Entstehung von revolutionärem Klassenbewusstsein
sind Veränderungen unterworfen, deren Ursachen
zuerst genau untersucht werden müssen - insbesondere
bezüglich neuer Klassenkämpfe. Dieser Lernprozess
kann allerdings nur über die Praxis auf der
Strasse, im Kampf für den Aufbau ideologischer und
organisatorischer Gegenmacht gegen die Macht des
Kapitals bewerkstelligt werden.
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) Kapitalakkumulation durch Urbanisierung
Linear zur krisenbedingt veränderten ökonomischen
Ausgangslage des Proletariats und der damit
zusammenhängenden räumlichen Verschiebung entwickeln
sich auch unsere Städte. Die Bedeutung der
Stadt hat für die menschliche Existenz, insbesondere
seit der Industrialisierung und angesichts einer laufend
wachsenden Weltbevölkerung, stetig zugenommen.
Seit 2008 leben erstmals mehr Menschen in der
Stadt als auf dem Land.
Langfristig dem Gesetz der sinkenden Profitrate
unterworfen, besitzt das Kapital trotzdem noch immer
die Fähigkeit, veränderte ökonomische Rahmenbedingungen
zu seinen Gunsten auszunutzen oder
sogar explizit zu schaffen. Die herrschende Klasse hat
die Urbanisierung längst als Feld entdeckt, in dem
sich lukrative Investitions- und Spekulationsgebiete
eröffnen. Um das Bestehen des Kapitalismus zu
sichern, muss überakkumuliertes Kapital zwingend
eine neue Anlage finden. Während klassische Lösungen
(z.B. die Ausweitung der Produktion zu Lasten
der Umwelt, die Ausweitung der Produktion durch
Immigration oder auch die Disziplinierung der ArbeiterInnen)
die Kapitalakkumulation kontinuierlich
voranzutreiben regelmässig an systemimmanente
Grenzen gestossen sind, zeigte sich, dass die Investition
in die Stadt, konkret in Immobilien und Grundstücke,
genau diese Grenzen ein Stück weit überspringen
kann. Urbanisierung kann zwar Krisen auslösen aber
sie ist vor allem ein Weg, um Krisen zu vermindern
oder herauszuzögern. In den vielen verschiedenen
Bauprojekten findet das Kapital eine scheinbar sichere
und vor allem langfristige Anlage, während die
Preisspirale des Immobiliensektors weitere lukrative
Gewinne verspricht. Die Menschen werden so über
steigende Mieten, Transport- und Unterhaltskosten
ein zweites Mal ausgebeutet.
Es lässt sich historisch betrachten, dass ein grosser
Teil des Überschusskapitals jeweils durch den Bau
von Infrastruktur, wie beispielsweise Strassen, oder
von Eigentum absorbiert wurde. Dies lohnt sich, weil
die jeweiligen Prozeduren langlebig sind. Oftmals
vergehen Jahre, bis ein Projekt fertiggestellt und in
Betrieb genommen wird. Inzwischen können Banken
gleichzeitig Kredite an beide Parteien vergeben:
An die Bauwirtschaft und die künftigen KäuferInnen.
Das erste einschneidende Beispiel dafür ist die Entwicklung
nach dem zweiten Weltkrieg: Der Bau von
Vorstädten und die Schuldenfinanzierung von neuen
Häusern trug damals massgeblich zur Wiederbelebung
der Wirtschaft bei- und an dieser Strategie wurde
auch später die ganze neoliberale Ära hindurch
festgehalten.
Die bauliche Entwicklung, vor allem in weltwirtschaftlich
bedeutsamen Städten, ist abhängig von
den globalen Finanzmärkten. Immobilien als etwas
„Dingfestes“ waren schon immer eine Ware. Verändert
hat sich allerdings, dass durch die totale Abkopplung
von realen (Markt-)Bedürfnissen die Spekulation
um Boden in einer Unverhältnismässigkeit
praktiziert wird, die immer mehr zum Problem wird.
Denn die Ressource Raum wird zunehmend knapp.
Die Planung und Gestaltung des öffentlichen Raumes
geschieht demnach keineswegs zufällig.
Die Kriterien der StadtstrategInnen richten sich
nicht nach den Bedürfnissen derer, die Stadt produzieren
und reproduzieren, sondern nach der Bedeutsamkeit
des jeweiligen Ortes für den internationalen
Markt. Die unternehmerische Städtepolitik,
den Sachzwängen des Kapitalismus unterworfen, orientiert
sich also vor allem am Konkurrenzverhältnis
zu anderen Ortschaften und am Kampf um Standortvorteile.
Städteplanerische Massnahmen gehören
zu einer gut durchdachten Strategie, die den urbanen
Raum einerseits für Profitgenerierung und -Maximierung
nutzt und andererseits, kohärent dazu, den
generierten Profit mit allen Mitteln zu schützen versucht.
Im Zuge der kapitalistischen Verwertungslogik
wird Raum so entsprechend der Interessen der Herrschenden
funktional gemacht. Die Gestaltung des öffentlichen
Raums schafft oder verhindert also geplant
Möglichkeiten.
Dass sich (verschärfte) Klassenwidersprüche gerade
im öffentlichen Raum verdeutlichen, ist den
Herrschenden schmerzlich bewusst. Das Ziel von
städteplanerischen Massnahmen ist also auch, zu
verhindern, dass sich in der Stadt politische Oppositionen
oder ähnliche progressive Ansätze bilden
können. Das bedeutet, dass die städtische Aufwertung
in der Form, in der sie von beinahe allen Seiten
thematisiert wird, vor allem eine Auswirkung vom
allgegenwärtigen Streben nach Standortattraktivität,
insbesondere für internationale Multis und Grossinvestoren,
ist und gleichzeitig und gerade deswegen,
der Aufstandsbekämpfung in der Stadt dient.
Die gezielte Stadtaufwertung ist wie bereits erwähnt
keine Neuerscheinung: Seit es kapitalistische
Städte gibt, werden „Arme“ stadtplanerisch umgesiedelt
und kontrolliert. Neu ist allerdings, dass
mittlerweile viele städtische Verwaltungen ganz bewusst
auf Gentrifizierung als Strategie zur Stadterneuerung
setzten. Selbst in akademischen Debatten
unter Stadtsoziologen vermehren sich die Stimmen,
die sie als geeignetes Mittel darstellt, um Innenstädte
wiederzubeleben. Urbanisierung dient als Kanal, um
überschüssiges Kapital im Fluss zu halten und unsere
Städte im Interesse der Bourgeoisie neu zu bauen und
zu gestalten. Die Wertsteigerung im urbanen Raum
bedingt den qualitativen Schritt von Investitionen in
Immobilien und Grundstücke hin zur Spekulation
mit ebendiesem Gut. Da kommt die Gentrifizierung
ins Spiel. Es geht nicht mehr darum, in etwas Entstehendes
zu investieren, sondern dies möglichst langfristig
gewinnbringend zu nutzen und zu vermarkten.
Dass dieser Prozess zwangsläufig mit der personellen
Umgestaltung ganzer Quartiere einhergeht,
weckt natürlich auch Widerstand. Dazu zählen beispielsweise
MieterInnen-Kämpfe, das Verteidigen
von besetzten Liegenschaften, die Präsenz im öffentlichen
Raum mit revolutionärer Propaganda oder gezielte
„Stadtabwertung“ durch Angriffe auf Gebäude
und andere Sachbeschädigungen, wie sie zum Beispiel
in Deutschland aktiv betrieben wird; aber auch
durch die Menschen, die in den Augen der Bourgeoisie
durch ihre blosse Anwesenheit den Wert einer Gegend
senken.
Damit die Gentrifizierung klappt, wird unter dem
Vorwand von Sicherheit, Sauberkeit und der Optimierung
von Raum die Umstrukturierung hin zur
komplett kontrollierbaren Stadt gerechtfertigt. Ganze
Quartiere werden videoüberwacht und beeindrucken
durch eine enorme Polizeipräsenz.
Öffentliche Plätze bieten längst kaum mehr Sitzgelegenheiten,
um den „Pöbel“ fernzuhalten und
Wegweisungen, rassistische Schikane und Repression
sind an der Tagesordnung. Strassen werden so
gestaltet, dass sie gut überschaubar und schnell und
effizient zu erreichen sind. Es ist längst klar definiert,
wer sich wo aufzuhalten hat. Gleichzeitig ist auch
das Mittel der Befriedung beliebt. Sozial und ökonomisch
„Schwächere“ werden so unter dem Deckmantel
der Integration zum Stillhalten bewegt, damit
erst gar kein Widerstand entsteht. Oder aber es werde
Möglichkeiten des Widerstandes und der Aneignung
verhindert, wie in Zürich gerade sehr aktuell,
beispielsweise durch Zwischennutzungen bei leer stehenden
Häusern. Gezielt wird so einerseits Profit aus
sonst temporär wertlosem Grund geschlagen, andererseits
werden eigentlich „private Räume“ dadurch
optimal kontrollierbar, während vordergründig ein
sozialer Gedanke vorgegaukelt wird. Auch hier wird
also die Kontrolle, wer wo, wie zu leben hat, elegant
verschärft. Wer die vorgegebenen Rahmenbedingungen
nicht einhält, hat mit Repression zu rechnen. Der
Aspekt der Spaltung ist hier nicht zu unterschätzen.
Ein anderes Beispiel sind Grossprojekte, welche
als „sozialer Wohnungsbau“ bezeichnet werden, obwohl
sie die dafür notwendigen Kriterien längst nicht
mehr erfüllen. Konkret meint das die Art von Wohnungsbau,
die zwar unter der Flagge der städtischen
oder genossenschaftlichen Idee gehandhabt wird,
die sich aber in der Realität kein „durchschnittlich
Verdienender” mehr leisten kann. Dass dafür bereits
genutzte Flächen erst einmal „freigeräumt“ werden
müssen, was in den meisten Fällen mit der Vertrei-
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ung von Ansässigen und Kleingewerbe einher geht,
ist aufgrund der Perspektive legitim. Die zukünftigen
BewohnerInnen eines Quartiers definieren, wer als
nächstes hinzuzieht, welche Sicherheitsmassnahmen
gerechtfertigt sind und dementsprechend auch, für
welche Konzerne der Standort attraktiv ist.
Betrachtet man die Zusammenhänge zwischen
den Veränderungen unserer Städte und des imperialistischen
Kapitalismus, zeigt sich also deutlich,
dass Stadtaufwertung nicht einfach ein „eigenständiger,
natürlicher Vorgang im Zeichen der Zeit“ ist,
sondern einer der vielen Notwendigkeiten, um den
Kapitalismus am Leben zu erhalten. Der profunde
Widerspruch zwischen kollektiver Produktion und
privater Aneignung reproduziert sich also auch in
den Städten.
Das Kapital braucht zwar die gesellschaftliche
Produktion, um Mehrwert zu generieren und diesen
dann privat anzueignen, sichtbar aber will es die Produzierenden
an sich lieber nicht. Die kapitalistische
Entwicklung beeinflusst die Veränderung und Entstehung
von Städten und umgekehrt - international.
Urbanisierung lässt sich also nur im Gesamtkontext
vom vorherrschenden kapitalistischen Akkumulationsregime
analysieren und verstehen und ist keineswegs
losgelöst von den vorherrschenden Produktionsverhältnissen
und dem bestehenden bürgerlichen
Verständnis von Eigentumsrecht.
c) Klassenlage
Vor gut 50 Jahren war die Hälfte aller Erwerbstätigen
in der Schweiz in der Industrie beschäftigt; heute
sind es noch knapp 26%. In der Schweiz und in
anderen Industrieländern ist ein deutlicher Wandel
vom starken Industriesektor zum starken Dienstleistungssektor
auszumachen. Dies hat einerseits mit der
vorher beschriebenen Globalisierung zu tun, welche
tiefgreifende Veränderungen in der kapitalistischen
Produktionsweise auslöste: Industrielle Produktion
wird in die Peripherie verlagert, meist also in Billiglohnländer.
Kleinere Produktionsstätten verlagern
ihre Einrichtung von der Stadt aufs Land, da dort
der Raum günstiger ist. Weiter hat der technische
Fortschritt Einfluss darauf, dass der Industriesektor
auf weniger Personen zugreifen muss, gleichzeitig
aber rentabler produziert. Diese Entwicklung ist der
momentane Stand der sich permanent in Bewegung
befindlichen Form der Mehrwertproduktion, die
auch die jeweilige Zusammensetzung der ArbeiterInnenklasse
bestimmt. Um dies genau zu erklären, ein
Blick zurück: In der Frühphase des Kapitalismus dominierten
die Manufakturen, die sich durch eine geringe
bis keine Arbeitsteilung charakterisierten. Die
Qualifikation der ArbeiterInnen war relativ hoch,
ihre Austauschbarkeit begrenzt. Ebenso die Mobilität
des Manufakturkapitals. Diese vor allem handwerkliche
Produktionsweise bestimmte über die Zusammensetzung
der Klasse, vor allem FacharbeiterInnen,
und somit über das Klassenbewusstsein der damaligen
Zeit. Diese erste Form der Mehrwertproduktion
basierte auf Ausdehnung der absoluten Arbeitszeit
als auch auf deren Intensivierung. Allerdings waren
der notwendigen Erhöhung der Profitmasse in diesen
Formen Grenzen gesetzt.
Die Profitrate konnte nur noch über die Steigerung
der Produktivität vergrössert oder zumindest
erhalten werden. Dies führte zwangsläufig zu einer
Veränderung der Arbeitsformen und damit auch zu
einer anderen Klassenzusammensetzung. Die nun
vorgenommene Aufteilung des Arbeitsprozesses, beziehungsweise
seine Mechanisierung, bewirkte einen
technologischen Schub und eine Neuorganisation
der Arbeit mit dem Ziel, die Kapitalakkumulation
vorwärts zu treiben. Der im Kapitalismus angelegte
Zwang zu fortlaufender technologischer Erneuerung
entwickelte sich in der damaligen Phase zu einer Tendenz,
die „abstrakte Arbeit“ genannt werden kann,
wenn auch in der Schweiz der Anteil der eigentlichen
Fliessbandarbeit immer einen kleinen Anteil an den
verschiedenen Produktionsformen hatte. Doch der
handwerklich geprägte Facharbeiter wurde auch hier,
sowohl durch technisch ausgebildete ArbeiterInnen
als auch durch ungelernte MassenarbeiterInnen abgelöst.
Von 1941 bis 1970 sank der Anteil der „alten“
FacharbeiterInnen von 40% auf 26%. Der Arbeitsprozess
wurde weiter differenziert, Wissen und Ausführung,
Vorbereitung und Kontrolle der Arbeit aufgeteilt,
das Leistungsprinzip zum alleinigen praktischen
und auch ideologischen Massstab ernannt. Schon
damals fiel der relative Anteil der ArbeiterInnen am
Total der Mehrwertproduktion, die gesamthaft zugenommen
hat, nämlich von 82% auf 57%. Das heisst,
die Stellung der mit organisatorischen und planerischen
Aufgaben Beschäftigen nahm laufend zu. Die
Zusammensetzung der Lohnabhängigen in der Industrie
veränderte sich Richtung „Büro“, gemeinsame
Klasseninteressen waren weniger vorhanden, Klassenkämpfe
schwieriger.
Die Arbeitsteilung ermöglichte die angestrebte
Produktivitätssteigerung, die den Akkumulationsprozess
enorm steigerte. Kleinbetriebe wurden zu
grösseren Betrieben, das Kapital zunehmend zentralisiert
und konzentriert, multinationale Konzerne
entstanden. Es nahm die Tendenz ihren Anfang,
welche bis heute andauert: Es bildete sich eine enorme
Heterogenität der ArbeiterInnenklasse und eine
immer komplexer werdende Gesellschaftsstruktur.
Zurück zur aktuellen Situation. Die oben beschriebene
Neukonzipierung des Verwertungsprozesses der
letzten Jahrzehnte verschärfte diese Differenzierung,
Komplexität, Globalisierung und Parzellierung der
Produktion noch und hatte auf die Klassenzusammensetzung
in der Schweiz grosse Auswirkungen.
Der industrielle Anteil der Mehrwertproduktion der
Schweiz findet vor allem im Ausland statt. Dieser
Umbruch hat auch einen enormen Einfluss auf die
Struktur der Städte als Ballungszentren: Einst waren
sie Hauptstätte industrieller Produktion, heute sind
sie Knotenpunkt von Dienstleistung und Konsum.
Die Stadt ist als Teil des Dienstleistungsbetriebs
zu verstehen. Wie aufgezeigt wurde, wird in sie investiert
wie in andere Unternehmungen. Die Stadt
ist nicht mehr einfach ein bauliches Gefilde, sondern
vielmehr eine Marke, gar ein Label. Dass in den letzten
Jahren vermehrt Kapital in die Städte floss, zeigt
sich auch am Wachstum der Arbeitsplätze in der
Immobilienbranche. Allein in den Jahren zwischen
2001 und 2006 wurden 12% mehr Personen im Immobiliensektor
beschäftigt als vorher. Das sind rund
2400 Arbeitsplätze, welche neu geschaffen wurden.
In der so genannten Immobilienwirtschaft sind über
500’000 Personen in 17 Berufsgruppen beschäftigt
Das sind 14% aller Beschäftigten in der Schweiz. Mit
99 Mrd. Fr. beträgt nur schon dieser Teil der Urbanisierung
18 % des Bruttoinlandprodukts. Auch im Gesundheits-
und im Sozialwesen ist bezüglich der Arbeitsplätze
markantes Wachstum festzustellen, dicht
gefolgt von Beratungsstellen aller Art, vom Anwaltsbis
zum Grafikerbüro. Weiter expansiv zeigt sich
das Erziehungswesen und die schulischen Betriebe.
Im anderen Extrem steht die Textilindustrie, welche
ehemals als das „Rückgrat der Schweizer Wirtschaft“
bezeichnet wurde. In keiner anderen Branche ist der
wirtschaftliche Druck so gross; kurz nach der Jahrtausendwende
gingen über 5300 Stellen verloren.
Auch Verlage und Druckereien sind vom Schrumpfen
des industriellen Sektors stark betroffen.
10 11
Ästhetik des Widerstandes
Die Stellung der ArbeiterInnen im Betrieb und
im Büro hatte – respektive hat – auf ihr Klassenbewusstsein
einen wesentlichen Einfluss. Das Produktionswissen,
insbesondere dasjenige der FacharbeiterInnen,
war die materielle Grundlage für die,
im revolutionären Prozess erhobene Forderung der
Übernahme der Produktionsmittel, die Selbstverwaltung
und Enteignung der KapitalistInnen. Wenn
Wissen und Ausführung zusammen kommen und
daher überblickbar sind, und das waren die realen Erfahrungen
des revolutionären Subjekts, dann entsteht
auch Bewusstsein darüber, wie eine revolutionäre Alternative
aussehen kann. Nämlich die in der Betriebsrealität
angelegten Möglichkeiten einer Übernahme
der Produktion und die Machtübernahme durch das
Proletariat. Auch quantitativ war der Anteil der in der
Industrie beschäftigten ArbeiterInnen am Proletariat
gross. So gross, dass sie auch Träger einer eigenen
ArbeiterInnenkultur und Lebensweise waren, die ihr
Selbstbewusstsein als Klasse weiter festigte. Dieses
revolutionäre Selbstverständnis der ArbeiterInnenklasse
fand in der Räterepublik ihren politischen
Ausdruck.
Verändern sich die Formen der Mehrwertproduktion,
verändert sich die Zusammensetzung der
Klasse und ihr Selbstverständnis. Die Widerspruchserfahrung
wird anders geprägt, Klassenbewusstsein
dementsprechend strukturiert, die Fronten der Klassenkämpfe
verbreitert. Denn das verschärfte System
der Kapitalverwertung hat den Drang, in alle gesellschaftlichen
Nischen einzudringen und alle individuellen
wie kollektiven Äusserungsformen nach dem
Bedürfnis der Kapitalakkumulation zu bestimmen.
Die Tertiarisierung, also das stetige Wachsen des
Dienstleistungssektors, hat vehementen Einfluss auf
die demographische und soziale Struktur der Stadt.
Weniger gut Betuchte oder jene, welche im industriellen
Sektor arbeiten, können sich den Wohnort Stadt
kaum mehr leisten und werden an den Stadtrand oder
in die Agglomeration gedrängt. Dies zeigt sich auch
in den Pendlerströmen, welche auf einen markanten
Anstieg der Reisenden vom Land in die Stadt verweisen.
Es zeigt sich also, die Stadt als Wohnort ist rar
geworden. Wo gearbeitet wird, wird nicht mehr gewohnt.
Nur noch wenig erinnert an das fordistische
Modell, in dem Wohn- und Arbeitsort identisch waren
und sich ganze quartierähnliche Gemeinschaften
bildeten, die demselben Unternehmen angeschlossen
waren. Nicht, dass dies zu verherrlichen wäre, jedoch
führt der neue Querschnitt der StadtbewohnerInnen
zur Frage, wo denn das revolutionäre Subjekt im
Sinne der ArbeiterInnenklasse zu finden ist, wenn
es sich offenbar nicht mehr in gewissen städtischen
Quartieren ballt.
12 13
Ästhetik des Kampfes I
3. Politische Rahmenbedingungen
a) Standortpolitik
b) Kommerzialisierung von Raum
Weder die arbeitende noch die besitzende Klasse
wählen den Ort ihres Seins und Arbeitens ganz freiwillig
aus. Die Wahl von beispielsweise einem Investitions-
und Produktionsstandort oder des Wohnorts
ist abhängig von verschiedenen (Standort-) Faktoren.
Um den geeigneten Standort für die Investition, die
Produktion oder den Wohnort zu finden, wird eine
Standortanalyse durchgeführt. Mit dieser Analyse
werden die verschiedenen Standortfaktoren so gut es
geht gemessen und bewertet, um anhand von Vorund
Nachteilen einen bestimmten Standort zu wählen.
Gewisse Standortfaktoren wie Steuern, gesetzliche
Reglementierungen, Rechtssicherheit, Zugang zu
Kapital, Ressourcen und Arbeit, verkehrstechnische
Anbindung etc. sind gut messbar, sie werden auch
„harte“ Standortfaktoren genannt. Demgegenüber
stehen Standortfaktoren, die schwieriger zu fassen
sind – die „weichen“ Standortfaktoren - wie zum Beispiel
die Kreativität der Anwohner oder das kulturelle
und bildungstechnische Angebot.
Die Standortpolitik ist die eigene Vermarktung
und Positionierung eines Landes, einer Region oder
einer Stadt. Sie beinhaltet eine Optimierung der
Standortfaktoren, denn zwischen den vielen Standorten
herrscht grosse Konkurrenz. Im Kapitalismus
müssen sich sich Länder, Regionen und Städte als
profitable Standorte positionieren, damit sie Unternehmen
und gutverdienende BewohnerInnen anziehen
und somit eine bessere Position im standortbedingten
Konkurrenzkampf einnehmen. Als Beispiel
dient hier ein Bedeutungsplan der Stadt Zürich aus
dem Jahr 2006. Die städtischen RaumplanerInnen
versuchen sich hier einer Hierarchisierung des
Stadtraumes und einer Unterteilung in international/stadtweit/quartierweit/nachbarschaftlich
wichtige
Zonen. Dahinter steht die Idee, dass öffentlicher
Raum als „Wettbewerbsfaktor“ deklariert und nutzbar
gemacht wird, was demnach heisst, dass hierfür
„störende“ Elemente auch vertrieben und verdrängt
werden müssen. Wenn etwa die Zone rund um den
See von gesellschaftlich Marginalisierten, Randständigen,
Obdachlosen und AlkoholikerInnen geprägt
ist, stört dies das Image und die touristische Verwertung
der Zone. Durch solche Imagedeklarierungen
steigen auch die Boden- und Immobilienpreise; der
Verdrängungsprozess wird in Gang gesetzt.
In diesem Teil wollen wir uns der Kommerzialisierung
der Stadt bzw. der Kommerzialisierung des
öffentlichen Raumes widmen. Wie so oft wird auch
dieses Bestreben von Verdrängung dominiert. Im
kapitalistischen System wird der Raum zur Ware.
Diesen gilt es möglichst Gewinn bringend auszunutzen.
Der Immobilienmarkt gilt als sicherer und
renditebringender Markt für Kapitalanlagen. Gerade
in Zeiten der Wirtschaftskrise flüchten die Kapitalisten
in diesen sicheren Hafen. Ganze Quartiere
werden mit diesem Prozess vereinnahmt, wie das
Beispiel „Zürich West“ zeigt. Der öffentliche Raum,
wo das soziale Leben der Stadtbevölkerung stattfindet,
verschwindet vermehrt in riesigen Konsumtempeln.
Gerade in Nord- und Südamerika sind einfach
zu kontrollierende „Malls“, riesige Shoppingcenter,
sehr verbreitet. Weil der Raum für soziales und kulturelles
Leben in der Stadt fehlt, verlagert sich die
Freizeitgestaltung vieler Jugendlicher in die „Malls“,
doch der blosse Aufenthalt in den Prunkbauten generiert
keinen Umsatz. In der kapitalistischen Verwertungslogik
haben derartige Aktivitäten jedoch keinen
Platz Am Beispiel Brasilien können wir beobachten
wie die Reaktion ausfällt. Mit Repression und Ausgrenzung
wurde auf sogenannte „rolezinhos“, wie
die Treffen von Jugendlichen Gruppen in den Shoppingcentern
genannt werden, geantwortet. Die Teilnehmer
der „rolezinhos“ kommen aus den ärmeren
Vororten und sind meist dunkelhäutig. Rassistische
Sicherheitskräfte, bestehend aus Polizei und privaten
Sicherheitsfirmen, schikanieren die Jugendlichen mit
Gewalt, grundlosen Verhaftungen und Platzverweisen.
Die „Rolezinho-Bewegung“ antwortete in Form
von Massenprotesten mit bis zu 10‘000 Teilnehmern,
vor und in den Kaufhäusern, was teilweise zur vorübergehenden
Schliessung ebendieser führte. Diese
Form von kontrolliertem Raum findet auch in Zürich
Anwendung. Die „Sihlcity“ ist nach einem ähnlichen
architektonischen Konzept gestaltet. Durch die helle
und offene Gestaltung des Areals kann im Aussenbereich
alles einfach kontrolliert und überwacht werden.
Die grösste flächendeckende Kommerzialisierung
stellen wir an Grossevents in der Stadt fest. Den Gipfel
der Perversion bildete dabei wohl die Ausrichtung
der Europameisterschaft 2008. Die Kommerzialisierung
ging dabei weit über die Stadiontore hinaus. In
14 15
entsprechenden Fanzonen wurde ein Teil der Stadt
vorübergehend privatisiert. In eingezäunten Bereichen
kann also ein privater Veranstalter bestimmen,
was erlaubt und verboten sein soll. Im Falle der
EURO 08 wurden beispielsweise Kleidungsvorschriften
oder ein Konsumationszwang eines bestimmten
Getränkeherstellers verhängt. Bevölkerungsteile, die
diesen Vorstellungen nicht entsprechen, stören in
diesem Bild. Pauschal wird man einer Rechenschaftspflicht
unterstellt und verdrängt. Spontane kollektive
Versammlungen rund um Sportanlässe werden verboten
und verhindert, da der Sponsor dabei nichts
verdient. Unter dem Deckmantel solcher Grossanlässe,
wie der EM oder der Street Parade, werden seitens
der Politik längerfristige stadtentwicklungstechnische
Veränderungen im Bereich Überwachung und
Repression vollzogen. So wurde die einst temporäre
grossflächige Überwachung des Seebeckens um
Bellevue und Bürkliplatz während der Street Parade
und dem „Züri Fäscht“, zur festen Einrichtung umgebaut.
Das Stadtbild ist mittlerweile geprägt von einer
Flut an Werbung und Vermarktung für Konsumgüter.
Ob auf der Strasse, in der Schule, im Tram, in
Krankenhäusern, auf Mülleimer oder auf dem WC,
wir werden jeden Tag mit diesen Botschaften bombardiert.
Dabei überbieten sich die Werber ins Unermessliche.
Noch grösser, noch moderner, noch mehr
Aufmerksamkeit auf sich ziehen, ist das erklärte Ziel
der Werbeindustrie. Die Macht der Werbenden reicht
in alle gesellschaftlich relevanten Bereiche. Die Medien
sind, durch finanzielle Abhängigkeit, der Zensur
und der Interessen der Wirtschaft unterworfen.
Diese Omnipräsenz zieht für die Stadt weitreichende
ästhetische und politische Konsequenzen nach sich.
Die Kommerzialisierung des Raumes ist im alltäglichen
Leben erfahrbar. Der Ausbau der Infrastruktur
wird vor allem dort vorangetrieben, wo sich auch
Kapital generieren lässt. Der öffentliche Verkehrsbetrieb
in die Banlieues in Frankreich steht beispielsweise
in keinem Verhältnis zur Notwendigkeit. Die
Probleme aus den Banlieues werden möglichst weit
weg vom öffentlichen Leben ausgetragen. Sicherheit
ist der wichtigste Standortfaktor einer kommerzialisierten
Stadt. Kriminalität und Armut schreckt kaufkräftiges,
konsumfreudiges Klientel ab und vermindert
somit die Verwertbarkeit des Raumes. Die Stadt
verkauft sich an allen Ecken und Enden. Jeder Quadratmeter
wird gewinnbringend nutzbar gemacht.
Unkommerzielle, authentische Kultur hat in diesem
Stadtbild keinen Platz. Mit Repression und Überwachung
wird ein „sauberes“ Bild verkauft und das Feld
für die Bonzen vorgeackert. Für uns gilt es, den öffentlichen
Raum zu verteidigen, mit unserer Kultur
und unseren Inhalten zu füllen. Denn, den Kampf
um die Strasse gewinnen diejenigen, die sich auf der
Strasse bewegen.
c) Stadtentwicklung der Stadt Zürich
Zur Veranschaulichung der massiven Umstrukturierungsmassnahmen
im urbanen Raum werden
nun einige Beispiele aus der Stadt Zürich- unter Berücksichtigung
der Entwicklung der letzten 20 Jahre
- genannt. Hierbei ist insbesondere interessant,
in welcher Weise die von der städtischen Regierung
vorgegebenen politischen Rahmenbedingungen den
Interessen des Kapitals in die Hände spielen. Dies
zeigt sich besonders gut in folgenden Gebieten oder
Gegenden der Stadt Zürich: Seefeld, Zürich-West,
Langstrasse, Weststrasse und - als jüngstes Projekt die
Europa-Allee.
Das Zürcher Seefeld gilt als Paradebeispiel für die
Gentrifizierung eines Quartiers, sie wurde geprägt
durch den Ausdruck„ Seefeldisierung“. Bereits in den
1980er Jahren kaufte der Investor und Immobilienhai
Urs Ledermann Haus für Haus im Seefeld auf –
meist zu billigsten Konditionen, nur um sie Zug für
Zug zu Luxuswohnungen umzubauen und die alten
MieterInnen raus zu werfen. Sein Portfolio „besserte“
Ledermann in der Zeit auf rund 50 Liegenschaften
allein im Seefeldquartier auf; sein Immobilienkapital
beträgt mehr als eine halbe Milliarde Schweizer Franken.
Das Quartier wird bereits seit einigen Jahren von
MieterInnen bewohnt, die sich eine 3.5 Zimmerwohnung
für 6250 Franken - wie etwa im Ledermann-
Haus an der Mainaustrasse 34 – leisten können.
Doch das Seefeld war bis in die 1980er Jahre nicht
unbedingt ein Quartier mit hohem Investitionspotential
für KapitalbesitzerInnen. Denn seit der Legalisierung
der Prostitution in der Schweiz 1942 war
im Seefeld ein grosser Strassenstrich. Erst Anfang der
1980er Jahre verdrängte die Polizei die oftmals drogenabhängigen
Prostituierten aus dem Seefeld – in
die Kreise 4 und 5. Die „Standortattraktivität“ stieg
durch die Vertreibung der unerwünschten Prostitution-
zumindest der sichtbaren, so will es die bürgerliche
Doppelmoral. Das Feld war offen für die
Verdrängung der „A-Bevölkerung“ (Arme, ArbeiterInnen,
Alte, AusländerInnen, Abhängige und „Andere“)
und eine Neubewohnung durch Yuppies und
Bonzen.
In Zürich-West, dem klassischen Industriequartier
seit Mitte/Ende des 19. Jahrhundert, vollzog sich
eine riesige Umstrukturierung. Die alten Industrieareale
von Steinfels, Maag und Sulzer-Escher-Wyss
verschwanden bis in die 1990er aufgrund der Globalisierung.
Die Produktionsstätten des Industriesektors
wanderten ab in die Peripherie oder ins Ausland,
wo die Arbeitskräfte günstiger sind. In die leeren
Industriehallen zogen schliesslich Architekturbüros,
Kulturschaffende und Dienstleistungsbetriebe.
Auf Ersuchen der Stadt Zürich bzw. dedesm damaligen
Stadtpräsidenten Estermann, wurde 1996
das Stadtforum eröffnet, eine Plattform mit hauptsächlich
VertreterInnen aus Politik und Wirtschaft,
um Zürich-West „aufzuwerten“. In einem Bericht von
August 1997 wird schliesslich moniert, dass es eine
„ausgeprägte Konzentration an sozioökonomisch
schwachen und schwächsten Bevölkerungsgruppen“
im Quartier gibt und diese „soziale Destabilisierung
[...] die Attraktivität auch für Arbeitsplätze [vermindert]“.
Der Auftrag der städtischen Behörden war also
klar: Zürich-West musste umgebaut werden- zu einem
für den tertiären Sektor attraktiven Standort
(Prime Tower, Swisscom Tower, u.a.) und luxuriösen
Eigentumswohnungen als Investitionsmöglichkeit
für das Kapital (Mobimo Tower u.a.) oder zu Mietwohnungen,
wie etwa in den Escher-Terrassen auf
dem Löwenbräu- Areal für Preise zwischen 4000 bis
rund 13000.- monatlich.
Das Quartier rund um die Langstrasse (Kreis 4
und Teile des Kreises 5) war seit Ende des 19. Jahrhunderts
ein Wohnviertel der ArbeiterInnen, aufgrund
der Nähe zu den Industrien im Kreis 5 (z.B.
Escher, Wyss & Cie). So wurden zahlreiche Siedlungen
gebaut und ab den 1920er Jahren auch der genossenschaftliche
Wohnungsbau stark gefördert. Ab den
1950er und 60er Jahren wuchs das Quartier durch die
Zunahme von migrantischen ArbeiterInnen aus Italien
und Spanien.
Die Nähe der Wohnviertel der ArbeiterInnen zu
ihren Betrieben war für die Bourgeoisie eine Notwendigkeit:
Die Mobilität der Menschen war noch
nicht sehr hoch, öffentlicher Verkehr schlecht ausgebaut.
Doch die Zeiten haben sich geändert. Heutzutage
stellt es keine Notwendigkeit mehr dar, dass
die ArbeiterInnen zentral wohnen, im Gegenteil. Die
Zentren des urbanen Raumes sollen nicht mehr zur
Verfügung stehen für Schlechtverdienende, da Immobilien
und Boden wichtige Investitionsmöglichkeiten
für das Kapital darstellen.
In diesem Zusammenhang muss auch das Anfang
der 2000er Jahre gestartete Projekt „Langstrasse Plus“
gesehen werden. Unter der Führung der sozialdemokratischen
Polizeivorsteherin Esther Maurer und des
Gesamtprojektleiters Rolf Vieli wurde ein sogenanntes
„4-Säulen-Modell“ mit folgenden vier Zielen formuliert:
1. Mehr Sicherheit im öffentlichen Raum, 2.
Besseres Leben im Quartier, 3. Förderung der Investitionsbereitschaft
und 4. Gesamthafte Aufwertung des
Gebietes. Was mit diesen vier euphemistischen Formulierungen
genau gemeint war, zeigte sich in den
letzten rund 10 Jahren: 1. Gewaltige Zunahme der
Repression im Quartier (ständige Polizeikontrollen,
insbesondere bei migrantischen Personen; enorme
16 17
Ästhetik des Kampfes II
Aufgebote bei Demonstrationen, um jeglichen Widerstand
im Keim zu ersticken versuchen [z.B. Militarisierung
des Kreis 4 am 1. Mai]. 2. Verdrängung
alter MieterInnen, Abreissen der Häuser, und Neubauten
für Yuppies und Bonzen (z.B. Neufrankengasse).
3. Immobilien im Langstrassenquartier sollen
von Investoren gekauft werden (städtisch gefördert
durch Langstrasse Plus – Projekt) um die Umstrukturierung
des Quartiers voranzutreiben (abhängig
von Punkt 1). 4. Verschiedenste Massnahmen, auch
im Kleinsten: Abmontieren von Tischen in der Bäckeranlage,
Abschrägung von möglichen Sitzgelegenheiten,
Eindämmung von Freiräumen etc.
Projekte wie „Langstrasse Plus“ sind also exemplarisch
für die politischen Rahmenbedingungen, welche
die Stadt Zürich plant und umsetzt.
Die Zürcher Weststrasse war seit den 1960er Jahren
ein Provisorium für den Durchgangsverkehr,
obwohl sie eine zwar lange, aber relativ kleine Quartierstrasse
ist. Rund 1000 Personenwagen und 100
Lastwagen fuhren pro Stunde durch und erzeugten
enormen Lärm und Abgase. Die Quartierbevölkerung
bestand, aufgrund des schlechten Zustandes
und den damit einhergehenden tiefen Mieten, mehrheitlich
aus migrantische Familien. 2010 machte die
Stadt Zürich die Strasse dicht für den Verkehr; doch
Aufatmen in der emissionsverminderten Weststrasse
war für die rund 1200 BewohnerInnen nicht angesagt.
Denn die HauseigentümerInnen verschickten
massenweise Kündigungen, um die Häuser zu luxuriösen
Behausungen umbauen zu können und neue
besserverdienende MieterInnen einziehen zu lassen.
Die städtische Verwaltung – insbesondere das
Amt für Stadtentwicklung – lud bereits 2006 die
GrundeigentümerInnen zu einem Treffen ein, um die
Umstrukturierung zu diskutieren. 2011 schliesslich,
als sich auch Widerstand abzeichnete gegen die massive
Kündigungswelle, verschickte jenes Amt einen
Brief an die EigentümerInnen, mit der Bitte, „doch
möglichst sozialverträgliche Kündigungen vorzunehmen“.
Dies war nichts mehr als ein Lippenbekenntnis
und zeigt klar auf, dass die städtische Regierung
nicht etwa überrascht war von den „Folgen“ der
Aufwertung. Die Entwicklung des Quartiers durch
Verdrängung proletarischer, migrantischer Familien
und einer Neubewohnung durch die Besserverdienenden
war Kalkül: Die Verdrängung im städtischen
„Aufwertungsprozess“ ist kein unschönes Nebenprodukt
einer ansonst gutgemeinten oder wohlwollenden
städteplanerischen Entwicklung, sondern deren
Ziel.
Als jüngstes Beispiel für die Umstrukturierung
und Stadtentwicklung in Zürich gilt die Europa-
Allee. Das Gebiet hinter dem Hauptbahnhof Zürich
und in Angrenzung an die Kreise 4 und 5 soll die
Verbindung werden zum luxuriösen Geschäftsviertel
des Kreis 1 – quasi als Pfeil und Wegweiser ins
„aufgewertete“ Langstrassenquartier. Der Umbau im
Gebiet der SBB wurde 2006 in einer städtischen Abstimmung
als „Stadtraum HB“ beschlossen und sah
rund 500 Wohnungen vor; nun werden davon 373
gebaut (115 Eigentumswohnungen zu Preisen von
1.5 bis 2.5. Millionen Franken, 72 Apartments einer
Senioren-Residenz „für gehobene Ansprüche“ und
186 Mietwohnungen mit 3.5 und 4.5-Zimmer-Wohnungen
für 4900 bis 5900 Franken). Daneben gibt
es hauptsächlich Büroflächen für Grossbanken und
andere Betriebe – und als kulturelles „Gewissen“ ein
Kino, betrieben vom Filmemacher und AL-Politiker
Samir. Die Europa-Allee ist also auch ein Ausdruck
dessen, was Andrej Holm die „Ökonomisierung der
kulturellen und symbolischen Aufwertung des Viertels“
nennt; „subkulturelle“ Vorreiterprojekte auf dem
Areal des Europa-Allee-Komplexes – wie die Remise
und das Maxim-Theater in den Räumlichkeiten der
SBB – sind allerdings nur eine Einbindung in den
Aufwertungs- und Verdrängungsprozess; ob bewusst
oder nicht.
18 19
Ästhetik der Kontrollgesellschaft
3. Klassenkampf von oben
a) Disziplinierung von öffentlichem Raum
Auf den ersten Blick nehmen wir Architektur
als etwas rein ästhetisches und unpolitisches wahr.
In der Konzipierung und Gestaltung des Raumes
werden jedoch immer auch Entscheidungen getroffen,
die von wirtschaftlichen oder auch repressiven
Faktoren abhängig sind. Im Zuge der Aufwertung
werden die Interessen der herrschenden Klasse also
vermehrt auch in der Architektur sichtbar. Die Gestaltung
und Planung des öffentlichen Raumes kann
einerseits zwar Möglichkeiten schaffen, andererseits
auch Grenzen setzen. Oftmals verbergen sich hinter
Neugestaltungen im öffentlichen Raum, die wir
vorerst als positiv wahrnehmen, Effekte der Disziplinierung.
Ein anschauliches Beispiel dafür ist der
Zürcher Limmatplatz. Im Zuge der Neugestaltung
wurde ein Dach über die Traminsel gebaut, welches
vor Niederschlägen schützen soll. Im selben Atemzug
wurden moderne Kameras installiert, die nun
jeden Winkel überwachen sollen. Zusätzlich wirken
die neuen grellen Lichtsäulen ausleuchtend und steril
auf den Platz.
Architektur kann die zukünftigen Möglichkeiten
eines Raumes bestimmen. Wo keine einladenden
Sitzgelegenheiten vorhanden sind, kann nur schwer
ein Treffpunkt zum Verweilen entstehen. Auf einigen
Stromkästen an der Langstrasse wurden kleine
Schrägen installiert um zu verhindern, dass diese
als Abstellfläche für Bierdosen oder Esswaren genutzt
werden. An diesem Beispiel wird verdeutlicht,
wie bestimmte Personengruppen verdrängt werden
sollen. Mit dieser Massnahme oder z.B. auch dem
Entfernen von Bänken auf der Bäckeranlage soll das
„trendige“ Langstrassenquartier, in dem sich nun
vermehrt auch zahlungskräftige Leute bewegen, von
randständigen und zahlungsschwachen Menschen
gesäubert werden.
Die einzige Berechtigung, sich an einem Ort aufzuhalten,
bleibt in vielen Fällen der Konsum in Restaurants
oder Boutiquen. Die Architektur rund um
die Gentrifizierung hat zum Zweck, möglichst direkte
Konsummöglichkeiten für die neuen zahlungsstarken
BewohnerInnen eines Quartiers zu gewährleisten.
Das kollektive Leben im Quartier, sich zu treffen
und ungezwungen auf öffentlichen Plätzen zu verweilen,
wird immer mehr verunmöglicht.
Nebst der Fokussierung der modernen Raumplanung
auf das Konsumverhalten, spielen auch Faktoren
der Repression eine Rolle. Die Gestaltung von
öffentlichem Raum und Parkanlagen kann so konzipiert
werden, dass Versammlungen nicht möglich
sind oder allfällige Aufstände leichter von der Polizei
unterbunden werden können. Um eine möglichst
starke Kontrolle über die Menschen durch den Staat
zu ermöglichen, müssen öffentliche Plätze übersichtlich
und ohne Verstecke und Nischen gestaltet werden.
Was als Schutz für die Bewohner des aufgewerteten
Quartiers verkauft wird, soll in erster Linie zum
Schutz der bürgerlichen Ordnung und der kapitalistischen
Produktion dienen.
b) Sicherheitswahn
Mit der Aufwertung der Quartiere, der Beruhigung
von Strassen und der meist darauffolgenden Renovation
von ganzen Strassenzügen, werden die Mieten
kontinuierlich höher. Die Folge davon ist, dass
sich die „normalen Büezerfamilien“ die Wohnungen
nicht mehr leisten können und dann wegziehen müssen.
Die neuen, wohl verdienenden Zuzüger haben
andere Bedürfnisse und auch andere Ansprüche an
Sicherheit. So entstehen beispielsweise neue Wohnhäuser,
an deren Fassaden mehrere Kameras angebracht
sind und neue, breite und übersichtliche, gut
ausgeleuchtete Strassen ohne Ecken und Nischen.
Dadurch, dass die Menschen im öffentlichen
Raum durch ebendiese Massnahmen immer mehr
dazu gezwungen werden, sich weg von den Strassen
und Plätzen zu bewegen, kommt es oft zu einer «Ausweitung»
des öffentlichen Raumes: Anlagen wie das
Sihlcity oder das Glattzentrum können den Bahnhof
und den Park ersetzen. Diese Anlagen sind privat
und die beauftragten Securityfirmen haben dadurch
erstaunlich grosse Möglichkeiten zur Überwachung.
Die Jugendlichen, die ihre Freizeit in diesen konsumorientierten
Oasen verbringen, sind noch grösserer
Überwachung ausgesetzt als draussen im „wirklich“
öffentlichen Raum.
Oft kann man gerade an diesen Orten auf Schildern
lesen: „Zu Ihrer Sicherheit wird dieser Bereich
videoüberwacht“. Der eigentliche Zweck der Kameras
ist aber nicht die Sicherheit der Personen, die sich
dort bewegen, sondern schlicht die Überwachung;
um Diebstähle vorzubeugen oder diese aufzuklären.
20 21
Wer nicht Laden- oder Einkaufszentrumsbesitzer ist,
zieht also keinen Nutzen aus den Kameras in diesen
halböffentlichen Räumen. Es muss also einen Grund
dafür geben, dass sich die „normalen Leute“ nicht
dagegen wehren, wenn sie von irgendwelchen privaten
Sicherheitsfirmen regelrecht verfolgt werden.
Meistens hört man Aussagen wie „man gewöhnt sich
daran» und «wer nichts zu verstecken hat, der hat
auch nichts zu befürchten“. Obwohl Ersteres zwar im
ersten Augenblick erstaunlich sein mag, so erkennt
man, dass sie relativ unspektakulär ein vermeintlich
natürliches Phänomen beschreibt. Überrascht ist
man nur, wenn Erscheinungen wie Überwachung
lange fern waren und wieder als etwas altbekannt
Neues auftreten. Die zweite Aussage hingegen beinhaltet
die Ideologie der herrschenden Klasse. Ganz
allgemein bedeutet Überwachung auch Macht und
die Sicherung von Macht und wenn mulmige Gefühle
bei solchen, die sich nicht zu den Staatsfeinden
zählen, auftreten, dann ist das ein Ausdruck von
Zweifeln, ob die Überwachungsstrukturen in unserer
Gesellschaft tolerierbar sind. Die Überwachung ist
ein Teil des Repressionsapparates. Wenn man aber
die Repression analysiert und die Gründe, wofür die
massive Überwachung im urbanen Raum eingesetzt
wird, dann ist auch der politische Charakter leicht ersichtlich.
Als Beispiele sollen hier die Zivilbullen, der
Filmdienst und das krankhaft irrsinnige Abfotografieren
am ersten Mai genannt werden.
c) Verdrängung
Wenn Häuser saniert und Plätze umgestaltet, Verkehrsführungen
verändert und sowieso alles etwas
aufgeräumt und optisch erneuert wird, dann stehen
wir mitten in einem aufgewerteten Quartier. Das
sieht bis jetzt alles schön und gut aus, der Lebensstandard
scheint zu steigen, doch einen Haken hat
das Ganze: Menschen werden dabei benachteiligt.
Während all diese Veränderungen durchgesetzt werden,
verändert sich die Zusammensetzung der QuartierbewohnerInnen.
Die Quartiere, die aufgewertet
werden, sind multikulturelle ArbeiterInnenquartiere.
Die Menschen, die das Quartier geprägt haben, werden
verdrängt. Das sind oftmals Familien mit migrantischem
und proletarischem Hintergrund.
Die Verdrängung hat zwei unterschiedliche Faktoren;
einen ökonomischen Faktor und einen, der
sozusagen eine Folge davon ist, der sozialräumliche
Faktor. Der ökonomische Faktor beinhaltet die steigenden
Immobilienpreise und Mieten, die vorherige
BewohnerInnen zum Umzug in andere Quartiere
zwingt. Natürlich ändert sich dabei auch das Gewerbe,
die das Quartier mitprägen. Kleine funktionelle
Läden, die halt das anbieten was man so braucht im
Alltag, werden ausgetauscht durch Boutiquen oder
Ladenketten. Eben Läden, die das anbieten, was sich
nicht jeder leisten kann. Kneipen werden ausgetauscht
durch teure Restaurants, Lounge-Bars und
kommerzielle Kulturstätten. Zusammenfassend geht
es darum, dass sich gewisse Menschen nicht mehr
leisten können, an diesem Ort zu wohnen und so verdrängt
werden.
Die Verdrängung durch den sozialräumlichen
Faktor ist viel weniger fassbar und offensichtlich,
aber trotzdem auch immer präsent. Damit ist die Art
von Verdrängung gemeint, welche die ökonomische
Verdrängung mit sich zieht, denn der sozialräumliche
Faktor ist tief verstrickt mit dem ökonomischen.
Neben den privaten Räumen, sprich den Wohnungen
und Häusern, wird der öffentliche Raum ebenfalls
zum Tatort der Verdrängung. Die Menschen, die den
öffentlichen Raum nutzen und prägen, werden durch
verschiedene Mittel verdrängt. Das kommt davon,
dass sich durch die Aufwertung in einem Quartier
logischerweise die Zusammensetzung der Bevölkerung
verändert. Wo früher vor allem Arbeitende oder
Erwerbslose gelebt haben, kommen immer mehr
selbstständige oder Arbeitgebende dazu, die ersteren
werden dabei verdrängt. Durch die neuen BewohnerInnen
verändern sich auch die Ansprüche, die diese
stellen. Durch die höheren Mieten werden umfassendere
Qualitäten beansprucht, die den Lebensstandard
steigern sollen. Das Quartier soll ruhiger werden,
Autos sollen nicht mehr rund um die Uhr am Fenster
vorbei rasen, wie früher an der Weststrasse in Zürich,
und die Jugendlichen im Park lösen Unbehagen aus.
An diesem Punkt kommt dann auch der Staat oder
eben die Stadt wieder ins Spiel. Öffentlicher Raum ist
umkämpfter Raum. Die Aufwertung von Stadtteilen
verschafft neue Zugänge für zahlungskräftige Kunden
und kapitalstarke Firmen. Die Stadt vertritt also ihre
eigenen Interessen im kapitalistischen Wettbewerb.
Dafür muss sie auf Sicherheit, Ordnung und Sauberkeit
achten. Das offensichtlichste Mittel der (sozial)
räumlichen Verdrängung ist die Repression, die meist
durch die Polizei ausgeübt wird. Doch weitere Mittel
stehen zur Verfügung, zum Beispiel bautechnische
Massnahmen und Überwachung. Die Stadt kommt
also durchaus nicht erst als Folge der Erwartungen der
neuen BewohnerInnen ins Spiel. Wenn ein Quartier
aufgewertet wird, kann die Stadt so einen Standortvorteil
gewinnen, was sie sich natürlich auf keinen Fall
entgehen lassen kann. Durch die Aufwertung werden
dann auch nationale und internationale Konzerne auf
die optimierte Lage angesprochen und setzen sich
dann vielleicht dort ab, was der Stadt dann Steuer- und
Image-Vorteile verspricht. Zusammenfassend kann
man also sagen, dass ein Teil der Aufwertungsstrategie
die Verdrängung ist. Die Leidtragenden dieser
Entwicklung sind die BewohnerInnen der noch nicht
aufgewerteten Quartiere. Die Akteure sind zum einen
die, die im Immobilienmarkt mitspielen und zum anderen
der Staat oder die Stadt, die wiederum ihre Mittel
haben, wie Polizei, die SIP, aber auch Architekten,
die staatliche Bauvorhaben wunschgerecht ausführen.
Da das Aufeinanderprallen verschiedener Interessen
(zwischen Kapital und Proletariat) in urbanen Räumen
zur Verschärfung der Widersprüche führt, ist der
Ausbau der Sicherheit und die Kontrolle der Räume
für die Herrschenden notwendig. Die Verschärfung
der Widersprüche führt logischerweise leichter zu sozialer
Unruhe und Widerstand.
Auf die repressiven Mittel, welche die Stadt für
die Verdrängung zur Verfügung hat, soll an dieser
Stelle noch weiter eingegangen werden, da dies ein
unmittelbarer Akt ist, den man im Alltag zu spüren
bekommt. Das nächstliegendste Mittel ist die Polizei.
Mit ihr kann die Stadt ihre Anliegen im Interesse
des Kapitals durchsetzen. Die Polizei übernimmt
die direkte Machtausübung in Vertretung der Interessen
des Staates und des Kapitals. Während der
Aufwertung eines Gebietes wird meistens generell
von einem konstruierten „(Un-)Sicherheitsdiskurs“
ausgegangen. Somit wird der Bevölkerung versucht
weiszumachen, dass die Kontrolle lediglich zur Bekämpfung
der Kriminalität gebraucht wird. Tatsächlich
ist Stadtraum jedoch exklusiver Raum, worin die
saubere Repräsentation kommerzialisierter Angebote
und kapitalstarker Firmen innerhalb der kapitalistischen
Logik Vorrang hat. Ein verbreitetes repressives
Mittel im öffentlichen Raum ist die Wegweisungspraxis.
Dies ist ein Disziplinierungs- und Ausschlussverfahren,
welches störende Personen für eine gewisse
Zeitdauer von Plätzen/Orten entfernen kann.
Zur Veranschaulichung der repressiven Mittel hier
einige Beispiele aus der Stadt Zürich: Die Präsenz der
Stadtpolizei Zürich in den Kreisen 4 und 5 ist in den
letzten Jahren stetig gestiegen. Die unnötigen, ständigen
Kontrollen von Junkies, aufmüpfig aussehenden
Jugendlichen und MigrantInnen sind normaler
Alltag. Mit diesen Kontrollen wird versucht, für die
Aufwertung ungewünschte Personen zu schikanieren
und zu vertreiben. Das Bild der Quartiere soll sich
verändern, damit es den finanziell bessergestellten
Leuten gerecht wird. Die Kreise 4 und 5, die bis heute
neben proletarischem Wohnquartier auch noch Rot-
Licht-Milieu und Wohnstätte für viele MigrantInnen
sind, sollen jetzt sicherer und aufgeräumter werden.
Um dies umzusetzen patrouilliert die Polizei im 1-2
Minuten Takt und führt würdeverletzende Kontrollen
durch. Schon klar, überlegt man sich als Betroffene
zwei Mal, ob man jetzt wirklich die Langstrasse
hinauf oder hinunter spazieren will. Ebenfalls ersichtlich
ist die Zunahme der verteilten Rayonverbote
(Wegweisungen). Personen können somit schnell
von Plätzen und Gebieten verwiesen werden und erhalten
bei Nichtbeachtung eine Busse. Die Wegweisungspraxis
wird oft mit der „Bekämpfung der Drogen-Szene“
gerechtfertigt. Jedoch ist die polizeiliche
Handhabung sehr willkürlich. Weitere Einsatzgebiete
der Wegweisungspraxis sind Demos, Fussballevents
22 23
Interview zu Verdrängung
und pöbelnde Jugendliche. Hier stellt sich somit die
Machtfrage und auch hier müssen die herrschenden
Verhältnisse „geschützt“ werden. Auch bei politischen
Aktionen gegen die Aufwertung von Quartieren
und Vertreibung der proletarischen Bevölkerung
wird nicht zimperlich vorgegangen. Dies wundert
jedoch nicht, da die Bullen doch genau Funktionsträger
der Stadt und des Kapitals sind und Widerstand
unterdrücken sollen.
Ein weiteres Mittel des Repressionsapparates ist
die SIP, welche ein Beispiel für Vertreibung von Menschen
auf eine „sozialere“ Art darstellt. Die SIP stellt
ein Organ dar, das vor allem Jugendliche zu spüren
bekommen. Die SIP Zürich (Sicherheit, Intervention,
Prävention) versteht sich als sozialdienstliche Stelle
mit ordnungspolitischen Aufgaben. Die SIP agiert
in verschiedenen Städten, unter anderem in Luzern,
St. Gallen und Zürich. In Bern gibt es einen ähnlichen
Dienst namens PINTO. Die Funktion dieser
Ordnungsdienste ist in diesen Städten, trotz eigener
Besonderheiten, etwa dieselbe. Der Fokus liegt dabei
laut SIP Zürich auf dem Wohl der Gesamtbevölkerung.
Ihr Ziel ist die Attraktivität und Sicherheit der
Stadt und der öffentlichen Plätze, mit besonderem
Augenmerk auf mögliche Konflikte mit Jugendgruppen
und „Randständigen“ im öffentlichen Raum. In
kritischen Situationen arbeitet die SIP mit der Stadtpolizei
zusammen. D.h. mit anderen Worten: die SIP
patrouilliert in Quartieren mit sogenannten „sozialen
Brennpunkten“ und geht dabei gegen jegliche Gruppen
vor, welche das „schöne“ Stadtbild stören könnten.
Sie verscheucht beispielsweise Alkoholabhängige
von öffentlichen Plätzen, damit sich Personen, die
in den aufzuwertenden Quartieren gewünscht sind,
wohler fühlen. Die Farce an dem Ganzen ist, dass die
SIP sich dabei als Helferin ausgibt. Wenn man sich ihr
Konzept jedoch genauer ansieht, merkt man schnell,
dass die Aufgaben deutlich in die oben erwähnte
Richtung gehen. So steht darin geschrieben, dass „die
betroffene Person selber entscheiden kann: -ob sie
sich der Repression aussetzten will oder sich entfernt,
-ob sie ihr Verhalten anpasst oder -ob sie sich kooperativ
verhält und sich konstruktiv beteiligt.“ Dass mit
Repression der Einsatz der Bullen und deren Mittel
gemeint ist, liegt auf der Hand. Die SIP positioniert
sich klar auf der Seite des Staates, mit dem Auftrag
zur Durchsetzung von Ordnung und Sicherheit und
verzichtet dabei sogar gänzlich auf klientenorientierte
Elemente einer eigentlichen Sozialen Arbeit. Es
geht nur darum „störende Personen oder Gruppen“
zu verdrängen. Die SIP ist in ihrer Rolle also ähnlich
wie die polizeiliche Verdrängung zu verstehen, nur
dass sie sich mit dem Wort „sozial“ schmückt. Sie
versucht die Aufwertung mit kommunikationstechnischen
Methoden durchzusetzen, während die Polizei
Rayonverbote verteilt. „Die SIP-Mitarbeitenden
weisen die betreffenden Personen darauf hin, welches
Verhalten die Stadt Zürich von ihnen erwartet.“
Zudem erhält die SIP Zürich vermehrt Aufträge auf
Kosten von privaten Sicherheitsfirmen. Als Beispiele
sind hier der neue Strichplatz in Altstetten und das
neue Asylzentrum Juchhof zu nennen.
Ein weiteres sehr umstrittenes Mittel der Verdrängung
im sozialräumlichen Kontext sind Überwachungskameras.
Sie dienen einerseits der Überwachung,
sie können also zur Aufklärung von Delikten
führen, doch sie dienen auch der Abschreckung,
damit haben sie einen präventiven Charakter. Schön
zu sehen ist dies auf all den Pausenplätzen, die neuerdings
überwacht werden. Anders als bei Flughäfen
geht es auf Schularealen sicherlich nicht um die
Klärung verübter Delikte, da diese ja an den Schulen
nicht an der Tagesordnung sind. Hier werden die
Kinder präventiv vom Rumhängen und „Scheiss- Machen“
abgehalten. Sie sollen gar nicht erst auf die Idee
kommen, dass man draussen ungestört irgendwo auf
einer Treppe sitzen kann und machen kann wozu
man gerade Lust hat. Gleich sieht es im sonstigen öffentlichen
Raum aus. Wo Kameras installiert werden,
kann man sich sicher sein, dass man sich nicht am
Anblick herumhängender Jugendlichen stören muss.
d) Annäherung an die Videoüberwachung
in der Schweiz
Die Überwachung des öffentlichen Raumes, insbesondere
in den imperialistischen Metropolen,
mittels Video Kameras (kurz CCTV = Closed Circuit
Television) reicht bis in die 1970er und 1980er
Jahre zurück. Damals war diese Form von sozialer
Kontrolle allerdings weitgehend noch inakzeptiert.
Die bürgerliche „Freiheit“ hatte noch einen gewissen
gesellschaftlichen Stellenwert. Dies hat sich seit
der Verschiebung von einer Disziplinargesellschaft
hin zur Kontrollgesellschaft radikal geändert. In der
Disziplinargesellschaft wurden die Individuen in
der Schule, der Kaserne, der Familie, im Gefängnis
und in der Psychiatrie systemkonform geformt. Der
24
Stadtaufwertung in Zürich heisst auch Vertreibung der Sexarbeiterinnen. Wir sprachen mit Marisol, die seit 2000
im Kreis 4 lebt und arbeitet, über heuchlerische Schutzbehauptungen der Polizei und die Ohnmacht der Sexarbeiterinnen.
Du wohnst seit bald 15 Jahren in diesem Quartier,
dass lange für die Toleranz gegenüber der Prostitution
bekannt war. Wenn du die Situation von heute
mit damals vergleichst, was hat sich geändert?
Marisol: Schau, der Kreis 4 ist heute tot. Oder zumindest
auf dem Weg ins Grab. Früher war das hier ein
le- bendiges Quartier, die Frauen konnten arbeiten,
auf der Strasse und in den Bars. Sie hatten Arbeitsund
Le- bensräume im Quartier. Heute ist davon wenig
übrig. Wenn man jetzt durch den Kreis läuft, dann
hat es kaum mehr Leute, die man kennt. Früher war
das anders, es gab Tage, da kamen immer wieder die
selben Freier in das Quartier, sie liefen rum, gingen in
die Bars. Dort konnten die Chicas mit ihnen Kontakt
aufnehmen und danach in der Nähe in ein Zimmer.
Das ist heute nicht mehr möglich, alles ist schwieriger.
Wenn man die Aufwertung im Quartier anschaut,
dann muss man sich doch eh fragen, ob
die Prostitution auch ohne Repression aus diesem
Quartier gedrängt worden wäre. Zahlbar sind die
Räume zu arbeiten schon lange nicht mehr.
Sicher. So Sachen wie die Europaallee, da ist es klar,
was die Stadt in diesem Kreis will. Wir haben dadrin
schlicht keinen Platz mehr, die Polizei verstärkt die
Vertreibung aber natürlich. Aber man muss auch sehen,
dass dieses Quartier bald nicht mehr attraktiv
ist. Wer braucht schon eine Europaallee, wer ist dort?
Niemand, der/die hier lebt. Letzthin hab ich im Zug
gehört, wie zwei mit einander sprachen und sagten
«Ja, heute war echt nichts los an der Langstrasse. Das
ist langweilig.» Ich sag dir, die machen das Quartier
kaputt, auch wenn dann noch so viele Millionarios
hier wohnen. Das einzige, was noch funktioniert, sind
die Klubs.
Warum ist das so?
Es gibt zwei Sachen: Erstens haben die Leute Angst.
Wegen der Repression, die seit 2010 zunimmt, getrauen
sich die Leute nicht mehr ins Quartier. Heute müssen
sie immer Angst haben, dass sie gebüsst werden,
wenn sie schon nur mit uns reden. Viele Kunden rufen
an und sagen «Ich kann nicht mehr zu dir kommen,
ich getrau mich nicht.» Niemand will gebüsst werden,
weil er gegen das Prostitutionsgesetz verstösst und
dann ein Brief zuhause reinflattert. Zweitens wird uns
der Raum genommen, zum Leben und zum Arbeiten.
Die Stadt kauft Häuser auf und ver- weigert die Bewilligung
für Bordelle im Kreis 4. Wo sollen wir hin? Es
gibt darauf keine Antwort. Sie wollen uns am Strichplatz
in Altstetten. Dort draussen, in der Kälte, in
einem Auto? Das sind unwürdige Arbeitsbe- dingungen,
das ist kriminell. Dort geh ich niemals arbeiten.
Staatsapparat des Kapitals zwang die Menschen sich
der Logik der Verwertung anzupassen. Ziel waren
„normierte“ Subjekte, die widerstandslos die Widersprüche
des Kapitalismus hinnehmen. Doch diese
Allmachtsphantasien der Herrschenden wurden spätestens
durch die revolutionären Klassenkämpfe nach
1968 zerschlagen. Die Krise verschärfte die gesellschaftlichen
Widersprüche laufend, Repression und
Disziplinierung wurden immer weiter nach „vorne“,
in Richtung präventive Kontrolle verschoben. Das gesamte
Leben von für das System potentiell „gefährlichen“
Individuen sollte mit einem umfassenden Netz
der Überwachung überzogen werden. „Potentiell
gefährliche Individuen“ heisst konkret: Das gesamte
Proletariat. Bürgerliche Politiker sprachen unverblümt
Klartext, es gäbe kein Recht unerkannt durch
die Stadt zu gehen.
Die neuen digitalen Technologien erleichterten
den Repressionsapparaten ihre Aufgaben sowohl
qualitativ als auch quantitativ. Eine Vorreiterrolle bei
der Videoüberwachung nahm und nimmt Grossbritannien
ein. Zur „positiven“ Veränderung der Wahrnehmung
von Überwachungsmassnahmen im öffentlichen
Raum diente den Massenmedien die Hetze
gegen die sogenannten „Hooligans“ in den 1980er
Jahren. Es waren aber Klassenkämpfe und Revolten
wie in Brixton im Jahre 1981, der grosse Minenarbeiterstreik
(1984) und der bewaffnete Kampf der IRA
auf englischem Territorium, die zu einer massiven
Überwachung des öffentlichen Raumes führten. Der
Einsatz der flächendeckenden Video Observation
wurde als Schutz vor rebellierenden ArbeiterInnen
und „gefährlichen“ Personen legitimiert. Während
„spektakuläre“ Einzelfälle, wie zum Beispiel Kindesentführungen,
bzw. die Identifizierung der Täter,
argumentativ ins Feld geführt wurden, um die Akzeptanz
der Kontrolle des städtischen Raumes in der
Bevölkerung voran zu treiben, sind die Ursachen des
CCTV Einsatzes gesellschaftlich bedingt. Die Verschärfung
der ökonomischen und politischen Krise,
tatsächliche und potentielle Klassenkämpfe und die
Bekämpfung der „Unordnung“ in den aufgewerteten
Städten macht die omnipräsente visuelle Überwachung
des öffentlichen Raumes zur notwendigen Voraussetzung
für den kapitalistischen Machtapparat.
Technische Aspekte
Unter Video-, oder CCTV Überwachung versteht
der Staatsapparat die Beobachtung von „Zuständen
oder Vorgängen durch optisch-elektronische Anlagen
(Kameras)“. Bei der aktiven oder direkten Überwachung
können die gewonnenen Daten in Echtzeit
unmittelbar auf einem Bildschirm verfolgt werden.
Angesichts der anfallenden Datenmengen, besonders
beim Einsatz mehrerer Kameras, werden Daten
jedoch häufig aufgezeichnet, also sogenannte passive
oder indirekte Überwachung. Die Aufzeichnung erfolgt
auf analoge (Videoband, Film) oder vor allem
digitale Dateiträger (Chip, Harddisk etc.). Einfache
Videoüberwachungsanlagen können aus einzelnen
Kameras, komplexe Anlagen aus einem Netzwerk
untereinander verbundener Kameras bestehen. Bei
komplexeren Anlagen kann ein Computersystem die
aufgenommenen Daten fortlaufend und automatisch
analysieren. So können Bewegungen, abgestellte Gegenstände,
Menschenansammlungen oder gegenläufige
Bewegungsrichtungen erkannt werden. Derartige
Systeme können ebenso eine Überwachungsperson
alarmieren.
Die operativen Ebenen der Überwachung
Der Einsatz von CCTV kann unterschiedliche
Zielsetzungen aufweisen. Die dissuasive Videoüberwachung
bezweckt die Verhinderung menschlich
verursachter „Gefährdungen“ und „Störungen“ im
öffentlichen Raum durch Abschreckung. Sie erfolgt
in aller Regel permanent und ist nach aussen hin erkennbar.
Für die dissuasive Überwachung werden
üblicherweise Videotechnologien eingesetzt, welche
die Bildsignale aufzeichnen und eine Identifikation
von aufgenommenen Einzelpersonen ermöglichen.
Die observative Videoüberwachung bezweckt die
Gewährleistung von Abläufen und Zuständen und
die Verhinderung technischer Störungen (z.B. Steuerung
von Verkehrs, - und Personenströmen). Bei der
observativen Überwachung gelangen in der Regel
Videotechnologien zum Einsatz, welche keine Identifikation
von aufgenommenen Einzelpersonen zulassen.
Die invasive Videoüberwachung hat die gezielte
Beschattung eines bestimmten inneren Feindes („Störer“)
zum Ziel. Zur Erfüllung dieses Überwachungszwecks
können bestimmte Orte (Hauseingänge etc.)
überwacht werden. Die invasive Videoüberwachung
erfolgt, im Gegensatz zur dissuasiven Überwachung,
nicht permanent und offen, sondern vorübergehend
und verdeckt. Derartige Systeme können eine Überwachungsperson
alarmieren, welche in die beobachtete
Situation hineinzoomt oder die Aufzeichnung
des Geschehens durch Erhöhung der Aufnahmerate
intensiviert. Die Möglichkeiten zur Weiterbearbeitung
von Bildaufnahmen sind vielfältig, so sind etwa
die automatische Nummernschilderkennung im
Straßenverkehr, die Gesichtserkennung oder der Vergleich
mit bereits gespeicherten biometrischen Daten
möglich. Die Beobachtung von „Unbeteiligten“ und
„Unverdächtigen“ ist gewollt und deren Verhalten
wird zur Herstellung von Bewegungsprofilen aufgezeichnet.
Der bürgerliche pro Forma „Datenschutz“ soll gewährleistet
werden. Es kann auf einen sogenannten
Privacy Filter zurückgegriffen werden. Bei dessen
Einsatz werden die aufgenommen Objekte und Personen
vor der Speicherung des Bildes automatisch bis
zur Unkenntlichkeit verwischt. Unbewegliche Räume
und Gegenstände bleiben scharf. Das Bild wird dann
mit den unkenntlichen Elementen gespeichert. Mit
einem Software-Schlüssel können aber der Staatsschutz
und Konsorten die unkenntlichen Bereiche
nachträglich, z.B. im Rahmen einer Strafermittlung,
wiederherstellen.
Wie erwähnt, stehen in der Alltagspraxis der Videoüberwachung
auch in der Schweiz die Eindämmung
von „Vandalenakten“ und der „Störung der
öffentlichen Ordnung“, bis hin zu Revolten und Aufständen
im Vordergrund. In den letzten Jahren wurde
der Terror der reaktionären Kleriker als Begründung
für den massiven Ausbau der Überwachung des
öffentlichen Raumes herangezogen.
Besonders „gefährdete“ Orte und Zonen
Unter dem Deckmantel der „Terrorbekämpfung“
sind die zu überwachenden Orte beliebig auszuweiten.
Der Schweizer Repressionsapparat will einiges
in den Blickwinkel der Kameras stellen: Öffentliche
Verkehrsmittel, insbesondere Züge auf Zuglinien mit
hohem Personenaufkommen, aber auch Busse, Trams
oder Kursschiffe; Bahnhöfe der grossen Schweizer
Städte (mit besonderem Augenmerk auf Plätze, an
denen sich viele Menschen gleichzeitig aufhalten, wie
Treffpunkte oder Bahnsteige); Flughäfen mit grossem
Publikumsverkehr (sowohl der frei zugängliche
Bereich, wie auch der Bereich nach der Passkontrolle);
Grosse Sport-, oder Konzertveranstaltungen
und die dazugehörigen öffentlichen Vorplätze sowie
Public Viewing- Bereiche bei Grossanlässen; Öffentliche
Plätze, auf denen regelmässig Veranstaltungen
mit hohem Publikumsverkehr stattfinden (wie z.B.
Demonstrationen, Messen, Feste oder Konzerte);
Einkaufszentren; Lehranstalten und Krankenhäuser,
sowie die Postämter. Um den „Vandalismus“ zu bekämpfen
wurden in letzter Zeit die meisten Schulhäuser
in der Stadt Zürich massiv mit Videoüberwachungsanlagen
aufgerüstet.
Die genannten Orte seien auch in der Schweiz einer
erhöhten Intensität an unterschiedlichster „Alltagskriminalität“
ausgesetzt, was zum schon erwähnten
Umstand geführt hat, dass dort Videotechnologie
bereits verbreitet zum Einsatz gelangt. Im Oktober
2014 startete die Genfer Polizei im „Problemquartier“
Paquis eine neue Offensive. An „neuralgischen“
Punkten sollten 29 Kameras in Stellung gebracht
werden, die rund um die Uhr in Echtzeit Aufnahmen
an eine digitale Wand projizieren. Diese wird ununterbrochen
beobachtet und allenfalls wird Alarm
geschlagen, bzw. eine Patrouille dirigiert. Das Ganze
wird von der Uni Neuenburg „wissenschaftlich“ begleitet.
26 27
Im speziellen Fokus des inneren Feindes seien
Personen, Institutionen und Organisationen, welche
„hoheitliche“ oder wirtschaftliche Macht auf nationalem,
internationalem oder supranationalem Niveau
repräsentieren. Mit Blick auf diese strategischen
Angriffsziele müssen die folgenden Orte besonders
gut überwacht werden: Justiz-, Verwaltungs-, Regierungs-
und Parlamentsgebäude; Infrastrukturen von
Polizei- und Kontrollorganen (wie Grenzübergänge,
Zollfreilager oder Personenkontrollräumlichkeiten);
Botschaften; Hauptsitze von bedeutenden Konzernen
und Organisationen; Handels-, Finanzzentren
und Messen. Aufgrund der „erhöhten Gefährdung“
gelangt auch an diesen Orten Videotechnologie heute
verbreitet zum Einsatz.
gesteuerte Kameras ein, so dass das Aufzeichnen der
menschenleeren Haltestellen vermieden wird.
Am Flughafen Zürich Kloten erfolgt die Kameraüberwachung
ab der Vorfahrt der Flugzeuge für den
Abflug oder die Ankunft (inkl. der Taxiwarteräume)
bis hin zum Ankunfts-, und Abflugbereich für die
Fluggäste. Zudem werden neben den Check-Ins der
ganze Bereich des Airside Centers, sowie die Unterführungen,
die Gepäckförderbänder und der Bahnhofterminal
überwacht. Die Überwachung wird teils
mittels Hinweisen erkennbar gemacht. Die Daten
werden digital aufgezeichnet und nach 24 Stunden,
bei vier Kameras für die Vorfahrten nach 72 Stunden,
gelöscht.
Dazu kommt die Infrastruktur. Zu denken ist an
Staudämme, Kraftwerke und Leitanlagen oder sensible
Verkehrseinrichtungen wie Tunnels oder Brücken,
die heute mittels Videotechnologie überwacht
werden. Einem besonderen „terroristischen“ Anschlagsrisiko
ausgesetzt seien zudem Objekte, von
denen eine besondere symbolische Wirkung ausgeht,
wie Synagogen, Kirchen, Moscheen oder Denkmäler.
Überwachung der Grenzen des Nationalstaates
An der „Landesgrenze“, im grenznahen Raum,
auf Flughäfen und an Grenzbahnhöfen findet bereits
heute ein verbreiteter Einsatz von Videotechnologie
statt. Diese Gebiete seien wegen „Zolldelikten“ und
der „illegalen“ Ein- und Ausreise von Personen unterschiedlichster
„Gefährlichkeit“ einer erhöhten Intensität
an „Alltagskriminalität“ bis hin zu „terroristischer
Gewalt“ ausgesetzt. So das EJPD schon 2007.
Videoüberwachung in der Zuständigkeit der SBB
Die SBB setzen die Videoüberwachung im öffentlich
zugänglichen Raum heute massiv ein. Sie erfolgt
vorab zur Verhinderung von „ungebührlichem
Verhalten“ und „Alltagskriminalität” und wird der
Öffentlichkeit mittels Schildern und Piktogrammen
angezeigt. Überwacht werden Perrons, Wartehallen,
Schalterhallen, Zugänge (Drehkreuzdurchgänge),
Ticketautomaten und Liftzugänge. Soweit die SBB
Videosignale aufzeichnen und diese Aufzeichnungen
Personendaten enthalten, müssen sie nach der
Auswertung durch die Bahnbullen innerhalb von 24
Stunden vernichtet werden. Die SBB überwachen ihre
Anlagen nicht nur dissuasiv, sondern auch observativ.
Solche Aufnahmen erfolgen ohne Aufzeichnung
und beschränken sich auf die sichere betriebliche Abwicklung
des Zugverkehrs und der Passagierströme.
Die Konsumtempel in den sieben Grossbahnhöfen
der Schweiz werden seit Herbst 2007 rund um
die Uhr mit Videokameras überwacht. Die Signale
werden aufgezeichnet und im Bedarfsfall ausgewertet.
Neun grössere bediente SBB Bahnhöfe (sog.
„Bahnhöfe plus“) werden heute ohne Aufzeichnung
videoüberwacht. In über hundert nicht bedienten
Regionalbahnhöfen der SBB werden die Ticket- und
Warenverkaufsautomaten videoüberwacht. Die Aufnahmen
werden rund um die Uhr aufgezeichnet.
Das SBB Rollmaterial des gesamten Regionalverkehrs
ist mit Videoüberwachung ausgerüstet. Die
Aufnahmen werden in jedem Wagen lokal aufgezeichnet.
Im Ereignisfall können die über die Überwachung
informierten Fahrgäste über eine SOS
Gratisnummer direkt mit der Einsatzzentrale der Securitrans
in Kontakt treten.
Die permanente dissuasive und observative Videoüberwachung
ist heute auch bei den regionalen
Verkehrsbetrieben verbreitet. Eine „Arbeitsgruppe
Security” der Sicherheitschefs der städtischen Verkehrsbetriebe
in der Schweiz erarbeiteten 2006 einen
Leitfaden zum Thema Videoüberwachung. Ebenfalls
mit CCTV observiert werden in der Regel die Bergund
Talstationen von Bergbahnen, vereinzelt auch
Parkhäuser bei Eisenbahnbetrieben, Barrieren, Kassen
sowie die Parkflächen.
In städtischen Agglomerationen werden die Fahrgasträume
auch in Bussen videoüberwacht. In der
Regel wird der Businnenraum, insbesondere der Eingangsbereich,
mit zwei bis fünf Kameras überwacht.
Teilweise ist beim Fahrer ein Monitor installiert.
Dort, wo Videoüberwachung eingesetzt wird, sind
heute vor allem die in der Nacht eingesetzten Busse
mit entsprechenden Anlagen ausgerüstet. Die aufgenommenen
Daten werden in der Regel im Bus digital
gespeichert. Bei grösseren Betrieben erfolgt vor der
Speicherung eine Verschlüsselung. Die Aufbewahrungsfristen
betragen meist 24 oder 72 Stunden. Bei
den Trams sind die neuen Triebwagen mit Videoüberwachungsanlagen
ausgerüstet. Wie bei den Bussen
werden besonders die Eingangsbereiche der Wagen
überwacht. Auch Tramhaltestellen (z.B. am Limmatplatz
in Zürich) werden immer öfters überwacht Ein
Verkehrsbetrieb setzte im Pilotversuch bewegungs-
Die Überwachungsanlage des Flughafen Zürich
Kloten ist gemäss Erhebung die einzige, welche - örtlich
sehr begrenzt - Privacy Filter einsetzt. Einzelne
Kameras können ferngesteuert werden. Zugriff auf
die Daten haben im Ereignisfall die Flughafenbetreiberin
Unique, die Kapo Zürich und das Zollinspektorat.
Die Flughafenbullen führen seit 2003 bei ausgewählten
Flügen/Flugrouten sogenannte „vorgelagerte
Grenzkontrollen zur Erkennung illegaler Migration“
durch. Zu diesem Zweck wird direkt bei den Gates
das Videoüberwachungs- und Gesichtserkennungssystem
FAREC (Face Recognition) zur biometrischen
Identifikation betrieben. Die biometrische Erfassung
der Gesichter erfolgt mittels Einzelfotografien und ist
nur bei guten Lichtverhältnissen möglich. Die Erfassung
aus einer grösseren Zahl von Personen heraus
ist aufgrund von Qualitätsmängeln noch fehlerhaft.
Bei späteren Personenkontrollen auf dem Flughafengelände
innerhalb der Aufbewahrungsdauer von 60
Tagen, wird ein Bildvergleich vorgenommen, um illegal
anwesende MigrantInnen zu erkennen und zu
verhaften.
Videoüberwachung der Verwaltungs-, Parlaments-
und Regierungsgebäude des Bundes
Die Videoüberwachung der Verwaltungs-, Parlaments-
und Regierungsgebäude wird in der vom
Bundessicherheitsdienst (BSD) betriebenen Alarmzentrale
der Bundesverwaltung wahrgenommen. Der
BSD kann an den genannten Orten Bildaufnahmeund
Bildaufzeichnungsgeräte auch zur Aufzeichnung
und Auswertung von präventiv beschafften Perso-
28 29
Ästhetik der Utopie I
nenbilddaten nutzen. Die Videoüberwachung durch
den BSD wird den Betroffenen nicht erkennbar gemacht.
Die Bilddaten werden in der Regel digital auf
Festplatten gespeichert und wahrend 24 Stunden aufbewahrt.
Das Landesmuseum Zürich, die Asylempfangsstellen
des Bundes sowie einzelne Verwaltungsgebäude
des VBS werden durch die jeweiligen Stellen
selbst videoüberwacht.
Die eidgenössische Zollverwaltung setzt automatische
Bildaufnahme- und Bildaufzeichnungsgeräte,
sowie andere Überwachungsgeräte ein, worunter insbesondere
der grenznahe Einsatz von videobestückten
Drohnen fällt. Der Einsatz der Überwachungstechnik
erfolgt um „unerlaubte“ Grenzübertritte oder
„Gefahren für die Sicherheit“ im grenzüberschreitenden
Verkehr frühzeitig zu erkennen. Dies geschieht
namentlich zur Fahndung, sowie zur Überwachung
von Räumen mit Wertsachen, von Räumen mit verhafteten
Personen und von Zollfreilagern.
Die vom Grenzwach Korps (GWK) verdeckt betriebenen
Anlagen im Gelände stellen „illegale“
Grenzübertritte fest. An neuralgischen Punkten der
grünen Grenze sind bewegungsgesteuerte und teilweise
zoombare Kameras im Einsatz. Die Aufnahmen
werden an eine Überwachungszentrale übermittelt.
Sobald im Gelände Bewegungen registriert werden,
löst dies in der Überwachungszentrale Alarm aus,
worauf die übermittelten Bilder von dem dortigen
Pikettpersonal in Echtzeit betrachtet werden, ohne
dass eine Aufzeichnung erfolgt. An mindestens elf
Grenzposten sind Videokameras mit automatischer
Autonummererkennung installiert. Die Zollfahndung
erstreckt sich übrigens über das ganze Gebiet
der Schweiz.
Videoüberwachung in den Kantonen und Gemeinden
Bei der Videoüberwachung durch den kantonalen
und kommunalen Apparat wird der öffentliche Raum
observiert. Es gibt Kantone, die das Mittel der Videoüberwachung
intensiv nutzen, während andere dieses
Mittel kaum zum Einsatz bringen. Einzelne Kantone,
wie Zürich, betreiben unter der Bezeichnung „automatische
Fahrzeugfahndung und Verkehrsüberwachung“
(AFV) Anlagen, welche die Kennzeichen
vorbeifahrender Autos mit Kameras erkennen und
selbstständig mit der Fahndungsdatenbank RIPOL
vergleichen. Die Daten werden verschlüsselt transportiert
und die Bullen werden im Falle eines Treffers
beim Datenbankvergleich informiert.
Unterschiedliche Orte, Verkehrsmittel, Stadtviertel
und auch „private“ Zonen sind also Objekte von
Videoüberwachung. Die Zielsetzungen sind so unterschiedlich
wie die verwendete Technologie. Quantitativ
stehen allerdings die aufgewerteten Innenstädte
und Geschäftsviertel im Zentrum des CCTV Einsatzes.
Während soziale Kontrolle schon immer zum Arsenal
der Konterrevolution gehörte, ist der Einsatz
von Technik zur Kontrolle des öffentlichen Raumes
in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Technik
ist jedoch auch verletzungsanfällig und wie die letzten
Revolten und Klassenkämpfe zeigen, kein wirkliches
Hindernis für eine revolutionäre Veränderung.
Videoüberwachung von Armeeeinrichtungen
Die meisten vom VBS betriebenen Einrichtungen,
bei denen Videoüberwachung eingesetzt wird, sind
nicht öffentlich zugänglich. Videoüberwachungssysteme
werden etwa bei Eingangs- und Einfahrtbereichen
zu Arealen oder Objekten wie Verwaltungsgebäuden,
Waffenplätzen, Logistikcentern, Labors oder
Anlagen eingesetzt. Vereinzelt sind videogestützte
Zaunüberwachungssysteme im Einsatz, die aber nur
sehr begrenzt auf den Bereich ausserhalb des Areals
wirken.
30 31
Ästhetik der Utopie II
5. Handlungstheorie – Klassenkampfanalyse
a) Für eine revolutionäre Klassenposition
Die Debatte über das revolutionäre Subjekt ist vorgängig
immer auch die Auseinandersetzung über die
Bestimmung der aktuellen Gesellschaftsformation.
Wo stecken wir im Fahrplan zum Kommunismus?
Gerade die umfassende und tief greifende Restauration
des Kapitalismus macht eine Einschätzung alles
andere als einfach. In der Stufenfolge der Gesellschaftsformationen,
die grundsätzlich progressiv gedacht
ist, und der historischen Wirklichkeit klafft im
Moment wahrlich eine riesige Lücke. Vielleicht setzt
gerade die Bestimmung eines progressiven Bewegungsprozesses
der Gesellschaft eine Differenzierung
in der historischen Dialektik voraus. Historischer
Prozess ist nicht gleich historischer Prozess. Die Geschichte
der Gesamtheit aller sozialen Prozesse ist
nicht gleich zu setzen mit der Geschichte jener konkret-historischen
Gesellschaften, die zur Entfaltung
progressiver Entwicklungen wesentlich beitragen.
Ist in diesem Sinne zwischen primären, progressivprägenden
Prozessen und sekundären, reaktionären
Entwicklungen von Weltgeschichte zu unterscheiden?
Vom Charakter der jeweiligen Epoche, die sich
wiederum in unterschiedliche Phasen aufteilt, hängt
auch der Verlauf des revolutionären Prozesses als
Epoche der sozialen Revolution oder eben als strategisches
Rückzuggefecht, als Widerstand, als Aufbauprozess
etc. ab. In der Epoche des Imperialismus hat
der revolutionäre Prozess schon die verschiedensten
Formen angenommen – 1917 in der Oktoberrevolution,
1918 in der Novemberrevolution, 1933 im antifaschistischen
Widerstand, 1936 im Spanischen Bürgerkrieg,
1945 in der Befreiung Deutschlands, 1949
in der Chinesischen Revolution, 1966 in der proletarischen
Kulturrevolution und in den Bewegungen
von 1968 und 1980.
Auf was fusst eine progressiv Epoche? Wie oben
ersichtlich, gehen wir bei der Erfassung des historischen
Prozesses von der Entwicklung und Abfolge
ökonomischer Gesellschaftsformationen und der
darauf basierenden Wechselwirkung mit der Entwicklung
der materiellen Produktivkräfte aus. Der
progressive Kern einer fortschrittlichen Entwicklung
bildet daher die produzierende Auseinandersetzung
zwischen „Mensch“ und „Natur“, Naturaneignung
und Vergesellschaftung. (Wie es aktuell darum steht?
Barbarei ist der richtige Begriff dafür.) Daraus folgt,
dass die produzierenden und ausgebeuteten Klassen
das Zentrum dieses progressiven, manchmal revolutionären,
Potentials bilden und ebenso die Ausbeuter
die reaktionäre Entwicklung prägen. Die handelnden
und gestaltenden Kräfte des historischen Prozesses
sind und bleiben die Klassen, trotz allen Schwierigkeiten,
diese heute zu definieren. „Geschichte… ist
eine Geschichte von Klassenkämpfen“. Eine Klassenposition
bleibt die Orientierung auch in Zeiten, in
denen die verschiedenen Imperialismen übereinander
herfallen.
Die Gesellschaft ist einem permanenten Prozess
unterworfen, was gerade auch die tief greifenden
Auswirkungen der aktuellen wissenschaftlich-technologischen
Entwicklung und der daraus hervorgehenden
komplizierten Klassenzusammensetzung
sehr deutlich aufzeigen. Die Analyse der Bedingungen,
der Formen und des Charakters sozialer Bewegungen
ist objektiv schwierig geworden. Dies ändert
allerdings nichts daran, dass - solange es antagonistische
Klassen gibt - die soziale Revolution ein notwendiges
Element der historischen Entwicklung bleibt.
Die Restauration des Kapitalismus und die Zerschlagung
aller vorhandenen sozialistischen Elemente, die,
wie gesagt, wahrlich keine progressive Abfolge in der
Entwicklung der Gesellschaftsformationen darstellt,
zeigt deutlich eines auf: Wie widersprüchlich sich der
Geschichtsprozess und damit die jeweiligen revolutionären
Möglichkeiten entwickeln.
Nur soviel dazu. Der revolutionäre Prozess vollzieht
sich in Konvulsionen, Sprüngen, Stabilisierungsphasen,
Zyklen revolutionärer Umbrüche und Rückschläge
in einer zeitlichen Dimension, die so nicht
erwartet wurde. Die Einschätzung der revolutionären
Möglichkeiten und die Definition des revolutionären
Subjekts sollten in diesem Sinne an formationstheoretische
Überlegungen gebunden werden. Der Kampf
für eine „andere Welt“ muss zwingend ein Kampf für
eine andere, sozialistische Gesellschaftsformation
sein. Daran hat sich der revolutionäre Prozess auch
in einer reaktionären Zeit zu orientieren. Erst nach
der Bezugnahme auf diese übergeordnete Dimension
verliert der Klassenbegriff seinen klassifikatorischen
Charakter nach empirischen Merkmalen und es kann
in den Kämpfen zwischen progressivem und reaktionärem
Potential unterschieden werden. Klassenkampfanalyse:
Eben der Versuch einer Verbindung
32 33
zwischen der allgemeinen Dialektik des historischen
Prozesses mit der konkreten Erfassung des Besonderen
und des Einzelnen. Krise des revolutionären Subjekts?
Eher „Krise“ der „objektiven“ Epoche.
b) Widerspruchserfahrungen
Politischer Widerspruch zum herrschenden Kapitalismus
beruht zwar auf den oben erwähnten objektiven
sozial-ökonomischen Voraussetzungen, die
entsprechend der aktuellen Gesellschaftsformation
gegeben sind. Das marxistische Verständnis von
Klassenkampf ist allerdings nie davon ausgegangen,
dass sich aus gesellschaftlicher Benachteiligung
„automatisch“ progressives Bewusstsein, bzw. revolutionäres
Handeln ergibt. Soziale Widerspruchserfahrungen,
so tief sie auch heute sind, produzieren
beides: Revolutionäre und reaktionäre Denk- und
Handlungsoptionen. Diese beinhalten zwar eine
dichotomische Struktur, also die Gesellschaft in ein
Oben und Unten gespalten, die vom Interessenwiderspruch
zwischen Arbeit und Kapital geprägt ist.
Doch welche Ursachen wo und wie wirken, liegt
unter den herrschenden reaktionären ideologischen
Verzerrungen und den individualistischen „Lösungen“
verborgen.
Die Klassenwidersprüche sind enorm vielfältig
geworden und in den Revolten und Aufständen
nicht immer einfach zu lokalisieren. Die Analyse
der sozialen Konflikte und darin die Bestimmung
der jeweiligen Klasseninteressen und schliesslich
eine daraus folgende revolutionäre Intervention,
lässt sich nur über die Auseinandersetzung mit den
unmittelbaren Lebensinteressen leisten. Dort sind
die Bereiche verortet, wo Klassenkonfrontation in
der gesellschaftlichen Realität entsteht. Erst aus subjektiv
erfahrbaren, konkret sinnlichen Klassenwidersprüchen
lassen sich Klasseninteressen ableiten.
Und die umfassen das betriebliche,- wie ausserbetriebliche
Kampffeld; als auch den Widerstand gegen
die kapitalistische Urbanisierung. Zusammen
mit dem Bedürfnis von Widerstand, Rebellion und
Auflehnung kann Klassenbewusstsein entstehen,
das revolutionär handlungsfähig ist. Klassenkampfanalyse
ist immer auch die Analyse des revolutionären
Potentials, oder wie Brecht sagt, „Realität
ist nicht nur alles, was ist, sondern auch alles was
wird. Sie ist ein Prozess“. Freilich lässt sich diese Art
von Theorie und Praxis, die über den betrieblichen
Rahmen weit hinaus geht, nur im Kontext eines politisch-organisatorischen
Rahmens leisten, der eine
bestimmte kontinuierliche Praxis, wie sie die politische
Widerstandsbewegung bietet, zulässt. Dort
besteht die Möglichkeit einer Verbindung zwischen
revolutionärer Veränderungsperspektive und praktisch
erfahrbaren gesellschaftlichen Widersprüchen.
Aus den unterschiedlichsten Widerspruchsfeldern
kann sich eine grundsätzliche Bereitschaft zur Abschaffung
des Kapitalismus generieren und eine gesellschaftsverändernde
Wirkung und Dynamik entfalten.
Doch ist dieses revolutionäre Subjekt gesellschaftlich
nicht zu peripher positioniert um den revolutionären
Prozess zu beeinflussen? Wo sind die
„Massen“? Wir definieren „Masse“ als qualitativen
Begriff, der nicht absolut zu verstehen ist, sondern
sich aufgrund der jeweiligen konkreten Situation
bestimmt. Der Begriff „Masse“ ändert sich, je nachdem
wie sich der Charakter des Kampfes ändert. Zu
Beginn des Kampfes genügten schon einige tausend
wirklich revolutionäre ArbeiterInnen, damit man
von der Masse sprechen konnte. „Wenn einige tausend
parteilose Arbeiter, die gewöhnlich ein Spiesserleben
führen und ein klägliches Dasein fristen,
die niemals von Politik gehört haben, revolutionär
zu handeln beginnen, so ist das die Masse. Ist die
Revolution schon genügend vorbereitet, so ändert
sich der Begriff der „Masse“: Einige tausend Arbeiter
stellen keine Masse mehr dar.“ (Lenin).
Sind die aktuellen städtischen Klassenkämpfe
und Revolten eine revolutionäre Möglichkeit?
Teilweise schon, wie Beispiele in den letzten Jahren
aufzeigen. Während es im 19. Jahrhundert eine
Vielzahl bäuerlicher Revolten, aber kaum städtische
Aufstände gab, sich der revolutionäre Prozess mit
der Industrialisierung schliesslich in die europäischen
Städte verschob, um danach im Rahmen der
Entkolonialisierung und der nationalen Befreiung
durch Volkskriege Jahrzehnte im Trikont zu verweilen,
scheint sich der revolutionäre „Ort“ Richtung
moderne Metropolen aller Kontinente zu verlagern.
Die Gründe hierfür sind hauptsächlich ökonomischer,
sozialer und politischer Natur. Doch wie oben
ausgeführt, interessieren uns besonders auch die
Merkmale urbaner Entwicklungen, die den revolutionären
Kampf potentiell beeinflussen.
Wie sich die Gegenseite die
verschiedenen Phasen und
Möglichkeiten von Widerstand
vorstellt.
c) Das urbane Kampffeld – Revolutionäre
Gegenmacht
Revolutionen entstehen aus politischen Situationen
und nicht, weil einige Städte ihrer Struktur nach
für Strassenkampf und Aufstand geeignet sind. Doch
in Städten konzentrieren sich politische Macht, wirtschaftlicher
Reichtum und gleichzeitig Armut und
Ausgrenzung. Klassenwidersprüche sind sichtbar,
die Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaft
des Kapitals unausweichlich. Die bekannte „andere“
Welt ist, ohne die Machtfrage zu stellen, nicht möglich.
Die historischen Defizite, dass auch emanzipatorische
Ansätze von revolutionärer Macht zu neuen
Herrschaftsverhältnissen geführt haben, sollen uns
eine Lehre sein, uns jedoch nicht davon abhalten, im
revolutionären Prozess die richtigen Konsequenzen
zu ziehen. Ein „zivilisierter Kapitalismus“ ist nicht zu
haben.
Urbane Zentren sind Orte, wo sich die Macht des
internationalen Finanzkapitals und seine Apparate
auf der einen, das urbane Leben produzierende
34 35
und reproduzierende Proletariat auf der anderen Seite,
konzentrieren. Ein zentrales Austragungsfeld der
wichtigsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen.
Damit kommt ihm potentielle strategische Bedeutung
zu.
Städtischen Eigenschaften, wie die gebaute Umwelt
garantieren billige und schnelle Kommunikationsmöglichkeiten
und eine hohe Mobilität. Die technische
Überlegenheit der Repressionskräfte muss
wegen der immensen Komplexität von Städten keineswegs
einen entscheidenden Vorteil bedeuten.
Es müssen die Protagonisten der herrschenden
Macht benannt, ihre Kontroll- und Gewaltapparate
identifiziert und die Funktionsweise moderner bürgerlichen
Herrschaft analysiert werden. Ein zentrales
Merkmal der heutigen Metropolen ist das zahlenmäßige
Anwachsen der Gebäude, die sich lohnen, angegriffen
oder besetzt zu werden. Während sich die
Sitze der eigentlichen Kapitalisten und ihrer Manager
immer mehr von den „unsicheren“ Vierteln entfernt
haben (allerdings geht eine Tendenz Richtung städtische
Appartements, denn die sind anonymer und daher
weniger angreifbar), ballen sich die tatsächlichen
Hauptquartiere der Herrschenden oft in unmittelbarer
Nähe von potentiell aufrührerischen Quartieren.
Das Zentrum einer Stadt des späten 21. Jahrhunderts
wird nicht nur durch die Symbole, sondern auch
durch die Wirklichkeit der imperialistischen Macht,
der Massivbauten aus Spiegelglas der Banken und
großen Konzerne, geprägt. Entscheidend für das System
ist heute allerdings die Infrastruktur der Energie,
Kommunikation und Medien!
die Schließung der Banken, das Büropersonal, das
nicht zur Arbeit erscheinen kann oder will, die Geschäftsleute,
die in Hotels festgehalten sind oder ihren
Bestimmungsort nicht erreichen können - dies
alles kann das ökonomische Leben einer Stadt sehr
empfindlich stören. Revolutionäre Gegenmacht!
Die Besetzung von öffentlichem Territorium in
Form von Demonstrationen und Kundgebungen gehören
zu den wichtigsten Aktionsformen der revolutionären
Opposition. Revolutionäre Präsenz auf der
Strasse, neben Demos und Kundgebungen auch die
Plakatierung und Beschriftung der Mauern etc., soll
der Stadt ein revolutionäres Gepräge aufdrücken - als
Kontrast zur bürgerlichen Normalität. Eine demonstrative
Wirkung auf „Freund und Feind“ : Die Herrschaft
des Kapitalismus wird hier in Frage gestellt, für
eine revolutionäre Alternative gekämpft und diese
sichtbar gemacht.
Durch die erfolgreiche Besetzung von öffentlichen
Terrain realisiert sich exemplarisch der punktuelle
„Sieg“ über den Kapitalismus – eine Wirkung die zumindest
tendenziell von den DemoteilnehmerInnen
auch so wahrgenommen wird. Aber nicht nur das.
Mit der Auswahl der Aktionsformen, mit der Ausgestaltung
der Demostruktur, und mit der Wahl der Demonstrationsroute
kann eine Brücke zwischen dem
jeweiligen Anlass/Thematik und der verallgemeinerten
Kritik des Kapitalismus hergestellt werden. Denn
neben der Öffentlichkeit gibt es immer auch einen
konkreten Adressat von Demos, an dessen Formierung
des politischen Bewusstseins die Kämpfenden
spezielles Interesse haben.
zeitschriften etc. werden seitenlang „Urbane Konflikte“
(vom Krieg in Grosny/Tschetschenien 1994-1996,
über den Libanon, über Carlos Merhigella’s Stadtguerilla
in Brasilien, bis hin zu Aufständen in Nordirland
und im Irak) abgehandelt. Als wahrscheinlichstes
„Gefechtsfeld des 21. Jahrhundert“ wird der „Kampf
in überbautem Gelände“ angenommen.
In der Schweiz lebt heute nahezu drei Viertel der
Bevölkerung in städtischem Gebiet. Pro Sekunde
werden 0.86m2 überbaut und diese Tendenz wird
sich fortsetzen. Eine Folge ist, wie wir an verschiedenen
Beispielen gesehen haben, die Verhärtung der
sozialen Polarisation, bzw. eine grösser werdende soziale
Ungleichheit. Die Klassenauseinandersetzung
wird noch verstärkter auf der Strasse stattfinden, die
Kontrolle des urbanen Terrains zur strategischen
Aufgabe der imperialistischen Aufstandsbekämpfung.
Eine Entwicklung, die zwangsläufig auch hier
das ganze imperialistische „Krisenmanagement“ und
damit den gesamten Repressionsapparat entscheidend
prägt.
Der öffentliche Raum,wie er sich
aufteilen, denken und analysieren lässt.
Selbstverständlich hat die innere Sicherheit im
Vorfeld eines Armee-Einsatzes noch ein ganzes Arsenal
von Handlungsmöglichkeiten. Damit sind wir
im Moment konfrontiert. Wir können, trotz unterschiedlicher
Realitäten in den Städten, von einer
Tendenz zur räumlichen Bearbeitung der Klassenkonfrontation
sprechen. Davon ist nicht nur die
städtische Architektur betroffen, sondern auch die
Formen der Unterdrückung wie Ausgrenzung, Ausschliessung
und Überwachung mittels Hochleistungstechnologie.
Auch wenn Unterschiede in Form und Intensität
der Unterdrückung auszumachen sind, ob Afroamerikaner
in New York, Deutscher türkischer Abstammung
in Berlin oder Jugendliche aus dem Balkan etc.
in Zürich, alle sind betroffen. Der schlichte Aufenthalt
bestimmter Kategorien der Klasse, an der Langstrasse
in Zürich beispielsweise, wird schon mit arm,
randständig = gefährlich, = negativ für die kapitalistische
Aufwertung assoziiert und mit einem Wegweisungsbefehl
sanktioniert. Wohlgemerkt, vor ein
paar Jahren noch brauchte es zur Legitimation von
Während früher Rathäuser und Regierungssitze
zentrale Angriffsziele waren, haben sich mittlerweile
die Angriffsmöglichkeiten breit aufgefächert, bis
hin zu den politisch und wirtschaftlich unwichtigen
Symbole der kapitalistischer Lebensweise. Besonders
nach der „Finanzkrise“ sind sich die Banken
ihrer Angreifbarkeit bewusst, was architektonisch
als scheinbar uneinnehmbare Festung sichtbar wird.
Ähnlich jenen Stadtburgen, in denen sich Lehnsherren
und. Lehnsträger im Mittelalter verschanzten.
Die Gebäude großer Konzerne können direkt das
Ziel von Demonstrationen sein. Sie sind angreifbar.
Ein paar zerbrochene Spiegelglasfenster oder die Besetzung
von wenigen Quadratmetern Büroraumes
können die Operationen eines modernen Multis allenfalls
unterbrechen. Die Blockierung des Verkehrs,
Die Wirksamkeit der jüngsten Aufstände in westlichen
Städten wie Paris, London und São Paulo ergibt
sich vor allem aus ihrem Zusammenhang mit
der politischen Gesamtsituation. Es hat sich gezeigt,
dass die unterdrückte und ausgegrenzte Bevölkerung
nicht länger bereit ist, ihr Schicksal passiv hinzunehmen.
Defizite in der Entwicklung des politischen
Bewusstseins und die Schwäche der revolutionären
Linken verhinderten, dass diese Bewegungen eine
unmittelbare ernsthafte Bedrohung für die örtliche
Machtstruktur wurden.
Das imperialistische Bedrohungsszenario „Kriegerische
Auseinandersetzungen in urbanen Gebieten“
prägt auch in der Schweiz die sogenannte
aktuelle „Sicherheitsdebatte“. In den hiesigen Militär-
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Ästhetik der Erfahrung
Repression in diesem Kontext noch so genannte „Regelverstösse“.
Spielsaloons, Prostitution, Fixerräume
aber auch Hausbesetzungen „locken“ ein „Publikum“
an, das sich mit dem Image der kapitalistischen Aufwertung
ganz und gar nicht verträgt. Entsprechende
Infrastruktur wird verdrängt. Armut, Elend und Unterdrückung
die nicht gesehen wird, existiert nicht –
besonders in Zürich. Auf die Verschärfung der Klassenkonfrontation
wird mit räumlicher „Verbannung“
reagiert.
Von dieser Tendenz zur „Sicherheit“, „Ordnung“
und „Sauberkeit“ sind natürlich die Interventionen
der revolutionären Linken im öffentlichen Raum besonders
betroffen, nicht zuletzt, weil dadurch auch
die kapitalistische Kommerzialisierung von Raum
betroffen ist. Die Strassen der Städte haben für den
revolutionären Kampf einen zentralen Stellenwert,
sie bedeuten den Zugang zu den Klassenkämpfen,
zum revolutionären Subjekt und zur sogenannten
„Öffentlichkeit“. Mit der Eliminierung der revolutionären
Präsenz im öffentlichen Raum, an der die lokalen
Repressionskräfte ganz konkret arbeiten, soll
gerade das verhindert werden.
Der Kampf um die Strasse ist ein Kampf um revolutionäre
Gegenmacht, um den zentralen Ort, wo
verschiedene Stränge des Klassenkampfes zusammen
kommen. Das Kapital und sein Staat sind mächtig,
zugleich aber auch angreifbar. Im langfristigen Aufbau
von revolutionärer Gegenmacht soll das Wesen
des revolutionären Prozesses konkret fassbar werden:
Sein revolutionärer, emanzipatorischer Charakter,
der Bruch mit dem kapitalistischen System, die Infragestellung
des bürgerlichen Macht- und Gewaltmonopols.
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