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6<br />
Das Theater eines g<strong>an</strong>zen Kontinents<br />
zu skizzieren, überforderte bisher<br />
einen einzelnen Berichterstatter.<br />
Selbst d<strong>an</strong>n, wenn er berufsmäßig in<br />
vielen Ländern unterwegs ist. Doch<br />
seit eineinhalb Jahren ist das positive<br />
Chaos der theatralischen Gleichzeitigkeiten<br />
im europäischen Theater<br />
etwas übersichtlicher geworden.<br />
Während bisher die Recherchereisen<br />
für das Festival NEUE STÜCKE AUS<br />
EUROPA (früher in Bonn, seit 2004<br />
in Wiesbaden/Mainz) in die Länder<br />
Europas g<strong>an</strong>z unterschiedliche<br />
F<strong>und</strong>stücke <strong>an</strong> Aufführungen zeitgenössischer<br />
Dramatik erbrachte (bei<br />
270 Ur- <strong>und</strong> Erstaufführungen aus<br />
35 Ländern in zehn Ausgaben kein<br />
W<strong>und</strong>er!), lässt sich seit <strong>an</strong>derthalb<br />
Jahren – neben blauen, gelben <strong>und</strong><br />
grünen – ein eindeutiger dicker roter<br />
Faden ausmachen. Immer mehr zeitgenössische<br />
Dramatiker in Europa<br />
definieren ihre Aufgabe als Schau-<br />
Das Fachmagazin Die Deutsche Bühne stellte im Dezember<br />
2011 die Frage, wie sich das europäische Theater <strong>an</strong>gesichts<br />
der Fin<strong>an</strong>zkrise entwickelt <strong>und</strong> bat Intend<strong>an</strong>t M<strong>an</strong>fred<br />
Beilharz um einen Beitrag zu diesem Thema. Wir möchten<br />
Ihnen diesen interess<strong>an</strong>ten Text nicht vorenthalten. Für Die<br />
Deutsche Bühne wurde er um einige Stimmen europäischer<br />
Autoren bereichert, die als Paten für die Theaterbiennale<br />
NEUE STÜCKE AUS EUROPA fungieren. Das Festival unter der<br />
Leitung von M<strong>an</strong>fred Beilharz, T<strong>an</strong>kred Dorst, seiner Co-Autorin<br />
Ursula Ehler <strong>und</strong> Maya Schöffel ist in diesem Jahr wieder<br />
vom 14.-24. Juni in Wiesbaden <strong>und</strong> Mainz zu erleben. Erste<br />
Gastproduktionen stehen bereits fest, die wir Ihnen in diesem<br />
Zusammenh<strong>an</strong>g vorstellen möchten.<br />
spielautoren in ähnlicher Weise <strong>und</strong><br />
drücken das in ihren Stücken aus. Der<br />
Gr<strong>und</strong> dafür ist die Fin<strong>an</strong>zkrise.<br />
<strong>Sie</strong> hat nicht nur das Leben der<br />
Europäer, sondern auch die F<strong>und</strong>amente<br />
des globalisierten Fin<strong>an</strong>zsystems<br />
erschüttert. Milliardenbeträge<br />
aus den Geldern der Steuerzahler<br />
wurden von den Regierungen in die<br />
Kassen der B<strong>an</strong>ken umgeleitet, um<br />
der Krise Herr zu werden. Dem griechischen<br />
Dramatiker Petros Markaris<br />
(gleichzeitig der Erfinder des Athener<br />
Kriminalkommissars Kostas Charitos<br />
<strong>und</strong> Übersetzer von Goethes<br />
Faust <strong>und</strong> von Brecht-Stücken), ein<br />
politisch wacher Autor <strong>und</strong> früher<br />
Warner, kommt das vor, „als ob m<strong>an</strong><br />
den Leuten sage: ihr müsst euren<br />
Arbeitgebern unter die Arme greifen,<br />
sonst sitzt ihr auf der Straße.“<br />
Es bedarf keines Beweises, dass Europa<br />
ökonomisch <strong>und</strong> politisch schon<br />
bessere Zeiten gesehen hat. Und<br />
die Nachrichten häufen sich, dass in<br />
vielen europäischen (<strong>und</strong> außereuropäischen)<br />
Ländern dramatisch in<br />
die Struktur der Kultur- <strong>und</strong> Theaterförderung<br />
eingegriffen wird, so dass<br />
uns, im Vergleich zu diesen Gewitterwolken,<br />
unsere eigenen Fin<strong>an</strong>znöte<br />
noch wie harmlose Schönwetterwölkchen<br />
vorkommen müssen.<br />
Das niederländische Theaterinstitut,<br />
u.a. das Bindeglied zwischen der<br />
fruchtbaren niederländischen <strong>und</strong><br />
der ausländischen Theaterkultur,<br />
soll von der neugewählten rechten<br />
Regierung zu Tode gespart werden.<br />
In Ungarn besetzt die neue nationalistische<br />
Regierung die Posten der<br />
Theaterleitungen ohne Rücksicht auf<br />
Eignung mit ihren Parteigängern.<br />
Zu den politischen Eingriffen kommen<br />
ökonomische hinzu – in Irl<strong>an</strong>d,<br />
wo wie in Engl<strong>an</strong>d die öffentliche<br />
Fin<strong>an</strong>zierung von Theatern schon<br />
immer eine prekäre Angelegenheit<br />
war, wird Theaterproduzieren<br />
immer schwieriger. In der Ukraine, in<br />
Weißrussl<strong>an</strong>d <strong>und</strong> Bulgarien stößt die<br />
zunächst hoffnungsvolle Aufbruchstimmung<br />
der Theatermacher mit<br />
starren Kunst<strong>an</strong>sichten der Regierenden<br />
zusammen. Selbst in Sk<strong>an</strong>dinavien<br />
ist die öffentliche Fin<strong>an</strong>zierung<br />
von Theatern nicht mehr eine Selbstverständlichkeit<br />
– wie das Beispiel<br />
Dänemark beweist. Nur in Russl<strong>an</strong>d<br />
boomt das Theater allerorten.<br />
Sollte jetzt beim Lesen indes der<br />
Eindruck entstehen, dass durch<br />
diese Eingriffe <strong>und</strong> Bedrohungen<br />
das Theater sich aus dem öffentlichen<br />
Bewusstsein der europäischen<br />
Gesellschaften verabschiedet hätte,<br />
wäre dieser Eindruck falsch: Die<br />
Theatervorstellungen in Europa<br />
sind voll, meist überfüllt, auch bei<br />
zeitgenössischen Stücken. Im MESS-<br />
Festival in Sarajevo (Herbst 2011)<br />
stieg das Publikum sogar durch die<br />
Fenster ein, um noch etwas von der<br />
bosnisch-serbischen Koproduktion<br />
mitzubekommen. Wird dem Theater<br />
vom verunsicherten Publikum wieder<br />
eine neue Deutungskraft zugewiesen?<br />
Eines hat die Krise auf jeden Fall<br />
bewirkt: ein neues Bewusstsein der<br />
Theatermacher, sich mit ihr ausein<strong>an</strong>derzusetzen.<br />
Als Beleg dafür, wie sich<br />
die Stimmung in Europa gew<strong>an</strong>delt<br />
hat, zitiere ich mit Einverständnis der<br />
Autoren einige (gekürzte) Originalbeiträge,<br />
die unsere beratenden Dramatiker<br />
speziell für den Biennale-Katalog<br />
geschrieben haben. <strong>Sie</strong> geben<br />
sehr ursprünglich das Klima in den<br />
jeweiligen Ländern wieder. Sämtliche<br />
Zitate stammen von Schauspielautoren,<br />
die ihre politischen Überzeugungen,<br />
ihre Geschichten <strong>und</strong> Figuren in<br />
g<strong>an</strong>z unterschiedliche Dramaturgien,<br />
Erzählweisen <strong>und</strong> Ästhetiken einfließen<br />
lassen. Das Schauspiel ist von<br />
allen Darstellenden Künsten diejenige,<br />
die uns (explizit oder verschlüsselt)<br />
Botschaften über den<br />
Zust<strong>an</strong>d von Gesellschaften <strong>und</strong> über<br />
Befindlichkeiten von Individuen am<br />
Ort ihres Entstehens mitteilt. Während<br />
es den Selektoren (u.a. T<strong>an</strong>kred<br />
Dorst <strong>und</strong> mir) seit der Gründung<br />
des Festivals NEUE STÜCKE AUS<br />
EUROPA im Jahr 1992 selten möglich<br />
war, gemeinsame Themen <strong>und</strong><br />
Ästhetiken auszumachen, erzwingt<br />
die Fin<strong>an</strong>zkrise plötzlich eine Art<br />
europäische Überbau-Dramaturgie,<br />
die Stoff, Figuren <strong>und</strong> Weltsicht im<br />
Theater unausweichlich beeinflussen.<br />
Ich bin gesp<strong>an</strong>nt, wie die Stücke in<br />
10 Jahren aussehen.<br />
M<strong>an</strong>fred Beilharz<br />
(Abdruck mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von Die<br />
Deutsche Bühne, Hrsg. Deutscher Bühnenverein,<br />
Friedrich Verlag Berlin, Dezember 2012)<br />
Hessisches Staatsthea ter Wiesbaden / Theaterblatt • Februar 2012