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zett-Magazin August / September

Magazin für Stadtkultur, Schlachthof / Lagerhaus

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Schlachthof / Lagerhaus

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zMA<br />

GA<br />

ZIN<br />

12<br />

F Ü R S T A D T K U L T U R<br />

halbzeitwissen<br />

FLORIAN BERG<br />

IST STERBLICH<br />

V O N J A N K O M A R K L E I N ( A U S Z U G )<br />

J a n k o<br />

M a r k l e i n<br />

wurde 1988 in Bremen<br />

geboren. Er studierte<br />

Literarisches Schreiben<br />

am Deutschen Literaturinstitut<br />

Leipzig und<br />

Philosophie an der<br />

Universität Leipzig<br />

sowie der Freien Universität<br />

Berlin. Janko<br />

Marklein erhielt den<br />

ersten Preis beim Open<br />

Mike 2010 und das<br />

Bremer Autorenstipendium<br />

2012. Sein Roman<br />

›Florian Berg ist sterblich‹<br />

erscheint am<br />

21. <strong>August</strong> 2015 bei<br />

Blumenbar im Aufbau-<br />

Verlag.<br />

Bei der Buchpremiere<br />

am 22. <strong>September</strong><br />

im Lagerhaus liest er<br />

Auszüge daraus.<br />

Die Reporter der Nordseezeitung kehrten noch einmal nach<br />

Wulsbüttel zurück, nachdem Ole an einem Sonntagmorgen vor<br />

der Kirche auf eine Deutschlandfahne gepinkelt hatte. Der Verein<br />

hieß mittlerweile Ortsgruppe Grüne Jugend Wulsbüttel-<br />

Osterholz, Ole war nicht mehr Vorsitzender, sondern Sprecher,<br />

Isa war Sprecherin, Florian Schatzmeister. Jeden Mittwochabend<br />

trafen sie sich zum Plenum im Gemeindehaus. Vom Landesverband<br />

Grüne Jugend Niedersachsen, der seinen Sitz in<br />

Hannover hatte, bekamen sie monatlich fünfzig Euro, die sie<br />

vornehmlich für den Kauf von Filzstiften und Transparenten<br />

ausgaben.<br />

Beim nächsten Plenum kam es zum Streit zwischen Fundis<br />

und Realos. Die Fundis, zu denen sich auch Florian zählte,<br />

waren von Oles Aktion begeistert. Sie betonten den Nutzen<br />

der medialen Aufmerksamkeit und die moralische Unhaltbarkeit<br />

des deutschen Staates. Die Realos, zu denen unter anderem<br />

Isa, Malte und Juria gehörten, fanden die Aktion zu krass.<br />

Deutschland sei doch gar nicht so schlimm, eigentlich, sagte<br />

Malte. ›Deutschland ist schon schlimm‹, sagte Isa, ›doch es<br />

geht um die Vermittelbarkeit.‹<br />

Zu seinem siebzehnten Geburtstag bekam Florian von seinen<br />

Eltern, entsprechend seiner Wunschliste, eine rot-schwarzgestreifte<br />

Stoffhose, fair gehandelt und bio, einen Wollpullover<br />

mit Lamamotiven und Jürgen Trittins ›Ökologische Globalisierung‹.<br />

Außerdem, von seinen Großeltern, ein Tischgedeck aus<br />

Porzellan. Florians Patenonkel schickte eine Karte mit zwei<br />

tanzenden Teddybären, dazu eine Packung Kondome.<br />

Als Florians Eltern die Kondome sahen, baten sie Florian, sich<br />

einmal kurz zu ihnen an den Wohnzimmertisch zu setzen. Florians<br />

Vater räusperte sich und fragte: ›Weißt du, was das ist, mein<br />

Sohn?‹ Florian sagte: ›Ja.‹ Florians Mutter sagte: ›Wenn du irgendwelche<br />

Fragen hast, ist dein Vater gerne bereit, dir weiterzuhelfen.‹<br />

Eine Weile betrachtete Florian das Muster der Tischdecke,<br />

blaue Wellenlinien, auf beigen Stoff gestickt, dann sagte seine<br />

Mutter: ›Wenn du willst, kann er dir auch bestimmte Dinge<br />

zeigen.‹ Florian stand auf und sagte, es sei schon in Ordnung.<br />

In der Schule bekam er weitere Geschenke. Von Juria ein<br />

Buch über berühmte Zirkusclowns, von Malte einen Stoffbeutel<br />

mit der Aufschrift ›Stacheln zeigen!‹ und der Zeichnung<br />

eines wütenden Igels, dem Wappentier der Grünen Jugend.<br />

Von Ole einen Joint, von Isa einen veganen Apfelkuchen mit<br />

siebzehn Wunderkerzen. Florians Religionslehrerin, die seine<br />

Eltern aus dem Kirchenvorstand kannte, übergab ihm nach<br />

dem Unterricht die soeben neu erschienene Bibelübersetzung<br />

in geschlechtergerechter Sprache.<br />

Am Nachmittag trafen sich Florian und Ole beim größten<br />

Forellenteich, um gemeinsam den Joint zu rauchen. Ole<br />

erzählte, am Tag nach dem Erscheinen des Deutschlandfahnenartikels<br />

habe er vom Bundesvorstand der Grünen Jugend<br />

eine E-Mail erhalten, mit der Einladung zur Teilnahme am<br />

Arbeitskreis Antirassismus, kurz AK AntiRa.<br />

Florian zog den Joint aus seiner Hosentasche. Er hatte<br />

einen leichten Knick in der Mitte. Solange das Papier nicht<br />

reiße, sagte Ole, sei das kein Problem. Dann jedoch stellten<br />

sie fest, dass sie beide kein Feuerzeug dabei hatten. Sie redeten<br />

noch eine Weile über die kommende Landtagswahl. Als<br />

die Dämmerung einsetzte, gingen sie nach Hause.<br />

Im Herbst begann Florians Vater mit seinen Wanderungen.<br />

Zunächst machte er noch längere Spaziergänge durch das<br />

Dorf, zum Edeka, zur Waffelfabrik, zu den Windrädern, und<br />

immer wieder zu den Forellenteichen. Beim Abendbrot<br />

berichtete er Florian und der Mutter von den Dingen, die er<br />

auf seinen Wanderungen erlebt hatte. Einmal erzählte er von<br />

einer Wühlmaus, die vor seinen Augen ein Kabel angefressen<br />

habe. Er sei sich nicht sicher, sagte Florians Vater, was das<br />

für ein Kabel gewesen sei, vermutlich Telefon oder Internet,<br />

obwohl, es habe da einfach quer auf dem Weg gelegen und<br />

in den Wald geführt, das sei ja auch irgendwie komisch.<br />

Florians Mutter fragte Florians Vater, ob er eigentlich keine<br />

Arbeit zu tun habe. ›Ja‹, sagte Florians Vater mit ruhiger Stimme,<br />

›Arbeit, Arbeit, Arbeit.‹<br />

Je kälter es wurde, desto häufiger verlegte der Vater seine<br />

Wanderungen in geschlossene Räume. Er verbrachte ganze<br />

Nachmittage damit, zwischen dem Bücherregal im Flur im<br />

ersten Stockwerk und dem Bücherregal im Wohnzimmer im<br />

Erdgeschoss hin- und herzulaufen. Meistens betrachtete er<br />

nur die Buchrücken, fuhr mit den Fingern darüber und murmelte<br />

ein paar unverständliche Worte in seinen Bart. Nur<br />

F o t o : BEGÜM YÜCELAY

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